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Eines Nachts führt Marica Bodrožićs Vater sie in ihrem dalmatinischen Dorf hinaus ins Freie. Sie ist noch ein Kind, und er zeigt ihr am Himmel die Sterne des Südens, erklärt ihr, wie jeder einzelne Stern heißt und dass das Licht der weitentfernten Galaxien alles auf der Erde beschützt: die Tiere, die Bäume und Pflanzen, auch jeden einzelnen Menschen, samt seinen Träumen. Ein ergreifendes Momentum schreibt sich tief in das Kind ein. Seither ist Marica Bodrožić’ Blick auf den Himmel gerichtet, immer auf der Suche nach den Sternen, Erzählungen und Beglückungen des Südens. Diese wesenhafte Liebe bleibt ihr auch im dörflichen Hessen erhalten, als sie das alte Jugoslawien für immer verlässt und in die Nähe von Frankfurt zieht. Selbst als in den 1990er Jahren der Krieg in ihrem Herkunftsland ausbricht, bleibt sie dieser Liebe ungebrochen treu. Seitdem ist sie häufig in ihre brutal zerrissene Herkunftsgegend zurückgereist, und in diesem Buch erzählt sie von ihren gleichermaßen ethnologischen wie empathischen Begegnungen mit Land und Leuten vor dem Ausbruch des Krieges und danach. Sie beschreibt eindringlich die mediterrane Welt, aber auch die Verwüstungen, die der Bürgerkrieg hinterlassen hat: konkret, anschaulich und zutiefst poetisch zugleich. Dabei geht es ihr immer auch um die Beschwörung der humanistischen Werte und um die Hinwendung zum freien Menschen, der nur dann wirklich frei sein kann, wenn er lernt, auch das Dunkle in seiner eigenen Geschichte zu sehen. Marica Bodrožićs Buch ist ein couragierter Beitrag zum Erlernen dieses inneren Sehens.
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Seitenzahl: 396
MARICA BODROŽIĆ
MEIN WEISSER FRIEDEN
Luchterhand
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© 2014 Luchterhand Literaturverlag, München in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
Alle Rechte vorbehalten.
ISBN 978-3-641-12309-3V002
www.penguin.de
Die Autorin bedankt sich bei der Robert Bosch Stiftung für das Grenzgänger-Stipendium, mit dem diese Arbeit gefördert wurde.
Für Saida, Lina, Ismeta, Vedrana und Petra & die anderen Frauen von Sarajevo
Von der Gewalt, die alle Wesen bindet,Befreit der Mensch sich, der sich überwindet.
Goethe
Ich habe nie in meinem Leben irgendein Volk oder Kollektiv »geliebt«… Ich liebe »nur« meine Freunde, und die einzige Liebe, die ich kenne und an die ich glaube, ist die Liebe zu Personen.
Hannah Arendt
Das Sein, das über Gedächtnis verfügt, ist auf die Zukunft ausgerichtet.
Paul Ricoeur
Das Leben ist eine Reise, die sich selbst überschreibt, jeder Gedanke, jede Empfindung ist ein neuer Weg, der den eigenen Kern freilegt und die Sinne verfeinert. In Bewegung zu sein, das war, in der Obhut des Südens, schon in frühester Kindheit ein natürlicher Zustand für mich. Auch jetzt, auf meiner Reise zurück zum Kern des Kerns, zu jenen Landschaften, Orten und Menschen, die mich geprägt, geformt, geknetet und geliebt haben, erscheint mir nichts so normal wie das Unterwegssein zu ihnen. Jedes Mal, wenn ich einen Koffer packe, spricht aber auch die Erinnerung mit, sie weiß um Krieg und Frieden, um Glück und Unglück, ist immer die stille Mitschreiberin. Auf allen Umwegen, die meine Wege sind, arbeitet sie der inneren Zeit zu. Es ergeben sich dabei neue Kreise, innere und äußere Ränder eines Lebenslabyrinths, die sich an Stellen miteinander berühren, an denen ich es am wenigsten erwarte, wie damals in der Kindheit, als mein Vater mir die Sterne erklärte.
Das Kreuz des Südens, sagte er, und seine Hand zeigte ehrfurchtsvoll nach oben, es liegt inmitten des hellen Bandes der Milchstraße und beschützt uns hier unten. Dich und mich, fragte ich, oder die ganze Erde? Er nickte, sagte, alles, dich und mich, unseren Planeten, den Mandel- und den Walnussbaum, die Maulbeere, den Hof, das Pferd, die Garage, den geräucherten Schinken, den Esel (den ganz besonders), die Katzen und die Hühner und deine Tante Anastazija, ihre Träume, wenn sie schläft. Das bewegte jede Faser in mir. Auch wenn das Kreuz des Südens nicht zu sehen war, hatten meine Augen ein neues Ziel. Mein Körper hatte einen neuen Ort. Meine Vorstellungskraft hatte eine neue Heimat. Das ganze Universum, die kosmische Melancholie, sie gehörte jetzt mir wie das Maiwetter, wie Heiligabend, die Wolken, das »Vater Unser« an den Sonntagen. Mit der Vorstellungskraft kamen aber auch die Fragen in meinen Kopf. Die Schönheit der nie zu Ende erklärten Lücken hat mich stets zu neuen Erkundungen geführt. Zum Geheimnisumwitterten gehörten die Tränen des Heiligen Laurentius, die dieser, so sagte es mir Vater, als Sternschnuppen wieder auf die Erde schickte, um an sein Schicksal als Märtyrer zu erinnern, jedes Jahr, an jedem 13. August. Laurentius starb 258 auf einem glühenden Rost. Hatte er seinen Schmerz verwandelt? Vater gab mir darauf keine Antwort, stand aber manchmal in der Nacht auf und weckte mich dann vor der Morgendämmerung, um mir die Sternschnuppen zu zeigen. Ich müsse mir etwas wünschen, sagte er, der Heilige Laurentius sei für uns alle gestorben, um uns etwas über den nächtlichen Himmel beizubringen. Und ich wusste nie, was ich mir wünschen sollte, weil an die Stelle der Wünsche immer zuerst Fragen traten. Weshalb konnte ein Mensch, der vor so langer Zeit gestorben war, etwas mit meinem Schicksal zu tun haben? Schon bald war der Sternschnuppensegen vorbei, und in meinem wunschlosen Kopf wohnten neue Rätsel. Wieso kann ich plötzlich Fragen stellen?, fragte es selbsttätig in mir. Und dann wurde mir das Lebendigwerden des Wortes »beschützen«zuteil. Wo kommt das Wort und seine Bedeutung her? Aus Vaters Mund oder aus seinem Inneren? Würde es möglich sein, in meinen Träumen dem römischen Märtyrer Fragen zu stellen? Beschützte der Sternenhimmel mich genauso wie meinen Vater? Er denkt etwas, und ich denke es auch. Wenn man beschützt wird, dann doch von intelligenten Wesen? Und was passiert, wenn ein Krieg ausbricht? Beschützer haben doch auch dann ein Herz? An der Stelle des Herzens kann doch kein Loch sein! Beschützer können, müssen doch auch im Krieg lieben! Das geht doch nur mit dem Herzen? Ja, klar, sagte mein Vater, die Perseiden etwa haben nicht nur ein Herz, sondern auch eine Lunge, die Sterne können atmen. »Wer atmen kann, ist verwandt mit mir.« Dieser Gedanke beginnt, sich allein in mir zu denken. Die unbedingte Kraft des Gedankens nimmt mich so in Beschlag, dass ich alles mit der Haut fühlen kann, was mein Kopf in Worten denkt. Verwandt oder nicht! Die Sterne waren also in jedem Fall Wesen. Mein Leben hing zwar nicht von diesem Wissen ab, aber jetzt sehe ich mit inneren Augen, wie ein Fluss in meinem Kopf entsteht, direkt neben dem Kreuz des Südens – alles Lebendige ist miteinander verbunden.
Die hellsten Sterne tragen Namen wie Acrux, Becrux, Gacrux und Decrux, sagt der Vater, das sind Abkürzungen für alpha, beta, gamma und delta in Verbindung mit dem Namen crux. Das ist Latein, sagt er, zwinkert mir zu, wichtigtuerisch. All diese Worte, sie waren und sind Musik in meinen Ohren, innere Farben, innerer Klang. Aber Vater, wo ist das Kreuz des Südens, und Latein, was ist denn Latein?, frage ich ihn. Eine Sprache, sagt er, ich weiß auch nur, dass es sie gibt. Er hat sie nie gelernt. Dennoch oder gerade deswegen bleiben mir die unbekannten Worte als Musik in Erinnerung. Wie hat er die Wörter gelernt? Als Rhythmen? Er sagt es mir nicht, er erklärt nichts, er, der Vater, deutet nur an, dass es etwas mit den Träumen zu tun habe, mit dem Leben und der Sprache und der Musik in ihnen.
In mir bildet sich ein Überzeugungsraum, dass es so gewesen sein könnte. Wenn ich es denken kann, dann muss er es angedeutet haben. Oder etwa nicht? Fragen kann ich ihn nicht mehr, er kann es mir nicht mehr erzählen, mein Vater ist tot. Aber das Latein jener Sternennacht, der Nachhall seiner Worte bebt und schwebt in mir, rätselhaft melodisch, Teil meiner unfertigen Nachtbilder und szenischen Warnungen, Teil jener allnächtlichen Prophetien, die mich nach meinem Platz in der Welt fragen lassen. Ganze Landschaften erträume ich mir, um ihm Fragen zu stellen. Aber die Toten sprechen nicht.
Ich lerne sehr früh, dass Worte Handlungen sind, Brücken zum Bleibenden. Für meinen Vater war Sprache nur die Bedeutung der Wörter. Da fing sie an, die allmählich sich manifestierende Absonderung von ihm. Von innen fand sie statt. Der Zweifel hatte sich in mir abgelegt. War mein Vater ein Lügner oder ein Alleskönner? Ich schließe die Augen. Die Musik der Kindheit und die Musik der Träume, sie sind Teil meiner erzählenden Lunge, und in ihr ist ein autonomes Verlangen nach Wachheit, das Verlangen nach Weisheit, nach jedem Wort von König Salomon, nach der Mitarbeit der Psalmen. Anders kann ich die lichternden Sterne nicht verorten, die auch in mir sind, besonders morgens, kurz nach dem Aufwachen fühle ich das ferne Licht der Träume, wie man den flimmernden Schlaf des Sommers am eigenen Körper fühlt. Eine Himmelsleiter verbindet sie mit mir. Das unsichtbare Dazwischen ist ein Land. Ich will die Treppen zu diesem Land finden. Nicht nur, indem ich in den Wipfel des Mandelbaumes klettere. Wann bildete sich der Wunsch in mir aus? Vielleicht an jenem schreckverdichteten Tag, der auch noch ein Heiligabend war und an dem ich zum ersten Mal ahnte, was Krieg sein könnte und wie er entsteht, wie er sich einen Platz in einem Menschenleben verschafft.
Mein Vater drückte mir eine Pistole in die Hand und ließ mich in den Himmel schießen. Es half kein Weigern und kein Weinen. Schieß den Sternen in den Bauch, sagte er und hielt meinen Körper fest, der Schuss fiel, ich zitterte am ganzen Leib. Habe ich die Sterne erschossen, fragte ich ihn, erhielt aber keine Antwort. Er schob mich von sich, nahm die Pistole in die Hand und verschwand wortlos im Haus. Ich roch den schwefeligen Schuss noch lange, die Luft war von ihm durchsetzt. Ich sah in den Himmel und dachte, ich will ihn in diesem Leben nie wieder lieben. Stattdessen erlebte ich die Zeugenschaft der Sterne, ihre Art Mutterschaft, ihr immerwährendes Leuchten und meinen in die Lungen abgesunkenen Kummer. Mit geschlossenen Augen will ich die Stufen in mir nehmen und so zu den Sternen sprechen, Teil ihres Lichtes sein, den Kern ihrer Mitteilungen erfassen. Diese Stelle, an der die Sterne sich uns noch zusprechen, nennt der Chirurg und Schriftsteller Carl Ludwig Schleich einen »Taubenposten unserer Gedanken«. Das seien die Elemente am Webstuhl der Seele, die Materialen, aus denen die Orgel des Gehirns gebaut sei. »Sehen wir zu«, schreibt er, »wie die Schiffchen gleiten, wie die Register spielen und was die Tasten leiten.« Ich sehe mein Leben lang zu, den Fliegen, den Vögeln, dem Gras, den Perseiden, dem Muster und den Nachrichten der Wolken. Allem und allen. Und irgendwann fange ich auch damit an, mir selbst zuzusehen. Der Atem hilft mir dabei, der Atem hilft mir zu sehen. Die Bilder haben immer eine tiefere Schicht, je länger ich sie ansehe, desto mehr lösen sie sich auf, wie Punkte in meinem Kopf; Punkte und Wunden, die zu Wundern werden, zu meiner Einweihung ins innere Leben. Ein innerer Sternenkompass entsteht dabei und verbündet sich mit den Träumen. Wie macht er das? Wie bei allen Rätseln, liegt die Wahrheit darin, dass wir die letzte Wahrheit nicht kennen und sie uns nur soweit vorstellen können, wie sie unseren inneren Erfahrungen entspricht. Aber vielleicht liegt ein Schritt zur Geheimniseinsicht darin, dass wir uns alle in der Zeit wesentlich endlicher als im Raum fühlen. Das Unendlichkleine in der Zeit und das Unendlichgroße im Raum haben einen Vermittler: den Traum. Er unterrichtet uns. Wie entwickeln sich Menschen? Maurice Maeterlinck ging davon aus, dass jede Entwicklung zum Besseren ein Vorbild voraussetzt. Hat mein Vater irgendetwas beabsichtigt, als er die Sternenwelt erwähnte? Was auch immer ihn dazu gebracht hat, mir die Tränen des Heiligen Laurentius zu zeigen, es hat den Funken der Hoffnung in mir geweckt. Und nicht der Vater, nicht seine Gewalt, aber sein Blick in den Himmel (zu den Welten öffnenden Sternsporen) und die zuerst gesprochenen Sternenworte werden mit der Zeit Motor und Sakrament meines Anschauungsvermögens: Ich bin nicht das, was ich anfassen kann, nicht nur, ich bin auch die Himmelsleiter meiner Gedanken, mein Weiterdenken, Weiterwachsen, Weiterleben in den ewigen Raum hinein, aus dem die Tränen, zu Sternschnuppen geformt, Licht für den Menschen werden. Die Lunge muss das Weiter mitmachen, muss die Sterne auf die Erde und in die Sprache hineinholen. Kein Schuss darf jemals meinen Süden im Kopf töten, keine Angst mein tastendes Innenleben absterben lassen. Bei den Rationalisten macht man sich damit verdächtig, aber der Süden gehört so sehr zu meinem Kopf wie die Schnürsenkel zum Schuh, dass ich gar nicht anders kann, als tastend zu leben.
Dem Tasten liegt eine Geschichte der Zerbrechlichkeit zugrunde. Nach dem Schuss in die Sterne kam es zu einem zweiten Bruch in der Wahrnehmung meines Vaters. Ende der achtziger Jahre bat er mich irgendwann, das Bild des faschistischen Führers Ante Pavelić von Hessen nach Dalmatien über die Grenze zu schmuggeln, ohne mich in die Gefahren einzuweihen und ohne mir zu sagen, wer dieser Mann war, den er freudig »poglavnik«nannte: Führer. Jemand aus der kroatischen Diaspora hatte ihm in Deutschland ein Bildchen besorgt, kitschig koloriert, in der Größe, die sonst nur einem Heiligen wie Rochus von Montpellier oder Antonius von Padua zukam. In der Schule in Hessen hatte ich über die Gräueltaten und die Vernichtung der europäischen Juden durch einen anderen Führer einiges gelernt. Es konnte doch nicht sein, dass Vaters Führer auch so einer war wie jener Hitler, der immer so elend in die Höhe sprang, wenn er von seinem Rednerpult die ganze Welt anschrie.
Ich fragte einen Freund meines Vaters, ob der eine Führer so wie der andere Führer sei: ein Massenmörder. Der fremde Mann lächelte nur, sagte mir nichts zu Hitler, aber sein metallen sprödes Lächeln erzählte alles, war erschreckend und unheimlich. Woher kannte mein Vater diesen Mann? Konnte ich meinem Vater noch vertrauen? Die Fragen blieben in mir stecken wie etwas, an dem ich mich für den Rest meines Lebens verschlucken sollte. Ein Raum der Angst und Nachdenklichkeit entstand in mir, auch Erschütterung über die zwei so unterschiedlichen Gesichter des Vaters. Sein Bild und das Bild des menschenverachtenden Massenmörders vermischten sich. Das eine Gesicht legte sich über das andere Gesicht, und ein mächtiger Herrscher, kein Sterne erklärender Vater, stand vor mir, zu allem bereit. Dann aber war mein Vater wieder sehr schelmisch, erzählte Witze, war liebenswürdig und zärtlich, kaufte uns Kindern Eis und Gummibärchen, lernte von seinen Kollegen türkische und italienische Wörter, gab vor, Französisch zu können, lachte, trug einen großen Hut, enge Jeanshosen, ein hellblaues Hemd, er sah aus wie ein Amerikaner, der eine eigene Ranch hat, gleich auf seinem Pferd davonreiten und in die Untiefe einer sommerlich zitternden Prärielandschaft verschwinden konnte. Er liebte John Wayne (sprach ihn Čon Vejn aus) und die unzähligen Heldenepen vom Balkan konnte er auswendig.
Ich habe oft darüber nachgedacht, was für ein Mensch mein Vater hätte werden können, wenn er frei gewesen wäre, frei von seiner kollektiven patriarchalen Beschriftung, frei von seiner Trinksucht, frei vom Hunger in seiner Kindheit, frei von seinem Bedürfnis nach einem Führer. Dennoch wirkt jener Tag, an dem er die Tränen des Heiligen Laurentius und mit ihnen die ganzen Sterne in mein Leben brachte, in meiner Erinnerung immer noch nach, vor allem deshalb, weil ich ihn später auch als einen Menschen erlebte, der um das geschändete Grab eines serbischen Nachbarn trauern konnte. Mein Vater weinte an diesem Grab wie ein Kind. Es war die Freundschaft, die ihn zu einem trauernden Menschen machte.
Als meine Familie 1983 von Dalmatien in den Main-Taunus-Kreis zog und ich neben dem Deutschen auch das Hessische erlernte, fehlte mir fast immer der Sterne (und also auch Glück) bringende Himmel des europäischen Südens, der sich mehr und mehr ins Innere verlagerte. Mein Vater war noch der Tröster und erklärte mir bereitwillig die Sterne dieser neuen Breitengrade. Aber oft standen ihm in Hessen die Wolken hinderlich am Himmel. Hier kannte niemand die Tränen des Heiligen Laurentius, die als Sternschnuppen unsere Sommer verschönert hatten. Die Einsamkeit fing an in mir zu wachsen, wurde mein Kirschkern, um den ich wuchs. Sie bildete sich als Kristallisationspunkt meines Lebens aus, an dem entlang sich das Walten der inneren Welt sortierte. Die Welt im Außen erschien mir ohnehin seit dem Umzug in die neue Sprache als Verlängerung der inneren Räume. Ich konnte förmlich meinen eigenen Gedanken zuhören. Eine kleine Ozon-Akademie entstand in meinem Kopf, schrieb offenbar alles mit und erzählt es mir jetzt, drei Jahrzehnte später, auf dem Weg zurück nach Dalmatien. Ich erinnere mich an eine Art inneren Stillstand, an eine neue Ruhe, die ein urtümlich starkes Schweigen mit sich brachte. Vielleicht wurde damals ein neues Zimmer in meinem Selbst bezogen, und es war dieses Schweigen, das bei mir blieb, es lehrte mich die Betrachtung der neuen Welt, in der, nur scheinbar paradox, auch die neue Sprache einzog. Die Natur der Kindheit war über Nacht nahezu verschwunden, aber der Kopf ein Ort geworden. Auch der Sommer war in Hessen anders. (Es gab ihn nicht.) Die achtziger Jahre waren im Schnitt eine sehr verregnete Zeit.
Wenn Olympische Spiele oder andere große Sportereignisse im Fernsehen übertragen wurden und auf den Flaggen einzelner Länder das Kreuz des Südens auftauchte, sagte mein Vater, das Sternbild grüße uns auf diese Weise. Er ließ mich meinen Diercke-Schulatlas herausholen und suchte das Kreuz des Südens für mich. Es schmückte die Flaggen von Brasilien, Australien, Neuseeland, Papua-Neuguinea, Samoa, den Weihnachts- und Kokosinseln, die Präsidentenstandarte Brasiliens und war auch auf der Zwei-Dollar-Kursmünze Australiens (zusammen mit einem Aborigine) zu sehen. Ich dachte anfangs, Vater erfinde all diese Namen, um mich zu trösten. Aber als ich nachforschte und meinen Erdkundelehrer fragte, ob es etwa die durchweg phantastisch tönende Weihnachtsinsel, die ich für eine von Vaters skrupellosen Erfindungen gehalten hatte, wirklich gab, fand ich heraus, dass sie im Indischen Ozean lag (von dem ich bis dahin gar nichts gewusst hatte). Ozeane gab es also auch. Was für eine Ausbeute. Und was brachte der Süden mir nicht noch alles bei! Der Verlust des sommerlich großzügigen Sternenhimmels, der allnächtlich unsere Augen segnete, machte mich nachdenklich und führte zu einem fast mystischen Erlebnis wie jene über das Wissen der Haut vollzogene Erkenntnis im Alter von fünf Jahren, dass nicht meine blaue Strickjacke kleiner, sondern ich selbst größer wurde. Auch das hatte mir niemand erklärt, und es erschütterte mich, dass es so war wie es war, denn ich war zunächst ganz sicher gewesen, dass irgendeine ominöse, sprachferne, mächtige Kraft (vielleicht kam sie mittels Himmelsleiter von den Sternen zu mir?) die geliebte Strickjacke schrumpfen ließ. Nun dachte ich in Hessen über das Verschwinden der südlichen Sterne nach und fühlte mich auch an die erste bewusste Wahrnehmung des Mondes erinnert: Wo lebte das runde Wunder, wenn ich schlief und es nicht ansah? Früher schon hatte ich den Mond im Dorf ins Visier genommen. Ich kam zu dem Schluss, dass die Bewegungen am Himmel etwas mit mir zu tun haben mussten. Ich löste sie doch durch meine Schritte aus. Oder etwa nicht? Gab es eine objektive Welt? Und was, wenn ich mich irrte? Die Sterne, dessen war ich mir sicher, waren der Ort meiner Herkunft und Seele – dazu bestimmt, von mir, auf dieser dunklen Erde, in einem sozialistischen Dorf ohne Straßenlampen erinnert oder eben auch freiphantasiert zu werden. Es war der Raum der Sterne an sich, dieser unendlich weite und weitentfernte Raum, der mein Denken anzündete und der sich mit der Einsamkeit verbrüderte. Vergiss mich nicht, schien beim Abschied der Himmel meines Südens mir zu sagen. Und ich fand die mir so vertraut leuchtenden Sternfamilien fortan überall, am Himmel, in Menschen, in ihren Augen und in Gedichten oder Sätzen wie jenem unvergesslichen von Ralph Waldo Emerson: »Spanne deinen Wagen an die Sterne« – der mir wie für mich erfunden vorkam und den ich immerzu mit einem Satz von meiner Tante Anastazija in Gedanken ergänzte: Und lebe leise, kleiner Vogel. Meine erste Reise wurde nicht nur eine Fahrt irgendwohin, sie war von Beginn an eine Lebens- und Sprachreise, ein Weg ins Unbekannte. Sie hat mir zwar nicht die ganze Welt erklärt, aber, und das war viel geheimnisvoller, mir mit der ersten Zugfahrt von Split nach Frankfurt gezeigt, dass das Unbekannte keine Fiktion ist, es gab eine größere Welt, überall, nur kannte ich sie bisher nicht. Man musste vielleicht doch nicht gleich zu den Sternen reisen, um etwas zu erleben! Räume und Träume gehörten in der neuen Sprache fest zusammen. Das Unbekannte, so zeigte es mir jedes Unterwegssein, ist immer im Anderswo. Es verändert und erweitert sich, je nachdem, wo man sich (im Innen und im Außen) befindet und vor allem: ob man bleibt oder geht. Und doch ist das Anderswo zuverlässiger als ein Ort, den man beweisen kann, auf einer Landkarte, in einem greifbaren Leben. Die Farben des Südens schliefen in mir die achtziger Jahre in Deutschland hindurch. Vielleicht überdauerten sie aber auf diese Weise in einem gut behüteten Traum, und eine Zugfahrt konnte sie jederzeit wieder in meine Welt treten lassen? Die Züge haben heute keine ratternden Räder mehr, aber das Rattern ist dennoch in meinem Kopf. Ich nehme die geweckten und die neugewachsenen Farben mit, fahre mit ihnen zurück in meine ersten Landschaften. Ich reise nicht der Vergangenheit entgegen, es ist das neue Sehen, das mein Land geworden ist. Wer bin ich jetzt, nach so vielen Jahren in meinem Anderswo? Schon beim Kofferpacken war mir ein Satz von Sören Kierkegaard eingefallen, mit dem er dazu auffordert, dass man sich eine Waage vorstellen solle, etwa die feinste Goldwaage, wenn sie nur acht Tage in Gebrauch sei, habe sie schon eine Geschichte. Auch meine Reise hat eine lange Geschichte, die fast eine Vermeidungsgeschichte geworden wäre. Der wunde Punkt, um den meine Gedanken kreisen, ist mein Cousin Filip, der nicht mehr lebt. Er hat sich im Wald erhängt. Es gab keinen Abschiedsbrief, keine Erklärungen. Filip war der jüngste Sohn meiner Tante Anastazija.
Nach dreißig Jahren bin ich wieder im Haus von meiner Tante Anastazija und frage sie, ob das Badezimmer noch immer dort ist, wo es vor über drei Jahrzehnten war, als ich zuletzt im Hinterland bei ihr zu Besuch war. Sie nickt und lächelt schalkhaft, auf eine Weise, als hätte meine Frage eine kleine, unsichtbare Brücke zu ihrer Lebenswaage, zu jenem inneren Gold gebildet, das alles speichert. Tante Anastazija ist die Frau meines Onkels, keine direkte Verwandte also. Aber unsere Augen kennen sich länger als Verwandte sich kennen, wir sind von Anbeginn über die Iris miteinander befreundet, und das hat wohl auch damit zu tun, dass ich sie als Kind zuerst für meine Mutter hielt, sie auch so rief, weil meine eigene in den ersten Jahren fast nie berührbar und ein seltener Augengast war.
Tante Anastazija sieht mich lange an, sie versteht nicht, warum ich nicht einfach losgehe. Ihr Blick sagt, nun geh’ schon, es hat sich hier nichts geändert, und das ist fast wahr, denn ihr Badezimmer befindet sich an altbewährter Stelle. Es war in den siebziger Jahren eine Art heiliger Ort, Offenbarung und Freude in einem, da ich nur ein Latrinenhäuschen kannte, in dem es selten Toilettenpapier gab, nur Zeitungen mit übel dick aufgetragener Druckerschwärze, die überall ihre Spuren hinterließ. Bei Tante Anastazija leuchtete aber alles weiß und war sauber, sie hatte auch Toilettenpapier. Auch hatte sie fließend Wasser. Und sie hatte große Augen. Die ließen mich ein großes Herz in ihrer Brust vermuten, ein mit ihren Augen verbündetes.
Ich lächle Anastazija an, nicke, zwinkere fröhlich, gehe ins Bad, als sei wirklich alles so, wie es schon immer war. Dabei ist alles, absolut alles anders, als es vor meinem Fortgehen war. In diesem Land hat es Krieg gegeben. Die serbischen Häuser im Dorf sind zerstört und die orthodoxen Bewohner vertrieben worden. Anastazijas drei Söhne waren im Krieg. Seitdem, sagt sie, hängt ihre Seele zur Hälfte im Nebel, zur Hälfte in dieser Welt. Sie, die in jungen Jahren schön war wie ein vorzeitliches Versprechen der Götter, hat eine unheilbare Krankheit bekommen. Parkinson. Und ihr Filip, der jüngste Sohn, hat Selbstmord begangen. Nach dem Krieg habe er immer wieder damit gedroht, aber niemand habe es ernstgenommen. Der Wald ist fünf Meter Luftlinie vor Anastazijas Haus entfernt. Der Wald ist voller Vögel. Sie zwitschern und singen und können gar nicht damit aufhören. Meine Tante weint, sie zittert, es reißt mir das Herz aus dem Leib. Alle Zeitungen haben über Filips Tod geschrieben, auch das Fernsehen war da. Ich will ihr Trost spenden, weiß aber nicht, wie man einem solchen Menschen beistehen kann, was zu sagen ist, was sich im Lauten gesprochen echt und wahr anhört, was überhaupt sagbarist, wenn der Schmerz so ergreift. Ich schaue sie an, sie schluchzt, weint noch immer, dann murmelt sie nur noch still in sich hinein. Sie hält meine Hände, lässt sie los und rückt dann wie früher die Schale mit den Keksen näher an mich heran. Teekekse, wie es sie in den siebziger und achtziger Jahren überall in den Genossenschaftsläden des Landes gab, in Sarajevo genauso wie in Belgrad, Zagreb, Novi Sad oder Split. Anastazija hält sich die Hand vor die Augen. Ich sehe auf das Bild des gekreuzigten Christus, das an der Wand gegenüber hängt, meine Tante betrachtet es jeden Tag. Das Kreuz des Südens, es hat plötzlich eine ganz andere Bedeutung für mich. Jesus ist in jedem Haus zu sehen, aufgestickt, glitzernd, in Neonfarben, Jesus als Popikone mit einem leuchtenden Herzen an der Stelle, an der die Hindus ein Rad verorten, das sich dreht und in Farben über sich erzählt. Leidend und ans Kreuz gebunden hängt Jesus an den dalmatinischen Küchen- und Wohnzimmerwänden. Farben, die das Innere des Betrachters zum Leuchten bringen, sind ihm verboten. Jesus und jeder, der ihn ansieht, muss leiden, muss die Dornenkrone tragen. Er soll zeigen, dass das Leiden normal ist, dass man immer leiden muss, dass man keine andere Wahl hat. Jesus darf nur im Passepartout wohnen, seine Todesstunde ist stärker als alle seine Worte. Bei so viel Leid ist es den Menschen hier verboten, selbst zu denken, sich selbst zu befragen, sich selbst zweifelnd zu begegnen. Und mit einem Mal wundert es mich nicht mehr, dass die Bewohner dieses kleinen Bergdorfs lieber den Krieg als das Denken gewählt haben. Jeden Sonntag gehen sie in die Kirche, und nichts von den Seligpreisungen aus der Bergpredigt hilft ihnen, den Frieden im eigenen Inneren zu leben. Sie suchen ihn, wie zunächst wahrscheinlich fast alle Menschen, nur im Außen. Mein Cousin hat die Bergpredigt seine ganze Jugend über geliebt, wir haben oft über die Feindesliebe gesprochen und uns viele Fragen gestellt. Wie liebt man einen Feind? Dabei wussten wir nicht einmal, was ein Feind überhaupt ist. Als der Krieg ausbrach, sagten viele Männer, die in den Kampf zogen, sie seien auf ihn vorbereitet gewesen. Für Filip war das anders, er war nicht auf einen Krieg vorbereitet. Nichts im Leben könne einen darauf vorbereiten, andere zu töten, sagte er mir einmal kurz nach der Befreiung der Krajina. Wie aber konnte er sich dann selbst das Leben nehmen?
Von seinem Selbstmord erfuhr ich kurz vor dem Weihnachtsfest und einige Wochen vor meinem Aufbruch nach Dalmatien. Mein Bruder hatte schon seit Monaten gewusst, dass unser Cousin spurlos verschwunden war, und es mir vorenthalten. Diese Monate, die er hatte, um das Grauen zu begreifen, fehlten mir jetzt. Davon war ich anfangs überzeugt, musste dann aber einsehen, dass man sich als Mensch auf ein solches Ereignis genauso wenig wie auf einen Krieg vorbereiten kann. Selbst wenn ich Jahre dafür hätte, ich wäre niemals darauf vorbereitet, dass ein naher Mensch den Selbstmord wählt. Der Verlust meines Cousins ist ein strenger Lehrer wie auch der Tod an sich einer ist. Wir, seine nächsten Angehörigen, haben ihm nicht geholfen, seinen Ort in der Sprache zu bewahren, denn er hat diesen Ort im Krieg und vielleicht auch schon in der Kindheit an die Gleichgültigkeit verloren, die ihn umgab. Wer nicht geachtet wird, der weiß nicht, dass es die Würde gibt, gerade sie muss vorgelebt werden. Achtsamkeit für sich selbst, das hat er nie gekannt, denn sie wurde ihm nicht geschenkt. Wie bei jedem Menschen, der einen anderen durch die Endgültigkeit des Todes verliert, fühle ich in jenem Moment, in dem mich die Nachricht von seinem Selbstmord erreicht, mit erschütternder Genauigkeit, was in meinem Leben kostbar und von bleibendem Wert ist und was es nicht ist. Und damit verbunden, mit präziser Seismik der Seele, was ich selbst versäumt habe, versäumt im Geben, was ich nicht für ihn getan und was ich an Nähe unterlassen habe. Es gab tausend Gründe dafür, die Entfernung, transatlantische Reisen, andere Sprachen, andere Erfahrungen und Weltanschauungen. Nach seinem Tod ist kein einziger Grund gültig. Wie leicht wäre es gewesen, einen Brief zu schreiben, anzurufen, auf dieses und jenes zu verzichten und ihm ein Flugticket, eine Zugfahrkarte zu schicken und zu sagen, komm zu uns, gehe nicht in den Krieg, bleib ein paar Wochen hier, schau – hier gibt es eine andere Welt, andere Menschen, Bäume, Caféhäuser, Kinos. Allein das Neue und das Entdecken und Sehen des Neuen hätten ihn wecken können. Aus der Rückschau verschiebt sich vor mir selbst jene Achse, die Friedrich Schiller die »Achse der Welt« nannte. Filips Tod ist ein strenger Abzähler der Lebens- und Gedankenschichten, der Abzähler auch meiner eigenen Zeit, die es nur in Gemeinschaft mit anderen gibt. Wie viele Stunden, Tage, Wochen, Monate unserer wertvollen Lebenszeit verschwenden wir darauf, Krieg zu führen? Krieg in Gedanken. Krieg in Sätzen. Krieg in Worten. Alle Kriege beginnen in Gedanken und münden in der Syntax, im reflexartigen Kampf und Zurückschlagen ohne Punkt und Komma. Die Anordnung der Worte in unseren Sätzen gibt genaue Auskunft über die Struktur in unserem Denken. Der Charakter ist kein Zufall. Martin Buber hat darauf hingewiesen, dass er eine Aufgabe ist. Das Wort »Charakter« stammt aus dem Griechischen und besagt »Einprägung«. Unser Charakter ist das, was uns der Stempel unserer Umgebung einprägt. »Die besondere Verbindung zwischen Sein und Erscheinen des Menschen, der besondere Zusammenhang zwischen seiner Wesenheit und der Folge seiner Handlungen und Haltungen wird seiner noch plastischen Substanz eingeprägt«, notiert Buber in seinen Reden über Erziehung. Und ein Mensch, der sich das Leben nimmt, wirft es fort, weil er von etwas geprägt wurde, das ihn sich selbst als wertlos empfinden ließ. Einen solchen Stempel stellt man nicht allein her, und jeder Tod erzählt am Ende ein Leben in seinem Kern. Welche Einprägungen hat der Krieg in meinem Cousin vollzogen? Und warum konnte es überhaupt dazu kommen? Ich kann Filip nicht mehr fragen. Aber manchmal träume ich von ihm und frage ihn auf diese Weise, ob er jetzt weiß, was Feindesliebe ist, und wie er als Mensch das geworden ist, was er am Ende in seiner Verzweiflung war. Er sieht mich nur mit seinen großen blauen Augen an, sein Haar duftet nach Kamille. Er bedankt sich bei mir, und ich weiß nicht, wofür er das macht. Vielleicht, damit ich das Fragen nicht sein lasse, aber auf fertige Antworten verzichte, um in sie hineinzuleben.
Wie werden wir, was wir sind? Und was ist aus meinen zehn anderen Cousins geworden, die den Krieg überlebt haben? Sie sagen mir, dass sie gesund seien, dass der Krieg gewonnen werden musste. »Du darfst nie vergessen, dass wir uns gewehrt haben, dass wir es waren, die angegriffen wurden, nicht umgekehrt.« Wie könnte ich das vergessen? Aber merkwürdig und verstörend, dass ich sie noch immer liebe, obwohl ich weiß, dass auch sie getötet haben. Es ändert nichts an meiner Liebe. Aber ich sehe, dass sich ein grauer Schleier über sie gelegt hat. Ihr altes Leuchten ist für immer verschwunden, das Licht erloschen, jene innere Sonne, die mich über Jahrzehnte hinweg mit ihnen verbunden hat. Ihre Gesichter sehen aus wie durch Nervengift lahmgelegt, verbraucht schauen sie mich an mit kaputten Zähnen, Arthritis und Kopfschmerzen. Mein Denken ist für sie nicht das richtige Leben. Meine Freiheit und Unversehrtheit kommt ihnen vor wie ein exklusives Luxusgut, etwas, das ihnen in diesem Leben nie gehört hat und das mich nun für immer von ihnen trennt. Wer den Krieg nicht aus eigener Anschauung kennt, der kann in ihren Augen nicht mitreden. Und es stimmt auch, ich kann in diesem Sinne nicht mitreden, und sie können nicht mehr frei über den Frieden nachdenken. Sie sind vom Krieg Betroffene, Gezeichnete mit unzähligen (auch – auf den ersten Blick – überzeugenden) Argumenten für die Gegnerschaft. Und sie sind Menschen, die andere getötet haben, um wiederum andere zu retten, obwohl sie das so nie aussprechen, schwingt diese Gewissensgleichung immer mit, wenn die Rede auf den Krieg kommt. Ihre Beschriftung ist nicht zu übersehen. Die meisten von ihnen haben schon in den ersten Wochen seit Kriegsausbruch gedient und auch Dubrovnik verteidigt, als es von den Serben angegriffen wurde. Wochenlang verbrachten sie oft hungrig in den leeren Dörfern oberhalb der Stadt, manchmal wurden sie von den Fischern mit Miesmuscheln versorgt, anfangs, ohne zu wissen, wie man sie zubreiten muss. Die Dorfbewohner konnten ihnen nicht helfen, sie hatten schon bei den ersten Angriffen panisch ihre Häuser verlassen. Die Menschen waren damals überzeugt davon, dass nicht einmal die Serben fähig sein würden, Dubrovnik anzugreifen, deshalb suchten alle in der Altstadt Unterschlupf.
Mehr als das geben die Männer nicht preis. Und über Mostar und die Zerstörung der alten Brücke wollen sie mit mir gar nicht sprechen. Sie verweigern sich, umarmen mich, lachen, geben mir Küsschen auf den Kopf wie früher und fordern mich auf, Feigen und »pršut«, den geräucherten dalmatinischen Schinken, mit ihnen zu essen, dabei wissen sie, dass ich seit Jahrzehnten nichts essen kann, was einmal geblutet hat. Aber seit Filips Selbstmord lassen sie mich damit auch in Ruhe. Weder sie noch ich können uns vorstellen, dass ein lebendes Wesen soweit Schmerz werden kann, dass es nicht mehr unter seinesgleichen weiterleben will und kein Wort, kein Blick es trösten kann.
Immer wieder führe ich mir, während ich bei meiner Tante Anastazija auf dem Sofa sitze, das Bild eines sich in Luft auflösenden Menschen vor Augen. Einer geht weg, für immer, und niemand kann ihn zurückhalten, so, wie auch niemand für ihn und an seiner Stelle leben kann. Seine Lücke bleibt. Der Fremde, der vierzig Jahre lang einen Namen hatte, er zieht aus, lässt uns, die wir noch leben, für immer sprachlos und entmachtet zurück. Der Mitmensch war uns nur geborgt worden. Jetzt ist die kostbare Leihgabe an den Ort ihrer Herkunft zurückgewandert, zum Kern, aus dem der Mensch kam und Besucher wurde auf dieser Erde. Kein Kern ist ersetzbar. Jeder Kern ist einzigartig, Lebendiges nie eine Kopie. Der Kern zeigt mir, dass sich kleinliche Gedanken vor dem Hintergrund des Krieges und des Todes von selbst auflösen, getragen von einem anderen, besseren Selbst. Den Tod, so soll es einmal der große Stoiker Epiktet gesagt haben, müsse man sich deshalb täglich vor Augen halten. Der Tod ist der Kern des Lebens. Er sortiert die Wirklichkeit und ist ein zuverlässiger Erzähler. Mir macht er nun mit Nachdruck die Lücke spürbar, die mein kostbarer Kindheitsmensch hinterlassen hat. Worin bestand seine Kostbarkeit? In seinem bloßen Leben, darin, dass er ein berührbarer Mensch war. Vielleicht können wir nur nach dem Tod eines Menschen in Gänze erfassen, auf welche Weise und an welchen Stellen unseres Lebens er uns nahegekommen ist, sich in uns eingeschrieben und somit auch für immer verändert hat. Filips zeitgleich offener wie schüchterner Blick, seine blauen Augen, auch seine schmalen, feinen Hände fallen mir jetzt ein, der deshalb so auffällige starke feste Daumen, seine harmonischen Fingerkuppen, die tief eingekerbten Linien in seiner rechten Hand, Inselchen und Dreiecke bildeten sie, die wir uns in der Kindheit manchmal stundenlang angeschaut hatten. Was passiert nur mit diesem einzigartigen Hautarchiv nach unserem Tod? Können unsere gewundenen, verdoppelten, aneinander geketteten, verwirrten, wellenförmigen Linien in der Erde überleben? Vielleicht tragen die Wurzeln der Bäume ihre Sprache in sich und wir müssen nur irgendwann lernen, sie zu verstehen. Vor Tante Anastazijas Haus bellt der Hund, sie weint, und ich bete, dass kein Wolf in der Nacht kommt und ihn auffrisst wie seinen Vorgänger. Anastazija sagt, dass sie ohne Filip selbst nichts mehr zählt, sie scheint die am Leben gebliebenen anderen Söhne nicht mehr zu sehen. Filips Kern ist ihr gerade durch seinen unwiderruflichen Tod einverleibt, sie ist in ihm, und er ist in ihr. Bis zu ihrem Lebensende wird er seinen Platz behalten, der ihm zugeteilt war. Er ist für immer Anastazijas innerer Stempel, seine Hand liegt noch in ihrer Hand. Das ist merkwürdigerweise der Augenblick, in dem ich nicht nur denkend, sondern auch empfindend begreife, welches zerstörerische Ausmaß dieser letzte Krieg in Europa und mitten in der Zivilisation hatte.
Warum Filip einen Strick benutzt und sich im nahegelegenen Wald erhängt hat, das getraue ich mich nicht, meine Tante zu fragen. Sie erzählt mir von sich aus, dass er sich unweit der Stelle einen Baum gesucht hat, wo wir beide in der Grundschulzeit unsere Kühe mit den unvergesslich wachen Augen hüteten. Wir probierten aus Neugier Gras, Klee und Bockshornklee, wilden Fenchel und Rosmarin, genüsslich kauten wir auf allem herum, was in der trockenen karstigen Erde zwischen den Steinen wuchs. Und wir überlebten alles, auch ein giftiges Kraut, von dem es hieß, es wirke unmittelbar tödlich und lege die Nerven zielgerichtet lahm wie ein gemeiner Schlangenbiss. Wir hatten viele Hollywood-Filme gesehen und sagten uns, gut, wenn wir sterben müssen, dann sagen wir uns vorher noch, wie sehr wir uns lieben: verriii matsch lieb’ ich dich! Dann lachten wir und suchten unsere Körper nach Spuren des sich ankündigenden Todes ab, Rötungen, Juckreiz, Schwindel und Atemlähmung blieben aus. Tante Anastazija kochte Pasta e fagioli für uns, Makkaroni und Bohnen, und nach der Siesta lebten wir immer noch, atmeten, lachten und hatten bewiesen, dass die anderen Angsthasen waren und man doch nur ein bisschen Mut brauchte, um Bärenklau und Binsenkraut und Blauregen zu essen. Nur Feiglinge sind sterblich, sagte mein Cousin, und ich küsste sein liebes blondes Haar und war glücklich über einen so schönen Verwandten wie ihn.
Tante Anastazijas Hand zittert, in kleinen trippelnden Schritten geht sie zum Herd, will einen türkischen Kaffee für mich machen, wenn du schon mal da bist, wer weiß, sagt sie, wann du wiederkommst. Sie weint wieder oder immer noch, ein Tränenmeer, das mit nichts aufzuhalten ist. Ich kann sie nur mit Stille trösten. Vor dem Haus bellt immer noch der Hund, Tante Anastazija erzählt mir wieder, wie sein Vorgänger eines Nachts von Wölfen gefressen wurde. Nur die Kette sei am Morgen übrig geblieben. Es will mir noch immer nichts einfallen, womit ich Tante Anastazija trösten könnte, weil es nichts gibt, kein Wort, keinen Gedanken, der ihr jetzt von Hilfe wäre. Was mir bleibt, ist nur die Kraft, die Sprachlosigkeit mit uns selbst auszufüllen. Da zu sein, begreife ich in diesem Augenblick, bedeutet still zu sein, zu halten und auszuhalten, zu wissen und sehen zu können, wer ich selbst bin, woher ich komme und was mich auf meinem Weg beschriftet hat (und warum).
Wer sich selbst zusehen kann, der kann sich auch anders denken. Vielleicht ist das der einzige Weg, den Schmerz zu verstehen, ohne ihn zu meiden. Es entsteht im Hineinsehen in sich selbst ein Muster der Begegnung, das uns auf den Weg bringt, in uns zu uns, zu einem anderen Menschen, zu einem anderen, größeren Selbst. Wie aber übersteht das Selbst einen Krieg, ohne sein Geschöpf zu werden? Wir alle hätten unsere Maßstäbe in uns selbst, heißt es in einem der Briefe von Sophie Scholl. Der Mensch solle nicht, weil alle Dinge zwiespältig seien, deshalb auch zwiespältig sein. Auf diese Haltung treffe man aber immer und überall. Tante Anastazija hat wie alle Frauen des Dorfes diesen Krieg befürwortet. Zwiespalt war ihr Alltag. Jetzt, sagt sie, sei sie gewiss, einen Fehler gemacht zu haben, sie hätte ihren Sohn gleich bei Kriegsausbruch wegschicken sollen. Er wäre noch am Leben, sagt sie, wenn er nach Deutschland oder nach Amerika geflohen wäre.
Am Hauseingang hat Tante Anastazija ein schwarzes Tuch als Zeichen ihrer Trauer gehisst. Ich sitze schon seit Stunden mit ihr in ihrem abgedunkelten Wohnzimmer, die Vorhänge sind fast zugezogen. Der Hund und die Katzen müssen draußen bleiben. Mein Onkel sitzt wie ein Säulenheiliger die ganze Zeit bei uns, sagt nicht ein Wort, raucht eine Zigarette nach der anderen, die Luft wird immer dünner, das Atmen fällt mir schwerer. Er schaut durch uns hindurch, ohne Teilnahme, ohne Regung. So war er immer, so hat sich jeder neben ihm wie ein Nichts gefühlt. Draußen scheint die Sonne, aber sie schafft es nicht, einen einzigen Strahl in diese Trauer- und Zigarettenhöhle zu werfen. Eine Muttergottes-Skulptur aus Holz sieht von der großen Kredenz mit der Geste des Segnens zu mir herunter. Sophie Scholls Worte arbeiten in meinem Kopf wie fleißige Bienen, die mir Honig bringen. Und zum ersten Mal verstehe ich nahezu körperlich, dass wir das, was wir im Krieg nicht können, bereits im Frieden lernen müssen, um dem Krieg nicht anheimzufallen. Wenn wir dem berechnend Zwiespältigen in unserem Alltag zum Opfer fallen und uns nicht durch die Freundschaft und in der Selbstschau zu reiferen Menschen erziehen lassen, dann werden wir immer Kompromisse schließen, die uns von der Vitalität und damit auch vom Wandel abhalten.
Mein Onkel reißt mich aus meinen Gedanken, er schimpft plötzlich über Filip. Der Idiot habe unsere Familie und das Dorf und die ganze Gegend mit seinem Selbstmord blamiert. Ich sehe ihn an wie eine dunkle Erscheinung, herzlos dunkle, dumpfe Materie. Er ist es, denkt es in mir, der seinen Sohn mit diesen Sätzen noch einmal tötet. Und wer so kaltblütig in der Sprache morden kann, der hat es, ob mit Worten oder nur mit Blicken, schon immer gekonnt und schon immer getan. Aber warum? Der Krieg habe alles zerstört, sagt meine Tante Anastazija, die 1933 zur Welt kam. Mein Onkel schnauft, schnappt nach einem Wort, schluckt es hinunter wie einen Pflaumenschnaps und sagt dann lange nichts. Er hat gut gekämpft, sagt meine Tante. Sie verwirrt mich mit diesem unerwarteten Lob, das gar nicht zu ihrem Leid passt. Es hört sich an, als würde ein alter Teil in ihr doch noch den Krieg als notwendiges Übel begrüßen und sie nun in seiner Logik denken. Und doch muss auch ich zugeben, dass es notwendig (und mutig) war, eine Stadt wie Dubrovnik vor der totalen Zerstörung zu retten. Daran hat Filip seinen Anteil. Das Gesicht meines Onkels ist wie zementiert. Fühlt er je etwas, frage ich mich. Und was er wohl nachts träumt, dieser dunkle Onkel, der an der Stelle des Herzens bestimmt nur ein schwarzes Loch hat, eine Art Falle, die ihn von jeder Empfindung und Sanftmut abhält. Männer weinen nicht in diesen Gegenden. Lieber ziehen sie in einen Krieg, als ihre Tränen zu zeigen. Aber wir werden alle mit einem sichtbaren und einem unsichtbaren Herzen geboren. Was träumen nur die Auftraggeber, die Krieger und Barbaren, wenn sie nach einem feinen Abendessen ihre Kinder zur Guten Nacht küssen, während Tausende junger Männer in ihrem Auftrag sterben oder andere töten? Auf dem Weg durch das Dorf treffe ich eine Nachbarin meines Onkels, die mir erzählt, dass sie ihn am frühen Morgen am Grab seines Sohnes beobachtet habe. Weinend, schluchzend, wie ein zu Tode erschrecktes Kind, sagt sie. Sein Herz weint am Grab seines Sohnes, aber seine Worte leben in der Stunde der Diebe. Immerhin hat er noch Tränen. Eines Tages werden sie vielleicht Brücke zur Hoffnung und Empfindung sein, werden mitsprechen.
Im Dorf sieht man noch an der Bushaltestelle und an der Schule die Reste alter, vergilbter Plakate. Überall war während des Krieges das Bild des kroatischen Präsidenten Franjo Tudjman zu sehen, der nicht einmal mit der Wimper zuckte und eine ganze Generation seiner Idee von einem nationalistischen Kroatien opferte. Er war, aus der Distanz betrachtet, ein lispelnder Mann, der, einmal an der Macht, sich sofort aufs Reinemachen verstieg; die Sprache, die Literatur, die Kultur – sie waren ihm ein Dorn im Auge. Er leugnete den Holocaust und zögerte nicht, Pavelić, jenen Führer, den mein Vater und Tausende anderer Menschen in Heiligenbildchen-Größe verehrten, zum nationalen Helden zu ernennen. Er schadete damit auf Dauer im Kern dem Frieden und den Menschen seines Landes mehr, als es der Krieg selbst vermochte.
Die offiziell erwünschte Verehrung eines Faschisten hat die Menschen verführt und sich selbst entfremdet. Eine Scheinmündigkeit entstand. Wenn Unrecht und Recht austauschbar werden, bleiben nur wenige übrig, die sich das Denken und Fragennicht abnehmen lassen. Jene, die doch nachgedacht und schließlich Fragen gestellt haben, wurden des Landes verwiesen oder verloren ihre Arbeit und wurden von ihren eigenen Nachbarn und Freunden ausgegrenzt. Diesem (und den anderen) Präsidenten war es ohnehin viel wichtiger, die Nation in eine sakrale Aura zu hüllen. Es war dem Machtversessenen völlig gleichgültig, wie viel Mensch in einem Menschen steckte, es sei denn, er konnte es gebrauchen. Er benutzte zielgerichtet die Angst und suchte sie überall in seinem Land zu vermehren. Ethik war ihm ein Fremdwort. Mit seinem Beharren auf Macht hat er die Kultur der Gier statt jene der Freiheit und Würde gestärkt. Bis heute hat dies schädliche Auswirkungen und führte in den neunziger Jahren zu einem fast gesetzlosen öffentlichen Raum der Korruption und Willkür, weshalb der typische Balkan-Humor, durchaus luzide, Behörden und Beamte gerne mit denen des Orwell-Staates verglich.
Vom ethischen Denken hatte sich das Land in jenem Moment sehr weit entfernt, in dem es den Faschismus, gegen den auch Kroaten im Zweiten Weltkrieg gekämpft hatten, öffentlich rehabilitierte. Von heute auf morgen waren der faschistische Unrechtsstaat und sein Führer Ante Pavelić zum Vorbild geworden. Man schreckte auch nicht davor zurück, die damalige Währung namens Kuna einzuführen, ohne dass sich irgendjemand darüber wunderte.
Unrecht mit Unrecht zu bekämpfen ergibt doppeltes Unrecht. Und die Frage nach der Ethik hat sich dem Machthaber zum Trotz mit der Zeit von allein gestellt und wird sich noch dringlicher stellen müssen. Darauf hat schon der deutsch-israelische Psychoanalytiker und Kulturtheoretiker Erich Neumann in seinen Büchern hingewiesen, in denen er auch die Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges ausleuchtet und über die Rolle der Ethik in einer Nachkriegsgesellschaft nachdenkt. Er und seine Frau Julie Blumenfeld verließen 1933 Berlin und emigrierten 1934 nach Palästina. »Was will in dieser Weltsituation die lächerliche Frage nach Ethik und die noch lächerlichere Antwort, es gehe um das Individuum?«, notiert er in einem seiner Vorträge. Ganz ähnlich wie Hannah Arendt, zu deren Freundeskreis Erich Neumann in Heidelberg vor dem Zweiten Weltkrieg gehörte, sah auch er die Gemeinschaft freier Individuen als das nächste, noch ferne, aber am Horizont aufleuchtende Ziel der Entwicklung. Im schöpferischen Individuum gehe die Menschheit ihren Gang durch die Geschichte; Freiheit und Individualität könne man nicht durch Staatskolosse stiften. Das Kleine, das in jedem Einzelnen entsteht, davon bin auch ich überzeugt, trägt das Wunder in sich. Nur der Einzelne (wenn er nicht aufgibt) ist befähigt, alle Zufälle seines Lebens als Materialien zu betrachten, aus denen wir machen können, was wir wollen, wie es bei Novalis heißt. Aber was wollen wir? Und wie können wir lernen, das Gute zu wollen? Wer viel Geist habe, davon war Novalis durchdrungen, mache viel aus seinem Leben. Jede Bekanntschaft, jeder Vorfall, sei für den Geistigen erstes Glied einer unendlichen Reihe, Anfang eines unendlichen Romans. Und wenn schon bald die Mitte Europas immer weiter im Osten liegen und das Zentrum verschoben sein wird, müssen wir endlich ein Buch des Friedens schreiben, in dem Menschen vorkommen, die gelernt haben, aus ihren innersten Tiefen heraus und nicht nur an einer zerstörerischen Oberfläche zu leben. Wenn wir die Streitenden immer nur voneinander trennen und nichts voneinander lernen lassen, wird auch die Tiefe vergiftet, aus der heraus Versöhnung möglich wäre und in der eine Sprache der Friedfertigkeit entsteht. Miteinanderleben ist aber immer auf ein Sprechen angewiesen, auf eine Sprache, die Denken und Handlung in einem ist. Mein Cousin Filip hat nie viel gesprochen, und den kleinen Rest seiner persönlichen Sprache hat der Krieg ganz ausgelöscht.
Im Dorf fährt nur einmal um sechs Uhr morgens ein Bus in die Stadt, die Menschen hier könnten aus der Welt fallen, ohne dass die Welt etwas davon mitbekäme. Meine Tante Anastazija spricht sogar von unserer Gegend als einem Niemandsland unter Gottes weitem blauen Himmel, und am Ende, sagt sie schelmisch, würden auch die Ameisen wieder abwandern, wahrscheinlich nach Italien, wo einfach alles besser sei als bei uns, nicht nur das Risotto und die Spaghetti vongole. Gott hat uns in den letzten fünfzig Jahren vergessen, sagt sie, und mir kommt der Gedanke, dass er das wirklich getan hat, weil er keine Wahl hatte, und dass diese Gegend so weit hinter seinem Rücken liegt, dass er sich nicht mehr nach ihr und den hier lebenden Menschen umdrehen kann. Tante Anastazij