Das Gedächtnis der Libellen - Marica Bodrožić - E-Book

Das Gedächtnis der Libellen E-Book

Marica Bodrozic

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Beschreibung

Die Geschichte einer unmöglichen Liebe

Mit bewundernswerter Konsequenz erzählt Marica Bodrožic von einer ebenso unbedingten wie widersprüchlichen Liebe. Und von einer Frau, die Abschied nehmen muss von ihren Illusionen über ihre Beziehung zu einem verheirateten Mann. Und die sich fragen muss, wer sie am Ende ohne ihre Liebe ist.

Noch sind die Tage ungetrübt. Die junge Nadeshda fährt nach Amsterdam, um dort ihren Geliebten Ilja zu treffen. Sie hat Schuhe mit den höchsten Absätzen an und phantasiert sich Iljas Küssen entgegen. Doch was als lustvolle Reise beginnt, wirft Nadeshda völlig aus dem Gleichgewicht, bringt sie an ihre Grenzen und verändert ihre ganze Wahrnehmung von ihrer Liebe und sich selbst. Denn Nadeshda muss erkennen, dass sie in ihre Träume, Sehnsüchte und merkwürdig robusten Hoffnungen verstrickt ist, obwohl sie es besser hätte wissen können. Obwohl sie hätte sehen müssen, dass ihr Wunsch, den verheirateten Ilja ganz für sich zu gewinnen, nie in Erfüllung gehen wird. Denn Ilja hat sie nie hinters Licht geführt: Von der ersten Begegnung an sprach er davon, dass ihre Liebe keine Zukunft haben könne. Das hindert ihn aber keineswegs daran, Nadeshda dennoch weiterhin seine Liebe zu erklären.

Marica Bodrožic hat den Roman einer ebenso unbedingten wie ausweglosen Liebe geschrieben. Einen Roman, der zugleich die Geschichte eines beispiellosen Verlusts erzählt. Denn Nadeshda muss am Ende nicht nur Abschied nehmen von dem Mann, den sie, das hatte sie sich geschworen, nie aufgeben würde. Sie muss vor allen Dingen auch Abschied nehmen von sich als der Liebenden dieses Mannes. Es ist ein Abschied, der sie zurückführt auf sich selbst, auf ihre Vergangenheit und den Libellen sammelnden Vater. Und all diese Abschiede wiegen deshalb so schwer, weil Nadeshda nicht absehen kann, wer sie ohne ihre Liebe ist.

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Seitenzahl: 351

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Die Arbeit an diesem Buch wurde vom Deutschen Literaturfonds, Darmstadt gefördert. Die Autorin dankt für das Stipendium.

Ebenso dankt sie dem Kunst: Raum Sylt Quelle für die Unterstützung an diesem Roman.

© 2010 Luchterhand Literaturverlag, München in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

ISBN 978-3-641-04135-9V002

www.penguin.de

Inhaltsverzeichnis
 
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
When spring came, even the false spring, there were no problems except where to be happiest.
Ernest Hemingway, A moveable feast
 
Es tan corto el amor, y es tan largo el olvido.
Pablo Neruda,

1

Der Zug fährt langsam. Ich sitze im Großraumwagen. Mein Herz rast wie das Herz eines gejagten Tieres. Im Doppelschritt rast es, schon seit Stunden rast es. Ohne mich um Erlaubnis zu fragen, macht es eine Herzgejagte aus mir. Der Zug hält an der deutsch-holländischen Grenze. Offenbar hält er schon eine ganze Weile, ohne dass es mir auffällt. Meine Stiefel haben die höchsten Absätze, die ich auftreiben konnte. Ich habe mir die Stiefel für diese Reise gekauft. Ilja will mich vom Bahnhof abholen, Ilja, der beim Reden immer mit den Propheten in Konkurrenz tritt, er will mir alles über meine Zukunft sagen, ohne dass ich ihn darum gebeten habe.
Ich habe einen Direktzug von Berlin nach Amsterdam gebucht. Nie zuvor habe ich mir überhaupt nur vorstellen können, mit dieser Art Absatz zu laufen, schon gar nicht auf eine Auslandsreise zu gehen. Seitdem ich Ilja kenne, bin ich in allem von meiner alten Perspektive abgerückt. Wenn er bei mir ist, kommt mir alles Verrückte normal und alles Normale verrückt vor. Ich rufe mir Iljas Blick in Erinnerung, male mir aus, wie es sein wird, ihn dort in Amsterdam zu sehen, seine Augen zu sehen, in einem fremden Land, unter fremden Menschen, und es kommt mir so hoffnungslos selbstverständlich vor, dass ich diese Absätze trage, dass ich mir diese Schuhe für diese Reise gekauft habe, von der ich nicht weiß, wie sie ausgehen wird und ob wir glücklich sein werden oder nicht.
Im Zug ist es warm. Ich versuche zu lesen. Meine Gedanken sind kleine Insekten. Sie huschen von Gesicht zu Gesicht, von Fenster zu Fenster, von Koffer zu Koffer. Dann stehe ich auf und gehe von Abteil zu Abteil. Das Buch ist zum ersten Mal kein Freund, es öffnet mich nicht. Ich ziehe meinen Lippenstift nach, immer wieder, als könnte ich auf diese Weise meinen Mund im Hinblick auf die Unendlichkeit verschönern. Das Einzige was ich erreiche, ist aber nur ein klebriges Gefühl beim Schließen der Lippen. Es ist wie damals, in der Kindheit, als Preiselbeeren, Maulbeeren, Johannisbeeren und Himbeeren meine Ersatzschminke und Küsse nur Phantasiegebilde waren.
 
Ilja liebt meinen Mund. Er sagt es mir nie laut, nicht mit Worten, nur wenn wir uns küssen, spricht er dann so mit mir. Er beißt zuerst in den einen Mundwinkel, dann in den anderen. Danach arbeitet er sich gleich mit seiner Zunge zu meiner Mitte vor, zum Offenen, wo ich mit meiner Zunge schon ungeduldig auf ihn warte. Ich rolle meine Zunge zusammen, lege sie wie eine spitze kleine Waffe nach vorne, ganz weit nach vorne, und wenn er mit seinen Lippen zu meiner Mitte kommt, ziehe ich meine Waffenzunge zurück, ich locke ihn herein, ich will Ilja ganz haben. Ilja kommt, er kommt immer, so, dass ich ihn noch tiefer in meinen Mund hereinlasse, weil auch er mich jetzt in sich hineinzieht. Ich schwitze, am Hals, hinter den Ohren, unter den Achseln, ich stelle es mir schon im Zug vor, wie ich schwitze und nichts mehr außer Iljas Atem hören kann, wenn er bei mir ist, in einem noch nie zuvor gesehenen Zimmer, wenn sein Atem meine Ohren ausfüllen wird und wir endlich dieses unbekannte Zimmer für uns allein haben werden. Hautnachbarschaft. Mundnachbarschaft. Ilja, Tag und Nacht.
 
Ich sitze im Zug und warte auf seine Sätze, auf sein Gesicht, auf seine Hände, die warmen weiß leuchtenden Fingerkuppen, auf seinen Singsangwitz, der die ganze Spannung in unserem lauten Lachen auflöst. Ich träume seit Monaten von Iljas Händen. Warum ich seine Hände im Traum immer wieder genau vor mir sehe, das weiß ich nicht, aber seine Hände sind immer bei mir. Vielleicht träume ich von Beginn an von seinen Händen, weil ich weiß, dass sie nie für länger, schon gar nicht für immer bei mir bleiben werden. Traumhände bleiben nicht. Aber auch die echten Hände sind nicht bei mir geblieben.
 
Ilja hat zarte Hände, weiche Hände, viel zu zart und viel zu weich für einen Mann, der einen Krieg überlebt hat, noch ein Junge war, damals, als plötzlich das Schwimmen im Fluss und das Spielen auf der Straße lebensgefährliche Dinge wurden. Seine Zeigefinger sind etwas uneben, die Knochen stechen merkwürdig hervor, und die Daumen haben eine ganze Landkarte von unauflösbar verlaufenden Linien in sich aufgesogen, wie um den Blick auf sie zu lenken oder um genau damit in die Irre zu führen. Ilja sagt, das habe er von seinem Vater, so seien auch seine Hände, mit diesen vielen Linien, genau so seien die Hände des Vaters, die Hände eines gesamtjugoslawischen Matrosen, sagt er und zieht an seiner Zigarette. Nur um Ilja eine Zigarette halten zu sehen, dafür würde ich für eine Stunde nach New York reisen, wenn ich nur seine Hände, seine Mundwinkel, seine Fingerkuppen sehen und ein bisschen mit ihm reden könnte. Ilja ist mein Moskau und mein Rom und mein kleiner David. Durch seine Anwesenheit wird die farblose Welt farbig und hell. Ich rieche Farben, so, wie man das Meer riechen kann oder geschälte Orangen oder den prallen lebensschwangeren Herbst.
 
Natürlich würde Ilja sofort Silenzio rufen, wenn er mich all das reden hören würde. Er würde sagen, Unsinn, das bist alles nur du selbst. Und er hätte ja Recht, ich selbst würde als Erste das Wort Unsinn sagen, sogar schreien, wenn mir jemand solche Dinge sagen würde, wenn es irgendjemand wäre, nur nicht, wenn es Ilja täte. Aber mit Ilja fühlt sich ein Nachmittag im Kaffeehaus an wie eine Zugreise in irgendeinen Süden, der einem gerade gehört, weil einem alles gehört, wenn man liebt. In einem Zug darf man alles denken. Schon seit meiner ersten Zugfahrt ist es immer so gewesen. Das Denken wurde mit dem Rattern der Räder freier, bis das Geräusch und die Gedanken ineinander verschmolzen.
Im Zug darf man sich auch so oft wie man will den Lippenstift neu auftragen, auf die hohen Absätze schauen und sich vorstellen, wie gut das aussehen wird, wie lang die Beine wirken werden, wenn ich aus dem Zug steige und Ilja mich dann umarmt, die Beine bestaunt, meine enge schwarze Hose, den roten Angorapullover mit den aufgenähten schwarzen Blättern.
Die Blätter bestehen aus winzigen Perlen. Oberhalb meiner festen kleinen Brüste ergeben sie ein Kranzmuster. Während ich mir in Gedanken ausmale, wie das Gefühl sein wird, in Amsterdam aus dem Zug zu steigen, mit diesen hohen Schuhen Ilja entgegenzulaufen, wird zum wiederholten Male in meinem echten Zug an einer echten Grenze eine echte Durchsage gemacht. Nicht einmal den Namen des Ortes habe ich mir gemerkt. Weiter geht es mit dem Bus, es ist mitten in der Nacht, und ich habe nichts, woran ich mich festhalten kann. Den Koffer hat man mir an der Tür abgenommen.
 
Im Bus sagt eine Art Kapitän mit imposant blaugelber Mütze, dass wir in einem holländischen Städtchen in einen anderen Zug umsteigen müssen. Dieses Mal schwitze ich nicht aus Sehnsucht nach Ilja, sondern wenn ich an meine Schuhe denke, wegen der Mühe, die ich beim Laufen haben werde. Meine Gedanken verdichten sich, huschen wie Insekten durch meinen Kopf. Nach drei Minuten in den Schuhen und in meinem roten Angorapullover bin ich schon so nass geworden, dass ich den Eindruck erwecke, gänzlich dem Element Wasser anzugehören. Wenn mich meine Freundin Arjeta so gesehen hätte, wäre sie in lautes Lachen ausgebrochen. Den roten Angorapullover habe ich in Paris gekauft, damals, als Arjeta und ich dort zur gleichen Zeit gelebt haben.
 
Bei Sèvres-Babylone stiegen wir immer aus der Métro und trieben uns stundenlang auf dem Boulevard Raspail herum. Manchmal, wenn es im Winter kalt war, auch im vornehmen Kaufhaus Bonmarché, wo man uns schon an der Nasenspitze ansah, dass die paar Francs, die wir in unseren Taschen hatten, nicht einmal für einen Café crème in einem der guten Cafés reichten. Ganze Nachmittage verbrachten wir in den teueren Boutiquen, ohne je etwas zu kaufen. La nouvelle collection, wir kannten sie auswendig. Einmal, als ich nach einer solchen Reise durch die Welt der neuen Kleider den Boulevard Raspail überquerte, traf ich mitten auf der Straße den Schriftsteller Milan Kundera. Er blieb einen kurzen Augenblick lang stehen, sah meine roten Netzturnschuhe an, sie trugen den Namen no name, und er sagte, was für gute Schuhe du hast. Danke Herr Kundera, sagte ich, und er winkte mir noch auf eine Art nach, wie sich Leute in Filmen zuwinken. Ich glaube, er war glücklich, dass ich ihn erkannt habe. Er sah alt und freundlich aus und natürlich sehr eitel, wie auf den seltenen Bildern, die es noch von ihm gibt. Danach habe ich meine roten Turnschuhe wie eine Gottheit behandelt. Ich war nie vorher auf den Gedanken gekommen, dass sie etwas Besonderes sein könnten.
Ilja mag Kundera nicht, er glaubt ihm nicht. Ilja sagt, Kundera sei ein richtig schlechter Schriftsteller. Sogar sein bekanntestes Buch Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins kann Ilja nicht ausstehen. Aber in Wirklichkeit verübelt er es ihm, dass er seine Literatursprache gewechselt hat, dass er das Tschechische zugunsten des Französischen verlassen, also auch verraten hat. Ilja selbst ist nicht in der Lage, sich von seinen Wurzeln abzuschneiden. Er gibt es auch zu, er sagt, ich weiß, dass ich kein Baum bin, aber dennoch wachsen meine Wurzeln in Sarajevo weiter, wo auch immer ich hingehe, wachsen sie dort weiter, wo ich zur Welt gekommen bin. Es ist ihm klar, dass er das Goldene Zeitalter – so nennt er seine verlorene Kindheit – nicht mehr zurückholen kann, dass es für immer vorbei ist. Aber er spricht dieses große Wort ganz beiläufig aus, so, wie man das Wort Fußballplatz oder Schornstein ausspricht. Er sagt das Wort, um sich hinter ihm zu verstecken. Das ist Iljas Art von Nostalgie, so hält er es mit Ländern und mit Menschen. Er hasst Abschiede und versucht alles, um den Abschieden eine Falle zu stellen. Manchmal hilft ihm Zorn dabei, manchmal Abscheu vor Leuten, die in anderen, in zweiten, in dritten Sprachen schreiben.
Ich mag Kunderas Art zu denken. Er ist verrückt wie Vladimir Nabokov, anders verrückt, aber eben auch verrückt. Alle diese Verrückten, die Bücher schreiben oder sie auch nur lesen, haben etwas von Dorfkindern an sich. Es ist egal, ob sie das in der ersten oder in der zweiten Muttersprache schreiben, lesen, leben. Ich mag Leute, die sich fremd in fremden Sprachen werden, bis die fremden Sprachen ihre Sprachen werden, bis alles fremd wird im Detail, weil doch das Menschsein an sich, en gros und en détail, das Fremde ist. Ob einer Schriftsteller oder Gärtner ist, spielt gar keine Rolle. Der Regen fällt auf uns alle gleich weich oder gleich hart. Oder etwa nicht?
 
Im Bus ist es stickig. Wenn wir an einer erleuchteten Tankstelle vorbeifahren, glitzern auf meinem Pullover die schönen schwarzen Perlen oberhalb der Brustpartie manchmal auf. Nachdem ich in Wim Wenders’ Film Paris, Texas Nastassja Kinski in einem roten Angorapullover gesehen hatte, sagte ich anderntags zu Arjeta, so ein Rot, das brauche ich auch. Danach haben wir halb Paris auf den Kopf gestellt. Wir waren in den teuersten Boutiquen, um für mich so etwas wie aus dem Wenders-Film zu finden. Ich war sogar entschlossen, mir etwas von Yves Saint Laurent zu kaufen und mich finanziell zu ruinieren. Aber schließlich habe ich den bestickten Pullover in einem heruntergekommenen kleinen Secondhand-Laden oben in Montmartre bei einer nach Schnaps riechenden Blondine gefunden. Danach führte ich meinem Mittagessenfreund Christophe sofort den Pullover in einem kleinen vegetarischen Restaurant in der rue de Trois frères vor, in der er eine Wohnung zur Miete bezogen hatte.
 
Weder Ilja noch ich wussten damals, dass wir zur gleichen Zeit in Paris lebten. Er wohnte im zehnten, ich im elften Arrondissement. Er ging oft in der rue Saint Maur spazieren, manchmal auch mit Freunden im Charbon tanzen. Das Charbon war damals eine Diskothek, im quartier branché. Es war Mode, in der rue Saint Maur und in der rue Oberkampf auszugehen. Das einzige Zimmer, das ich in der ganzen Stadt zu einem erschwinglichen Preis hatte auftreiben können, lag genau gegenüber vom Charbon. Aber zum Glück im Hinterhof, so dass ich hin und wieder nachts auch durchschlafen konnte. Offenbar kam die ganze Pariser Jugend hierher zum Tanzen, und der Krach, den sie an den Wochenenden allenthalben produzierte, führte dazu, dass ich die Nächte an meiner Doktorarbeit durchschrieb.
 
Mein Freund Christophe war damals Romanistikprofessor in Valenciennes. Ich hatte ihn in dem kleinen Restaurant bei einem Mittagessen kennen gelernt. Seit diesem Tag nannten wir einander Mittagessenfreunde. Schon bei diesem ersten Treffen verstrickten wir uns in heißblütige Diskussionen und spekulierten wild gestikulierend über die Perversionen von Georges Bataille. Wir versuchten herauszufinden, welche Anteile seiner Person sich in seinen literarischen Figuren spiegelten, und überhitzten uns in unserer Begeisterung für diesen merkwürdigen Mann, dessen Charakter Christophe wie eine Bricolage aus Mystik, Wirtschaft, Erotismus und Psychoanalyse vorkam. Christophe hatte Sinn für poetische Widersprüche, setzte aber auch beim Paradox auf Genauigkeit. Er hatte eine deutsche Mutter. An den Wochenenden übersetzte er aus Zeitvertreib französische Schriftsteller ins Deutsche, darunter auch einen merkwürdigen Ethnologen, der mit Georges Bataille befreundet war und der im betrunkenen Zustand lauthals in einem warmen Pariser Frühling über die Dächer des Quartier Latin hinweg À bas la France geschrien haben soll – Nieder mit Frankreich.
Christophe war ein auffällig großer Mann, ein riesengroßer, wenn man genau sein will, und eines Tages hatte er eine sehr schmale Freundin zu einem unserer Mittagessen mitgebracht. Sie hieß Rosalie und war fünfunddreißig Jahre jünger als er. Rosalie hatte glühende braune Augen, denen nichts entging. Danach bin ich nicht mehr mit Christophe essen gegangen. Rosalie entpuppte sich als die eifersüchtigste Person, die ich je getroffen hatte. Ich aß wieder allein zu Mittag, ohne meinen Mittagessenfreund mochte ich nicht mehr in das kleine vegetarische Restaurant in Montmartre gehen und trieb mich nur noch im elften Arrondissement herum.
In meiner ersten Pariser Silvesternacht betrank ich mich mit sauer schmeckendem Sanscerre und fuhr mit dem Vorstadtzug Richtung Versailles. Im Wald hinter Meudon schrie ich alle paar Schritte völlig unerschrocken den Satz des Ethnologen vor mich hin, bis mir ein Pilzsammler entgegenkam, der mich so scheu und weltfremd ansah, dass ich sofort still wurde. Verrückt war er bestimmt, denn wer ist normal und sammelt schon Pilze in einer Silvesternacht, während die Hauptstadt in festlichem Licht erstrahlt? So aber hatte mein Leben damals ausgesehen, und wenn Ilja mir vor oder nach meiner Zugfahrt nach Versailles begegnet wäre, davon ist Arjeta überzeugt, hätte weder er mich noch ich ihn erkannt. Arjeta sagt, das sei alles mathematisch genau überprüfbar. In dieser Zeit sei mein Blick nun einmal nur auf vorübergehende Pilzsammler ausgerichtet gewesen.
 
Im Bus nach Amsterdam versuche ich, mich an die damalige Zeit zu erinnern. An die menschenlosen Sonntage, daran, dass es immer nur aus der Rückschau schön ist, sich nichts anderes als einen Kaffee leisten zu können und ihn dann wie etwas selten Gutes zu schmecken, zu riechen, sich im Winter an ihm die Hände zu wärmen, wie das alle tun, die irgendwo in einem Pariser Café stranden und von den Kellnerinnen mit Kosenamen begrüßt werden. Im Erinnerungstunnel sehe ich Paris im Herbst vor mir. Im Frühling. Im Sommer. Denke an die kleinen Straßen in meinem Viertel. Ich male mir aus, wie es gewesen wäre, Ilja an irgendeiner Ecke im elften Arrondissement zu treffen. Und ich frage mich, wie es sich angefühlt hätte, wenn wir in der Métro einander zufällig angerempelt, einander angesehen hätten, verschwitzt und vielleicht auch atemlos nach einem langen Tag draußen in der Stadt, wenn wir uns ein bisschen dafür geschämt hätten, dass wir nicht mehr ganz frisch rochen, wie wir noch am Morgen frisch gerochen hatten. Jetzt versuche ich mir vorzustellen, wie es sich angefühlt hätte, vor Iljas inspizierenden Augen meinen mintgrünen Mantel enger um mich zu ziehen, diesen stolzen Mann lange und beharrlich anzusehen, bis sein Stolz sich zu verwandeln begann, eine Zärtlichkeit den Wangen entglitt, die er sonst lange im Verborgenen für sich behalten hätte.
Vielleicht hätte ich damals schon verstanden, dass ich ihn immer nur mit einem Koffer in der Hand sehen und sein Stolz sich nie in Schwäche verwandeln würde, er aber gerade deshalb mein Schicksal war, Mathematik, Bestimmung, das Eintreten irgendeiner komplizierten Rechnung, die für uns gemacht worden war, am besten schon in den Bäuchen unserer Mütter.
Jede Berührung, jeder Rockkauf, jedes neu gekaufte Paar Schuhe wäre dann in einem anderen Rahmen zu betrachten gewesen. Dann, so stelle ich es mir Monate nach der Busfahrt vor, wäre das Schicksal nicht zum Tragen gekommen. Dann wären wir nur zwei Verliebte ohne Schicksal gewesen, hätten zusammen gefrühstückt und getanzt, die Nächte über Zigaretten geraucht, aus Liebe, nicht aus Langeweile. Damals war Ilja nicht verheiratet. Er war einfach nur Ilja, ein grünäugiger Mann unter vielen grünäugigen Männern, ohne eine feste Adresse, mit allen Zug- und Flugverbindungen in seinem Kopf, die in seinem Denken, so stellte ich es mir vor, neben dem Erbe von Joseph Brodsky, Joseph Conrad und Danilo Kiš wohnten. Schneisen aus Menschen, Nachbarschaften. Boten in Iljas Kopf. Ein Gestade aus Listen, Erinnerungen und Angeboten für neue Schneisen, neue Nachbarschaften, neue Boten in einem neuen Kopf.
 
Wenn Ilja schon in Paris mein Ilja geworden wäre, dann wäre auch alles andere anders geworden. Wie alles aus der Rückschau Betrachtete, in der Zeit sorgfältig Sortierte, kommt es mir wie Fatum vor, dass Ilja in meinem Leben erst später aufgetaucht ist. Vielleicht sind ehemalige Wissenschaftler besonders anfällig für das Schicksal, sagte meine Freundin Arjeta, als ich ihr davon erzählte, weil sie es so lange in ihrem Denken ausblenden und es sie deshalb hinterrücks überfällt. Ob mit oder ohne Wissenschaft, es gibt Dinge, sagte ich mir, die sind beschlossen, vereinbart, besiegelt. Und ich kann sie nicht umschiffen, ich kann sie nur leben. Du bist verrückt, sagte Arjeta, man kann alles umschiffen, das Schicksal gibt es nicht. Aber doch, für mich schon, sagte ich, aus dem ganz einfachen Grund, weil mir Ilja und sein Muttermal oberhalb seines linken Mundwinkels wie versprochen vorkommen, sie sehen aus wie etwas, das man mir in der Kindheit schon in Aussicht gestellt hat, wie Schokolade und Orangenbonbons in einem, auf die ich seit dieser Zeit mit der Beharrlichkeit einer Priesterin warte. Außerdem ist er im gleichen Jahr wie ich zur Welt gekommen. Arjeta sah mich verschmitzt an. Aber die Quersumme eures Geburtsjahres ergibt eine Vierzehn, das bringt kein Glück, sagte Arjeta. Doch, sagte ich, jede Zahl bringt Glück.
 
Das Glück kam mir unverdächtig vor, nichts natürlicher als Ilja im Denken zu erobern. Ich merkte gar nicht, dass ich dem Denken den Platz der Berührungen übergab, überzeugt davon, jemanden getroffen zu haben, für den aus der Rückschau auch der scheinbar sinnloseste Lebensschritt Sinn machte, sich fügte, jeden Umweg, jeden Schmerz, jede Ohrfeige erklärte, auch das schreckliche Album, in das mein Vater immer die getöteten Libellen fein säuberlich ablegte. Aber kann es eine Wahrheit aus der Rückschau geben? Oder ist nicht jede Rückschau auch eine Erfindung der Wahrheit? Wer zurückschaut, versucht etwas zu finden, das es damals nicht gab und das er jetzt immer noch nicht hat, eben weil er es schon in der Vergangenheit nicht hatte, oder etwa nicht, sage ich zu Arjeta. Wer nicht im Jetzt lebt, der lebt gar nicht, sagt Arjeta zu mir, und wie alles, was sie in solchen Augenblicken sagt, hört sich auch das wie ein rezeptfreies Medikament an, das man einnehmen und an dem man gesund werden kann. Gab es je das Glück oder war das Libellentöten schon immer das Spezialgebiet meines Vaters? Ich kann es nicht wissen, aber nur aus der Rückschau vermag ich Fragen zu stellen. Eine Antwort habe ich nicht, aber dennoch Gewissheiten, eine davon ist, dass auch das Album Sinn machen würde, dass ich bereit bin, dieses Wissen auszuhalten, wenn Ilja wirklich mein Ilja ist und ich ihn also endlich gefunden habe.
 

2

Wer bin ich? Ich heiße Nadeshda. Meinen Namen habe ich nicht von Nadeshda Mandelstam. Und um es gleich klarzustellen, das ist noch viel wichtiger, von meinen Eltern habe ich meinen Namen auch nicht bekommen. Meine Eltern haben mir einen ganz anderen Namen gegeben. Es ist ein Name, der gar nicht zu mir passt. Ich selbst habe den neuen Namen für mich gefunden, damit ich diese Geschichte erzählen kann.
 
Meine Geschichte ist wie jede Geschichte nur eine Möglichkeit von vielen, ins Ungewisse meiner Biographie zu gehen. Nichts bleibt wie es ist. Das ist die Vergänglichkeit. Die Zeit ist eine Regisseurin. Sie hat Decken und Leuchten und Kleider und Nächte und Tage, einen Koffer voller Unterröcke. Die Zeit hat Menschen in ihrem Leib. Ich gehe oft auf Zehenspitzen aus der Zeit heraus. Wir alle haben andere Zehen, eine andere Art zu gehen, wir müssen weitergehen. Nur das Dazwischen ist unser beständiger Spiegel. Wie steht man in einem Spiegel? Wie steht man auf vor der Zeugenschaft des Spiegels?
Niemand wird uns für das Aufstehen am Morgen ein Ehrenmal errichten. Keiner, der aufsteht, zeigt dabei sein schönstes Gesicht. Wir brauchen die Lücken, um der Hässlichkeit zu entkommen, müssen satt werden an unseren unschönen Seiten, an unserer Bedeutungslosigkeit die Träume, diese alte Schmuggelware, vorbeischieben. Manchmal zähle ich die Unterröcke der Zeit, als sei ich schon Mutter vieler Kinder, als schaute ich mir die Stoffe im Hinblick auf ihre Langlebigkeit an. Flüchtigkeit des Glücks, das wäre ein anderer Name dafür. Bestimmt ist es Einbildung, diese Geschichte als meine Geschichte auszugeben, an diese Form von Stofflichkeit zu glauben, doch wer macht das heute noch?
Die Fragen sind Tore zu meinen Versuchen, meiner eigenen und der auswärtigen, überprüfbaren Geschichte gerecht zu werden. Das kann ich nur mit Zergliederungen, im Innenbereich der Bilder. Ich muss den Bildbereich betreten, egal wie, die Bilder öffnen wie Fenster. Auf der Bildfensterbank sitzen und an Ilja denken, ohne aus dem Bildbereich herauszufallen, ohne mir die Knie aufzuschürfen, wie ich das immer tue, wenn ich nicht weiterweiß und die Wirklichkeit draußen vor der Tür vergesse. Im Erzählen, noch während die Knie wehtun, gleich schon beim Verarzten der Wunden, da darf ich nicht ausblenden, dass alles Einbildung ist, ich muss mir dabei das Wichtigste einbilden, das mich zum Erzählen drängt – dass zumindest ein Teil meines Namens und ein Funken dessen, was ich meine Person nenne, durch das Erzählen transparent gemacht und also gerettet werden kann.
 
Der Beruf der Physikerin machte mich nicht glücklich. Doch als ich ihn aufgab, wusste ich nicht, dass ich eines Tages schreiben werde. Ich wusste, dass die Relativität der Formeln für alles gut war, nur sattmachen konnte sie mich bei weitem nicht. Ich bin mir nicht sicher, ob mein neuer Beruf, ob die Buchstaben meinen Hunger stillen können und woher der Hunger rührt, der so tief in mir wohnt, aber ich habe keine andere Wahl, als mich auf diese Weise meinem Hunger zu stellen.
Der Hunger hat wie alles auf der Welt eine Sprache. Auf der einen Seite des Alphabets steht mein Vater, auf der anderen Ilja. Beide haben mir etwas über das Leben beigebracht und beide haben mir auf eine jeweils andere Weise gezeigt, wie man stirbt ohne zu sterben. So leicht entkommt man dem Leben nicht. Sterben ist schwer. Dass sie mir gerade das zeigen wollten, bezweifle ich, sie hatten andere oder überhaupt keine Pläne. Doch was wissen wir Menschen schon voneinander, von nahen und fernen Verwandten, Freunden und Fremden, von all diesen Brüdern und Schwestern im Vorübergehen? Manchmal können wir nur mit Hilfe eines anderen Menschen über die bösen Lücken des Lebens wie über einen frisch vereisten See gehen. Ein Stein, eine Blume, ein Baum können ablenken, den Blick ins Offene wenden, aber an die Lücke im eigenen Inneren kommt man ohne einen Menschen nicht heran. Manchmal erwirkt die Lückenöffnung ein Lachgrübchen, manchmal eine Falte, eine hässliche Brust, manchmal einen Mundwinkel, manchmal eine Berührung mit der flachen Hand. Keine Geschichte ist ohne Lücke. Die Lücke ist oft das Geheimnis. Wir leben um das Geheimnis herum, zergliedern es, machen Bilder aus ihm, Metaphern, Umwege, Falten und Krankheiten. Aber das Geheimnis bleibt. Es lässt sich nicht für immer zergliedern. Nachts, wenn wir schlafen und unseren Träumen ausgeliefert sind wie kleine Kinder der Güte ihrer Eltern, da macht das Geheimnis sich auf die Reise zu uns. Es packt seine Koffer aus, die doppelten Böden werden musikalisch, plaudern das Innere der Verstecke aus. Die Lüge wird sichtbar, diese alte Hexenfreundin. Die Hexe ist fleißig im Erschaffen neuer Gesichter, du drehst ihr den Rücken zu und sie vervielfältigt sich hundertfach, setzt aber ihren hundert Gesichtern fremde Münder auf, du bist ratlos. Du erkennst erst nicht, wer sie ist, wer sie in ihrer verdorbenen Vielfalt zu sein vorgibt. Du bist einsam und musst wie jeder andere auch genau nachprüfen, ob nicht jede Erzählung wie die bunte Welt der Hexenbühnen auf einer Lüge erbaut ist. Diese Lückenlüge zu finden, das kann einen das Leben und die Sprache kosten, wenn es auf einer solchen gründet. Und das eine ist dem anderen zum Schutz anheimgegeben, bedingungslos, wie Arjeta neulich sagte.
 
Es ist an der Zeit, mit dem alten Namen Schluss zu machen und aufzuhören, an einen Namen wie an Gott zu glauben. Wer so etwas will, der wird von Anfang an seine eigene Fremdheit verpassen und dem blinden Fleck zum Opfer fallen. Als ich fünf Jahre alt geworden bin, wusste ich, dass es mehr als alles geben kann. Der Grund dafür war einfach, ich habe verstanden, dass es weniger als nichts gibt. Ich hatte zwar meinen Vater verloren, aber es war ein Vater, der Libellen getötet hatte, nur Libellen, wie es hieß, aber diese strategisch, eine nach der anderen. Meine Tante hat meinen mathematischen Verstand gelobt. Und gesagt, dass manchmal weniger mehr ist. Ich habe mir damals, als die Zeit und das Warten ein und dasselbe für mich waren, immer vorgestellt, dass das Größere des Lebens die Liebe sein müsste. Etwas anderes hat mich bis heute nie still und erst recht nicht friedfertig gemacht. Ich stellte mir die Liebe als eine große körperlose Mutter vor, die der Sprache der Schmetterlinge genauso mächtig war wie jener der Lindenblätter, Meisenschnäbel und Elefantenrüssel, eine Mutter, die alles wusste, aber nichts gegen einen verwendete, die alles betrachtete und aus der Betrachtung Neues entstehen ließ, indem sie aus allem Lavendelblüten, Blüten jeder Art und Freundschaft, Freundschaft jeder Art machte, manchmal auch Honig, manchmal auch Wolken, die alles süß oder klar erscheinen ließen, je nachdem, was gerade und von wem es gebraucht wurde.
 
Vieles dachte ich mir aus, was es längst schon gab, und bildete mir ein, dass es nur aus mir herausgekommen war. Aber vielleicht musste ich mir so eine Art von Autorschaft auch nur vorstellen, um sie für mich Wahrheit werden zu lassen, für mich und für alle, die ich später traf. Vielleicht stellen wir uns alle das Leben vor und dann wird es so, wie es unserer Vorstellung entspricht. Nachträglich erschaffen wir Referenzen, Systeme und Rechtfertigungen für unsere Gefühle, Gedanken, Ideen, während die Wirklichkeit die Unterröcke der Zeit an sich reißt und an jeden Rock ein genaues Verfallsdatum heftet, ohne unsere Erfindungsgabe darüber zu informieren. Die Erlösung aus dem Verschlag der Vergänglichkeit wird uns nicht gewährt. Wir wünschen uns Dinge, die über uns hinausgehen, wir wünschen uns, dass die Liebe diese große Rolle in unserem Leben spielt, sonst, da wir alle nicht mehr glauben können, gäbe es keinen anderen guten, keinen richtigen Grund zu leben.
 
Die Liebe war vielleicht schon immer dieses Tor für das Leben, durch das uns die Religionen gelotst haben, nur dass hinter dem Tor niemand war, der uns an die Hand nahm. Vielmehr warteten hinter dem Tor Gesetze und Gesetzeshüter und Diktatoren. In der Liebe dient man nur. Diese Art Dienst ist freiwillig und macht schön. Wer einmal reflexartig gehorcht hat, der weiß, dass Gehorsam hässlich macht. Und doch hat die Liebe zu Ilja mich an die Grenze zu beidem gebracht. Ilja, den wollte ich für immer vergessen. Aber ich weiß nicht, wie man vergisst. Ich habe das nie gelernt. Und Ilja ist niemand, den man so einfach vergisst. Als er in mein Leben gekommen ist, habe ich begriffen, dass ich offenbar immer nur an das Geschenk der Güte geglaubt hatte. Aber jetzt sah ich, dass nicht alles von der Güte der anderen abhing, die eigenen Entscheidungen, die Art, wie man durch das Leben ging, sind mindestens genauso wichtig wie die Freundschaft, die einem zuteil wird. Ich stellte mir mein Dasein als ein Tor vor. Wenn ich nicht hindurchginge, würde ich in dieser Trauer versinken, die Iljas Abwesenheit erzeugte. Weitergehen, sagte ich mir, du musst weitergehen. An dieser Stelle zu bleiben, das kann dich das Leben kosten. Es gibt zwar keinen wilden Hund hinter dem Tor, kein Gebell. Aber für mich ist der Höllenhund in diesen liebesfernen Zeiten das Unbekannte, die Geheimnisse des Alphabets, die zersetzten Zungen, unter denen wilde Sprachen wohnen. Deine eigene vergrabene Sprache, deine eigenen am Gaumen zurechtgerückten Wunden. Das Verschwinden ist besser, es bringt gleich das Absterben mit sich. Wenn du liebst, dann musst du bereit sein, in dir selbst abzusterben. Haut abwerfen, so hat es Arjeta immer wieder zu mir gesagt, Haut abwerfen, so hat sie die Verwandlung genannt. Arjeta kennt sich mit dem Tod aus, das sagt sie selbst über sich, sogar ohne Aufforderung.
 
Arjeta war aus Sarajevo nach Paris gekommen. Sie hatte alles gesehen, was man in einer belagerten Stadt sehen kann, ihren Vater verloren und ihre beiden kleinen Brüder auch. Der Jüngere starb ohne Beine in ihren Armen. Eine Granate hatte sie von den Zehen her weggeschossen. Die Mutter blieb am Leben. Arjeta weinte nicht, wenn sie mir solche Dinge erzählte. Aber ihre Stimme wurde uferlos, und mir stockte der Atem, als sie sagte, man wisse erst nach so einem Granatengeräusch, wie schön Menschenfüße sind, wie weich die Zehen, die kleinen und die großen. Alles, was Arjeta sagte, stimmte mit ihrer Geschichte überein, und ein Satz wie der über die Kinderzehen ließ mir das Blut in den Adern gefrieren, aber ich wollte mir wünschen, dass es auch andere Wege gab, die Schönheit des menschlichen Körpers zu erkennen. Anfangs hielt ich das, was Arjeta sagte, für Wahrheit, für die Wahrheit an sich. Aber wer, fragte ich mich doch, wer kann schon mit dieser Form von Gegenwärtigkeit auf seinen Körper schauen, wer kann derart dankbar sein und immer im Zustand der Demut leben, immer denken, dass der Krieg ihn verschont und andere vernichtet hat.
 
Später, als Ilja den Zweifel und die Dunkelheit in mein Leben brachte, wusste ich, dass jede Wahrheit nur eine Orientierung ist, so etwas Ähnliches wie eine Formel aus der Physik, nichts weiter also als eine Möglichkeit unter vielen, die eigenen Perspektiven auszuweiten. Der Plural ist schwer zu ertragen, und ich weiß, dass ich Arjeta erst wirklich liebte, als ich von ihrer Schwäche wusste, als ich sie auch weinen sah, wegen der Geschwisterfüße, wegen nichts, wegen Liebeskummer, Sehnsucht und aus Scheu vor anderen Menschen. Da erst wusste ich, wie gefährlich so ein Plural für ein Menschenleben ist, das von der Abwesenheit der Tränen abhing. Arjetas Singular ist an sich ein großer Plural, sie ist eines jener typischen jugoslawischen Kinder, die nach dem Krieg wie kleine Vogelkinder in der Heimatlosigkeit der Luft fliegen lernten. Mit einer kroatischen Mutter und einem kosovarisch-serbischen Vater gehörte sie zu den Menschen, die beim Ausklang Jugoslawiens allein wegen dieser Mischung keine feste Adresse mehr hatten. Der alte Plural hatte ausgedient, jetzt galt der neue Pass mehr als jedes alte Wir. Es war alles verdächtig, was in der Kriegs- und Nachkriegszeit nach Mehrzahl und Vielvölkerstaat aussah. Klarheiten wurden gefordert, ordentlich durchkämmte Biographien mussten her; ein unverdächtiger Singular, der tat aber nur unbegabten Dichtern nicht weh, die sich ans Werk machten, Palindrome im Auftrag des Staates zu schreiben, als Geschenk an die neuen Herrschenden.
Arjeta sagte, Poesie, das sei in solchen Umbruchszeiten manchmal wie verschimmeltes Brot. Du musst schauen, dass du dich nicht an ihr vergiftest.
 
Wie anfällig unsere Landsleute für Reime waren, das begriffen wir erst viele Jahre später, da sie noch immer auf Anweisungen warteten, darauf, dass man ihnen sagte, wie das weitergeht, was sie ihr Leben nannten.
Arjetas schwarzen Humor konnte ich nach unserem Gespräch über Palindrome besser verstehen. Ich wollte sie von nichts überzeugen. Wahrheit war für sie ohnehin etwas sehr mehrschichtig Gefährliches. Also habe ich Arjeta so gelassen wie sie ist. Das kann ich am besten, wenn man mich fragt, was mein größtes Talent ist, dann sage ich, dass ich alle am besten so lassen kann wie sie von sich aus sind. Das verdankt sich nicht unbedingt einem Talent. Ich kann das am besten, weil ich vor den anderen am besten verschwinden kann. In Gedanken verschwinde ich zuerst und danach auch im Leben. So schnell wie ich kann keiner einen Koffer packen. Einsame haben viele Kleider und kennen sich mit allen Koffermarken aus. So schnell wie ich ist niemand auf der anderen Seite der Grenze, ganz egal, wo diese gerade liegt und wie das Land heißt, das auf der anderen Seite ist, und wer auf der anderen Seite der Grenze steht.
Wenn ich mit Arjeta über den Krieg reden wollte, nickte sie meine Fragerei nur ab, so, als habe sie mir eigentlich schon alles erzählt und wolle lieber Apfelkuchen mit mir backen. Kauf doch mal richtig gute Äpfel, sagte sie dann, und ich wusste, gute Äpfel waren wie gute Stille für Arjeta. Sie war es überdrüssig, immer wieder alles erklären zu müssen; die Wurzeln; die Herkunft; die von einstigen Nachbarn zerschossene Bibliothek. Ich schwieg dann, schwieg und wartete, bis sie etwas freiwillig erzählte. Aber die Äpfel kaufte ich doch, und der Kuchen wurde immer gut, ich glaube, weil wir ihn leise in den Ofen schoben, leise aßen, so dass man das Schnurren einer Katze hätte hören können. Vorzeitigkeit, Vorvergangenheit, in der Stille beim Apfelkuchenessen waren wir alles auf einmal.
 
Bei Ilja fiel es mir schwerer, ihn in seiner Wahrheit anzunehmen. Ich litt an seiner Wahrheit, war ein Teil dieser Wahrheit, die wiederum ein Teil von einem Geheimnis war, das ich nicht kannte und in das mich Ilja gerade deshalb mit der Beharrlichkeit eines Magiers Stunde um Stunde tiefer hineinzog. Es schien, als müsste alles, was ich aus meiner Geschichte nicht kannte, so lange wiederholt werden, bis es sichtbar für mich wurde. Iljas Geheimnis verwandelte sich in eine Landschaft, zu der es mich magnetisch hinzog. Ich hätte gar nicht sagen können, was ich mit dem Wort Landschaft meinte, aber ich ließ mich ein auf diese Natur, die fremd für mich war und die mich verschlingen sollte, so, wie es nun einmal der Hungerplan der Natur vorsah. Es gab nie den Garten Eden, es gab immer nur die Natur. Die Vertreibung aus dem Paradies ist die Verbannung ins eigene Leben.
 
Arjeta konnte ich deshalb so gut verstehen, weil sie mich niemals mit sich und ihrer Welt vermischte. Sie erzählte mir nur von ihr. Und ich konnte alles fühlen, was sie sagte, denn Arjeta verlangte nie, dass ich ein Teil von ihrer Welt werde. Sie brauchte mich, damit ich ihr zuhörte, mit allem, was ich als Mensch ohne sie war und ohne sie sein werde. Denke ich an unsere vielen Spaziergänge in Paris und Berlin zurück, an unsere Nachmittage bei schwarzem Kaffee und Apfelkuchen, wird mir klar, dass es Arjeta mehr als mir bedeutete, eine Sprachverbündete zu haben, einen naiven Zeugen, jemanden, der die gleiche Sprache wie sie als Kind gesprochen hatte. Das verschaffte ihr Koordinaten in ihrer Erinnerung, spielte ihr eine Zeitart zu, in der ihr eigenes inneres Vermögen und ihre unschuldige Verwunderung handgleich zueinanderfanden. Sonst übernahm Arjeta immer die Rolle der Zuhörerin für die anderen. Und ich kenne auch niemand sonst, der wie sie mit jener zärtlichen Geduld und Anteilnahme zuhören konnte, die sich jeder von uns erträumt. Arjeta und ich saßen an den Nachmittagen in den Cafés unseres Viertels herum, lasen Zeitung, Bücher, Gedichte, aßen zur Abwechslung Erdbeer- oder Rhabarberkuchen und tranken Cappuccino im Café Gottlob. Arjeta sagte dann Sätze wie, Liebe, das sei doch immer auch eine Art Tod. Ich nickte und sagte, ja, vielleicht, aber vielleicht doch auch nur die Fortsetzung der Unschuld. Sie rauchte, und ich sah mich im Café um, wollte sehen, wer da sonst noch saß und ob man uns zuhörte, uns vielleicht für verrückt hielt, weil wir so über den Tod und über die Liebe sprachen. Lautstark erzählte eine Frau ihrer still dasitzenden Freundin von einem Ferienaufenthalt auf Capri, keine der beiden kümmerte sich um uns.
Ich verstand Arjeta auf Anhieb, warum, weiß ich selbst nicht. Sie ist der einzige Mensch, mit dem ich über die Liebe und über den Tod auf diese Weise und in dieser Lautstärke reden kann. Wir sprachen darüber wie über einen Obstkauf, wie man über das Kehren einer Straße spricht oder etwa über Pünktchengeschirr, das, davon war Arjeta überzeugt, aus unerfindlichen Gründen glücklich macht. Auch das glaubte ich ihr, denn sie hatte in der Zeit unserer langen Freundschaft nur diese eine Überzeugung entwickelt. Es tat gut, sie als Verteidigerin des harmlosen Glücks am harmlosen Beispiel des ebenso harmlosen Pünktchengeschirrs zu wissen. Alle anderen Menschen, die ich im Laufe meines Lebens getroffen habe, trieben Handel mit Überzeugungen ganz anderer Art.
 
Ich pflichtete Arjeta bei, natürlich hinterlässt jeder Tod ein Rätsel, sagte ich, immer wieder und aufs Neue, obwohl wir uns allmählich daran gewöhnt haben müssten, dass wir leben, um zu sterben, sagte ich. Arjeta mochte es, wenn auch ich so mit ihr sprach. Das sei der Unterschied zwischen uns und den anderen. Mit den anderen meinte sie die Franzosen und später die Deutschen. Ich war nicht einverstanden mit ihrer mentalen Grenzziehung, wollte nicht, dass sie so von den anderen sprach, schließlich gehörte ich zu ihnen, hatte von beiden das Nachdenken gelernt, das Denken in Sprache und das Fühlen in Wörtern. In unserer ersten Muttersprache, die sich in der Zwischenzeit als ein bemerkenswert hybrides Wesen und als ein erstaunlich formungsfähiges Erpressungsmittel in der Kriegsführung dreier Staatsmänner erwiesen hatte, kannte ich das Denken in Sprache nicht. Ich sprach in dieser ersten Sprache einfach drauflos, und jedes Sprechen war naiv, vorpreschend, eine Art Verteidigung meiner selbst. Der Tod, nun ja, sagte ich, daran wird sich wohl nie ein Mensch wirklich gewöhnen können, daran hindern uns unsere Geschichten.
 
Wir schwiegen und tranken Kaffee, diesen bitteren schwarzen Kaffee, den Arjeta uns zubereitete, wenn wir uns bei ihr trafen. Diese Schwärze schien am tiefsten an unsere Erinnerung heranzureichen, ich bekam schon Herzklopfen vom bloßen Anblick des Kaffees.
Wenn das Leben uns nicht umbringt, sagte ich zu Arjeta, dann wird es eines Tages dein Herzklopfen verursachender Kaffee tun. Wir lachten darüber, weil alles so schön bitter auf der Zunge zerging, die erstsprachlichen wie die zweitsprachlichen Wörter, Wörter überhaupt, sie waren unsere bewährten Medikamente. Manchmal schien auch das Denken eine Schmelze zu erfahren. Wir glitten vom Denken ins Erzählen, segelten auf unseren Erinnerungen und inneren Bildern hinüber, in irgendetwas Drittes, das wir noch nicht kannten. Ohne es selbst zu bemerken, wurden wir dieses Dritte, dieses innere Land, an dem die Träume und die Wunder mit einer mathematischen Präzision wachsen, dass man erschrecken könnte über sich selbst, über die anderen, über die Namen, die einfachsten Dinge und Wetterverhältnisse. Erst später wurde uns klar, wie flüchtig dieser Zustand war, wie schnell uns das Denken verließ und dem reinen Klangsaum unserer Sätze übergab, als seien wir Früchte, die man nur in der Sprache ernten darf.
 
Manchmal, da öffnete sich eine Tür in Arjetas Augen, etwas Neues leuchtete aus ihr heraus, leuchtete mich an. Ich wurde glücklich wegen nichts. In diesen Augenblicken kam es mir dann vor, als würden wir, Arjeta und ich, füreinander unsere eigene Apostelgeschichte sein und als bräuchten wir nie wieder einen Geliebten, nicht ein einziges Mal einen Kuss von einem Mann. Irgendetwas Freies und Unbegrenztes lebte beständig in uns weiter, seit Urzeiten, so schien es, so sah es aus, wenn der Kaffee bitterer als alles andere Bittere schmeckte. Diese Kraft, die sich dann selbst durch uns freisetzte, hatte das Flussbecken der Zeit überdauert, körperlos, war nicht gebunden an einen Pass, an eine Identitätskarte, war etwas, das auf kein Papier passte. Wie hörten wir denn einander nur, fragte ich mich dann. Wie, auf welche Weise hören wir denn alle jene Sprache, in der wir geboren werden, wie hören wir die anderen, neuen Sprachen, die unsere neuen Muttersprachen, Vatersprachen, Liebessprachen werden?