Das wilde Leben des Alfred Humoa - Alex Hansen - E-Book

Das wilde Leben des Alfred Humoa E-Book

Alex Hansen

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Beschreibung

Ist es eine Fähigkeit? ... oder vielleicht doch nur ein Streich, den ihm sein Gehirn immer wieder spielt? Erfolgreich, smart und gutaussehend - all das sind Eigenschaften, die Alfred Humoa nicht auszeichnen. Wenn er nicht gerade als eines der kleinsten Rädchen im Polizei-apparat seinen Praktikanten die Arbeit erledigen lässt, versucht er den Ansprüchen seiner Exfrau und seiner Kinder zu entsprechen. Bis das Schicksal ihm einen Auftrag erteilt. Zusammen mit einem Banker und einem so gut wie pensionierten Polizisten zieht er los, um der Gerechtigkeit Genüge zu leisten. Zumindest glaubt er das ...

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Das Leben ist ein Geschäft, das seine Kosten nicht deckt.

Arthur Schopenhauer

So vielen Menschen gebührt ein Dank für Tipps, Anregungen, Korrekturen, Lesebereitschaft und Geduld.

Ohne jeden einzelnen von Euch wäre das hier ein anderes – mutmaßlich schlechteres – Buch geworden.

Der Dank geht in alphabetischer Reihenfolge an:

Alexander, Andrea, Cora, Hans, Heike, Jörgi, Julia, Lilli, Mama, Reiner, Rena, Svenja, …

Inhaltsverzeichnis

Montag Abend - Prolog - Das Date

Dienstag Vormittag - Kapitel 1 – Jan Klamottenkauf

Dienstag Nachmittag - Kapitel 2 – Besuch Fit'n'Fun

Mittwoch Vormittag - Kapitel 3 – Wanzen

Mittwoch Nachmittag - Kapitel 4 – Im Café

Donnerstag Vormittag - Kapitel 5 - Materialrückgabe

Donnerstag Nachmittag – Kapitel 6 - erster Hausbesuch

Freitag Vormittag – Kapitel 7 – Al besorgt Fenster

Freitag Nachmittag – Kapitel 8 - Der Al im Schrank

Samstag – Kapitel 9– Unterwegs mit Lukas und Laura

Sonntag Vormittag – Kapitel 10 – am Golfplatz

Sonntag Nachmittag - Kapitel 11 – Lukas Fußball

Montag Mittag - Kapitel 12 – Mit Rosenstrauch in der Kantine

Dienstag Vormittag - Kapitel 13 – Feiertagsbesuch

Donnerstag Morgen - Kapitel 14 – Die Falle schnappt zu

Donnerstag Mittag - Kapitel 15 – Verfolgungsjagd

Samstag Vormittag - Epilog – Marie und die Kinder

Montag Abend - Prolog - Das Date

Fehl am Platz!

Alfred Humoa’s Analyse fiel schonungslos aus.

Seit längerer Zeit hat er nicht mehr aufgehört zu reden.

Eigentlich war es schon eher ein Plappern der ebenso geräuschvollen wie inhaltlosen Sorte, das er hier von sich gab. Der Versuch, seine Nervosität zu verbergen, war definitiv krachend gescheitert. Wie hatte er sich nur wieder überreden lassen können? Klar, es war mal wieder Jan ... Dazu hat man also Freunde ...

Kein Zweifel, er gehörte hier nicht her, weder geistig noch körperlich: Mit seinem alten (›gut eingetragenen‹, wie er es halbherzig rechtfertigen würde) Poloshirt, der Jeans, die er vorgestern Morgen aus den Tiefen seines Schranks zog, und einem fünf Tage alten Dreitagebart war Al für das Ambiente, in dem er sich aufzuhalten im Moment eher gezwungen fühlte, wahrlich nicht overdressed. Es hätte ihm wohl klar sein sollen, dass Jan seine Dates in solchen Restaurants hatte - die Sorte wo die Kellner steif und ernst wirkten, das Essen deutlich überteuert war und man aus Prinzip schief angesehen wurde, wenn man nur den Hauswein zum Trinken bestellte, oder wie in Al´s Fall, ein Bier Da hat Herr Humoa mal wieder nicht nachgedacht, weil er den Kopf voller anderer Dinge hatte. Er hätte ruhig mal einen Wein bestellen und auch auf dem Weg zwischen der Arbeit bis zu diesem Restaurant einen kleinen Zwischenstopp zu Hause einlegen können, um sich in edleren Zwirn zu gewanden.

Noch war ein freundliches Lächeln auf den Lippen der Dame, welche AL gegenübersaß. Eigentlich fand sie es recht erfrischend, mal nicht wieder mit dem stereotypischen und dadurch langweiligen Vierziger ›ich habe meine Karriere voll im Griff und bin deswegen was Besonderes‹-Typen zu verbringen.

Sie hatte ein zartes Gesicht, eine kleine Stupsnase, die Al besonders gut gefiel, und auch sonst war sie auch wirklich attraktiv. Jan´s Liga eben. Wobei sein Freund, soweit Al sich erinnern konnte, es eher auf blonde Frauen abgesehen hatte. Diese Dame trug eindeutig dunkelbraune, ja fast schwarzes Haar. Al tat sich immer etwas schwer, diesen Farbunterschied richtig einzuordnen. Das hat ihm schon damals, als er mit Marie noch zusammen war, Probleme bereitet. Seine Exfrau hatte nämlich ziemlich genau die gleiche Haarfarbe. Wenn er sich die Dame genauer ansah, hatte sie auch sonst einige Ähnlichkeit mit Marie – sie hätte ihm also durchaus gefallen können. Auch wenn er wusste, dass Jan Marie während ihres gemeinsamen Studiums nachgestellt hat – erfolglos, wie Al sich immer wieder gerne erinnerte - so war sie doch die Einzige von all den »Projekten« (wie Jan die Mädels, hinter vorgehaltener Hand, gerne nannte, die er unbekümmert anbaggerte), in den vielen Jahren, die die beiden Männer jetzt schon befreundet waren, deren zumeist bezaubernden Gesichter nicht vom blondem Haar umschmeichelt wurden, wenn auch teilweise nur mit massiver Hilfe der chemischen Errungenschaften des modernen Friseurhandwerks.

Da hörte er es: Was für ein Freak!

Hey Moment mal dachte er. Okay, ich habe zwar viel geredet, aber Du hast ja auch so gut wie gar nichts zur Unterhaltung beigetragen.

»Ja, und was haben sie dann gemacht?«

– Was? Was soll er dann gemacht haben? Irgendwie wusste er gerade auch nicht so genau, was da gerade für Wörter aus seinem Mund geblubbert waren, auf jeden Fall hatte er jetzt den Faden verloren. Deshalb hatte er wohl mitten im Satz aufgehört zu reden und war darüber jetzt auch noch grantig. Verdammt! Noch während Al antwortete: »Nichts, warum? Haben sie etwa zugehört?« war ihm schon klar wie überaus uncharmant seine Frage war. Das führte sofort zu einer leichten Panik seinerseits. Sie sah für einen kurzen Moment recht erstaunt aus, fand ihre Fassung aber gleich wieder und tat so, als wäre es ein Scherz gewesen.

Freak!, schallte es, nur für Al hörbar, durch den Raum.

Okay, okay ich habe es ja kapiert, austrinken – bezahlen - heimgehen.

»Aber im Ernst: Was haben sie dann gemacht?«

Al wusste es nicht. Die Hälfte der Geschichte war eh gelogen, beim Rest konnte man sich auch nicht wirklich sicher sein. Fest stand eigentlich nur, dass er sich selbst nicht zugehört hatte und deshalb auch gerade nicht in der Lage war, sich ein nettes Ende auszudenken.

»Nichts, das war es schon!« – nicht prickelnd originell, aber vielleicht gab sie sich ja damit zufrieden.

»Ah, interessant…« Ihr Lächeln wurde jetzt von einem etwas mürrischem Gesichtsausdruck verdrängt, was Al ihr als Allerletzter übel nahm ... Er hatte es mal wieder verbockt!

Immer hörte er diese Stimmen. Warum ließ er sich auch immer so von diesen Gedanken irritieren? Auch wenn er sie nicht oft hörte, so wusste er doch mittlerweile schon, dass er sie nicht immer richtigen interpretieren, und leider auch nicht immer der richtigen Zeit und Person zuordnen konnte. Also um genau zu sein sehr selten.

Die Vorspeisenteller wurden abserviert. Super: Salat mit Putenstreifen, wie originell! Der Preis von 14 Euro pro Portion machte das auch nicht besser. Was soll’s? Er hatte Jans Kreditkarte. Wenn er schon dessen Dates übernahm, dann konnte sein Freund ja wenigstens zahlen. Also schnell den Ober herangewunken, mit der Karte gewedelt und nichts wie weg hier. Als der Kellner das Stück Plastik in Al´s Hand sah machte er sofort kehrt und kam mit der Rechnung in einer Lederklappe und einem kleinen Kästchen wieder, in das er die Al flink abgenommene Karte steckte. Sodann sprach er die vernichtenden Worte:

»Bitte geben Sie die PIN ein und bestätigen Sie«.

Woher sollte Al Jans PIN wissen? Bisher hat es immer ausgereicht, irgendwo auf den Quittungen eine Unterschrift hinzukrakeln, von der Al sich rühmte, dass sie mit Sicherheit keiner entziffern konnte. Deshalb wurde sie bisher doch auch immer akzeptiert. Aber nicht mal auf diese traditionelle Methode des Scheckkartenbetrugs konnte man sich in diesem Lokal verlassen. Kurz keimte in Al der Gedanke auf, dass genau dies die Absicht war. Sogar Al wusste wie unüblich diese Kästchen in teuren Restaurants waren. Da half nur eins: Spontaner Harndrang! Also mit einem geschickten Griff das Handy aus der Jackentasche gefischt, irgendwelche unverständlichen Entschuldigungen brabbeln und dann nichts wie ab auf die Toilette - und Jan wegen seiner PIN angerufen! Auch wenn der Ober ihm sehr irritiert nachschaute, diese Aktion schien trotzdem mal ausnahmsweise recht glatt zu laufen. Zumindest bis zu dem Zeitpunkt, wo es an Jan gewesen wäre, den ihn ereilenden Anruf entgegenzunehmen. Al hatte keine Ahnung, was sein Freund gerade tat, er wusste jetzt nur, dass er dabei offensichtlich nicht durch Telefonate jeglicher Art gestört werden wollte. Um Zeit zu schinden und in Ermangelung einer besseren Idee schrieb er erst mal eine SMS an Jan, um die PIN zu bekommen, auch wenn es ziemlich sinnlos war.

Es half weder in sich hinein Fluchen noch Ignorieren: Er musste diesen Ort der geruchsintensiven Stille wieder verlassen und die Rechnung begleichen, nur wie? … Also versuchte Al seinen langsam schmerzenden Kopf so erhoben wie möglich zu halten und begab sich raus zu seiner Begleitung. Als er zurückkam, stand der Ober immer noch da und wartete. Hatte der nichts Besseres zu tun? Ganz lässig und so souverän wie möglich setzt sich Al auf seinen Stuhl, kramte (nicht gerade in Rekordzeit) seine Geldbörse aus der Hosentasche und begann die Suche nach irgendetwas, mit dem er die Rechnung hätte begleichen können. Seine eigene Kreditkarte gehörte zu einem Konto, das allein durch den Aufwand an Dispo-Zinsen, die dafür zu entrichten waren, eine relativ luxuriöse Einrichtung war. Aus dieser Richtung war keine Hilfe zu erwarten. Sein Barvermögen belief sich auf einen 5-Euro-Schein, und eine Hand voll Münzgeld, zum überwiegenden Teil aus Kupfer gestanzt. Da schoss ihm eine schmerzhafte Vision durch seinen gepeinigten Kopf. Er sah sich schon das Lokal am nächsten Morgen mit Spülhänden verlassen. Da kamen ihm jene Worte über die Lippen (und das taten sie nur, weil das Schicksal ungnädigerweise kein Loch unter ihm aufriss, in dem er versinken konnte):

»Könnten Sie vielleicht… Ich habe mein Geld zu Haus vergessen.«

Als sein Gegenüber nach einer peinlich langen Pause registrierte, dass diese Worte ihr galten, ging auf einmal alles sehr schnell. Das Öffnen der Handtasche und der Geldbörse, das Herausnehmen und Hinlegen der passenden Geldscheine war innerhalb der ersten Sekunde erledigt. Die zweite Sekunde wurde gefüllt mit dem gleichzeitigen Schließen von Börse und Tasche, dem Aufstehen und einem eindrucksvollen Spurt zur Garderobe. Es folgte eine geradezu gemächliche Phase, als sie sich eine volle Sekunde Zeit lies, um lautstark ein herzhaftes »Arsch« zu murmeln. In der vierten Sekunde war sie in ihren Mantel geschlüpft und hat den Weg von der Garderobe zur Ausgangstür hinter sich gelegt. Damit war das Date dann auch schon beendet.

So, wie es aussah, hatte es Alfred Humoa jetzt endgültig geschafft, sich wieder einmal vollends und komplett unbeliebt zu machen. Na, dann konnte er ja beruhigt nach Hause gehen. Gerade als er aufstand, geschah dies:

Naja, er redet etwas viel, aber eigentlich ist er ganz süß!

Oh Mann, wann hatte sie das denn gedacht - und: wie war eigentlich noch mal ihr Name gewesen. Naja, eigentlich war das jetzt auch egal, so gründlich wie er es vermasselt hatte. Die Dame würde sich sicherlich lieber eine Niere entfernen lassen, als sich noch mal mit ihm zu treffen – irgendwie verständlich... Welcher Mensch auf diesem Erdenrund konnte auch ahnen, dass sein für alle manchmal unverständliches Verhalten für ihn schon einen Sinn ergab. Zumindest in dem Moment, in dem er es an den Tag legte. Soweit er wusste, konnte sonst kein Mensch die Gedanken Anderer hören.

So verließ unser Hancock für Arme, unter den Blicken des Kellners und anderer Gäste, also das Restaurant. Die Jacke nahm er einfach aus der Garderobe und hielt sie in der Hand als er auf die Straße trat. Na toll, jetzt begann es auch noch zu nieseln – es war echt Zeit, sich auf den Weg Richtung heimisches Bett zu machen.

Dienstag Vormittag - Kapitel 1 – Jan Klamottenkauf

Das Geräusch hörte einfach nicht auf. Sehr zögerlich begann Al zu realisieren, dass es nicht seinem Traum entsprang. Es handelte sich hierbei um einen ausgesprochen lästigen Ton, der ihn da langsam und qualvoll aus einem komaähnlichen Schlaf Richtung Realität zerrte. Mühevoll, durch ein Stöhnen effektvoll untermalt, öffnete er die Augen.

Durch die Jalousie drang etwas Tageslicht. Al visierte seinen Wecker an, nahm Maß, streckte seinen Arm aus und ließ seine Hand einfach darauf fallen. Das Geräusch schepperte unbeeindruckt weiter. Zumindest hatte Al auf diese Weise herausgefunden, dass es nicht vom Wecker stammte.

Scheiße, Handy!

Träge stöhnend rollte er sich aus seinem Bett, suchte und fand mit seinen Füßen die irgendwo davor liegenden Badeschlappen und wankte, immer noch maximal schlaftrunken, Richtung Küche, von wo das Geräusch wohl seinen Ursprung nahm. Er fand sein mobiles Telefon auf dem Küchentisch. Noch in seiner Jacke, die er gestern Abend dort auf einer aufgeschlagenen Computerzeitschrift, die sich am oberen Ende eines höheren Papierstapels befand, abgelegt hatte. Von der anderen Seite wurde sie von ein paar leeren Bierflaschen flankiert. Er fischte das Handy hervor und hob ab.

»Morgen Chef!«, war die wie immer viel zu fröhliche und laute Stimme von Robin zu hören, »Ich bin jetzt da und mach mit dem Einräumen weiter.« Al atmete noch einmal schnell ein und nahm sodann alle Kraft zusammen, um so wach wie möglich zu klingen:

»Ist gut, ich notiere die Zeit und bin dann auch bald im Büro!« Natürlich notierte Al keine Zeit, genauso wenig wie er im alten Revier war, um dort noch wichtige, äußerst sensible Aufgaben zu erledigen.

Das ließ Al seinen Praktikanten nur glauben. Genauso wie die Geschichte, die er Robin erzählt hatte, es gäbe eine Vorschrift, dass er als Vorgesetzter den ordnungsgemäßen Arbeitsbeginn des Praktikanten zu protokollieren und kontrollieren habe. Der Grund für die Anrufe lag schlicht nur darin, dass Al seinen Praktikanten als Wecker missbrauchte, was dieser natürlich nicht unbedingt wissen musste.

Sein Bürokollege Rosenstrauch dagegen hatte wahrscheinlich mehr Ahnung, aber er konnte Al nichts beweisen. Sowohl die Computerausdrucke, die Datenbankeinträge der Zeiterfassung sowie die schriftlichen Arbeitsaufträge waren immer korrekt. So sehr dies Rosenstrauch auch erstaunte, er hätte niemals die Fantasie aufgebracht, sich vorzustellen, dass an diesen schlüssigen Dokumenten irgendetwas nicht seine Richtigkeit haben könnte.

Al legte auf und bemerkte, dass er eine SMS bekommen hatte, Jan hatte ihm gestern Nacht noch seine PIN geschickt.

»Einszwonullfünf«, las Al laut und wankte von der Küche in sein Badezimmer, welches sich, wie der Rest der Wohnung, in einem, nennen wir es: deutlich bewohnten Zustand befand. Der einzig gepflegte Raum war jener, in dem seine Kinder übernachteten, wenn sie mal zu Besuch waren. Er hatte es sogar geschafft, ein Hochbett für die vier zu bauen, natürlich mit einer Treppe anstelle einer Leiter, das fand er bequemer. Auch die Regale waren von ihm konstruiert und gebaut worden, so wie die meisten anderen Möbel in seiner Wohnung. Im Laufe der Zeit hatten sich dabei seine handwerklichen Fähigkeiten von ›könnte auch in einem von Autonomen besetzten Haus stehen‹ bis hin zu ›kann man wirklich stehen lassen‹ weiterentwickelt.

Al putzte sich die Zähne, während er sich durch allerlei eingetrocknete Wassertropfen und Zahnpastaspritzer im dahinter liegenden Spiegel betrachtete. Er strich sich mit der rechten Hand über sein Kinn, beschloss, dass die Länge seiner Bartstoppeln noch angemessen war, ging wieder ins Schlafzimmer, roch an der Kleidung, die er auf dem Boden vorfand, beurteilte sie für tragfähig und zog sie an.

Er verließ die Wohnung im dritten Stock wie immer ohne Frühstück.

Kaum hatte er die Kühle des schattigen Treppenhauses verlassen und war auf die Straße getreten, wurde Al von der tief stehenden Morgensonne geblendet. Mit halb zusammengekniffenen Augen überlegte er, wo sein Auto geparkt war.

Den Wagen war er schon gefahren, als er sich noch mit seinem Studium, wenn auch vergeblich, abmühte. Al wusste manchmal nicht, was ihn mehr belastete: der Studienabbruch, als ziviler Techniker bei der Polizei seinen Lebensunterhalt verdienen zu müssen oder sich immer noch kein neues Auto leisten zu können. Jedenfalls konnte er sich nun erinnern, dass der alte rostbraune Kombi eine Straße weiter stand.

Na gut, bei dem Auto konnte er sich immer noch darauf hinausreden, alles selbst reparieren zu können. Das ist ja bei den neuen Modellen nicht mehr so einfach. Also nicht, weil ein Mann das nicht könnte, nein, aber das Spezialwerkzeug ist halt zu teuer für eine Privatperson. Abgesehen davon war der Kombi ja schon ein Klassiker und kurz davor ein Oldtimer zu werden. Und irgendwie hatte Al sich ja auch an diese Rostlaube gewöhnt, sogar mehr, als er sich eingestehen wollte.

Eine halbe Stunde später betrat Kriminaltechniker Alfred Humoa das neue Revier.

Das Alte Rathaus war aufwendig renoviert und umgebaut worden. Innen wurde es weitgehendst entkernt, die alten Ziegelwände kamen raus und es wurden neue Gipskartonwände eingezogen. Diese befanden sich meistens da, wo die alten vorher auch waren, was in Al´s Augen den Sinn der Aktion doch deutlich schmälerte. Das alte Gemäuer war mit einer beeindruckenden Glasfassade umbaut worden, was sicherlich mit einigem finanziellen Aufwand verbunden war. Als Effekt versprühte es jetzt den Charme von in Klarsichtfolie verpackten Pflastersteinen.

Seit dem Abschluss der Umbauarbeiten des Eingangs- und Wartebereichs wurde deren Medienwirksamkeit unablässig im lokalen Fernsehen und der Presse unter Beweis gestellt. Dabei war zurzeit eigentlich nur der Ausbau des dritten Stockwerks vollständig beendet, in dem sich die Kriminalpolizei gerade einlebte. Dort befanden sich auch der Serverraum und ein mit allen technischen Raffinessen ausgerüstetes Konferenzzimmer. Zu Al´s Unmut war er hier aber nicht wirklich für die Technik verantwortlich, was es ihm schwer machte, sich in dieser Etage nach Belieben aufzuhalten.

Und nicht zu vergessen der Aufenthaltsraum: die Beamten im gehobenen Dienst hatten hier einen eigenen Rückzugsort, der es mit jeder Businesslounge aufnehmen konnte. Auch Al´s Chef residierte schon in diesem Stockwerk. Natürlich, denn der war immer einer der Ersten, besonders wenn es um die Zurschaustellung von, in seinen Augen, verdienten Privilegien ging. Und die Büroräume hier waren nun mal überdurchschnittlich groß geschnitten. Der so ziemlich kleinste Raum war das Büro, in dem Marie als seine Sekretärin arbeitete. Sie hat als kleine Schreibkraft im Kommissariat 3 in Teilzeit – wegen der Kinder – begonnen und sich im Laufe der Jahre bis in das Vorzimmer des Polizeipräsidenten hochgearbeitet. Dort agierte sie als ausgelagertes Gehirn ihres Chefs und war für alles von Gespräche vermitteln über Terminplanung bis hin zur Beschaffung von Geburtstagsgeschenken für die präsidiale Gattin zuständig.

Natürlich hatte auch Al seinen Job hier Marie zu verdanken. Als die Stelle eines Technikers zu besetzen war, war es ihr gelungen, durch geschicktes Jonglieren mit Bewerbungsmappen nur noch Al´s Bewerbung als die einzige akzeptable herauszustellen. Aufgrund seiner wirklichen Referenzen grenzte das schon an einen Zaubertrick.

Jedenfalls war der Rest des Gebäudes, euphorisch formuliert, noch nicht ganz so weit.

Al verließ den Aufzug aber im ersten Stock und schlurfte, wie jeden Morgen, erst mal nach rechts, direkt in Richtung der Kaffeeecke. Auf dem Weg dorthin standen noch Kartons mit Büromaterialien und es roch nach frischer Farbe. Auch hing an der ein oder anderen Stelle noch ein Kabel aus der Wand, offene Netzwerkdosen in halb eingeräumten Büros fielen Al beim Vorbeigehen an den geöffneten Türen natürlich sofort auf. Ebenso prägten fehlende Türschilder, herumirrende Handwerker und kistentragende Beamte das Bild. In diesem Stockwerk waren hauptsächlich die interne Abteilung sowie die Kriminaltechnik untergebracht.

Der ganze Luxus der Kaffeeecke bestand aus zwei Automaten: einem für Süßigkeiten und Knabberzeug sowie einem für Kaffee. Ein Exemplar der eher erschwinglichen Kategorie, wie man es in jeder Fabrikhalle finden konnte. In der Hoffnung, den Kaffeeautomaten für sich alleine zu haben bog Al um die letzte Ecke seines Weges.

Der Wunsch nach Einsamkeit war in diesem Fall gar nicht mal auf seine Abneigung gegenüber dem üblichen, in seinen Augen überflüssigen Small Talk, mit welchem sich die Kollegen ständig gegenseitig belästigten, zurückzuführen, sondern vielmehr auf seinen großen Coup. Tief in sich drin war er schon ein wenig stolz auf sich: Ja, er, der Rebell, der Outlaw, hatte den Kaffeeautomaten geknackt! Natürlich nicht, wie es oft im Internet zu lesen war, mit einer geheimen, nur dem Hersteller bekannten, Tastenkombination am Automaten, à la: ›Drücke dreimal extra Zucker, fünfmal Kaffee schwarz, einmal Kaffee weiß und noch mal extra Zucker ...‹ Solche Tastenkombinationen waren nämlich deshalb so geheim, dass nicht einmal der Hersteller selbst sie kannte, weil so ein Blödsinn schlicht nicht funktionierte!

Nein, Al hatte in mühevoller Kleinarbeit ein neues Programm für den Mikrocontroller des Automaten geschrieben. Wobei die größte Schwierigkeit für Al nicht im Programmieren lag, das konnte er in aller Ruhe mit viel Zeit zu Hause erledigen. Das Problem bestand darin, lange genug allein am Automaten zu sein, um diesen zu öffnen, den Controller auszubauen, das Programm mittels geeigneter Hard- und Software auszulesen und eine Woche später die Prozedur zu wiederholen, um die, äh, verbesserte, Version wieder aufzuspielen.

Aber die Mühe hatte sich gelohnt! Jetzt konnte er tatsächlich durch gleichzeitiges Drücken der Zucker- und Bechersperrtaste seinen Kaffee umsonst aus dem Automaten lassen. Ja, da wo bei weitem mehr Polizei anwesend war, als an irgendeinem anderen Ort, unter studierten Kriminalisten, Polizeihauptmeistern, Spürhunden, zivilen Ermittlern und anderen berufsbedingt Misstrauischen blieb er unentdeckt und führte sie alle an der Nase herum ... Seine Brust schwoll ein wenig an vor lauter Stolz.

Aber heute Morgen war ihm das Glück nicht hold. Frederick Ernesto (Eltern können ja so grausam sein) Buck stand vor dem Automaten und warf gerade Geld in den Schlitz. Al ärgerte sich bei dem Anblick gar nicht mal so sehr, immerhin war Freddy gar kein so schlechter Kerl. So als Mensch - am Arbeitsplatz. Privat hatten sie, bis auf die Vorliebe für die selbe Kneipe, das ›Moni’s‹, zur Einnahme eines gelegentlichen Feierabendbiers wenig gemeinsam. Eigentlich schätzte Al das, denn zu viel Nähe zu den Kollegen ist halt auch nichts. Freddy schien das ähnlich zu sehen, obwohl er wirklich jeden hier kannte und bis auf den Chef auch mit jedem gut auskam. Daher war es auch nicht ungewöhnlich, dem Kriminalkommissar woanders als im dritten Stock zu begegnen.

Normalerweise wäre es bei einem derartigen Treffen das übliche Ritual gewesen, nur ein kleines morgendliches Gespräch über den Chef - Anton Lichtenberger, ein unglaublich selbstgefälliger Pedant - und den Umzug zu führen. Doch an diesem Morgen legte Frederick Ernesto (Eltern können ja so grausam sein) Buck, zwar ohne böse Absicht, aber dennoch voll schuldig zu sprechen, den Grundstein für Grausames und nahezu Unverzeihliches in Al´s Leben.

»Hey, Freddy!«

»Morgen, Al«, erwiderte Freddy, während er seinen Blick weiterhin über die Knöpfe des Automaten schweifen ließ. »Auch einen Kaffee?«

Er drückte derweil einen Knopf, und warf gleich etwas Kleingeld hinterher, da er die Antwort schon kannte.

»Jap, schwarz ohne Zucker!« Also doch noch nen Kaffee abgestaubt. Al vermerkte auf einer geistigen Liste einen Pluspunkt für Freddy!

»Kommt sofort«, sagte Freddy langsam, nahm seinen Becher aus dem Automaten, drückte eine weitere Taste und nippte müde an seinem Kaffee.

Normalerweise hatte Al´s Kollege gerade morgens immer gute Laune.

»Na, schlecht geschlafen? So müde kenn ich dich gar nicht!«

Al griff nach seinem Kaffeebecher im Automaten.

Freddy verzog die Oberlippe.

»Hast Du etwa in letzter Zeit gut geschlafen? Mich macht der Alte fertig! Umziehen an sich ist ja schon Stress, aber das schlägt alles!«

»Lass mich raten, schon wieder ein Meeting?«

»Was auch sonst! In einer halben Stunde geht’s los. Dann dürfen wir uns wieder anhören, dass nichts nach Plan abläuft, alles einen fest definierten Platz haben muss und sich keiner an seine Verfahrensanweisungen hält. Ich meine, welcher Arsch schreibt schon eine Verfahrensanweisung, wie andere ihr Büro einzurichten haben? Ich sehe ja ein, dass es ergonomische Gründe geben mag, um einen Monitor oder einen Telefonapparat zu platzieren, aber nicht, wie viele Stifte in der obersten Schublade zu liegen haben oder wie viel Platz an welcher Stelle für persönliche Gegenstände zur Verfügung steht.« Während Freddy an seinem Kaffee nippte, nahm sein Gesicht langsam Farbe an.

Al wollte Freddy´s Redepause aufmunternd nutzen: »Man nennt ihn nicht umsonst Wichtelberger!«

»Er hat Martha vor allen zur Sau gemacht, weil sie ihren dämlichen Glücksteddy neben den Bildschirm gestellt hat. Verdammt, die Frau ist sechzig Jahre alt und alleinstehend, ist doch klar, dass die so ´nen sentimentalen Mist im Büro hat.« Al konnte dem letzten Argument, vor allem, weil er die bärenartige Monstrosität, welche hier irrtümlich als Glücksteddy bezeichnet wurde, kannte, nicht ganz folgen, sagte aber:

»Jap, und ich finde sie hat auch ein Recht darauf.«

»Und den Kreuzer hat er angemacht, weil er am Freitag um drei die Blumen im Vorraum noch nicht gegossen hatte. Der Kreuzer ist bis 17 Uhr auf Streife! Was soll das? Und überhaupt wieso brauchen wir einen Blumendienst, wozu gibt es den Hausmeister?« Freddys Gesicht hatte inzwischen eine deutliche Röte. Der redete sich wohl gerade in Rage. Da verdrückte sich Al mal lieber.

»Ja, wirklich übel«, sagte er, »Na, dann geh ich jetzt mal wieder ans Werk!«

Al wollte sich schon umdrehen und gehen, als das Schicksal weit ausholte, um später bequem seinen Lauf nehmen zu können:

»Wie lief es eigentlich gestern?«

Oje, anscheinend hätte Al nicht erzählen sollen, dass er ein Date hatte. Hätte er seine Klappe gehalten, wäre vielleicht alles anders gekommen - aber das sind sinnlose Spekulationen, denn es kam so:

»Ich hab dir doch gesagt, dass ich nur der Ersatzmann war.« Freddy hob das Kinn und erwiderte mit einem Blick, der eine Gewissheit zur Schau stellte, als wäre er dabei gewesen:

»Du hast es versemmelt!« Al verkrampfte sich leicht:

»Nein, sie hat ... also wir haben ... eben nur nicht zueinander gepasst.« Vor seinem inneren Auge sah er ihr Gesicht und die süße Nase, die der von Marie so ähnlich war.

»Sicher, sicher«, schmunzelte Freddy und nach einer kleinen Pause fügte er hinzu: »Sei mir nicht böse, aber du musst etwas an dir arbeiten, dann läuft es auch besser mit den Frauen ...«

»Was soll denn das jetzt?«

»Du bist zu fett und träge, mein Freund!«

Arsch - jetzt nur nicht ausfällig werden! Freddy gehörte ja eigentlich zu den Guten:

»Wie bitte?«

»Na, du musst etwas Sport treiben, Gewicht verlieren, Fettgewebe in Muskulatur umwandeln, damit du irgendwann wieder wie ein normaler Mensch aussiehst.«

»Du Arsch« - aufgrund akut auftretender emotionaler Unausgeglichenheit konnte Al die Erwähnung dieser durchaus recht rüden Bezeichnung jetzt doch nicht mehr vermeiden.

So viel zu den Guten. Der Pluspunkt war von der geistigen Liste gestrichen.

»Im Ernst, Al. Du würdest ja nicht mal mehr ohne zu keuchen die Treppen rauf kommen«.

Al war jetzt angepisst »Treppe? Treppen aller Art und Steigung laufe ich hoch wie ein junger Gott!«

»Glaub ich nicht!«

»Kann ich jederzeit beweisen«, täuschte Al eine Selbstsicherheit vor, die es dennoch nicht verhindern konnte, dass sich fast im selben Moment sein Magen verkrampfte. Er saß in der Falle!

»Gut, du hast also unsere Verabredung für heute Abend nicht vergessen.« Freddy grinste zufrieden »Dann gibt es diesmal keine Ausrede mehr, wir gehen heute noch ins Fitnessstudio!«

Verdammt, Al hatte nicht mehr daran gedacht, dabei hatte er sich extra eine Ausrede zurechtgelegt. Aber jetzt war es zu spät! Im leichten Schockzustand hörte sich Al antworten:

»Natürlich gehen wir. Dann zeig ich dir auch, wie das geht.«

»Schön, sagen wir, um Sieben vor dem Studio. Du weißt, wo´s ist?« Freddy hatte ein selbstzufriedenes Grinsen auf dem Gesicht, als er sich umdrehte und wegging, ohne eine Antwort von Al auch nur abzuwarten.

Etwas verwirrt von Freddy und seinem Überfallähnlichen Verhalten schlappte Al, den Kaffeebecher in der Hand, langsam in Richtung seines Büros. Gut, natürlich war schon öfters die Rede vom Fitness, aber das musste doch nicht heißen, dass es wirklich mal ernst werden würde. Welcher normal denkende Mensch meint so was auch ernst?

Es kann doch nicht sein, dass sich in seiner Umgebung wirklich Muskelfanatiker aufhielten, welche sich der Tyrannei der Trainingsgeräte freiwillig und mit Freuden hingaben. Da waren ja nur noch die Möchtegern-Sportler schlimmer, die blind die nächste Saftbar entdeckten, jedoch keine Ahnung davon hatten, wo sich die Muskeln befanden, die sie an den jeweiligen Geräten trainierten, geschweige denn, wie sie hießen. Dafür nutzten sie aber jede Gelegenheit, jedem, ob er es hören wollte oder nicht, zu erzählen, wie gut ihnen das Training tat.

Die waren fast so schlimm wie die Sonnenbankfetischisten, die einem von der nahtlosen perfekten Bräune und Schönheit erzählten, während sich ihre orangefarbene Lederhaut langsam vom Schädelknochen schälte. Wenigstens dieser Trend kam langsam aus der Mode!

Mode! Bei dem Wort fiel Al auf, dass er keine Sportkleidung besaß. Also auch keine unmodische, einfach gar keine. Nicht mal eine alte Turnhose aus Schultagen. Mist, jetzt musste er sich auch noch was zum Anziehen besorgen! Am Ende ließ sich das nur dadurch lösen, dass er Einkaufen ging, welch Horrorvorstellung.

Etwas wehmütige Gedanken huschten durch seinen Kopf an die Zeit, in der es ausgereicht hatte, eine Jogginghose und ein altes T-Shirt zu tragen. Aber in der breiten Masse waren die Erinnerungen daran schon längst verblasst. Der Glaube hatte sich etabliert, nur noch in spezieller, auf den jeweiligen Sport zurecht designter Funktionswäsche (gegen schnell trocknend ist ja nichts einzuwenden, aber sonst ...), diesen auch ausüben zu können.

Wie beim Joggen! Hieß das heute überhaupt noch so? Eng anliegend sollte sie sein und am besten einen CW-Wert haben wie ein Formel 1-Wagen im Windkanal ... Man musste sich doch nur mal am Wochenende gemütlich auf eine Bank in einem beliebigen Park setzen und den Freizeitsportlern zuschauen, die in Scharen an einem vorbei keuchten. ›Eng anliegend‹ war im Grunde so ziemlich das Letzte, was viele von denen brauchten.

Der Marken- und Modewahn hatte sich im Sport und allen anderen Bereichen des Lebens schon lange etabliert. Offiziell auch heute noch geächtet und der Jugend zugeschrieben, wurde er insgeheim in allen Altersgruppen gesellschaftlich voll akzeptiert und praktiziert. Während sich frühere Generationen von Jugendlichen noch damit zufriedengegeben hatten, einfach nur durch das Tragen des Markenherstellernamens in riesiger Schrift auf ihren T-Shirts freiwillig umsonst als lebende Litfaßsäulen Werbung zu laufen, musste es heutzutage Designerstreetware sein.

›Designerstreetware‹ - allein diese widersprüchliche Bezeichnung sollte einen vernunftbegabten Menschen davon abhalten, so etwas zu kaufen! Oder kennt irgendjemand einen Modedesigner, der auf der Straße arbeitet oder jemanden auf der Straße, der sich so etwas leisten kann? Aber egal, weil damit ist man individuell, halt genauso individuell wie alle anderen auch. Deshalb kaufte der modische Vorreiter von heute online ein. Man ging jetzt nicht mehr in ein Fachgeschäft, um erst etwas anzuprobieren und sich gegebenenfalls beraten zu lassen – na ja von wem auch, qualifizierte fachliche Beratung ist ja auch schon am Aussterben - nein, man bestellte via Internet, wo man seinem T-Shirt und seinen Schuhen selbst den nötigen individuellen Look verpassen konnte.

Aus ein paar vorgegebenen Farben für den Stoff, Schriftzug usw. und natürlich: gegen einen kleinen Aufpreis wählte man fröhlich selbst die Aufmachung der gesellschaftlich akzeptierte Uniform, mit der man dann durch die Straßen zog und aussah wie jeder andere. Und wenn man es dabei noch schaffte, sich einen Bart wachsen zu lassen, bekam man als Extrapunkt noch den ›Titel‹ Hipster verpasst.

Al drehte um. An seinem Büro war er schon lange vorbeigelaufen.

Er öffnete die Tür zu einem relativ kleinen Raum, welcher wohl eine Mischung aus Büro und Elektroniker-Werkstatt darstellte. Die Einrichtung hätte sicher schon in den 90ern als altmodisch gegolten. Beigefarbene hölzerne Aktenschränke, Schreibtische, deren zerkratztes Furnier an den Ecken abblätterte und so alte Schreibtischlampen, dass diese fast schon wieder als modern durchgingen, zierten das Büro. Dass in Al´s Lampe noch eine alte Glühbirne eingeschraubt war, fand er allerdings recht sympathisch. Sie erinnerte ihn einfach an frühere, vermeintlich bessere Zeiten. Auf dem Schreibtisch, der dem von Al gegenüberstand, befand sich sogar noch ein Telefon mit Wählscheibe! Und hinter diesem Schreibtisch saß Rosenstrauch.

Wenn man über Daniel Rosenstrauch etwas mit Gewissheit sagen konnte, dann, dass er sich nahtlos in die Einrichtung einfügte. Er drehte seinen fleischigen Kopf Richtung Tür, lehnte sich zurück und legte seine Hände an die Hosenträger, welche sich über das Volumen seines Bauchs spannten. Al roch bei diesem Anblick Gartenzwerge.

«Guten Morgen, Herr Humoa!«

»Morgen, Herr Rosenstrauch«

»Morgen, Al«, ertönte eine wesentlich jüngere Stimme.

»Morgen Robin!«, begrüßte er den Praktikanten.

Al setzte sich an seinen Schreibtisch und fragte sich wie jeden Morgen in den letzten Wochen, warum er der Einzige im ganzen Gebäude war, der keine neuen Büromöbel erhalten hatte? Hier drin grenzte es ja schon an ein Wunder, dass sie Flachbildschirme auf den Tischen hatten.

Bei Rosenstrauch konnte man es noch irgendwie verstehen, er ging eh in ein paar Wochen in Pension. Deshalb war der Kriminalbeamte auch hier untergebracht, weil es sich nicht gelohnt hätte, ihm für die kurze Zeit noch ein eigenes Büro einzurichten, aber Al hatte doch noch endlose Jahrzehnte vor sich.

Al´s Teil des Büros sah aus wie ein Schlachtfeld: Hinter ihm Regale, vollgestopft mit Elektrogerümpel, in der Ecke ein kleine Werkbank mit herumliegenden Werkzeugen und Lötkolben und auf dem Schreibtisch Papiere verschiedenster Größen und Farben in unübersichtlichen Haufen angeordnet und größtenteils von Al abgelegt ohne die Absicht, sie jemals zu lesen.

Robin saß an einer Ecke von Al´s Schreibtisch, ganz außen. Rosenstrauchs Teil war ordentlich und akkurat eingerichtet, sogar die Stifte lagen nach einem genau festgelegten System auf der Schreibunterlage sortiert. Der Stapel Akten über einen ungelösten Fall Rosenstrauchs, den er in seiner verbleibenden Zeit noch mal aufzuarbeiten gedachte, wirkte fast schon fehl am Platz.

»... und die Sortimentskästen habe ich auch schon in die Regale eingeräumt ...«, Al bemerkte erst jetzt, dass Robin mit ihm sprach, »... jetzt ist alles hier!« Der Finger des Jungen zeigte auf den Bereich von Al´s Regalen, in den nicht alles wahllos hinein geschmissen wirkte. Den Gedanken, ob er in Robins neuer Ordnung denn was finden würde, verwarf er schnell wieder. Bisher hatte er ja auch nichts gefunden.

Nun gut, das hatte der Praktikant erledigt, ohne Anlass zum Meckern zu geben. Trotzdem konnte ihn Al hier jetzt nicht brauchen. Da sich sein Magen ohnehin gerade meldete, gab dieses spontane Bauchgefühl Robins nächste Mission eigentlich klar vor:

»Okay, dann hast du dir deine Brotzeit ja jetzt redlich verdient«, versuchte Al eine positive Grundstimmung zu erzeugen, um darin sein eigentliches Anliegen »da könntest du mir doch auch gleich was mitbringen«, zu verpacken.

»Wie immer?«, fragte Robin diensteifrig, der genau wusste worauf Al abzielte.

»Wie immer!«, antwortete Al. »Oder warte … nein … doch … wie immer«, fügte er dann noch hinzu. Nicht, dass er wirklich vorhatte, seine Bestellung zu ändern, aber allzu sicher sollte der Praktikant sich darüber dennoch nicht sein.

»Und das Geld?«

Al fing an, in diversen Taschen seiner Kleidung zu kramen, erinnerte sich an den Fünfer in seinem Geldbeutel, beschloss aber, diesen noch ein wenig zu behalten. Deshalb trug er Robin auf:

»Lass es anschreiben. Ich werde es dann beim Mittagessen bezahlen.« Obwohl Al schon seit mehreren Wochen nicht mehr persönlich in der Kantine aufgetaucht war und er diesen Trick schon öfters - nahezu täglich, um genau zu sein – benutzte, hatte er bisher immer noch funktioniert. Sein imaginärer Deckel musste inzwischen gigantische Ausmaße angenommen haben. Aber da Al nicht vorhatte, in nächster Zeit mal wieder in der Kantine Essen zu gehen, war ihm das reichlich egal.

»Okay, Chef! Für Sie auch etwas, Herr Rosenstrauch?«, fragte Robin der Höflichkeit halber, denn selbst er hatte schon gemerkt, dass darauf nur ein Fingerzeig auf die exakt an ihrem zugedachten Platz positionierte Tupperdose begleitet von einem gemurmelten

»Nein, danke« als Antwort folgte.

Als Robin gerade durch die Tür verschwunden war rief Al ihm nach:

»Ach, Robin!«

Der Kopf des Praktikanten erschien wieder im Türrahmen: »Ja, Chef?«

»Lass dich nicht aufhalten!«

Welch grandioser Witz, den Al da täglich brachte und auf den Robin ebenso täglich reinfiel. Rosenstrauch schüttelte in diesen Moment, ebenso täglich, in Missbilligung dieses Humors, kaum merklich den Kopf.

So, nachdem der Praktikant jetzt für einige Zeit verschwunden war (was wohl mit einer seit kurzer Zeit in der Kantine beschäftigten Auszubildenden zusammenhing, wie Marie Al einmal unter dem Siegel der Verschwiegenheit berichtete), konnte sich Al nun an die Arbeit machen.

Die Zeiterfassung musste auf den korrekten Stand gebracht werden. Nicht, dass an der Zeiterfassung irgendetwas falsch gewesen wäre, nur entsprach sie in Bezug auf seine Ankunftszeit nicht Al´s Vorstellung von Korrektheit - sondern eher der des Rests der Menschheit. Al musste also die für die Allgemeinheit korrekte Zeit in die für ihn korrekte Zeit ändern, was diese wiederum zur für die Allgemeinheit korrekten Zeit machte.

Insofern handelte es sich auch nicht um Betrug, schließlich kamen ja am Ende die richtigen Daten aus dem Computer und der hatte im Zweifelsfall ja immer recht. Schwieriger war es, die Zeiterfassungsbögen, die jeden Tag um 9:30 Uhr automatisch im Serverraum gedruckt wurden, um in irgendwelchen Aktenordnern in Papierform abgeheftet zu werden (eigentlich wusste keiner mehr, warum), eben dort zu entfernen und dann einen neuen Druck mit der wirklich korrekten Version, äh … na ja … Al´s Version halt … hm …, zu veranlassen.

Seit Al der IT-Abteilung bei der ein oder anderen Umzugsaktion überraschend hilfsbereit zur Hand ging, war er im Besitz von so ziemlich allen im Haus benötigten Passwörtern und so war der Zugriff auf den Server und die Zeiterfassungsverwaltung kein Problem.

Sein Gegenüber Rosenstrauch hatte so viel Ahnung von Computern wie ein Pinguin von der Gartenarbeit, der konnte sich wahrscheinlich nicht einmal vorstellen, dass es überhaupt eine Möglichkeit für das gab, was Al da tat, geschweige denn, dass er mit den Zahlen und Buchstabenkombinationen, die da auf Al´s Monitor flimmerten, irgendetwas hätte anfangen können. Al konnte also bequem von seinem Schreibtisch aus arbeiten.

Nachdem diese Aktion in wenigen Augenblicken erledigt war, konnte er sich nun auf den Weg machen, die Ausdrucke zu beseitigen. Dank Freddy wusste er ja, dass gleich eine Sitzung war. Damit dürfte der Weg frei sein, weil ja alle mit dem Wichtig sein beschäftigt waren.

Al griff sich den Werkzeugkoffer, den er unter seinem Schreibtisch deponiert hatte und ließ ihn erst einmal auf die Tischplatte knallen. Wie immer schreckte Rosenstrauch mit einem kleinen Hüpfen auf. Al öffnete den Koffer, schaute recht wichtig hinein, griff sich irgendeinen Gegenstand aus dem Regal hinter sich, knallte den Kofferdeckel zu, erfreute sich insgeheim an Rosenstrauchs zweitem, wenn auch kleineren, Hüpfer, murmelte etwas von wegen

»Bin dann mal unterwegs«, und verschwand Richtung Aufzug. Rosenstrauch atmete auf.

Als er im dritten Stock den Aufzug in Richtung Serverraum verließ, sah Al am Ende des Ganges Marie mit Freddy reden. Als die beiden auch ihn bemerkten, war Freddy abrupt um die Ecke verschwunden. Das war Al eh lieber, der Kerl hatte ihn heute schon genug gestresst. Sie schien eine neue Frisur zu haben. Er ging also auf Marie zu und brachte seinen immer gleichen Begrüßungsspruch:

»Hier arbeitest du also!?«

»Das weißt du doch!« Marie verdrehte die Augen.

»Ja, aber ich wusste jetzt nicht, was ich sagen soll.« Auch das hörte sie nicht zum ersten Mal.

»Aha!?!?«

»Ja.«

»Ach so!«

Das bis dahin nicht besonders aufregende Gespräch versandete nun komplett in einem kurzen Schweigen. Marie musterte Al genau und fragte:

»Al, hast Du schon gehört, was bei der Verkehrsüberwachung passiert ist?«

»Ja, habe ich«

Marie schaute ihn durch leicht zugekniffene Augen an und erwiderte mit einer dunklen Vorahnung: »So, hast du? Dann weißt du sicherlich auch, dass sie den Typen mit allen Mitteln suchen?«

»Ja, klar«, Al war etwas überrascht, sprach dann aber gleich beiläufig weiter:

»Und was gibt es so bei dir Neues? Erzähl mal!«

»Alfred, es ist gleich Sitzung ...« Alfred – wenn seine Ex-Frau ihn so ansprach, wurde es gefährlich ...

»Ist es schon zehn?«

»Fünf vor, aber ich muss jetzt echt los!«

»Wie geht es den Kindern?«

»Gut. Sie wollen mal wieder zu dir.«

»Oh, äh, schön... Alle vier?«

Al wollte cool wirken, aber insgeheim freute er sich.

»Ja klar! Sonst habe ich ja wieder keine Zeit für mich.«

»Und wann?«, wollte Al wissen, »gleich dieses Wochenende?«

»Hm, das ist eher ungünstig. Sie haben alle schon was vor«, grübelte Marie. »Fußball, Freunde, irgendein Konzert ...«

»Na gut«, sagte Al, »dann nächstes Wochenende!« Das war ihm ohnehin lieber – so hatte er noch mehr Zeit, seine Bude auf Vordermann zu bringen. Seine Kinder sollten sich ja bei ihm wohlfühlen.

»Toll!« Sie schien ehrlich begeistert »Ich sag den Kindern heute Abend gleich Bescheid, dass sie kommen können.«

»Na, dann ist das jetzt ausgemacht«, stellte Al munter fest.

»Ja gut. Dann könnt ihr die gemeinsame Zeit genießen. Ach, passt du ein bisschen auf Lisa auf? Sie hat Lukas in letzter Zeit öfters gebissen!«

»Äh, aber: Lisa ist vier - und Lukas 17?«

»Ja und?«

»Ich dachte nur: Er könnte sich ja wehren ...«

»Du kennst ihn doch!«

Oh ja, mein Sohn - der Held! ging es Al durch den Kopf.

»Jedenfalls freuen die Kinder sich bestimmt!«

»Ich mich auch!« Und das meinte er ernst.

»Ich muss jetzt echt zur Sitzung... wir telefonieren!«

»Okay, mach’s gut!«, sagte Al, aber Marie war schon um die Ecke Richtung Konferenzraum unterwegs. Sie übte noch immer einen gewissen Zauber auf ihn aus. Warum nur hatte sie sich damals von ihm abgewandt?

Hast du ihn an das Fitnessstudio erinnert, wie besprochen?

Na toll, Marie hatte Freddy also angestiftet. Eigentlich hätte Al sich das denken können. Andererseits: Wenn er ihr dann wieder besser gefiel ...

Der Serverraum befand sich neben dem Konferenzraum. Praktischerweise waren hier auch gleich die Ordner untergebracht, in denen die Ausdrucke der Zeiterfassung abgeheftet wurden. Während Al alt gegen neu tauschte, hörte er durch eine Zwischentür, wie der Chef gerade mit dem Schwingen großer Reden beschäftigt war. Da überkam ihn ein Gefühl der Zufriedenheit, er war nur ein kleiner Techniker und kein superwichtiger Polizeibeamter, der sich gerade seinen Hintern beim Lauschen von Lichtenbergers grenzenlosem Selbstlob platt sitzen musste.

Es war Zeit, sich zurück in sein Büro zu begeben, schließlich musste er sich ja noch um die von Robin gebrachte Brotzeit kümmern - und wenigstens etwas arbeiten - bevor er mit Jan zum Mittagessen verabredet war. Er verstaute die alten Ausdrucke in seinem Koffer und machte sich auf den Weg.

Eine kurze Überlegung, ob er die Treppe nehmen und dabei einen Zwischenstopp im Kopierraum des zweiten Stockwerks machen sollte, um die falschen, ehemals richtigen, Ausdrucke im Reißwolf zu entsorgen, verwarf er, weil er sich ja heute Abend anscheinend ohnehin noch mehr bewegen musste, als gewünscht. Als er in sein Büro kam, fand er auf seinem Schreibtisch einen Pappteller mit drei Würstchen, Senf und einer Semmel vor.

»Brezen sind aus!«, informierte ihn Robin, mit vollem Mund, von seiner Ecke des Schreibtisches aus. Rosenstrauch machte sich gerade über die letzten Reste des Inhalts seiner Pausendose her.

»Schade«, murmelte Al. Aber da es sich nur um die Vorspeise für das bald stattfindende Mittagessen handelte, wollte sich Al im Moment nicht von solchen Details die Laune verderben lassen. Jetzt brauchte er erst einmal Platz zum Agieren! Er setzte sich also auf seinen geschätzte 53 Jahre alten Bürostuhl und begann in altbekannter und bewährter Weise sein Hindernis zu beseitigen:

»Robin, wir müssen heute Nachmittag ein paar Netzwerkbuchsen setzen. Holst du schon mal einen Karton voll und fünf, nein sechs, W-Lan-Kabel aus dem Lager?«

»W-Lan-Kabel?«, grübelte Robin.

»Ja!«, versicherte Al

»Wee-Lan-KABEL??« Robins Verwirrung wollte einfach nicht enden.

»Ja, W wie … Wichtig«, war Al´s Schlüssigkeit vortäuschende Erklärung. »Du weißt doch, hier bei der Polizei muss alles besonders sicher sein. Die Schachtel, in der die liegen, ist übrigens beschriftet.«

»Aha, ja gut ...« Der Kopf des Praktikanten war leicht gerötet, als er das Büro in Richtung Materiallager im Keller verließ. Den war Al erst mal los.

Jetzt konnte sich Al in Ruhe der Reparatur einiger Geräte widmen, die natürlich nicht von der Polizei waren, sondern von den Angestellten. Dass Al sich dieser Arbeit nicht aus reiner Nächstenliebe hingab, muss ja wohl nicht erwähnt werden.

Irgendwann kam Robin mit einem Karton und einer Kabeltrommel zurück.

»Sorry Chef, aber die Kabel konnte ich nicht finden! Ich hab dafür eine Rolle Cat. 6-Netzwerkkabel mitgebracht.«

Al blickte auf die Uhr, die im Büro hing.

»Macht nichts, ich habe mir den Plan noch mal angeschaut, Cat 6 tut’s auch!«

Gut, es war eh schon fast zwölf Uhr. Al verabschiedete sich mit einem »Mahlzeit« und ging auf direktem Weg zum Alfredos, um sich mit Jan wie jeden Dienstag zum Mittagessen zu treffen.

Das Alfredos war ein Restaurant, das hielt, was der klischeehaft Name versprach: Alfredo Tisato war ein immer zuvorkommender und freundlicher Mann gesetzteren Alters, der durch nichts mehr (außer Fußball) aus der Ruhe zu bringen war. Seine Frau Rosina war zwar keine phantastische Köchin, aber auch sie konnte nichts mehr aus der Ruhe bringen (außer jemand betrat ungebeten ihre Küche – das war ihr Reich). Violetta, die Tochter der beiden, war wirklich sehr hübsch anzusehen und hatte in früheren Zeiten alleine durch ihre Anwesenheit dazu beigetragen, dass das Lokal immer gut gefüllt war, besonders mit jungen Männern.

In letzter Zeit war sie allerdings regelmäßig mit einem Knaben zu sehen, dessen unglaublich fetttriefendes Haar streng nach hinten zementiert war. Es machte auch den Anschein, dass es was Ernstes war. Seitdem nahmen die Besucherzahlen im Lokal stetig ab und der Altersdurchschnitt ging deutlich in die Höhe. Violetta jedenfalls brachte erst recht nichts aus der Ruhe, sie bekam ja sowieso immer, was sie wollte. Der Ober im Alfredos hieß Elio. Ihn brachte alles aus der Ruhe und sein Temperament verbot es ihm, seine Launen für sich zu behalten.

Es gab einen günstigen Mittagstisch, den man auch mit Essensgutscheinen bezahlen konnte. Da Al auf dem Polizeipräsidium arbeitete, bekam er solche Scheine und das war auch der Hauptgrund, warum er immer darauf drängte, ins Alfredos zu gehen. Die wie am Fließband produzierten Gerichte schmeckten zwar als wären sie in der Mikrowelle aufgewärmt worden, wahrscheinlich waren sie das auch, aber beweisen konnte man es nicht. Schließlich war Rosinas Küche Sperrgebiet.

Jan, der über Al´s Kontostand Bescheid wusste, hatte sich damit abgefunden, hier einmal die Woche zu essen. Ansonsten zog er es vor, mit seinen Kollegen eine etwas modernere Küche zur Mittagszeit zu genießen.

Als Al das Lokal betrat, saß Jan schon an dem Tisch, an dem die beiden immer saßen. Der blonde hochgewachsene Bankangestellte fläzte entspannt zurückgelehnt, die Karte auf der Tischplatte aufgestützt, seine überkreuzten Füße schauten gegenüber unter dem Tisch heraus. Wenn man ihn so sah, konnte man nicht ahnen, welche Eleganz und welch Benehmen dieser Mann an den Tag legen konnte, wenn es darauf ankam. Allerdings kam es für Jan meistens nur ›darauf an‹, wenn es um Damen ging oder wenn es beruflich für ihn zu eng wurde.

»Hallo, altes Haus«, begrüßte er Al freundlich.

»Hallo, Jan«, grüßte dieser zurück.

»Na, was macht die Liebe?«, machte Jan deutlich, dass er gedachte, alles über den gestrigen Abend zu erfahren.

»Nichts!«, machte Al deutlich, dass er nicht gedachte, auch nur irgendetwas über den gestrigen Abend zu erzählen.

»Nun erzähl schon! Wie war es?«, ließ Jan nicht locker.

»Was soll schon gewesen sein? Schief ist es gelaufen – wie immer!« beendete Al dieses Thema (zumindest für sich).

Elio kam an den Tisch und überreichte Al wortlos eine zweite Speisekarte. Damit war für ihn genug gesagt und schon war er wieder weg.

»Schief? Wie? Schief?«, verlieh Jan seiner bei weitem nicht befriedigten Neugier Ausdruck.

»Ich habe irgendeinen Quark geredet, sie hat irgendeinen Quark geredet …«

»Quark?«, murmelte Jan irritiert »Egal. Bisher klingt alles doch ganz normal!«

»Egal … normal … banal … ist die Tatsache, dass ich sie gelangweilt habe!«, zog Al ein gewagtes Wortspiel aus dem Ärmel.

»Gelangweilt? Das verstehe ich gar nicht, du bist doch so ein interessanter Typ. Oder zumindest, äh, nett«, wunderte sich Jan künstlich.

»Nett, na vielen Dank.« Al fühlte sich von dem Mangel positiver Attribute, die seinem Freund ihn betreffend einfielen, nicht gerade geschmeichelt. »Das sieht sie wohl anders!«

»Anders?« Warum wiederholte Jan immer das letzte Wort, das Al sprach?

»Jedenfalls hat sie mir zum Abschied ein wirklich ernst gemeintes ›Arsch‹ hinterher gerufen«, leitete Al so schnell wie möglich zum Ende des Treffens und somit auch dieses Gesprächsthemas über.

Jan grübelte: »Das verstehe ich gar nicht. Ich dachte, ihr würdet gut zueinander passen.«

»Gut zueinander passen?« Jetzt wiederholte Al die letzten Worte.

»Signore!« Die beiden Männer erschraken ein wenig, als sie sich plötzlich der Anwesenheit des Obers bewusst wurden. Er stand einfach nur so da an ihrem Tisch. Wie lange er da wohl schon gestanden haben mochte?

»Ähm, ich nehme die Spezzatino con Riso und dazu einen vino rosso. Aber nicht den von letzter Woche! Mit dem Sauerampfer könnt ihr höchstens noch ein Salatdressing zusammen panschen wenn euch der Essig ausgegangen ist!«, brachte Jan seine Wünsche klar zum Ausdruck.

»Menü 2 und ein Bier«, bestellte Al während er überlegte, ob ihm sein Freund jetzt peinlich sein musste. Abgesehen davon hatte er keine Ahnung, um was es sich bei Menü 2 handelte, aber man würde es schon essen können.

»Si, Geschnetzeltes mit Reis, Cavatappi al Salmone, lieblicher Rotwein e una birra«, wiederholte Elio barsch, während sein Blick Jan eisern fixierte und verschwand mit einem »Ecco!« Jan hätte eigentlich noch gerne mit dem Ober geklärt, was dieser unter einem ›lieblichen Rotwein‹ verstand, aber der war ja inzwischen entschwunden.

Da fiel Al die Frage wieder ein, die ihn schon gestern Nacht beschäftigte:

»Wie heißt sie eigentlich?«

»Wer?«