Das Winterhotel - Sarah Morgan - E-Book

Das Winterhotel E-Book

Sarah Morgan

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die perfekte Einstimmung auf die Feiertage mit den Buchclub-Urlauberinnen Im Maple Sugar Inn lässt Besitzerin Hattie Coleman die Träume ihrer Gäste wahr werden. Doch dieses Weihnachten ist sie fast am Ende ihrer Kräfte, denn nach dem zu frühen Tod ihres Ehemannes muss sie sich nun allein um ihr gemeinsames Kind und das Hotel kümmern. Dann checken Erica, Claudia und Anna zu ihrem jährlichen Buchclub-Urlaub ein. Ihre jahrelange Freundschaft und tiefe Liebe zu Büchern verbindet sie, doch Hattie ist klar, dass da einiges unter der Oberfläche brodelt. Trotzdem ist sie nicht darauf vorbereitet, als herauskommt, wie sehr ihre eigene Geschichte mit der der anderen Frauen verwoben ist. Können die vier Frauen sich gegenseitig helfen, ein neues Kapitel im Leben aufzuschlagen?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 591

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem TitelThe Christmas Book Club bei Canary Street Press, an imprint of HarperCollins Publishers, US.

© 2023 by Sarah Morgan

Deutsche Erstausgabe

© 2024 für die deutschsprachige Ausgabe

by HarperCollins in der

Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg

Published by arrangement with

HarperCollinsPublishers L.L.C., New York

Satz und E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck

Covergestaltung von Rothfos & Gabler, Hamburg

Coverabbildung von Sybille Sterk / Arcangel; IMR / Alamy Stock Foto

ISBN E-Book 9783749907342

www.harpercollins.de

Widmung

Für meine wunderbaren Freunde Margaret und Alan.

1. KAPITEL

HATTIE

»Maple Sugar Inn, wie kann ich Ihnen helfen?« Hattie ging mit einem Lächeln ans Telefon, weil sie herausgefunden hatte, dass es unmöglich war, niedergeschlagen, launisch oder den Tränen nahe zu klingen, solange man lächelte – alles Gefühlslagen, die aktuell auf sie zutrafen.

»Ich möchte schon seit Jahren Winterurlaub in Vermont machen und habe Bilder von Ihrem Hotel in den sozialen Medien entdeckt«, sprudelte am anderen Ende jemand los, der Stimme nach eine Frau. »Herrlich, wie gemütlich und einladend das bei Ihnen aussieht! Genau die Art Ort, an der man gar nicht anders kann, als zu entspannen.«

Reine Illusion, dachte Hattie. Hier war gar nichts entspannt, zumindest nicht für sie selbst. Ihr Kopf wummerte, und ihre Augen brannten, weil sie wieder mal die ganze Nacht wach gelegen und gegrübelt hatte. Die Hausdame drohte damit zu kündigen, und der Küchenchef war nun schon zwei Abende hintereinander zu spät zur Arbeit erschienen, was sich heute wohl wiederholen würde. Und das kam einer Katastrophe gleich, weil alle Tische reserviert waren. Tucker hatte ihrem Hotelrestaurant zwar den begehrten Stern eingebracht – sein Enten-Confit entlockte den Gästen regelmäßig ekstatische Laute –, aber es gab durchaus Tage, an denen sie den Stern mit Freuden gegen einen Küchenchef mit einem etwas ausgeglicheneren Temperament eingetauscht hätte. Tucker war so heißblütig, dass sie sich manchmal fragte, wieso er sich überhaupt noch die Mühe machte, den Ofen einzuschalten. Er brauchte die Enten doch nur anzuschreien, um sie mit seinem flammenden Zorn zu versengen. Außerdem verhielt er sich ihr gegenüber respektlos. Und er nutzte sie aus. All das war Hattie sehr wohl bewusst, ebenso wie die Tatsache, dass sie ihn vermutlich besser rauswerfen sollte. Aber Brent hatte ihn eingestellt, und wenn sie ihn nun vor die Tür setzte, schnitt sie damit einen weiteren Faden ab, der sie mit der Vergangenheit verband. Zudem kostete jeder Konflikt Energie, und die war bei ihr derzeit Mangelware. Also war es wohl für den Moment einfacher, Tucker seinen Willen zu lassen.

»Wie schön, dass Ihnen unser Hotel zusagt«, antwortete sie der Frau am Telefon. »Kann ich Ihnen ein Zimmer reservieren?«

»Das hoffe ich, allerdings habe ich recht konkrete Vorstellungen von dem Zimmer. Wenn ich einmal kurz erklären dürfte, was ich mir erwarte?«

»Aber gern doch.« Hattie wappnete sich für eine lange Litanei unerfüllbarer Wünsche und kämpfte gegen den Drang an, mit dem Kopf gegen die Tischplatte zu hämmern. Sie griff nach Zettel und Stift, die stets an der Rezeption bereitlagen. »Ich höre.«

Wie schlimm konnte es schon werden? Vorige Woche hatte sich eine Frau erkundigt, ob sie ihre Hausratte mitbringen konnte – Antwort: Nein! –, und noch eine Woche zuvor hatte ein Gast verlangt, dass sie das Rauschen des Flusses, der vor seinem Zimmerfenster vorbeifloss, herunterregelte, weil er »bei dem Lärm« nicht schlafen konnte.

Sie gab ihr Bestes, allen Launen ihrer Gäste gerecht zu werden, aber es gab Grenzen.

»Ich hätte gern ein Zimmer mit Bergblick«, begann die Frau. »Und ein Kamin mit echtem Feuer wäre schön.«

»All unsere Zimmer haben Kamin«, erklärte Hattie. »Und die Zimmer, die nach hinten hinausgehen, haben einen herrlichen Bergblick. Die vorderen Zimmer gehen auf den Fluss hinaus.«

Sie entspannte sich ein wenig. So weit, so unproblematisch.

»Ich bin ganz klar der Bergtyp. Außerdem bin ich etwas speziell, was die Schlafsituation betrifft. Immerhin verbringen wir ein Drittel unseres Lebens mit Schlafen, da sollte man keine Kompromisse eingehen, finden Sie nicht auch?«

Ein Anflug von Neid überkam Hattie. Sie hätte einiges dafür gegeben, ebenfalls ein Drittel ihrer Zeit mit Schlafen verbringen zu können. Aber mit einem kleinen Kind, einem eigenen Hotel und der anhaltenden Trauer um ihren Ehemann war sie froh, wenn sie überhaupt mal ein Auge zubekam. Stattdessen träumte sie vom Schlafen, war dabei bedauerlicherweise aber meistens wach.

»Oh ja, das richtige Bett ist ausgesprochen wichtig.« Sie sagte, was von ihr erwartet wurde. Genau wie vor zwei Jahren, als die Polizei vor ihrer Tür stand, um ihr mitzuteilen, dass ihr Mann durch einen fast schon absurden Unfall ums Leben gekommen war. Auf dem Weg zur Bank war ihm ein Dachziegel, der sich von einem Gebäude gelöst hatte, auf den Kopf gefallen. Brent war auf der Stelle tot gewesen.

Jedes Mal, wenn sie an ihre erste Reaktion auf die Nachricht dachte, hätte sie im Erdboden versinken können: Sie hatte gelacht. So überzeugt war sie gewesen, dass es sich um einen schlechten Scherz handelte. Kein normaler Mensch kam ums Leben, weil ihm am helllichten Tag wie aus dem Nichts irgendwelche Sachen auf den Kopf knallten, oder? Aber dann war ihr aufgefallen, dass sie die Einzige war, die lachte, und zwar nicht, weil es den Polizisten an Humor mangelte.

Sie hatte nachgefragt, ob sie auch wirklich sicher seien, dass er tot war, und sich noch im selben Atemzug dafür entschuldigt. Denn wie oft begann die Polizei schon ein Gespräch mit Bedauerlicherweise müssen wir Ihnen mitteilen … und beendete es mit Ups, da haben wir wohl einen Fehler gemacht?

Die Beamten hatte noch einmal wiederholt, was geschehen war, worauf sie sich höflich bei ihnen bedankte. Und ihnen dann einen Tee kochte, weil sie a) halbe Britin war und b) unter Schock stand.

Nachdem die beiden ihren Tee getrunken und ihre selbst gebackenen Zimtkekse gegessen hatten, hatte sie sie zur Tür geleitet und verabschiedet, als wären sie geschätzte Gäste und nicht zwei Menschen, die gerade innerhalb eines einzigen kurzen Gesprächs ihr ganzes Leben zertrümmert hatten.

Danach hatte sie bestimmt fünf Minuten lang die geschlossene Tür angestarrt, um zu begreifen, was sie gerade erfahren hatte. Von einem Moment auf den anderen war nichts mehr wie zuvor. War sie ihrer gemeinsamen Zukunft mit Brent beraubt worden. Waren all ihre Hoffnungen zunichte.

Zwei Jahre war das jetzt her, und doch gab es immer noch Tage, an denen es sich anfühlte, als hätte sie nur schlecht geträumt. Tage, an denen sie damit rechnete, dass Brent voller Energie durch die Tür kam, um ihr aufgeregt von seiner neusten genialen Idee zu erzählen.

Ich finde, wir sollten heiraten …

Ich finde, wir sollten ein Kind bekommen …

Ich finde, wir sollten das historische Hotel kaufen, das wir auf unserer Reise nach Vermont gesehen haben …

Sie hatten sich während ihres letzten Collegejahrs in England kennengelernt, und Brents Enthusiasmus riss sie von Sekunde eins an mit. Nach ihrem Abschluss nahmen sie beide Jobs in London an. Und dann geschahen zwei Dinge: Erstens starb Brents Großmutter und hinterließ ihm eine großzügige Summe, zweitens reisten sie nach Vermont, wo sie sich in das Hotel verliebten.

Tja, und hier saß sie nun, Witwe mit achtundzwanzig, Mutter einer fünfjährigen Tochter und alleinige Geschäftsführerin eines geschichtsträchtigen Hotels. Seit Brents Tod versuchte sie, hier alles in seinem Sinne weiterzuführen, aber das war weiß Gott nicht einfach. Ihre Sorge wuchs immer mehr, es allein nicht zu schaffen und über kurz oder lang das Hotel zu verlieren. Noch größer allerdings war ihre Angst, ihrer Tochter nicht gerecht zu werden. Seit Brents Tod musste sie für sie Vater und Mutter sein – dabei fühlte sie sich nicht mal mehr wie ein einziger vollständiger Mensch.

Die Frau am Telefon musste während ihres kurzen Anfalls von Selbstmitleid immer weitergeredet haben, was Hattie erst jetzt bemerkte. »Verzeihung, könnten Sie das bitte noch einmal wiederholen?«

»Ich hätte gern Leinenbettwäsche, weil es mir schnell zu heiß wird.«

»Das dürfte kein Problem darstellen, wir verfügen über Leinenbettwäsche.«

»In Rosa.«

»Wie bitte?«

»Die Bettwäsche muss rosa sein. Ich habe herausgefunden, dass ich in Rosa besser schlafe. Weiß ist so grell, und triste Farben deprimieren mich.«

Rosa also.

»Ich vermerke das in Ihrer Reservierung.« Sie nahm einen Notizblock, kritzelte aber HILFE darauf, gefolgt von vier Ausrufezeichen. Früher hätte sie etwas deutlich Unhöflicheres geschrieben, aber ihre Tochter konnte mittlerweile bemerkenswert gut lesen und ließ sich keine Gelegenheit entgehen, diese Fähigkeit auch unter Beweis zu stellen. Entsprechend überlegte sich Hattie inzwischen genau, was sie offen herumliegen ließ. »Haben Sie einen bestimmten Zeitraum im Kopf?«

»Weihnachten. Das ist doch die schönste Zeit im Jahr, nicht wahr?«

Nicht für mich, dachte Hattie, während sie den Belegungsplan durchsah. Ihr erstes Weihnachtsfest nach Brents Tod war einfach nur fürchterlich gewesen, und letztes Jahr war es kaum besser gelaufen. Am liebsten hätte sie sich im Bett versteckt, die Decke über den Kopf gezogen, bis alles vorbei war, aber stattdessen hatte sie im Leben anderer fröhliche Weihnachtsstimmung verbreiten müssen. Und nun war schon wieder Ende November, und in wenigen Wochen stand Weihnachten vor der Tür.

Aber solange sie kein Personal verlor, würde sie sich irgendwie durchmogeln können. Sie hatte zwei Weihnachtsfeste überlebt, da würde sie auch ein drittes schaffen.

»Sie haben Glück, einige wenige Zimmer sind noch frei. Unter anderem ein Doppelzimmer mit Bergblick. Darf ich es für Sie reservieren?«

»Handelt es sich um ein Eckzimmer? Ich hätte gern mehr als ein Fenster.«

»Nein, es ist kein Eckzimmer, und es hat nur ein Fenster. Aber der Ausblick ist herrlich, und es verfügt über einen überdachten Balkon.«

»Und es ist nicht möglich, ein Zimmer mit zwei Fenstern zu bekommen?«

»Bedauerlicherweise nicht.« Was stellte sich die Dame denn vor? Dass sie ein Loch in die Außenmauer schlug? »Aber wenn Sie möchten, kann ich Ihnen ein Video von dem Zimmer schicken, falls Ihnen das bei der Entscheidung hilft.«

Bis sie die E-Mail-Adresse der Frau aufgenommen, das Zimmer für vierundzwanzig Stunden geblockt und eine ganze Liste weiterer Fragen beantwortet hatte, war eine halbe Stunde verstrichen.

Als die Frau endlich auflegte, gab Hattie einen tiefen Seufzer von sich. Weihnachten würde der reinste Albtraum werden. Rosa Leinenbettwäsche, schrieb sie dann doch unter die vorläufige Reservierung.

Wie wäre Brent damit umgegangen? Diese Frage stellte sie sich ungefähr eine Million Mal am Tag. Sie gestattete sich einen kurzen Blick auf eins der zwei Fotos neben dem Rezeptionscomputer. Es zeigte Brent, wie er ihre Tochter durch die Luft schwang. Die beiden lachten. Manchmal halfen ihr die Erinnerungen an die schönsten Augenblicke in ihrem Leben dabei, die schlimmsten durchzustehen.

Gerade wollte sie sich daranmachen, im Internet nach rosafarbener Leinenbettwäsche zu suchen, da gab jemand ein übertriebenes Räuspern von sich.

Sie sah auf und begegnete dem finsteren Blick ihrer Hausdame Stephanie.

So wie praktisch das gesamte Personal war auch Stephanie von Brent ins Maple Sugar Inn geholt worden. Zuvor war sie in einem renommierten Hotel in Boston angestellt gewesen. Ihre Zeugnisse sind hervorragend, hatte Brent nach dem Vorstellungsgespräch gesagt. Und sie ist ungeheuer gut organisiert und qualifiziert.

Was den Teil mit dem Ungeheuer betraf, war Hattie ganz seiner Meinung gewesen, und sie hatte eingewandt, dass in Anbetracht von Stephanies unhöflichem Verhalten Führungsprobleme vorprogrammiert seien. Aber er hatte ihre Bedenken abgetan. Ich manage das Personal, hatte er gesagt und ihr versichert, dass Stephanies Manieren nicht ihr Problem sein würden. Nur dass Stephanies Manieren jetzt eben doch ihr Problem waren. So wie alles ihr Problem war.

»Haben Sie Halsschmerzen, Stephanie?« Sie wusste, dass sie sich das besser hätte verkneifen sollen, aber Stephanies miesepetrige Grundhaltung trieb sie in den Wahnsinn. Langsam fehlte ihr die Energie für diese Frau. Vor Brent hatte Stephanie Respekt gehabt – manchmal hatte Hattie sich sogar gefragt, ob nicht noch mehr als bloßer Respekt im Spiel war – und sich immer wieder von seinem ungetrübten Enthusiasmus für alles und jeden anstecken lassen. Aber Hattie mit ihrem eher sanften Wesen schien sie einfach nur nervtötend zu finden.

»Ich habe größere Probleme als Halsschmerzen. Dieses dämliche Mädchen hat es irgendwie geschafft, bei der Reinigung des River Rooms ein rotes Wäschestück mit zur weißen Bettwäsche zu geben.«

Hattie tat so, als hätte sie keine Ahnung, von wem Stephanie sprach. »Wen meinen Sie?«

»Chloe.« Stephanie verzog die Lippen zu einem schmalen Strich. »Sie ist eine einzige Katastrophe. Ich kann gar nicht mehr zählen, wie oft ich sie daran erinnert habe, dass sie die Bettwäsche ausschütteln muss, um sicherzugehen, dass nichts dazwischenrutscht. Ich habe Sie gewarnt, sie nicht einzustellen, und ich verstehe beim besten Willen nicht, weshalb Sie es trotzdem getan haben. Jetzt haben wir die Bescherung.«

Hattie hatte Chloe eingestellt, weil sie freundlich und begeisterungsfähig war – ihrer Meinung nach wichtige Eigenschaften. Hotels wie das Maple Sugar Inn lebten von ihrem Ruf, und dieser Ruf hing stark vom Personal ab. Chloe gab den Gästen das Gefühl, ernst genommen und umsorgt zu werden. Stephanie dagegen erinnerte eher an einen Dobermann, der das Anwesen bewachte.

»Chloe ist warmherzig und hilfsbereit, und die Gäste lieben sie. Ich bin sicher, dass so etwas nicht wieder vorkommen wird.«

»Brent hätte sie niemals eingestellt.«

Es fühlte sich an, als hätte Stephanie ihr einen Schlag in die Magengrube verpasst. »Brent ist aber nicht mehr hier.«

Immerhin besaß Stephanie den Anstand, rot zu werden. »Mir ist bewusst, dass die letzten Jahre schwer für Sie waren, Harriet, und ich weiß auch, dass Sie nicht die geborene Managerin sind. Aber Sie müssen Ihr Personal besser im Griff haben. Sie betreiben dieses Hotel, Sie tragen die Verantwortung. Ihr Problem ist, dass Sie zu nett sind. Eine gute Managerin sollte dazu in der Lage sein, Angestellte zu feuern.«

Hattie hegte keinerlei Absicht, Chloe zu feuern. Sie war eines der wenigen Teammitglieder, in deren Gegenwart sie keine Anspannung empfand.

»Das hier ist ihr erster Job«, entgegnete sie. »Sie lernt noch. Da können Fehler vorkommen.«

»Aber Sie führen hier ein Hotel der Oberklasse. Oberklassehotels dulden keine Fehler.«

Das gesamte Maple Sugar Inn war ein einziger Fehler, dachte Hattie müde. Was hast du dir nur dabei gedacht, Brent? »Ich rede mit ihr. Wo ist sie?«

»In der Wäschekammer. Sie weint. Ich hoffe nur, dass sie sich nicht mit den Bettlaken die Nase putzt.«

Vielleicht können wir ja gemeinsam weinen, dachte Hattie, während sie durch die gemütliche Lobby ging und die offene Tür der Bibliothek passierte. Sie warf den gut gefüllten Bücherregalen einen sehnsuchtsvollen Blick zu. Wie gern hätte sie sich vor dem flackernden Kaminfeuer in einen Lehnstuhl gekuschelt und sich für eine Weile in eine Geschichte geflüchtet. Die Bibliothek war ihr Lieblingszimmer, und sie freute sich jedes Mal, wenn sich jemand dort mit einem Buch auf dem Sofa einrollte.

Manchmal beneidete sie ihre Gäste, denen alles hinterhergetragen und jeder Wunsch von den Augen abgelesen wurde. Offenbar fühlten sie sich im Hotel wohl, denn die meisten kamen wieder. So miserabel schien sie sich als Leitung also nicht zu machen, auch wenn sie furchtbar schlecht darin war, das Personal im Griff zu behalten.

Aber stimmte das überhaupt? War es nicht vielleicht eher so, dass sie schlecht darin war, furchtbares Personal im Griff zu behalten?

Sie stieg hinunter in den Keller, wo sie Chloe genau dort fand, wo Stephanie gesagt hatte – in der Wäschekammer.

Ihre Augen waren rot vom Heulen, und als sie Hattie bemerkte, rubbelte sie sich hastig übers Gesicht. »Es tut mir so leid«, murmelte sie. »Sie hat gesagt, dass ich nur vier Minuten habe, um das Bett frisch zu beziehen, deswegen habe ich mich besonders beeilt. Ich weiß, dass ich Mist gebaut habe, aber Mrs. Bowman beobachtet mich immer so kritisch, dass ich ganz nervös und unsicher werde, und dann mache ich Fehler.«

Ob sie Chloe anvertrauen sollte, dass Stephanie Bowman in ihr selbst ganz ähnliche Gefühle auslöste?

»Mach dir keine Gedanken.« Sie tätschelte dem Mädchen die Schulter. »Halb so schlimm.«

»Ist es nicht! Die Bettwäsche ist hinüber.« Chloes Gesicht lief puterrot an. »Sie sollte schneeweiß sein, und jetzt ist sie rosa. Und zwar nicht mal hellrosa, sondern richtig knallrosa. Ich versuche noch mal, sie zu waschen, aber ich fürchte, die Farbe geht nicht mehr raus. Und dann muss sie in den Müll.«

»Aber das ist doch nicht so …« Hattie ließ die Hand sinken. »Moment mal. Sagtest du gerade rosa?«

»Ja. Es war eine Mütze. Ich glaube, sie gehörte zu Mr. Grahams Weihnachtsmannkostüm. Er hatte es nur geliehen, und offenbar war es nicht farbecht.« Sie runzelte die Stirn. »Irgendwie ist das komisch, weil ich schwören könnte, dass ich den gesamten Anzug für ihn eingepackt habe, inklusive Mütze. Ich war wirklich sorgfältig! Aber irgendwie ist die Mütze doch in der Wäsche gelandet, also war ich offensichtlich nicht umsichtig genug.«

Hattie blinzelte irritiert. »Ein Weihnachtsmannkostüm?«

»Ja, von Mr. und Mrs. Graham aus Ohio. Sie haben zwei Nächte in der Cider Suite gewohnt. Er hat mir erzählt, dass Mrs. Graham immer schon davon geträumt habe, eine Nacht mit dem Weihnachtsmann zu verbringen. Da hat er den Anzug ausgeliehen, um sie zu überraschen.«

»Aber es ist November.«

»Ich glaube, das spielte für die beiden keine Rolle. Er hat wohl auch ein Sexspielzeug mit Weihnachtsoptik gekauft, da habe ich aber nicht näher nachgefragt. Nicht dass ich das nicht mehr aus dem Kopf kriege und mir damit auf ewig Weihnachten ruiniere.«

»Nachvollziehbar.« Hattie war so fasziniert, dass sie für einen Augenblick vergaß, wie müde sie war. »Woher weißt du das alles?«

»Ach, die Leute erzählen mir vieles«, antwortete Chloe. »Manchmal offen gestanden mehr, als mir lieb ist. Aber es führt mitunter auch zu interessanten Erkenntnissen.«

»Und zu rosa Bettwäsche.« Hattie holte eine Schachtel Taschentücher von einem Regal in der Wäschekammer und reichte Chloe eines. »Und nun beruhige dich. Du hast mir nämlich damit einen Gefallen getan.«

Chloe nahm das Taschentuch und putzte sich die Nase. »Ach, wirklich?«

»Ja. Es gibt Gäste, die unbedingt in rosafarbener Bettwäsche schlafen wollen. Die soll beruhigende Wirkung haben.«

»Oh«, murmelte Chloe benommen. »Das wusste ich ja gar nicht.«

»Nun, jetzt weißt du’s. Leg die rosa Bettwäsche gut weg, sie darf nicht im Müll landen.« Und damit eilte sie wieder an die Rezeption zurück, wo Stephanie sie mit wippendem Fuß bereits erwartete.

Hattie atmete tief durch und setzte ein Lächeln auf in der Hoffnung, die Laune ihrer Hausdame damit besänftigen zu können. »Alles geklärt.«

Stephanie hörte zwar auf, mit dem Fuß zu wippen, wirkte aber nicht im Geringsten besänftigt. »Dann haben Sie sie also gefeuert?«

»Nein, habe ich nicht. Schließlich war es nur ein Versehen.« Oder war es mehr als das? Chloes Worte nagten noch immer an ihr. »Und noch dazu ein ausgesprochen merkwürdiges. Denn sie schien überzeugt, dass sie die rote Mütze zusammen mit dem gesamten Weihnachtsmannkostüm für Mr. Graham weggepackt hatte. Es war ihr ein Rätsel, wie die Mütze in der Wäsche landen konnte.«

Stephanie verzog keine Miene. »Muss wohl an ihrer Nachlässigkeit liegen. Sie sind viel zu nachsichtig mit ihr. Brent hätte sie auf der Stelle rausgeworfen.«

Nein, hätte Brent nicht. Stattdessen hätte er eine Möglichkeit gefunden, Stephanie in ihre Schranken zu verweisen.

Irgendwie wurde sie das Gefühl nicht los, dass Stephanie wollte, dass sie versagte.

»Wir sind ein Team«, sagte sie. »Es ist unsere Aufgabe, einander zu unterstützen.« Zu ihrem Glück betraten in diesem Augenblick die Schwestern Gwen und Ellen Bishop, beide über achtzig und seit der Hoteleröffnung regelmäßige Gästinnen im Maple Sugar Inn, die Lobby. Noch nie war Hattie so dankbar gewesen, sie zu sehen. »Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen würden, Stephanie? Ich muss mich um unsere Gäste kümmern.« Sie eilte zu den Bishop-Schwestern und begrüßte sie so erleichtert, als wären sie ein Rettungsboot auf stürmischer See. »Wie war das Frühstück?«

»So köstlich wie eh und je.« Gwen strahlte. »Ihr Ahornsirup ist einfach unvergleichlich gut. Überhaupt ist alles hier wieder einmal perfekt. Und das liegt einzig und allein an Ihnen, meine liebe Hattie.«

Wäre doch nur alle Welt so freundlich und leicht zufriedenzustellen.

»Dann geben wir Ihnen eine Flasche mit nach Hause, Ms. Bishop, ich werde mich gleich darum kümmern.«

»Ach, wie oft soll ich Ihnen denn noch sagen, dass Sie mich Gwen nennen sollen, Liebes?« Sie tätschelte Hattie liebevoll den Arm. »Sie sehen müde aus. Bekommen Sie denn auch genügend Schlaf?«

»Aber sicher, alles bestens«, log Hattie, und Gwen warf ihr einen mitfühlenden Blick zu.

»Einfach weitermachen, lautet die Devise«, riet ihr die alte Dame sanft. »Tag für Tag, Schritt für Schritt. So habe ich es jedenfalls gehalten, als ich meinen Bill verlor.«

»Ja, das habe ich dir auch immer geraten«, bemerkte Ellen, und Gwen nickte.

»Oh ja, das hast du. Jeden Tag. Manchmal hätte ich dir dafür am liebsten mein Frühstück über den Kopf gekippt.«

»Tja, wofür hat man Schwestern?«

Ein Anflug von Neid überkam Hattie. Sie hätte auch gern eine Schwester gehabt. Aber ihre Mutter war eine Woche nach ihrer Geburt gestorben, und ihr Dad hatte nie wieder geheiratet. Hattie und ihr Vater waren sich sehr nah gewesen, und sie vermisste ihn bis heute – umso mehr, seit Brent ums Leben gekommen war. Ich brauche dich, Dad.

Zu Weihnachten fehlte er ihr immer am meisten. Er hatte die Feiertage stets zu etwas Besonderem gemacht.

»Das Problem«, fuhr Gwen fort, »besteht darin, dass die Leute anfangs noch Mitgefühl haben und dann irgendwann beschließen, es sei an der Zeit, dass man darüber hinwegkommt. Sie begreifen nicht, dass man die Trauer ein Leben lang mit sich herumträgt.«

Hattie nickte. Normalerweise weinte sie nur, wenn sie allein war, unter der Dusche stand oder mit dem Hund Gassi ging. Aber Gwens Liebenswürdigkeit torpedierte ihre Selbstbeherrschung, und einen Moment lang befürchtete sie, an Ort und Stelle in Tränen auszubrechen. In ihrem Hals bildete sich ein dicker Kloß.

»Das stimmt. Ich vermisse meinen Dad bis heute«, krächzte sie. »Und sein Tod ist jetzt schon sieben Jahre her.«

Gwen drückte ihren Arm. »In gewisser Weise sind die Menschen, die wir lieben, immer bei uns.«

Das sagten die Leute zwar, aber es stimmte nicht. Brent war ganz eindeutig nicht mehr bei ihr. Und das brachte eine ganze Menge Probleme mit sich.

»Der Wettergott soll uns für die Heimfahrt ja gnädig sein«, wechselte Ellen forsch das Thema. »Aber ehe wir abreisen, haben wir noch eine Kleinigkeit für Ihren Schatz.«

»Delphine«, fügte ihre Schwester erklärend hinzu, als besäße Hattie einen ganzen Schrank voller Schätze, die gemeint sein konnten.

»Wir würden ihr gern auf Wiedersehen sagen.«

Sie riss sich am Riemen. »Delphine ist gerade mit Rufus im Büro und liest ein Buch.« Die Anschaffung ihres nunmehr vierjährigen Labradors Rufus war eine von Brents besseren Ideen gewesen. Der Hund hatte sich nicht nur als hingebungsvoller und verlässlicher Babysitter entpuppt, sondern auch als ewiger Quell bedingungsloser Liebe. Sie hatte im Lauf der vergangenen zwei Jahre so viele Tränen in sein glänzendes goldenes Fell vergossen, dass er nur äußerst selten gebadet zu werden brauchte.

»Delphi?« Hattie steckte den Kopf ins Büro, wo ihre Tochter auf dem Bauch lag und in einem Buch blätterte, während Rufus im Beschützermodus neben ihr wachte. Nun hob er den Kopf und klopfte mit dem Schwanz auf den Boden. Auch Delphi sah hoch.

Ihr Gesicht leuchtete auf. »Wusstest du schon, dass der T-Rex sechzig Zähne hatte?«

»Nein, aber man lernt nie aus.«

»Mussten Dinosaurier zum Zahnarzt?«

»Nein, so was gab es damals noch nicht.« Sie hatte keine Ahnung, woher Delphis Dinosaurierobsession stammte. Aber sie sorgte dafür, dass ihnen nie der Gesprächsstoff ausging.

Mit einem Mal platzte Hattie schier das Herz vor Liebe. Dieses kleine Mädchen war ihr das Wichtigste auf der ganzen Welt.

Sie hatte großes Glück, das durfte sie nicht vergessen.

Es kam ihr vor, als wäre es erst gestern gewesen, dass sie von ihrer Schwangerschaft erfahren hatte. Delphi wurde so schnell groß, dass es fast schon unheimlich war. »Du kannst mir später noch mehr über Dinos erzählen. Jetzt würden sich die Bishops gern von dir verabschieden.«

»Aber sie dürfen nicht fahren! Nein! Sie sollen bleiben.« Delphi rappelte sich auf, wobei sich ihr Rock in der Strumpfhose verhedderte. »Ich mag es nicht, wenn wer geht.«

Ihre Worte versetzten Hattie einen Stich ins Herz. »Ich auch nicht. Aber in einem Monat kommen sie ja schon wieder, weißt du noch? Dieses Jahr bleiben sie doch über Weihnachten.« Falls das Leben nicht irgendeine hässliche Überraschung für sie bereithielt, beispielsweise in Form eines Dachziegels, der von einem Gebäude fiel, wenn sie gerade vorbeikamen.

Sie musste dringend aufhören, so zu denken.

Langsam wurde sie eine richtige Schwarzseherin, dabei wollte sie doch unbedingt vermeiden, dass ihre Tochter voller Angst durchs Leben ging und hinter jeder Straßenecke die nächste Katastrophe witterte.

Delphi rannte aus dem Büro und umarmte die Bishop-Schwestern stürmisch. »Nicht fahren! Ihr sollt für immer dableiben.«

»Aber die Dinge ändern sich nun mal, Schätzchen. So ist das Leben.« Gwen strich Delphi sacht übers Haar, und Ellens Augen glitzerten verdächtig.

»Wir sind bald wieder da, mein liebes Kind. Und hier haben wir ein kleines Geschenk für dich.«

Die Schwestern umarmten Delphi nacheinander, dann überreichten sie ihr ein hübsch verpacktes Päckchen.

»Ein Geschenk?« Delphi machte große Augen und nahm es ehrfürchtig entgegen. »Aber es ist doch noch gar nicht Weihnachten.«

»Das ist ja auch kein Weihnachtsgeschenk«, sagte Ellen. »Eigentlich ist es überhaupt kein richtiges Geschenk. Es ist ein Buch, und meine Schwester und ich halten Bücher für eine Notwendigkeit, nicht für einen Luxus.«

»Was ist eine Notwendiglichkeit?«, fragte Delphi.

»Eine Notwendigkeit ist etwas, das man zum Überleben braucht«, erklärte Gwen. »So wie Essen und Trinken.«

»Rufus hält Bücher manchmal für Futter.« Delphi nestelte am Geschenkband herum. »Darf ich es schon aufmachen?« Sie warf Hattie einen fragenden Blick zu, und die lächelte ihre Kleine an.

»Wie nett von Ihnen. Und ja, darfst du. Was sagt man, wenn man ein Geschenk bekommt?«

»Danke.« Delphi zerrte das Band ab und zerriss das Geschenkpapier. »Danke, danke, danke!«

»Wir wissen doch, wie sehr du Bücher magst, Liebes«, sagte Gwen, und Ellen nickte. »Bücher können dich in eine andere Welt versetzen.«

Ach, wär das schön, dachte Hattie. Am liebsten in eine Welt, in der Brent noch lebte. Und ihr Dad auch. Und mit Glück in eine, in der es weder Stephanie noch Tucker gab. Oder überhaupt irgendwelche Menschen, deren zentrale Kommunikationsform Gebrüll war.

Nachdem sie den Bishop-Schwestern mit ihrem Gepäck geholfen hatte, kehrte sie an die Rezeption zurück, wo schon wieder das Telefon läutete.

Sie wollte gerade abheben, als Stephanie vor ihr auftauchte. »Das Thema ist noch nicht erledigt. Entweder geht Chloe, oder ich kündige.«

Im letzten Moment unterdrückte sie den Drang: Dann gehen Sie, und zwar besser jetzt als gleich! zu sagen. Sie konnte es sich schlichtweg nicht leisten, noch mehr Angestellte zu verlieren. Abgesehen davon, dass sie es als illoyal gegenüber Brent empfunden hätte, Stephanie zu feuern. Schließlich wollte sie erhalten, was er aufgebaut hatte, nicht zerstören.

Das Telefon klingelte immer noch, und ihr brannte der Magen vor Stress. Wenn sie jetzt ranging, würde Stephanie denken, dass sie sie nicht ernst nahm.

»Ich hoffe, Sie wissen, wie sehr ich Sie schätze, Stephanie. Sie sind ein wichtiger Bestandteil der Maple-Sugar-Inn-Familie.« Innerlich schauderte sie. Die Vorstellung, dass Stephanie zu ihrer Familie gehören könnte, war eindeutig ziemlich gruselig.

»Dann muss sich etwas ändern, oder ich bekomme einen Nervenzusammenbruch.« Mit dieser Warnung stolzierte Stephanie davon.

Hattie starrte ihr fassungslos hinterher. Wenn hier gleich jemand einen Nervenzusammenbruch bekommt, dann ja wohl ich.

Sie wollte gerade endlich ans Telefon gehen, da kam ihr Delphi zuvor. »Maple Sugar Inn, Delphine Maisy Coleman am Apparat«, sagte sie in den Hörer und achtete dabei darauf, jedes Wort ganz sorgfältig auszusprechen. »Wie kann ich Ihnen helfen?« Delphi warf ihrer Mutter einen schuldbewussten Blick zu. Sie wusste, dass sie eigentlich nicht ans Telefon gehen sollte, was sie natürlich nicht davon abhielt, es trotzdem zu tun. »Lynda!« Ein strahlendes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. »Ich hab ein neues Buch!«

Hattie hörte zu, wie ihre Tochter ihrer Nachbarin von ihrem Geschenk erzählte und sich dabei vor lauter Aufregung immer wieder verhaspelte. »Mommy kann gerade nicht reden, weil sie einen Nervenbruch hat.«

Hattie verzog das Gesicht. Hatte sie das etwa versehentlich laut gesagt? Sie musste unbedingt vorsichtiger sein, insbesondere wenn Delphi in der Nähe war, die wie ein Schwamm alles aufsog, was um sie herum geschah. Alles, was sie hörte, wurde abgespeichert, um im denkbar ungeeignetsten Augenblick wiederholt zu werden.

Sie streckte die Hand nach dem Hörer aus, und Delphi reichte ihn weiter, sprang vom Stuhl und kehrte ins Büro zurück, wo Rufus mit dem Kopf auf den Pfoten geduldig wartete. »Hallo, Lynda, wie geht’s?«

»Wunderbar, danke, Liebes. Aber wie geht’s dir? Wir haben dich schon so lange nicht mehr gesehen. Delphi meinte, du hättest einen Nervenzusammenbruch?«

»Ach, das war nur ein Scherz. Mir geht es bestens.«

»Toll übrigens, wie sie das am Telefon macht. Ich weiß ja, ich wiederhole mich, aber Delphi ist zu und zu niedlich. Du bist so eine tolle Mutter, und du schlägst dich einfach fantastisch. Brent wäre so stolz auf dich.«

Ja? Sie war da nicht so sicher.

Und schlug sie sich wirklich gut? Wahrscheinlich überlebte sie eher. Oder war das am Ende vielleicht dasselbe?

Jedenfalls konnte sie sich glücklich schätzen, Nachbarn wie die Petersons zu haben. Sie betrieben die Farm direkt neben dem Hotel und belieferten sie mit Lebensmitteln und den Tannenbäumen, mit denen sie zu Weihnachten das Haus schmückte. Was als Geschäftskontakt begonnen hatte, war mit den Jahren zu einer engen Freundschaft geworden.

Einmal hatte Lynda erwähnt, wie sehr sie sich eine Tochter gewünscht hätte, und Hattie war kurz davor gewesen, zu antworten: Adoptier doch mich, ich bin noch zu haben.

»Hattie?«, fragte Lynda sanft. »Kommst du wirklich zurecht, Liebes?«

»Ja, absolut. Alles bestens.«

»Aber falls du mal Hilfe brauchen solltest, sind wir allzeit bereit. Noah steht sofort auf der Matte, wenn Reparaturen nötig sind.«

Noah.

Unwillkürlich nahm sie eine verkrampfte Haltung ein, und ihr Herz schlug ein wenig fester. »Danke, er braucht nicht vorbeizukommen. Hier funktioniert alles ganz wunderbar.«

Noah war der Sohn der Petersons und betrieb gemeinsam mit seinem Vater die Farm. Und bis vor einigen Wochen war er ein guter Freund von Hattie gewesen. Bis sie alles kaputt gemacht hatte. Es war auf der Halloween-Party passiert, die die Petersons jedes Jahr auf ihrem Hof für die Dorfbewohner veranstalteten. Die Kinder kamen in Verkleidung, es gab eine Geisterjagd und Gruselspiele und haufenweise Süßigkeiten.

Und Noah. Noah hatte es auch gegeben.

Sie schloss die Augen. Sie hatte sich geschworen, nie wieder daran zu denken. Es war nur ein Kuss gewesen, nichts weiter. Sie hatte einen von ihren ganz schlechten Tagen gehabt. Hatte sich einsam und allein gefühlt und sich vor der Zukunft gefürchtet. Und da war er gewesen, mit seinen breiten Schultern und seiner freundlichen Art, solide und – ja, sie gab es zu – sexy. Sie war Witwe, sosehr sie das Wort auch hasste, und Noah Single. Theoretisch hatte also nichts dagegengesprochen, nur dass ihr das Ganze jetzt unendlich peinlich war und sie so wahnsinnig verlegen machte, dass sie keine Ahnung hatte, was sie sagen sollte, wenn sie ihm das nächste Mal über den Weg lief.

Vor allem aber fühlte sie sich schuldig. Sie hatte Brent geliebt. Sie liebte ihn immer noch, und sie würde ihn immer lieben. Trotzdem hatte sie Noah geküsst, und dieser eine, umwerfende, absolut spektakuläre Kuss war das Beste gewesen, was ihr in den vergangenen zwei Jahren passiert war. Und das Verwirrendste.

»Du brauchst Noah nicht vorbeizuschicken, Lynda. Hier muss nichts repariert werden.« Außer mir. Sie selbst benötigte dringend eine Reparatur. Warum nur hatte sie Noah geküsst? Ein wenig hatten sicher auch die Dunkelheit und die gruseligen Geräusche dazu beigetragen, die die Kinder im Wald machten. Ganz zu schweigen von dem Glas »Hexengebräu«, das sich als deutlich stärker als erwartet erwiesen hatte und garantiert selbst die mächtigste Hexe vom Besen gefegt hätte. Vor allem aber hatte es an ihr selbst gelegen. »Rufst du eigentlich aus einem bestimmten Grund an?«

»Ja. Noah wollte wissen, ob du schon entschieden hast, wie viele Weihnachtsbäume du dieses Jahr brauchst. Er wird wieder die schönsten für dich raussuchen.«

Die Tatsache, dass er nicht selbst anrief, war ihr Beweis genug, dass er den Kuss ebenso bereute wie sie selbst.

»Ich überleg’s mir und schreib ihm dann eine E-Mail, ja?«

»Eine E-Mail?«, wiederholte Lynda leicht verständnislos. »Aber du kannst es ihm doch auch einfach persönlich sagen, Liebes.«

Ja, das konnte sie. Aber das hätte bedeutet, dass sie ihm Aug in Auge gegenüberstehen würde, und so weit war sie noch lange nicht. Und er vermutlich auch nicht. Sie wusste wenig über sein Liebesleben. Nach seinem Abschluss hatte er in Boston gewohnt und für eine Agentur für digitales Marketing gearbeitet. Wenn man einmal gesehen hatte, wie wohl er sich damit fühlte, im Freien zu arbeiten, konnte man ihn sich kaum den ganzen Tag vor einem Bildschirm sitzend vorstellen. Genau das hatte er aber offenbar getan, bis sein Vater vom Traktor gestürzt und nur knapp mit dem Leben davongekommen war. Noah war daraufhin wieder auf den elterlichen Hof zurückgekehrt, arbeitete seitdem auf der Farm und verbrachte seine gesamte Freizeit damit, eine der Scheunen zu seinem zukünftigen Wohnhaus umzubauen.

»Er hat zu tun, ich habe zu tun. Natürlich könnte ich auch anrufen, aber manchmal sind E-Mails praktischer.« Und weniger peinlich für alle Beteiligten.

»Aber natürlich, wie es euch jungen Leuten am besten passt«, antwortete Lynda nach einem kurzen Schweigen. »Sag einfach Bescheid, wenn du dich entschieden hast. Kommst du am ersten Dezemberwochenende eigentlich wieder mit Delphi vorbei, so wie letztes Jahr? Wir könnten Schlitten fahren und einen Ausflug mit den Schneeschuhen machen. Ihr beide könntet mir helfen, Kränze und Girlanden zu binden und danach mit Noah in den Wald gehen, um den Baum für euer Wohnzimmer auszusuchen. Ich würde dich so gern sehen, und für Delphi wäre es sicherlich schön. Weißt du noch, wie sie Noah immer den Weihnachtsbaummann genannt hat?«

»Sicher. Das macht sie immer noch manchmal.« Vielleicht konnte sie es ja irgendwie deichseln, dass Delphi mit Noah allein den Baum aussuchte, während sie selbst Lynda in der Küche half.

»Ach, Liebes, ich weiß doch, wie viel Arbeit es dich kostet, das Maple Sugar Inn Jahr für Jahr in einen Weihnachtstraum zu verwandeln. Versprich mir bitte, dass du dich meldest, ganz gleich, was du brauchst.«

»Versprochen.« Lyndas Freundlichkeit rührte sie. »Danke.«

»Du hast eine schwere Zeit hinter dir. Aber wenn einem der Boden unter den Füßen weggezogen wurde, ist es immerhin tröstlich zu wissen, dass man seinem Traum folgt.«

Nein, dachte Hattie. Das hier ist nicht mein Traum.Sondern Brents. Und das war nicht dasselbe. Aber das konnte sie ja wohl schlecht so direkt äußern. Brent hatte das Hotel über alles geliebt, und sie hatten ihre gesamten Ersparnisse hineingesteckt, um es zu dem zu machen, was es heute war. Anfangs hatte sie noch einige eigene Ideen vorgebracht, von denen Brent aber glaubte, dass sie nicht funktionieren würden, und so setzten sie am Ende ausschließlich seine Pläne um. Jetzt war sie die Hüterin seiner Träume, und der Druck nahm ihr die Luft zum Atmen.

Was, wenn das Hotel ihretwegen den Bach hinunterging? Sie mochte die Gäste und hatte Freude daran, ihnen einen unvergesslichen Aufenthalt zu bescheren. Aber das Personal zu managen brachte sie an den Rand ihrer Kräfte.

Vielleicht hatte sie Noah deshalb geküsst. Vielleicht hatte sie einfach nur für einen Moment den Druck des Alltags abschütteln und sich wieder jung fühlen wollen, leicht und unbeschwert den Augenblick genießen, anstatt sich um die Zukunft zu sorgen und von der Verantwortung zerquetscht zu werden.

Auf dem Papier mochte sie achtundzwanzig sein, aber meistens fühlte sie sich eher wie hundert.

Nachdem sie Lynda ein letztes Mal versichert hatte, dass sie im Augenblick keine Hilfe benötigte, legte sie auf. Im selben Moment schlang Delphi die Arme um ihre Beine.

»Bist du traurig, Mommy?«

Hattie nahm sich zusammen. »Nein, nicht traurig, sondern nachdenklich.«

»Weil du an Weihnachten denken musst? Ich muss nämlich immerzu an Weihnachten denken.«

»Genau, weil ich an Weihnachten gedacht habe.« Und nicht an Noah oder die verführerische Wärme seiner Lippen oder den flüchtigen Moment, in dem sie das Gefühl gehabt hatte, dass sie nur noch ein kleines Weilchen durchzuhalten brauchte, weil ihr Leben eines Tages wieder schön werden würde. »Ich bin einfach so aufgeregt!«

»Können wir morgen schon den Baum besorgen?« Delphi sah hoffnungsvoll zu ihr hoch, und sie streichelte ihrer Tochter über die weichen Locken, die sie an der Handfläche kitzelten.

»Noch nicht, Spatz. Wir müssen bis zur ersten Dezemberwoche warten, sonst …« … stirbt der Baum, hatte sie sagen wollen, aber an den Tod wollte sie gerade nicht denken. »Sonst wird der Baum zu müde«, fuhr sie stattdessen fort.

Und der Baum würde nicht der einzig Müde hier sein.

Aber wie die Bishop-Schwestern jetzt gesagt hätten: So ist das Leben.

Sie brauchte ein Wunder. Nur waren Wunder rar gesät, deswegen würde sie sich mit freundlichen Gästen, einem Küchenchef ohne Hang zu cholerischen Anfällen und einer Hausdame mit einem Minimum an Sinn für Humor zufriedengeben.

2. KAPITEL

ERICA

Sollte sie es wirklich machen? All ihre Regeln über Bord werfen? Alles tun, was sie normalerweise vermied?

Vielleicht war an ihrem vierzigsten Geburtstag in ihrem Kopf ja irgendeine Sicherung durchgebrannt.

Erica lag bäuchlings auf dem Bett. Sie fühlte sich, als würde sie am Rand einer Klippe stehen, kurz davor, den Absprung zu wagen. Auf ihrem Laptop war das Bild eines märchenhaft schönen Hotels zu sehen, verschneit und weihnachtlich herausgeputzt. Aus den Fenstern schien warmes Licht. Die meisten Rezensionen beschrieben das Hotel als Romantik pur, als verzauberten Ort. Erica glaubte nicht an Zauberei, und romantisch veranlagt war sie auch nicht. Und doch klopfte ihr Herz bei dem Anblick höher. Zweifel machten sich in ihr breit, nagten an ihrer Entschlossenheit. Wenn sie es tat, gab es kein Zurück mehr. Keine Möglichkeit, es sich doch noch einmal anders zu überlegen und einen Rückzieher zu machen.

Sie fluchte in sich hinein, stand auf und tigerte zum Fenster ihres Hotelzimmers. Draußen herrschte das stete Treiben der Stadt. Menschen eilten durch die Straßen, die Köpfe gesenkt und mit dicken Jacken gegen die Kälte geschützt. Auf dem Platz vor dem Hotel schien eine Art Markt aufgebaut zu werden.

Sie lehnte die Stirn gegen die Scheibe.

Was war denn nur los mit ihr? So unsicher war sie doch sonst nicht. Wieso traf sie diese Entscheidung hier nicht auf ihre übliche Weise – nämlich indem sie das Für und Wider gegeneinander aufwog? Es gab keinen logischen Grund, sich gestresst zu fühlen. Und doch tat sie es.

Aus einem Impuls heraus griff sie nach ihrem Handy.

Wenn sie die Sache wirklich durchzog, würde sie dort die Unterstützung ihrer Freundinnen brauchen.

Zittrig und ein wenig wackelig auf den Beinen versuchte sie es zunächst bei Claudia, wurde aber direkt auf die Mailbox weitergeleitet, was ihr leise Sorgen bereitete. Vor sechs Monaten war Claudias Beziehung nach zehn Jahren in die Brüche gegangen. Seitdem ging es ihr nicht sonderlich gut. Erica rief sie regelmäßig an, und normalerweise nahm Claudia immer sofort ab.

Nicht so heute.

Sie versuchte es noch einmal. Als wieder die Mailbox ansprang, überlegte sie kurz, eine Nachricht zu hinterlassen, entschied sich dann aber dagegen. Was sollte sie denn schon sagen? Hey, hier ist Erica. Kannst du mich bitte davon abhalten, etwas zu tun, das ich mein Leben lang bereuen werde? Claudia hatte doch selbst schon genug Probleme.

Nein, stattdessen würde sie Anna anrufen.

Ihre Freundin nahm schon nach dem ersten Klingeln ab. »Erica! Ich habe gar nicht damit gerechnet, heute von dir zu hören! Ich dachte, du bist auf Reisen.« Im Hintergrund war ein Scheppern zu hören. »Wie fühlt es sich an, vierzig zu sein? Bist du über Nacht ein anderer Mensch geworden? Muss ich mich vor dem Tag fürchten? Soll ich mir vorsichtshalber schon mal eine Therapeutin suchen?«

Erica wartete ab, bis Anna Luft holte. »Eigentlich fühle ich mich genauso wie mit neununddreißig.« Was zwar nicht ganz der Wahrheit entsprach, aber das behielt sie lieber für sich. »Danke für deine Glückwünsche. Du singst übrigens noch genauso schief wie früher. Als ich die Nachricht abgehört habe, kam ich mir wieder vor wie damals auf dem College, als ich immer Kopfhörer aufsetzen musste, wenn du geduscht hast.«

»Pete kann das sicherlich nachvollziehen, aber ich singe nun mal gern und bin nicht bereit, euch zuliebe damit aufzuhören. So, und jetzt raus mit der Sprache: Was ist passiert?«

»Wieso sollte etwas passiert sein?«

»Weil du mich normalerweise nicht zur Frühstückszeit anrufst«, entgegnete Anna. »Da sitzt du sonst immer schon in irgendeinem Meeting.«

»Ich bin in Berlin, hier ist Mittag.«

»Berlin? Da bin ich aber neidisch. Gehst du auf die Weihnachtsmärkte?«

Erica warf einen erneuten Blick durchs Fenster. Das erklärte natürlich die Arbeiten unten auf dem Platz. »Natürlich nicht, schon vergessen, mit wem du gerade redest? Ich bin beruflich hier, ich besuche eine Konferenz. Außerdem ist erst November.«

»Viele Weihnachtsmärkte eröffnen schon im November. Du hast doch bestimmt mal die Möglichkeit, dich rauszuschleichen.«

Manchmal fragte sie sich, wie zwei derart unterschiedliche Menschen so eng befreundet sein konnten.

»Klar könnte ich, aber wieso sollte ich?«

»Weil es Spaß macht? Um in Weihnachtsstimmung zu kommen? Schon mal gehört? Ach, vermutlich nicht. Auch egal. Claudia und ich haben es schon lange aufgegeben, dir das Konzept Weihnachten zu vermitteln. Aber wenn du nicht angerufen hast, um mich mit Geschichten über Lebkuchen und Kunsthandwerk neidisch zu machen, warum dann?«

»Ich rufe an, weil ich den idealen Ort gefunden habe.« Sie setzte sich wieder aufs Bett und musterte das Bild auf ihrem Laptop. Ja, das Hotel war wirklich ideal.

»Den idealen Ort für was?« Auf einmal war Annas Stimme nur noch gedämpft zu hören. »Moment mal eben …«

Sie zuckte zusammen, weil ein lautes Krachen aus ihren Ohrstöpseln drang. »Was war das? Habt ihr Eindringlinge im Haus?«

»Falls meine Kinder als Eindringlinge durchgehen, ja«, sagte Anna geistesabwesend und hörte sich an, als wäre das Telefonat eins von zehn Dingen, die sie gleichzeitig machte. »Warte mal kurz, Erica, um die Zeit geht es hier immer drunter und drüber.«

Gab es in Annas Haushalt eigentlich überhaupt jemals eine Zeit, zu der es nicht drunter und drüber ging? Erica hatte den Eindruck, dass ihre Freundin bei nahezu jedem Telefonat gerade bis zum Hals in irgendwas steckte – bei den Hausaufgaben helfen oder beim Üben auf irgendwelchen Musikinstrumenten, Sportklamotten waschen, Abendessen kochen, Pausenbrote schmieren. Manchmal wirkte es fast so, als würde Anna ganz allein ein Hotel bewirtschaften.

Am anderen Ende der Leitung war Lachen zu hören, dann aus etwas Abstand Annas Stimme.

Das ist ja schön geworden, Meg. Und witzig. Aber dass du künstlerisches Talent hast, bedeutet noch lange nicht, dass du deinen leeren Teller einfach herumstehen lassen darfst. Ich weiß ja, dein Vater macht das auch. Aber du schaust dir das bitte nicht von ihm ab. Und jetzt raus mit dir – ich telefoniere gerade mit Erica.

Unterhaltungen mit Anna verliefen immer gleich – laut und unzusammenhängend, immer wieder unterbrochen durch Familienlärm und Fragen aus dem Hintergrund. Ein Teil von Erica fand das nervtötend – wie ertrug Anna das nur?! –, während ein anderer dankbar für solche Momente war, weil sie ihr bestätigten, dass sie die richtigen Lebensentscheidungen getroffen hatte. Nicht, dass sie diese häufig anzweifelte. Aber manchmal kam es schon vor. Annas Haus war so voller Wärme und die Beziehungen zwischen den Familienmitgliedern eng und liebevoll. Wenn Erica dort war, überkam sie häufig eine seltsame Unruhe, die sie Dinge infrage stellen ließ, die sie lieber unhinterfragt lassen wollte. Und dann dachte sie manchmal eben doch, dass sie vielleicht den falschen Weg eingeschlagen hatte.

Nein, hatte sie nicht. Alle Welt hielt es für das Nonplusultra, eine Familie zu haben. Aber stimmte das denn überhaupt? Wollte sie überhaupt, was Anna hatte?

Nein, wollte sie nicht. Es mochte Augenblicke geben, in denen sie ihre Freundin um ihr warmes, stabiles Familienleben beneidete. Aber in anderen Momenten – Momenten wie diesem – war sie dankbar für ihr unabhängiges und vor allem ungestörtes Single-Dasein, in dem sie einzig und allein für sich selbst Verantwortung trug.

Der Gedanke an den Nachmittag und Abend, die vor ihr lagen, löste ein angenehmes Kribbeln in ihrem Bauch aus. Nach diesem Telefonat würde sie ihre Arbeit erledigen und sich danach für eine ausgiebige Massage ins Hotel-Spa begeben, um anschließend im Restaurant zu essen, wo sie den Tisch mit der besten Aussicht ganz für sich haben würde.

Sie brauchte sich nichts zu kochen, weil das jemand anderes für sie erledigen würde. Sie brauchte keine Wäsche zu waschen – das übernahm das Hotel, Bügeln inklusive. Sie brauchte sich nicht mit dreckigem Geschirr herumzuschlagen. Und was das Alleinsein betraf – damit hatte sie kein Problem. Schließlich war sie praktisch ihr ganzes Leben lang allein gewesen. Ihr war bewusst, dass es Menschen gab, die sie deswegen bemitleideten. Aber darüber konnte sie nur lächeln, weil diese Menschen offenbar keine Ahnung hatten, wie schön es sein konnte, allein zu sein.

In ihrem Fall war das Alleinsein kein Fluch, sondern eine bewusste Entscheidung. Und jetzt gerade, wo sie am Telefon mitverfolgte, wie ihre Freundin versuchte, sich für einen Augenblick aus ihren häuslichen Pflichten herauszunehmen, kam es ihr vor wie die beste Entscheidung überhaupt.

In ihrem Leben hatte sie selbst die oberste Priorität – und sie fand nicht, dass sie sich dafür entschuldigen musste.

»Bist du noch dran?«, fragte Anna außer Atem. »Tut mir leid.«

»Passt es grad nicht? Ich könnte später noch mal anrufen.«

»Nein! Wir haben doch schon seit Ewigkeiten nicht mehr geredet. Ich will unbedingt wissen, was es bei dir Neues gibt. Meg hat nur gerade ein richtig geniales Comic gezeichnet – warte, ich schick dir ein Foto. Oh, Moment – Meg? Vergiss nicht dein Kunstprojekt!«

Erica seufzte. Vermutlich würde die Wartezeit reichen, um noch mal ihre Präsentation durchzugehen. Vielleicht sogar, um einen ganzen Roman zu schreiben. Und warum erinnerte Anna ihre Tochter überhaupt daran, dass sie ihr Kunstprojekt mitnehmen sollte?

Sie mochte zwar keine Ahnung von Kindererziehung haben, aber sie wusste, dass niemandem damit geholfen war, zur Abhängigkeit ermutigt zu werden. Ihre eigene Mutter hatte sie nie an irgendetwas erinnert. Hatte Erica etwas vergessen, musste sie mit den Konsequenzen leben, und wenn diese Konsequenzen hart waren, dann dienten sie umso mehr als Mahnung, es beim nächsten Mal besser zu machen.

Ericas Vater hatte ihre Mutter direkt nach der Geburt verlassen – offenbar, nachdem er Erica zum ersten Mal gesehen hatte. Sie war bemüht, es nicht persönlich zu nehmen. Ericas Mutter war mit einem Baby, einem gebrochenen Herzen und einem ganzen Berg an Belastungen und Ängsten allein zurückgeblieben. Erica selbst konnte sich zwar nicht an ihn erinnern, hatte aber über Jahre hinweg die Folgen seines Verhaltens zu spüren bekommen. Hatte miterlebt, wie ihre Mutter kämpfte, und Verständnis und Bewunderung für deren festen Entschluss entwickelt, sich niemals wieder auf jemanden zu verlassen.

Natürlich war ihr bewusst, dass die Erfahrungen ihrer Mutter direkten Einfluss auf ihre Erziehungsmethoden gehabt hatten. Von Anfang an hatte sie darauf beharrt, dass Erica alles selbst erledigte, von den Hausaufgaben bis zum Zubinden ihrer Schnürsenkel. Wenn sie fiel, musste sie allein wieder aufstehen, denn ihre Mutter würde nicht kommen, um ihr zu helfen. Wenn sie durch eine Prüfung rasselte, bekam sie statt Trost von ihrer Mutter zu hören, sie müsse sich eben mehr anstrengen. Ganz gleich, was für ein Problem sie hatte – es war an ihr, eine Lösung zu finden. Ihre Mutter hatte niemals irgendwelche Probleme für sie aus der Welt geschafft.

Ihre Mutter hatte ihre Sache gut gemacht, fand Erica. Schließlich war doch etwas aus ihr geworden, oder etwa nicht? Dank ihres ausgeprägten Arbeitsethos war sie finanziell unabhängig. Sie musste hinter niemandem herräumen oder sich die Fernbedienung für ihr Highend-Mediacenter mit irgendwem teilen. Es gab keine Streitereien über die Wäsche oder Hausaufgaben. Sie musste nicht ständig zurückstecken, wie es bei so vielen Frauen mit Kindern der Fall war. Sie erwartete nicht, dass irgendjemand irgendetwas für sie tat. Und sie brauchte auch keinen Mann, um sich vollständig zu fühlen. Sie hatte doch selbst mit angesehen, wie sich ihre Mutter bis zum Burn-out aufgerieben hatte, um das Fehlen ihres Vaters auszugleichen, und sie hatte beide Rollen allein ausgefüllt. Damit war für Erica bewiesen, dass Männer wie Süßigkeiten waren: hin und wieder ein angenehmer Genuss, aber nicht überlebensnotwendig.

Je länger sie darüber nachdachte, wie richtig sich ihr Leben gerade anfühlte, desto mehr fragte sie sich, wieso sie vorhatte, etwas zu tun, das sich so außerordentlich falsch anfühlte.

»Anna?«

»Ja, ich bin noch dran! Bitte leg nicht auf.« Annas Stimme war über das Rauschen des laufenden Wasserhahns und das Lärmen verschiedener Gespräche im Hintergrund hinweg kaum zu verstehen. »Wenn du dem Hund das zu fressen gibst, landet er spätestens heute Mittag beim Tierarzt! Moment, ich schließe mich kurz in Petes Arbeitszimmer ein.«

Erica überlegte, wie es sich wohl anfühlen musste, sich erst im Büro des Ehemanns einschließen zu müssen, um sich ungestört unterhalten zu können.

Anna war kein bisschen wie Ericas Mutter. Sie war eher wie eine von diesen Müttern, über die man in Büchern las. Wenn ihre Kinder hinfielen, half sie ihnen nicht nur auf, sondern tröstete sie auch noch mit Keksen, Umarmungen und lieben Worten. Wenn sie Hilfe brauchten, sagte Anna niemals Nein. Sie betrachtete es als ihre Aufgabe, sämtliche Familienmitglieder aufzufangen. Erica hegte keinerlei Zweifel, dass ihre Freundin sich, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, vor ein Auto geworfen hätte, um ihre Kinder zu schützen. Aber so liebevoll und behütet das auch alles sein mochte – es war eine vollkommen andere Welt als Ericas.

»Wo ist Pete?«

»Glücklicherweise nicht in seinem Arbeitszimmer. Er geht wieder drei Tage die Woche ins Büro. Um ehrlich zu sein, habe ich mich schon danach gesehnt, dass er häufiger aus dem Haus ist.« Das Klappern und Klirren wurde leiser, dann fiel eine Tür ins Schloss, und Anna seufzte. »Endlich Frieden. Du willst nicht zufällig mit mir das Leben tauschen?«

Sie bemühte sich, nicht zu schaudern. »Wir wissen doch beide, wie sehr du dein Leben liebst. Und jetzt erzähl mal, wie läuft es bei euch?«

»Puh, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.« Anna klang außer Atem. »Hier war eine Menge los. Pete ist befördert worden, was natürlich toll ist, aber auch bedeutet, dass er Überstunden schieben muss. Meg hat einen Kunstpreis gewonnen, und stell dir mal vor, sie strickt neuerdings! Weil es sie entspannt, sagt sie. Jetzt fürchte ich, dass ich zu Weihnachten einen Pulli bekomme. Ich hab ihr schon gesagt, dass ich auf keinen Fall mit einem grinsenden Weihnachtsmann auf der Brust durch die Gegend laufen werde. Aber mit Rentieren könnte ich leben. Daniel geht es gut, allerdings ist er in letzter Zeit auffallend still. Irgendwas scheint da los zu sein, aber bisher konnte ich ihn noch nicht dazu bringen, darüber zu reden. Wenn bei Meg etwas nicht stimmt, lässt sie einfach alles raus, aber Jungs sind anders. Ich ermutige ihn immer wieder, über seine Gefühle zu reden, weil ich auf keinen Fall will, dass er einer von diesen Typen wird, die sich nicht mitteilen können, aber …« Anna plapperte noch bestimmt fünf Minuten lang weiter, bis Erica sie schließlich unterbrach.

»Und was ist mit dir? Was passiert in deinem Leben?«

»Aber ich erzähle dir doch gerade von meinem Leben.«

»Nein, bisher hast du nur von den Kindern und Pete erzählt, aber kein Wort über dich selbst verloren.«

»Die Kinder und Pete sind mein Leben. Und das Haus natürlich. Und der Hund. Nicht zu vergessen der Hund. Ich weiß ja, wie langweilig das klingt. Aber ehrlich, ich bin sehr glücklich damit.«

Dann mussten sie beide lachen, und Erica fragte sich, ob ihr Leben wohl einen ähnlichen Verlauf genommen hätte, wenn sie an ihrem ersten Tag auf dem College einem Mann wie Pete begegnet wäre. »Du bist nicht langweilig. Und ihr zwei seid auch nach all den Jahren noch unfassbar süß miteinander.«

Anna als Person war tatsächlich nicht langweilig. Allerdings musste Erica zugeben, dass ihr Annas Leben manchmal schon recht öde vorkam. Sie versuchte, sich einen Tag ohne ihren Arbeitsstress vorzustellen, ohne die Flüge rund um den Globus oder den Adrenalinschub, wenn sie einen fetten Deal abgeschlossen hatte oder in Krisensituationen, die sonst niemand zu bewältigen wusste, hinzugezogen wurde.

»Danke dir. Aber genug von mir – wie ist es bei dir? Wie war dein Geburtstag? Und was treibst du überhaupt in Berlin?«

»Ich halte heute Nachmittag einen Vortrag bei einer Konferenz zum Thema Krisenmanagement.« Erica linste zu dem Papierstapel auf dem Tisch am Fenster.

Anna gab ein neidisches Stöhnen von sich. »Wieso hab ich nur gefragt? Du wohnst garantiert in einem Fünf-Sterne-Hotel mit Zimmerservice und einem fantastischen Spa.«

Erica dachte an die Massage, die sie später erwartete. »Ja, das Spa ist ziemlich gut.«

»Ich will gleich mehr darüber wissen. Aber vorher erzähl mir von deinem Geburtstag. Bitte sag, dass du ihn mit einem umwerfenden Mann verbracht hast.«

Sie musste lächeln. »Ja, ich war abends mit Jack aus.«

»Sexy Jack, der Anwalt?« Anna quietschte, dann lachte sie auf. »Los, ich will alles ganz genau wissen.«

»Da gibt es nicht viel zu erzählen. Jack und ich treffen uns meistens, wenn wir zufällig beide gleichzeitig in der Stadt sind und den Abend freihaben. Aber das weißt du doch alles schon. Es ist nichts Ernstes, und keiner von uns hat vor, etwas daran zu ändern.«

»Erica. Du bist vierzig! Solche Geschichten sind doch was für Zwanzigjährige. Und das zwischen euch läuft jetzt schon seit mindestens zwei Jahren. Es ist Zeit, dass sexy Jack seine eigene Zahnbürste in deinem Bad bekommt.«

Das war so typisch Anna, dass Erica mit den Augen rollte. »Keine Ahnung, wer von uns die Vorstellung schrecklicher fände – er oder ich. Und könntest du bitte aufhören, ihn sexy Jack zu nennen?«

»Warum? Ich weiß, wie er aussieht. Claudia und ich haben ihn gegoogelt. Von dem würde ich mich sofort vor Gericht vertreten lassen.« Sie kicherte. »Aber willst du damit sagen, dass er nicht die Nacht bei dir verbracht hat?«

»Nein, gegen drei hat er ein Taxi genommen.« Dabei verschwieg sie tunlichst, dass er angeboten hatte zu bleiben und sie kurz davor gewesen war, Ja zu sagen. Am Ende hatte sie sich aus Gewohnheit und Gründen der Selbstdisziplin zwar dagegen entschieden, aber schon der bloße Impuls hatte sie ziemlich durcheinandergebracht.

Ja, doch. Seit ihrem Vierzigsten war sie eindeutig nicht mehr dieselbe. Jack und sie hatten eine Übereinkunft, und Übernachtungen und gemeinsames Frühstücken bedeuteten eine Form von Intimität, die sie beide nicht wollten. Sie hatten sich kennengelernt, als sie eine Rechtsauskunft für einen ihrer Kunden benötigte, und sich auf Anhieb so gut verstanden, dass sie sich seitdem öfter trafen. Ein Abendessen hier, eine Veranstaltung da. Aber nichts Regelmäßiges. Und auf keinen Fall etwas Ernstes.

»Frag ihn doch einfach mal, ob er nicht bleiben will. Vielleicht könntet ihr ja übers Wochenende wegfahren oder …«

»Hör schon auf, Anna.«

»Aber wieso? Ich mag Jack. Jack ist genau der Richtige für dich.«

»Du kennst ihn doch gar nicht.«

»Fühlt sich aber so an. Und ich finde es toll, dass ihr zusammen seid.«

»Wir sind nicht zusammen. Für eine richtige Beziehung haben wir beide viel zu viel zu tun. Deswegen ruft er ja auch mich an, wenn er ein Plus eins für seine Arbeits-Events sucht. Und wenn ich ins Theater gehen will oder gern Gesellschaft hätte, rufe ich ihn an. Außerdem ist er nicht auf den Kopf gefallen, deswegen frage ich ihn manchmal in Arbeitsdingen nach seiner Meinung. Aber das ist auch schon alles.«

»Mal abgesehen von dem Teil mit dem Sex.«

»Ja, Sex haben wir auch. Tollen Sex sogar. Zufrieden?«

»Sehr. Und du auch, wie es klingt.« Anna hatte immer noch dieselbe dreckige Lache wie mit achtzehn, und Erica konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Tief drinnen war Anna immer noch das Mädchen von damals. Aber galt das nicht irgendwo für sie alle? Jedenfalls schien es Dinge zu geben, denen das Alter nichts anhaben konnte.

»Immer mit der Ruhe. Das zwischen mir und Jack ist total unverbindlich.«

»Sag das nicht. Du brichst mir das Herz! Du bist vierzig, Erica.«

»Könntest du bitte aufhören, das Thema alle zwei Minuten zu erwähnen?«

»Tut mir leid. Ich wünsche mir doch nur ein Happy End für dich.«

»Aber das hier ist mein Happy End. Ich führe genau das Leben, das ich mir wünsche.«

Anna seufzte. »Wie lange bist du noch in Berlin?«

»Zwei Nächte.« Erica warf einen kurzen Blick auf ihren Laptop und bekam sofort ein schlechtes Gewissen. Sie hätte wohl besser arbeiten sollen. Andererseits konnte sie ihren Vortrag inzwischen im Schlaf herunterrasseln. Sie hatte sich ein solides Team aufgebaut und traute sich inzwischen, mehr zu delegieren, was ihr die Möglichkeit verschaffte, sich auszusuchen, womit sie ihre Zeit verbringen wollte.

»Ich könnte auch einen Vortrag über Krisenmanagement halten«, sagte Anna. »Immerhin ist mein Leben eine einzige große Krise. Aber leider keine von den aufregenden. Gestern ist die Kühltruhe kaputtgegangen, und vorgestern hatte unser Auto einen Kolbenfresser. Na ja, reden wir über was Interessanteres. Du meintest, du hättest den idealen Ort gefunden. Aber wofür?«

Erica bemühte sich um einen beiläufigen Tonfall. »Für unser Leseclub-Treffen im Dezember.«

»Oh.« Auf einmal klang Anna wie ausgewechselt.

»Was? Wir hatten doch darüber geredet und uns sogar schon auf ein Datum geeinigt.«

»Ja, provisorisch. Aber das war doch im Sommer, weil Claudia so durcheinander war, dass wir es nicht zur üblichen Zeit geschafft haben. Nachdem nie wieder jemand ein Wort darüber verloren hat, dachte ich, wir wären uns einig, dass wir die Reise dieses Jahr ausfallen lassen.«

»Aber warum sollten wir? Die Grundzutaten sind doch dieselben wie immer. Am Ende brauchen wir nichts weiter als ein Hotel, ein Buch und uns drei, mehr nicht.«

»Nicht der Club ist das Problem, sondern die Jahreszeit. Es fühlt sich einfach merkwürdig an, so kurz vor Weihnachten wegzufahren. Weihnachten ist Familienzeit. Baum kaufen, Geschenke einpacken, das Haus schmücken … Traditionen eben. Ach, tut mir leid, ich weiß ja, dass du das alles nicht machst. Oh weh, war das taktlos?«

»Was sollte daran taktlos sein? Du weißt doch, dass mir Weihnachten egal ist.«

»Ja, aber an dem Datum, das du ausgesucht hast, fahren wir immer in den Wald, um unseren Baum zu fällen. Das machen wir jedes Jahr so, seit die Kinder auf der Welt sind. Es ist ihre Lieblingstradition, und ich möchte sie nur ungern enttäuschen.«

Erica versuchte erfolglos, das irgendwie nachzuvollziehen. Für sie war Weihnachten ein Tag wie jeder andere. Sie war von ihrer Mutter dazu ermutigt worden, so früh wie möglich flügge zu werden und sich ein eigenes Leben aufzubauen. Niemals wären sie darauf gekommen, gemeinsam einen Weihnachtsbaum auszusuchen.

»Aber habt ihr nicht gerade miteinander Thanksgiving gefeiert?«

»Weihnachten ist etwas anderes.«

»Dann holt ihr euren Baum eben schon Anfang Dezember. So habt ihr noch länger etwas davon, auf den abgefallenen Nadeln herumzustiefeln. Du kannst doch nicht deine Kinder zu deinem einzigen Lebensinhalt machen, Anna. Überleg mal, wie sehr du sie damit unter Druck setzt. Und dich selbst auch. Außerdem sind sie inzwischen schon fast erwachsen.«

»Ha! Das sagst du so einfach«, erwiderte Anna. »Hast du auch nur den Hauch einer Ahnung, wie kompliziert Teenager sein können?«

Nein, hatte sie nicht. Wie auch? Sie hatte noch nie auch nur in Erwägung gezogen, selbst Kinder zu bekommen, und ihre Entscheidung niemals bereut. Ihre Karriere war aufregend, und es war immer etwas los. Und das sollte sie opfern, um zu Hause zu sitzen und über Hundeernährung und Abwaschverhalten zu streiten? Nein danke.

»Wir reden über eine einzige Woche, Anna, mehr nicht. Du wärst doch vor Weihnachten wieder zurück. Zeit genug, um euer Haus pünktlich zum Fest in Lichterketten zu wickeln oder was auch immer du genau vorhast. Zeit für deine Freundinnen und Zeit für deine Familie. Das Beste aus beiden Welten.«

»Ich muss darüber nachdenken«, antwortete Anna. »Es ist meine Lieblingszeit im Jahr, und ich mag es, wenn echte Weihnachtsstimmung aufkommt. Und ich weiß ja, wie wenig du davon hältst.«

»Ich schwöre hoch und heilig, mich keinerlei Unweihnachtlichkeiten schuldig zu machen.« Sie hatte keine Ahnung, wie es sich anfühlte, in Weihnachtsstimmung zu sein. Aber sie war bereit, sich zu informieren und alles dafür zu tun, ihre Freundin glücklich zu machen. Bestimmt konnte man in Hotels Weihnachtsextras buchen, oder? »Und wenn du in Weihnachtsstimmung geraten willst, solltest du dir mal das Hotel ansehen, das ich gefunden habe. Ganz altmodisch und idyllisch.« Ihr Herz begann vor Aufregung zu klopfen. »Sogar der Weihnachtsmann persönlich würde dort Urlaub machen wollen.«

»Ich glaube dir kein Wort. Du suchst doch sonst auch immer elegante Boutique-Hotels aus, die sofort den dringenden Wunsch in mir wecken, mein gesamtes Haus neu einzurichten. Seit wann stehst du auf altmodisch?«

»Seit ich herausgefunden habe, dass ich dafür nicht auf Luxus verzichten muss. Das Hotel ist die perfekte Kompromisslösung für uns alle.«