Das Wolfsmädchen - Christian Hardinghaus - E-Book

Das Wolfsmädchen E-Book

Christian Hardinghaus

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Beschreibung

Im Februar 1946 trifft die elfjährige Ursula Dorn einen fatalen Entschluss. Sie lässt ihre Familie in den Ruinen Königsbergs zurück, um sich selbst vor dem Hungertod zu retten. Seit Kriegsende sind in der von den Sowjets besetzten Stadt über 70.000 Deutsche durch Hunger, Krankheiten und Gewalt verstorben, werden bis aufs Skelett abgemagerte Frauen vergewaltigt, erfrorene Säuglinge bleiben in ihren Kinderwagen zurück. Rund 20.000 verwaiste Kinder ziehen bettelnd durchs nördliche Ostpreußen. Ursula erträgt das Elend nicht mehr; sie schleicht sich in einen russischen Güterzug und fährt bis nach Kaunas, wo litauische Familien sich um deutsche Kinder kümmern. Ursula kommt zu Kräften, reist zurück und kann ihre Mutter befreien. Ihre Geschwister allerdings muss sie zurücklassen. Und auch das gelobte Land verändert sich, es tobt ein erbarmungsloser Partisanenkrieg. Fortan werden Familien, die "deutsche Faschistenkinder" verstecken, in Gulags transportiert. Die Kinder sind gezwungen, sich in die Wälder zurückzuziehen und dort wie Wölfe zu hausen.

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Christian Hardinghaus

Das Wolfsmädchen

Flucht aus der Königsberger Hungerhölle 1946

Inhalt

Vorwort

Einleitung

Der Untergang Königsbergs

Der letzte ostpreußische Frieden

Königsberg in Flammen

Die Russen kommen

Auf dem Todesmarsch

Leben und Sterben in der Ruinenstadt

Hunger, Krankheiten und Seuchen

Die neuen Russen kommen

Das große Sterben

Königsberg ist tot

In Litauen

Die Pforte ins gelobte Land

Überleben in der Natur

Schlechte Nachrichten

Zwischen Waldbrüdern und Milizen

Eine Bleibe für eine

In der DDR

Im Westen

Die Spuren der Vergangenheit

Die singende Revolution

Zurück nach Königsberg

Wolfskind-Arbeit

Verfolgung ostpreußischer Juden und Sinti

Traumata, Prägung und Flashbacks

Wolfskind-Schicksale

Johanna, die Kinderhüterin

Leni ohne Liebe

Der Wolfskindvater und das Edelweiß

Nachwort

Dankeschön für die Zeit mit dir, liebe Ursula Dorn!

Anmerkungen

»Der Krieg hat einen sehr langen Arm.Noch lange, nachdem er vorbei ist, holt er sich seine Opfer.«

Martin Kessel

Vorwort

Über 20 000 verwahrloste deutsche Kinder flüchteten infolge des Zweiten Weltkriegs ab 1946 aus dem sowjetisch besetzten, nördlichen Ostpreußen nach Litauen, um nicht den Hungertod sterben zu müssen. Man hat sie Wolfskinder genannt. Die allermeisten von ihnen haben trotz alledem schon zwei Jahre später nicht mehr gelebt. Von den wenigen Tausend Überlebenden, die ab 1948 aus der Königsberger Hungerhölle zunächst in die DDR entkommen sind, oder denen, die in Litauen eine feste Heimat gefunden haben, leben heute nur noch wenige. Und lediglich ein paar Dutzend ehemalige Wolfskinder, die psychologisch als »Opfer von Extremtraumatisierungen« kategorisiert werden, hatten zeit ihres Lebens die Möglichkeit, die Kraft und den Willen, von ihrem Schicksal zu erzählen, und somit überhaupt eine Chance darauf, Anerkennung zu finden.

Ich bin zutiefst dankbar dafür, dass die Protagonistin dieses Buches – das Wolfsmädchen Ursula Dorn – zu den wenigen Opfern gehört, die auf ihr Trauma aufmerksam machen konnten und das auch unbedingt wollten. Ich bin froh, dass wir uns getroffen und gegenseitig gut kennen- und schätzen gelernt haben. Es war weder einfach noch selbstverständlich, dass ein vergleichsweise junger, männlicher Historiker mit Respekt vor älteren Damen und eine Frau gehobenen Alters mit traumainduzierter Angst vor jungen Männern so direkt, ehrlich und vertraut über die in der Gesellschaft immer noch weitestgehend unbekannte historische Tragödie der Wolfskinder sprechen konnten. Es ist zwar keine Frage zwischen uns offengeblieben, doch wir beide schütteln auch jetzt noch mit dem Kopf, wenn wir alleine oder gemeinsam darüber nachdenken, was für ein Grauen sich da vor 75 Jahren in den Ruinen von Königsberg und in den Wäldern von Litauen eigentlich zugetragen hat.

2019 habe ich das Wolfsmädchen das erste Mal in ihrem vom Wald umschlossenen Garten in Weißenborn an der thüringisch-niedersächsischen Grenze getroffen mit der ursprünglichen Intention, die Geschichte der damals 85-Jährigen in eine von 13 Erzählungen in meinem im Jahr darauf erschienenen Buch über die letzten Zeitzeuginnen des Zweiten Weltkriegs aufzunehmen. Weniger als eine halbe Stunde hat unser erstes Gespräch gedauert, da wurde mir aber bereits klar, dass ich meine Idee begraben konnte. Ursulas Schilderungen waren so außergewöhnlich, so unvergleichlich und historisch bedeutend, dass sie ein eigenes Buch verdienen mussten. Ebenso schnell war mir allerdings bewusst, dass ein solches nur geschrieben werden könnte, wenn zwischen mir und ihr absolutes Vertrauen herrschen würde. Ich ließ uns die Zeit, dass sich genau dieses aufbauen konnte, bevor ich Ursula in meinen neuen Plan einweihte, den ich mit dem Schreiben dieses Vorwortes erfüllt habe. Sie und mich einte die ganze Dauer unseres langen und intensiven Austausches und Arbeitsprozesses miteinander der unbändige Wille, das Schicksal Königsbergs und das der Wolfskinder so erzählen zu können, wie es sich wirklich zugetragen hat.

Einleitung

Am 20. März 2022 wendet sich der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj per Videobotschaft an Tausende Demonstranten, die sich vor dem Brandenburger Tor in Berlin versammeln, um ihre Solidarität mit seinem Land zu bekunden. Bevor er am 28. Tag nach dem russischen Angriff auf die Ukraine um eine Schweigeminute für die Opfer bittet, spielt er mit dem Smartphone einen Sirenenalarm ab, schaut danach ernst in die Kamera und sagt: »Das waren nur zwanzig Sekunden. Aber wir hören das über Stunden, Tage, Wochen hinweg.« Selenskyj trägt seine Botschaft hauptsächlich einem jüngeren deutschen Publikum vor, das selbst keinen Krieg kennt, die akustische Darbietung aber als deutliches Warnsignal dafür begreift, dass die Bedrohung nahe ist. Dem um Waffenbeistand bittenden, politisch unter Druck stehenden Präsidenten ist in diesem Moment wahrscheinlich gar nicht bewusst, dass das Schrillen seiner Sirene Tausenden älteren deutschen Zuschauern, die seine Rede live vor den Fernsehgeräten verfolgen, das Blut in den Adern gefrieren lässt. Es sind die Kriegskinder dieses Landes, die mit genau diesem Alarmsignal, das sie nicht nur wochen-, sondern jahrelang ertragen mussten, schlimmste Erinnerungen an den Bombenkrieg der Vierzigerjahre assoziieren. Seit 80 Jahren holen sie die Bilder ihrer zerstörten Häuser, brennenden Straßen oder zusammensackenden Angehörigen immer wieder ein, wenn etwa die örtliche Feuerwehr eine Übung abhält, Silvesterböller knallen, irgendetwas in der Küche anbrennt oder ein Flugzeugmotor aufheult. Schon der Ausbruch vergangener Kriege hat bei ihnen Wunden alter Traumata wieder aufgerissen. So staunten Fachärzte Anfang der Neunzigerjahre darüber, dass im Zuge des Jugoslawienkrieges und der mit diesem einhergehenden, in ihrem Umfang bisher beispiellosen medialen Kriegsberichterstattung vermehrt Zeitzeugen des Zweiten Weltkriegs in ihre Praxen kamen und von einem quälenden Phänomen berichteten, das die Psychologie als Flashback beschreibt. Sensorische Schlüsselreize führen dazu, dass traumatisierte Menschen in die schlimmsten Schockmomente ihres Lebens zurückkatapultiert werden und ihre Albträume noch einmal so erleben, als geschähen sie augenblicklich. Die meisten der Betroffenen haben sich bis dahin weder öffentlich noch interfamiliär als leidende Kriegsopfer zu erkennen gegeben oder ihre Depressionen und Ängste selbst nicht damit in Verbindung gebracht. Ursächlich dafür ist sowohl ihr eigener Wunsch gewesen, das Erlebte einfach zu vergessen oder zu verdrängen, als auch das geringe gesellschaftliche Interesse an deutschen Opfergeschichten, die – so schien es – zwischen den radikalen Antikriegsbewegungen der 68er- und der starren Aufarbeitung von Naziverbrechen der Boomer-Generation keinen Platz fanden. Allgemeine Erkenntnisse der Traumaforschung gehen davon aus, dass ein Betroffener in der Regel etwa 50 Jahre braucht, um über seine erlittenen seelischen Verletzungen sprechen zu können. So wundert dann retroperspektivisch betrachtet nicht, dass ab Mitte der Neunzigerjahre unzählige Autobiografien geschrieben wurden. Allerdings hatten die verfassenden Zeitzeugen ihre Berichte entweder nur für den Gebrauch in der Familie vorgesehen, oder sie mussten feststellen, dass Verlage und andere Medien noch nicht dazu bereit waren, unverklemmt über deutsche Opfer des Zweiten Weltkriegs zu berichten. Zu hoch war dafür die Messlatte des Bösen, die Historiker und Journalisten mit der Aufarbeitung des Völkermordes an den Juden gesetzt hatten, als dass ihre Geschichten gehört werden wollten. Und so dauerte es bis Anfang der Zweitausenderjahre, ehe ihre Schicksale gesellschaftliche Wahrnehmung erfuhren. In der Psychologie und der Medizin hatten sich zu diesem Zeitpunkt die Erkenntnisse über die sogenannte posttraumatische Belastungsstörung etabliert, und zahlreiche Medien griffen das Thema Kriegskinder in Verbindung mit Bombenkrieg und Vertreibung auf. Doch bleibt bis heute einerseits innerhalb von betroffenen Familien eine beidseitige Scheu bestehen, über Kriegserlebnisse zu sprechen, andererseits fehlt auch gesellschaftlich der Wille oder der Mut, klar zwischen Opfern und Tätern der Nazidiktatur zu unterscheiden. Daher kämpften bis ans Ende ihres Lebens Millionen im Westen aufgewachsene Kriegskinder mit den traumatischen Erlebnissen, die sie im Verlauf des Bombenkrieges erlitten haben, und die Kinder, die aus den deutschen Ostgebieten fliehen mussten, mit dem Verlust ihrer Heimat und der brutalen Gewalt, die ihnen während der Vertreibung entgegenschlug. Die immer noch zu eindimensionale wissenschaftliche Aufarbeitung gerade des Schicksals der bis zu 16 Millionen Heimatvertriebenen, das Ausklammern von Verbrechen anderer am Zweiten Weltkrieg beteiligter Nationen aus Sorge, Naziverbrechen könnten dadurch verharmlost werden, und das scheinbare Vergessenwollen ehemaliger deutscher Gebiete hinterlassen weiterhin eklatante Lücken in der Historisierung unserer Geschichte.

Es gibt wohl keine Opfergruppe des Zweiten Weltkriegs, die so wenig wissenschaftlich erschlossen worden ist wie die der ostpreußischen Wolfskinder, was natürlich auch damit zu tun hat, dass man von ihrem Schicksal im Vergleich zu dem anderer Opfer des Dritten Reiches und des von den Nazis entfesselten Krieges erst spät erfahren hat.

Wir haben die Worte unserer Muttersprache, die Lieder unserer Mütter vergessen. Sie wurden vom Ächzen unserer vor Hunger sterbenden, gemarterten, geschändeten Mütter, vom Stöhnen ihrer vereinsamten Kinder übertönt.1

Diese Selbstbeschreibung verfassten die ersten 58 Wolfskinder, die sich am 14. September 1991 zusammenschlossen und in Litauen den Verein Edelweiß gründeten, um vor allem in Deutschland auf ihre bis dahin nicht gekannte Tragödie aufmerksam zu machen. Die Gründungsmitglieder gehörten allesamt zu den geschätzt etwa 120 0002 Deutschen, die im April 1945 in Königsberg eingeschlossen wurden, weil ihnen die Flucht nicht mehr gelungen war oder sie von der Naziführung daran gehindert worden waren. Sie erlebten den mit schlimmsten Gewaltexzessen und totaler Zerstörungswut eingehenden Einbruch der Roten Armee und waren ihm schutzlos ausgeliefert.

Schrecklich sind die Verluste, die der Krieg gebracht hat. Die Schatten von Lebenden und Toten stehen neben uns. Wir träumen immer noch von den blühenden Obstgärten, die nicht mehr da sind, sehen immer noch die rotgiebeligen Gehöfte im Nebel des frühen Morgens … Die Schatten der zerstörten Häuser und durch Brand geschädigten Bäume lasten auf der Erde. Die Glocken der vernichteten Kirchen läuten immer noch in unseren Herzen ein Requiem für diejenigen, die hier gewohnt haben …

Auch nach Kriegsende hatten die eingeschlossenen deutschen Zivilisten keine Chance mehr, in den Westen zu flüchten. Das nördliche Ostpreußen wurde militärisch abgeschnitten und der sowjetischen Besatzungszone einverleibt. Insgesamt verblieben hier inklusive Königsberg etwa 250 0003 Deutsche. Eine klare Aussage über die Anzahl derjenigen darunter, die zu Wolfskindern wurden, lässt sich aufgrund fehlender Quellen oder unterschiedlichen Zählungen nicht festmachen. Die bisherigen Forschungen gehen von etwa 35 000 hungernden Waisenkindern aus, die nach dem Krieg bettelnd in der brachliegenden Zone Nord-Ostpreußens umherliefen. Gerüchten über Nächstenliebe und Verpflegung im nördlichen Nachbarland folgend, sind zwischen 1946 und 1948 wahrscheinlich mehr als 20 000 von ihnen – zumindest zeitweise – nach Litauen gefahren.4 Diese Zahl können Historiker heute als grobe Schätzung für die Anzahl ehemaliger ostpreußischer Wolfskinder annehmen. Angaben, die deutlich darunterliegen, ergeben sich aus strengeren Kriterien, die von einigen Stellen definitorisch herangezogen werden.5

Damals nach dem Krieg waren wir noch so klein! Manche waren 10, andere kaum 5 Jahre alt. Wir gingen, gingen, gingen … Der Weg war unser Heim, der Weggraben unser Bett. Wir deutsche Kinder, meistens aus Ostpreußen vertrieben, waren nach Litauen zu Fuß gekommen.

Der Großteil der Wolfskinder bettelte oder arbeitete für kurze Zeit in Litauen und fuhr dann versteckt in Güterzügen wieder nach Ostpreußen zurück, um Hunger leidende Verwandte zu versorgen. Andere wurden von litauischen Familien adoptiert, mussten aber im Gegenzug dafür ihre Identität opfern, denn wer in Litauen dabei erwischt wurde, »deutsche Faschistenkinder« zu verstecken, hatte seitens der sowjetischen Besatzer mit Deportationen in sibirische Gulags – und das bedeutete den sicheren Tod – zu rechnen. Die Wolfskinder bekamen neue Namen, mussten ihre Muttersprache vergessen und durften nicht mehr über ihre Vergangenheit reden. Während einige als billige Arbeitskräfte ausgebeutet wurden, auch in Litauen Gewalt und Vergewaltigung ausgesetzt waren, fanden andere ein liebevolles Zuhause und eine neue Familie. Insgesamt überwiegt bei den ehemaligen Wolfskindern – was auch immer sie weiter durchmachten – deutlich die Dankbarkeit gegenüber dem Nachbarland, das sie vor dem sicheren Hungertod gerettet hat.

Litauen hat uns aufgenommen. Litauische Mütter haben den Staub des langen Weges von uns gewischt, ihr Brot mit uns geteilt, uns an ihren Tisch gesetzt. Wir sprechen ihnen unseren Dank aus.

Bis 1951 wiesen sowjetische Behörden über 10006 deutsche Kinder aus Litauen und mindestens 53637 Waisenhauskinder aus dem nördlichen Ostpreußen, von denen wahrscheinlich mehr als die Hälfte zeitweise im Nachbarland gewesen war, in die DDR aus. Historiker nehmen an, dass danach noch bis zu 2000 deutsche Kinder unter neuer Identität in Litauen geblieben sein könnten. Geht man von der Zahl von 20 000 Betroffenen insgesamt aus, wird deutlich, dass auf jeden Fall weit mehr als die Hälfte aller Hilfe suchenden Wolfskinder verhungert ist. Entweder weil sie in Litauen niemanden fanden, der sie versorgte, weil sie die Reise dorthin erst gar nicht überstanden – nicht selten kam es vor, dass erschöpfte Kinder vom Zug fielen beziehungsweise von Soldaten und Bahnpersonal runtergestoßen wurden – oder weil sie nach einer Rückkehr in Ostpreußen auf der Straße oder in einem der sowjetischen Kinderhäuser verhungerten.

Erst mit dem fortschreitenden Zusammenbruch der Sowjetunion und den Unabhängigkeitsbewegungen der baltischen Länder hat man überhaupt von Wolfskindern gehört. Seit Beginn der Neunzigerjahre berichteten zunächst Heimatzeitungen der ostpreußischen Stadt- und Kreisgemeinschaften über in Litauen gestrandete »Bettelkinder«, »Hungerkinder« oder die »vokietukai« – die kleinen Deutschen –, wie die Litauer sie bezeichnet hatten. Wahrscheinlich war es der Dokumentarfilmer Eberhard Fechner, der den heute etablierten Begriff einführte, als er 1991 eine Reportage über eine betroffene Familie mit dem Titel Wolfskinder8 herausbrachte und darin Ähnlichkeiten zum biologischen Terminus sah. Seit dem Spätmittelalter untersuchte man unter dieser Bezeichnung in Anlehnung an die Sage von Romulus und Remus Findelkinder, die ohne Eltern und fernab menschlicher Zivilisation in der Natur aufgewachsen und teilweise von Tieren sozialisiert worden sind. Auf die Wolfskinder des Zweiten Weltkriegs kann dies nur insofern übertragen werden, als dass man sie als Minderjährige betrachtet, die alleine oder in Gruppen ohne erwachsene Bezugspersonen eine Zeit lang in und von der Natur leben mussten. Elternlosigkeit generell wurde kein festes Kriterium für die Begriffsbestimmung, und nicht wenige Wolfskinder wurden damals schnell von Litauern aufgenommen, hatten also gar keinen Bezug zum Wald. Ganz ohne Kontakt zu anderen Menschen oder zur menschlichen Zivilisation wuchsen ostpreußische Wolfskinder jedenfalls nicht auf. Doch symbolisch übertragen schien der Begriff Anerkennung zu finden. Zumindest tauchte er nach Ausstrahlung der Dokumentation immer häufiger in den Zeitungen und Heimatbriefen der Vertriebenenverbände aus dem nordöstlichen Ostpreußen auf, die in Deutschland nach lebenden Angehörigen der Zurückgelassenen suchten.

Der ehemalige Vorsitzende der Deutsch-Baltischen Parlamentariergruppe, Baron Wolfgang von Stetten, wurde 1992 auf einer Litauenreise auf die Tragödie der Wolfskinder aufmerksam, als er mit den Mitgliedern des Vereins Edelweiß in Kontakt trat. Daraufhin verfasste er unzählige Schreiben, durch die er möglichst viele offizielle Stellen und Behörden auf das menschliche Drama aufmerksam machen wollte, und verwandte dabei ab 1992 konsequent den Begriff Wolfskinder, sodass in der Folge auch das Bundesinnenministerium und die deutschen Botschaften in Litauen diese Bezeichnung übernahmen.

Über 300 Wolfskinder wandten sich bis heute Hilfe suchend an den Verein Edelweiß. Auf der Suche nach ihren richtigen Namen und ihrer verlorenen Identität erhofften sich die meist in Armut und ohne Bildung lebenden Menschen Unterstützung vom deutschen Staat. Sie scheiterten an überforderten Behörden, einer nicht an ihnen interessierten deutschen Gesellschaft, die sie nicht als Opfer anerkennen wollte oder konnte, und manchmal sogar an der Ablehnung von den eigenen, gerade wiedergefundenen Angehörigen, die Angst davor hatten, für ihre verschollenen Geschwister finanziell aufkommen zu müssen.

Seit Bekanntwerden des unglaublichen Schicksals der Wolfskinder sind einige Bücher und journalistische Artikel erschienen, aber keiner davon hat eine breite Öffentlichkeit insoweit erreicht, als dass man heute behaupten könnte, diese ostdeutsche Tragödie sei allgemein bekannt. Eine der Ursachen dafür ist sicherlich ihre Lokalisierung in dem fast vergessenen Ostpreußen. Der Historiker Christopher Spatz, einer der an einer Hand abzählbaren Wissenschaftler, die zu Wolfskindern geforscht haben, schreibt dazu:

Allmählich wurde das Erinnern an den untergegangenen deutschen Osten als ein überparteiliches und gesamtgesellschaftliches Anliegen aufgegeben und den Vertriebenenverbänden überlassen. Da diese wiederum revisionistische Positionen vertraten, die ab den 1970er-Jahren nicht mehr zur Staatsräson gehörten, geriet bald jede Thematisierung Ostpreußens unter Generalverdacht. Wer es in dieser Atmosphäre dennoch wagte, seine Hunger- und Todeserfahrungen anzusprechen, konnte kaum mehr als Schulterzucken und Gleichgültigkeit ernten.9

Die Kommunikationsprobleme zwischen der Erlebnisgeneration und den Nachkriegsgenerationen wurden von einer Erinnerungskultur geprägt, die maßgeblich die Täterperspektive der Deutschen ins Zentrum gerückt hat; sie ließ eine Thematisierung der Wolfskinder kaum zu. Dazu schreibt Spatz weiter:

Erinnerungen ehemaliger Hungerkinder klangen verstörend, weil sie sich vom Gegenüber nicht zufriedenstellend in eine vertraute Opfererzählung einordnen ließen. Um überhaupt erzählbar zu werden, wären sie jedoch auf gesellschaftliche Akzeptanz angewiesen gewesen. Die Unterscheidung in anfängliches Nicht-Können und späteres Nicht-Sollen erklärt, weshalb die ostpreußischen Frauen und Männer nach einem Zeitraum, in dem sie keine Worte fanden, schließlich niemanden mehr trafen, der ihnen zuhörte.10

Neben den in Litauen verbliebenen Wolfskindern muss es mehrere Tausende von ihnen auch in Deutschland gegeben haben, die nie auf ihr Schicksal aufmerksam machen konnten, weil ihnen zeit ihres Lebens nie bewusst geworden ist, dass sie überhaupt zu dieser Gruppe zählen. Weil sie – wie Millionen anderer Zeitzeugen des Zweiten Weltkriegs – nicht über ihre Kriegs- oder Nachkriegserlebnisse sprechen wollten und konnten oder weil sie ihre Erlebnisse verdrängt und vergessen haben. Letzteres betraf vor allem die in ganz jungem Alter in Litauen gewesenen Kinder, denn auch die bis 1951 in die DDR deportierten Wolfskinder durften – sofern sie überhaupt ihre richtigen Namen und Familien kannten – aus propagandistischen Gründen nicht über ihre Vergangenheit in Ostpreußen oder Litauen sprechen; Adoptiveltern waren vom Staat angehalten, nicht zu fragen, und erhielten keine Informationen über den Hintergrund ihrer Schützlinge. Ursula Dorn, die Protagonistin dieses Buches, gehört zu den wenigen aus Litauen in die DDR deportierten Wolfskinder, die auf sich aufmerksam gemacht haben.

Wahrscheinlich ist, dass auch die irreführende, von den Medien übernommene Bezeichnung Wolfskind mit dazu beigetragen hat, dass viele Schicksale nicht bekannt geworden sind, weil sich die Betroffenen in der Beschreibung nicht wiedererkannt haben. Von daher darf es nicht verwundern, dass der Begriff in der Schicksalsgemeinschaft der Wolfskinder kontrovers diskutiert wurde. Viele konnten ihn für ihren eigenen Lebenslauf nicht annehmen oder erkannten ihn sogar als gänzlich ungeeignet an, da der Wolf für sie etwas Starkes und Wehrhaftes verkörperte, aber genau das gegenteilige Gefühl sei für sie das Ausschlaggebende gewesen. Andere assoziierten mit dem Begriff Wolf auch weiterhin eine mit dem NS-Staat verbundene, propagandistische Sprache. So galt der Wolf unter den Nazis als animalische Verkörperung der germanischen Rasse. Nicht zufällig fand Hitler Gefallen an seinem Spitznamen Wolf, den ihm Vertraute gaben. Auch nannte er sein Hauptquartier Wolfsschanze und begrüßte die goebbelssche Benennung der letzten kindlichen Verteidiger des Reiches als Werwölfe. Der Teil der Wolfskinder, für die der Begriff aber passend war, hob dagegen vor allem das raubtierhafte Wesen des mit ihnen verglichenen Tieres hervor, das der alles bestimmende, extreme Hunger in Ostpreußen und Litauen in ihnen hervorbrachte. Auch Ursula Dorn stimmt damit überein. Sie sagt: »Wir waren keine Kinder mehr. Wir waren wie Raubtiere in Kindergestalt. Ja, wir waren wie Wölfe.«

Letztendlich, auch weil ein gemeinsamer Name unabdingbar für die Anerkennung des Dramas in der Gesellschaft sein sollte, akzeptierte die Wolfskindergemeinschaft den Begriff im deutschen wie auch im litauischen Sprachraum als vilko vaikai. So setzte sich die Bezeichnung auf allen Ebenen durch, auch in den akademischen. Die erste wissenschaftliche Abhandlung zum Thema schrieb 1994 die Historikerin Ruth Kibelka11 unter dem Titel Wolfskinder. Grenzgänger an der Memel.12 Mit Ausnahme weniger journalistischer Artikel, die auf Kibelkas Arbeit folgten, fand die Tragödie der Wolfskinder in den Neunziger- und Zweitausenderjahren so gut wie keine Anerkennung in den deutschen Medien und damit keine Beachtung in der Gesellschaft. Daran änderten auch die in dieser Zeit entstandenen TV-Dokumentationen nichts. Die Filme für Deutsche Welle (1996)13 und ZDF (2006)14 etwa behandelten das Schicksal der Wolfskinder vor allem unter dem Aspekt der Flucht an sich und thematisierten kaum die prägenden tragischen Ursachen und Verbrechen, die die Kinder dazu gezwungen hatten, ihre Heimat in Ostpreußen zu verlassen. Auch die Besonderheiten des charakteristischen Einsiedlerlebens in Litauen kratzen hier maximal an der Oberfläche. Das ist umso ärgerlicher, da in dieser Zeit – vielleicht sogar angeregt durch die Filme – ehemalige Wolfskinder anfingen, ihre Lebensgeschichten aufzuschreiben. Die entstandenen Bücher, die ihr Schicksal schon früher hätten realistisch darstellen können, wurden medial aber nicht aufgegriffen, diskutiert oder anderweitig zur Kenntnis genommen. Zu diesen Büchern zählen zum Beispiel Wolfskind Traute von Gertraud Gross15, Ich war ein Wolfskind16 von Joachim Pose oder auch die Biografie von Ursula Dorn, die diesem Buch zugrunde liegt. Über ihre Schwierigkeiten, einen Verlag für ihr Manuskript Ich war ein Wolfskind aus Königsberg17 zu finden, und die ablehnenden Gründe dafür, spricht sie selbst im Kapitel Wolfskind-Arbeit.

Es bedurfte erst einer gestandenen Schriftstellerin, um die Thematik der Wolfskinder bekannter zu machen. Ingeborg Jacobs, ZDF-Autorin und langjährige Mitarbeiterin Guido Knopps, veröffentlichte 2010 erfolgreich das Buch Wolfskind: Die unglaubliche Lebensgeschichte des ostpreußischen Mädchens Liesabeth Otto18. Doch erst zwei Jahre später war es letztendlich die unabhängige Journalistin Sonya Winterberg, die es schaffte, einen breiteren, allgemein interessierten Leserkreis für das Thema zu gewinnen. Ihr populärwissenschaftliches Sachbuch, für das sie exklusiv zahlreiche ehemalige Wolfskinder in Litauen interviewte, erschien 2012 unter dem Titel Wir sind die Wolfskinder. Verlassen in Ostpreußen.19 Zusammen mit der Fotografin Claudia Heinermann, die begleitend einen Fotoband20 vorstellte, hatte Winterberg in Litauen recherchiert.

Das unfassbare Schicksal der Wolfskinder hätte es verdient, von Hollywood entdeckt zu werden; möglicherweise stellt aber gerade die unvergleichbare Grausamkeit dieser Tragödie einen Kinofilm vor eine zu große Herausforderung. Den einzigen Versuch einer Darstellung auf der Leinwand unternahm 2013 Rick Ostermann mit dem einfühlsam erzählten Kinofilm Wolfskinder21, der allerdings keinen Publikumserfolg feierte, sondern ein beschauliches Dasein im Programmkinobereich und später als nächtliche Darbietung im künstlerisch ausgerichteten Sparten-TV fristete.

Die bisher umfassendste wissenschaftliche Beschreibung über das Thema gelang dem Kibelka-Schüler Christopher Spatz mit seiner 2015 an der Berliner Humboldt-Universität eingereichten Dissertation über Identität und Identitätswandel ostpreußischer Wolfskinder in der deutschen Gesellschaft. Für seine Studie, die später in Form eines Sachbuches mit dem Titel Nur der Himmel blieb derselbe22 veröffentlicht wurde, hatte Spatz über 50 Interviews mit in Deutschland lebenden ehemaligen Wolfskindern geführt.

Als letztes Buch zum Thema erschien ebenfalls 2015 der auch auf Deutsch übersetzte feinfühlige Roman Mein Name ist Maryte des litauischen Schriftstellers Alvydas Šlepikas23. Für alle Autoren war erste und wichtigste Anlaufstelle das private, über 30 prall gefüllte Ordner fassende Wolfskinderarchiv von Baron von Stetten, das er auf seinem Schloss in Künzelsau verwahrt. Daneben gibt es eine Reihe von hochspannenden Veröffentlichungen ehemaliger Wolfskinder wie zum Beispiel Land in dunklen Zeiten von Gerd Balko24, Jetzt war ich ganz allein auf der Welt von Hans-Burkhard Sumowksi25 oder – aus jüdischer Perspektive erzählt – Zeugnis vom Untergang Königsbergs von Michael Wieck.26 Über das Ausmaß der Hunger- und Gewaltkatastrophe in Königsberg geschrieben haben aus medizinischer und menschlicher Sicht umfassend und erschreckend drei in städtischen Krankenhäusern verbliebene deutsche Ärzte: der Chirurg des deutschen Zentralkrankenhauses Hans Graf von Lehndorff27, der Direktor der deutschen Seuchenkrankenhäuser St. Elisabeth und Yorck Wilhelm Starlinger28 und der Hygieniker des Krankenhauses der Barmherzigkeit Johann Schubert unter seinem Pseudonym Hans Deichelmann29. Zum Verständnis der Hungerkatastrophe in Königsberg sind außerdem besonders wichtig die Aufzeichnungen der in der Notlage als Hilfskrankenschwester arbeitenden Lehrerin Lucy Falk30 und des Pfarrers Hugo Linck31. Speziell unter dem Aspekt Vergewaltigungen aus weiblicher Perspektive berichten Erna Ewert, Marga Pollmann und Hannelore Müller in Frauen aus Königsberg 1945–1948.32 Als Ergänzung für die Beschäftigung mit dem Thema existieren zahlreiche biografische Beschreibungen von Kindheit in und Flucht aus Ostpreußen, allgemeine Darstellungen über die Geschichte Königsbergs und Ostpreußens sowie ein umfangreicher Bestand an wissenschaftlichen Werken über Flucht, Vertreibung und Kriegskindheiten.33 Besonders schwierig für das Thema Flucht und Vertreibung generell ist die Angabe von genauen Zahlen. Aufgrund fehlender oder sich widersprechender Quellen existieren für die Einschätzung des Bevölkerungsstandes in Königsberg und Ostpreußen zwischen 1945 und 1948 teils erheblich divergierende Zahlen. Alle Angaben über tote, verschleppte oder deportierte deutsche Zivilisten einerseits wie andererseits speziell über die Anzahl ehemaliger Wolfskinder beruhen auf Schätzungen. Zur wissenschaftlichen Einordnung habe ich, wo dies der Fall ist, entsprechende Verweise im Anmerkungsapparat angelegt und die benutzte Literatur kenntlich gemacht. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit sind Originalzitate an die aktuelle Rechtschreibung angepasst worden.

Wichtige persönliche Ansprechpartner waren für mich im Rahmen meiner Recherche vor allem Wolfgang von Stetten und Christopher Spatz. Außerdem hat mir die Sexualtherapeutin Melanie Büttner, die sich viele Jahre forschend und praktisch mit der Entstehung sexueller Traumata beschäftigt hat, dabei geholfen zu verstehen, welche Schäden Wolfskinder als Opfer durchlitten haben müssen. Darauf aufbauend, ist das Kapitel Traumata, Prägung und Flashbacks entstanden.

Meine natürlich bedeutsamste, jederzeit für mich erreichbare Ansprechpartnerin war die Hauptdarstellerin dieses Buches selbst. Die über viele Tage und unzähligen Stunden laufenden Gespräche mit Ursula Dorn habe ich mit einem digitalen Diktiergerät aufgezeichnet und studiert. Eine wörtliche Übertragung ihrer Berichte in einem erzählenden Sachbuch wie diesem ist weder für den Autor noch die Protagonistin, noch die Leser wünschenswert oder sinnvoll. Dementsprechend habe ich zwar den Inhalt des Gesagten nicht verändert, aber Wortfindungsschwierigkeiten, Füllwörter oder Wiederholungen nicht berücksichtigt, Halbsätze logisch geschlossen und Erzählungen chronologisch geradegerückt. Sofern dies nicht störend für die Darstellung war, habe ich immer darauf geachtet, möglichst viel auch von den sprachlichen Eigenheiten und der Erzählweise der Protagonistin beizubehalten. In diesem Sinne führen zwei Erzähler durch das Buch. So lasse ich Ursula ihre persönliche Geschichte weitestgehend selbst ausführen, fasse allerdings Passagen, die aus Zeit- und Platzgründen überbrückt werden mussten, in eigenen Worten zusammen und erzähle sie nach – schließlich deckt Ursulas hier zusammengetragene Biografie den Zeitraum zwischen 1935 bis heute ab. Im Zentrum stehen natürlich ihre Kriegs- und Wolfskinderlebnisse, aber Ursulas gesamtes weiteres Leben von der Deportation aus Litauen über ihre Flucht aus der DDR, ihr Fußfassen im Westen, die eigene Familiengründung bis hin zu ihrer ersten Rückkehr nach Königsberg, die Aufarbeitung ihres Schicksals und das Zusammentreffen mit anderen Betroffenen bleiben von ihrer Wolfskind-Erfahrung geprägt und gehören deswegen ebenfalls hier erzählt. Ursula äußert sich vor dem Hintergrund eigener Erfahrungen mit Krieg und Vertreibung in diesem Buch auch zu aktuellen Problemen unserer Gesellschaft ebenso wie zu dem am 24. Februar 2022 losgetretenen Krieg in der Ukraine.

Zu allen Etappen in Ursulas Erzählungen liefere ich die historischen Hintergrundinformationen sämtlicher zugehöriger Ereignisse, Orte und Personen und bette Ursulas Leben in eine authentische, mittels Sekundärliteratur kontextualisierte und anhand von anderen Zeitzeugenberichten recherchierte geschichtliche Kulisse ein. Neben den unzähligen Stunden, die ich mit Ursula verbracht habe, konnte ich auch Gespräche mit anderen Wolfskindern führen, die ihre Erlebnisse vielfach bestätigt und ergänzt haben. Um diese Art von Gemeinsamkeiten, aber auch die individuellen Unterschiede in dem Erleben des gleichen Schicksals veranschaulichen zu können, habe ich zwei weitere Wolfskind-Tragödien ausgewählt, auf die ich in Ergänzung zu Ursulas Geschichte eingehen möchte. Die persönlichen Gespräche, die ich mit Johanna Rüger und Leni Neumann im Kleinen geführt habe, habe ich in gleicher Darstellungsweise zu denen mit Ursula im Großen geführten schriftlich niedergelegt und im Kapitel Wolfskind-Schicksale dargestellt. Außerdem gehe ich darin zur weiteren Vertiefung auch auf die Biografien und Dramen verschiedener Wolfskinder ein, die heute noch in Litauen leben, mit denen ich zwar nicht selbst sprechen konnte, zu denen aber im Wolfskinderarchiv von Stettens und über den Verein Edelweiß Informationen vorliegen.

Der Untergang Königsbergs

Der letzte ostpreußische Frieden

Ostpreußen ist gestorben. Land der dunklen Wälder und der kristall’nen Seen. 1933 unheilbar erkrankt. Land der Bauern und der Fischer. Und die Meere rauschen den Choral der Zeit. Die Symptome ignoriert. Land der Ordensburgen und Ritterschlösser. Elche stehen und lauschen in die Ewigkeit. 1939 dem Untergang geweiht. Land des Pferdes, Kornkammer des Reiches. Land des endlosen Kampfes zwischen Ost und West. 1944 in Trümmern versunken, 1945 nicht mehr aufgestanden. Land der Opferplätze und der heiligen Haine, umschlossen von Memel und Weichsel. Königsberg, Stadt der Klopse, des Marzipans und der reinen Vernunft, dem Erdboden gleichgemacht, alles Leben ausgelöscht. Vergessenes, fernes Land.

Ursula Dorn wird am 19. April 1935 als erstes Kind ihrer Eltern Fritz und Martha Buttgereit in Königsberg geboren. Ostpreußens Hauptstadt am Fluss Pregel, der sieben Kilometer hinter Königsberg ins Frische Haff der Ostsee mündet, blickt zu diesem Zeitpunkt auf eine fast 700-jährige bewegte Geschichte zurück. 1255 als Trutzburg des Deutschen Ordens zwischen endlosen Seen und Mooren erbaut, entwickelt sich aus der mittelalterlichen Hansestadt, die Berühmtheit erlangt für ihre erlesene Goldschmiede- und Bernsteinkunst, ab 1457 die Residenz der Hochmeister des Deutschritterordens. Später ist Königsberg Hauptsitz der preußischen Herzöge von Hohenzollern und ab 1724 die königliche Haupt- und Residenzstadt des Staates Preußen. Im selben Jahr kommt ihr wohl angesehenster Sohn zur Welt: Immanuel Kant, der mit anderen Philosophen und Aufklärern wesentlich zum Ruf der Stadt als geistiges Zentrum beiträgt, das weit über die deutschen Grenzen hinaus strahlt. Nach Kants Hauptwerk wird Königsberg fortan auch als »Stadt der reinen Vernunft« bezeichnet. Ab 1815 bildet Königsberg die Hauptstadt sowie die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Mitte der Provinz Ostpreußen und gilt als Hochburg des Liberalismus. Bei Reichsgründung 1871 zählt die Soldaten- und Garnisonsstadt, die an ihren Außenbezirken durch massive Festungsbauten charakteristisch geprägt ist, 110 000 Bürger. Durch großflächige Eingemeindungen steigt die Einwohnerzahl bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs im Jahr 1914 auf 250 000 an. Bei der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1933 ist die Bevölkerung der durch Gebietsabtretungen nach dem Versailler Vertrag zur deutschen Enklave geformten Stadt noch einmal auf 316 000 Bürger angewachsen, die logistisch und wirtschaftlich mit dem Kern-Reich verbunden bleiben wollen. Um den entstandenen sogenannten polnischen Korridor zu umgehen, der seit 1919 Ostpreußen vom restlichen Deutschland abtrennt und zu einem ernsten Streitfall zwischen den Regierungen Deutschlands und Polens wird, verkehrt von 1922 bis 1939 der Seedienst Ostpreußen. Passagier- und Frachtschiffe fahren rege zwischen Königsberg und westdeutschen Häfen wie Swinemünde, Travemünde und Kiel hin und her. Herz der Wirtschaft und Sitz der Börse ist der Königsberger Hafen, wo See- und Flussschifffahrt aufeinandertreffen. Während vor dem prachtvollen Hintergrund des hohen Schlosses die Ufer der schmalen Kais des Innenhafens gesäumt sind mit malerischen Fachwerkhausfassaden, ragen rund um den Außenhafen mit lebhaftem Dampfschiffverkehr riesenhafte Lagerhäuser, Kräne und Kornspeicher hervor.

Schon wenige Stunden nachdem Ursula im katholischen Krankenhaus Katharinenstift im Stadtteil Haberberg das Licht Königsbergs erblickt, nimmt sie die Mutter mit zum Magnet der Stadt – zum Hafen. Für den Wohnkahn Hans, der ihrem Großvater, dem selbstständigen 75-jährigen Haff-Schiffer Theodor Ferdinand Haffke und seiner Frau Emma gehört, bleibt keine Zeit, länger auf dem Festland zu verweilen. Das tonnenschwere Schiff liegt voll beladen mit Getreide, Kohle, Holz und Ziegeln am Frachthafen und muss auslaufen, um die Waren pünktlich über die Binnenwasserstraßen, die Königsberg mit dem zentraldeutschen Kanalnetz verbinden, zu ihren Zielhäfen zu transportieren.

Bis zu ihrem sechsten Lebensjahr wächst Ursula hier auf dem Schleppkahn mit ihren drei jüngeren Geschwistern auf. Während der gemächlichen Fahrt übers Wasser tobt sie mit ihren beiden Brüdern Heinz und Fritz zwischen den Ladeluken herum und lässt sich den frischen Wind, der vom Kurischen Haff kommend über die sandigen Dünen der Nehrung und die grünen Felder des Samlandes bläst, durch die blond gelockten Haare wehen. Am liebsten liegt Ursula vor Anker in Königsberg und beobachtet das geschäftige Treiben auf der Kneiphofschen Insel, dem Zentrum der Altstadt, die von den Einwohnern nur liebevoll »die Pracht« genannt wird. Oder sie sieht den krakeelenden Frauen mit Kopftuch und schwarzer Strickjacke auf dem Fischmarkt zu, die ihre aufgebahrten Dorsche, Flundern und Aale feilbieten und aufdringliche Möwen mit ihren Besen von den Ständen verjagen. Ursula riecht den frischen Duft des Heus, das sich mit dem süßlichen Geruch schweißnasser Pferde mischt; sie ziehen die hohen Wagen mit den Getreidesäcken durch schmale Gassen zu den Altstadtspeichern in den turmhohen Fachwerkhäusern.

Wenn sich die Familie längere Zeit an Land aufhält, verdingt sich Ursulas Vater als Hafenarbeiter und füllt die großen Mehlsilos am Hafen auf. Seine zwei ältesten Kinder Ursula und Heinz nimmt er gerne auf dem Lkw mit, wenn er die Mühlen der Umgebung ansteuert. Seine knappe Freizeit widmet der 1906 geborene Fritz Buttgereit vor allem den Kindern. Ursula bringt er mit drei Jahren schon vom Kahn aus das Schwimmen bei, indem er sie in einem an einen Haken gebundenen Rettungsring zu Wasser lässt, damit sie so über die seichten Wellen gleiten kann.

Wie im gesamten Deutschen Reich begünstigt auch in Ostpreußen die wirtschaftliche Notlage den Aufstieg des Nationalsozialismus. Im Jahr 1932 leben ein Viertel aller Einwohner von öffentlicher Unterstützung. Über 100 000 Menschen sind arbeitslos. Wie überall im Reich werden nach der Machtergreifung sämtliche Organe der politischen Gegner zerschlagen. Der Staatsapparat wird gleichgeschaltet, und antisemitische Gesetze werden umgesetzt. Wie jede deutsche Stadt profitiert Königsberg vom wirtschaftlichen Aufschwung bedingt durch die Nationalsozialisten. Der seit 1928 als Gauleiter der NSDAP in Ostpreußen fungierende und von der Propaganda als »Vater der Provinz« inszenierte Erich Koch schafft es, durch großspurig von Hitler initiierte staatliche Gewerbeförderungen die Arbeitslosenzahl in seinem Gau innerhalb von drei Jahren auf 18 200 im Jahr 1936 zu reduzieren. Ganz nebenbei häuft der ehemalige Eisenbahnarbeiter aus dem Rheinland sein Privatvermögen über eine nach ihm benannte, vermeintlich gemeinnützige Stiftung auf Millionenhöhe an. Schleichend wird am Ostseehafen auf Kriegswirtschaft umgestellt. Am ehesten zu bemerken ist das für die Königsberger an der massiven Truppenverschiebung in ihre Stadt und an der Vollbeschäftigung der Schichau-Schiffswerft, wo U-Boote instand gesetzt und Minensuchboote gebaut werden. Mit dem Stellungsbau des sogenannten Heilsberger Dreiecks legt sich die Wehrmacht in einem ausgedehnten 40 bis 70 Kilometer breiten Halbkreis auf insgesamt 200 Kilometer Länge zwischen Kurischem Haff und Frischem Haff außerdem einen Festungsgürtel mit über 800 Gefechtsbunkern an. Letztendlich wird Ostpreußen zum Aufmarschgebiet für den Angriff auf Polen aufgerüstet und Königsberg als Nachschubhafen flottgemacht.

Nachdem im September 1938 ihr Opa Theodor Ferdinand gestorben, ein Jahr später der Krieg ausgebrochen ist und ihr Vater seit Frühjahr 1940 als Soldat in Frankreich kämpft, übernehmen die beiden Onkel von Ursula zunehmend die Geschäfte auf den zwei Schleppkähnen der Familie Buttgereit. Mutter Martha, die im November 1939 ihr viertes Kind – Erika – zur Welt bringt, und Oma Emma orientieren sich um; sie beschließen, an Land sesshaft zu werden, und beenden im Sommer 1941 endgültig das Leben auf dem Wasser. Während Ursula, die im selben Jahr eingeschult wird, mit ihrer Mutter und den drei Geschwistern eine Etagenwohnung an der Vorstädtischen Langgasse Nummer 139 bezieht, bevorzugt Emma Haffke ein ruhiges Leben in einer Schrebergartensiedlung am Contiener Weg. Auf dem weitläufigen Areal zwischen Schichau-Werft und Berliner Straße, das von dem kleinen Flüsschen Beek durchflossen wird, erwirbt die Großmutter eine bescheidene hölzerne Wohnlaube mit Garten. In den meisten Baracken der ärmlichen Siedlung leben Arbeiter der Werft, auch ein Obdachlosenasyl und Lagerräume des Heereszeugamtes sind hier untergebracht. Bewohnbare Gartenanlagen sind beliebt und zahlreich in und an den Randbezirken von Königsberg. Martha mietet ebenfalls eine einfache Laube in einer Heimgartenanlage, die in der Nähe ihrer neuen Wohnung liegt und in der seit Kriegsbeginn junge deutsche Soldaten Quartier bezogen haben. Was Ursula zu diesem Zeitpunkt nicht weiß und nicht ahnt, ist, dass ihre Mutter sich mehr zu den adretten Armeeangehörigen hingezogen fühlt als zu ihren Blumenbeeten.

Im neuen Haus, in dem sechs Familien wohnen, lebt es sich für Marthas Kinder nicht so aufregend wie auf dem Schleppkahn, dafür ist es aber kaum weniger eng. Zwei Zimmer und eine kleine Küche stehen der Familienbande zur Verfügung. Im Gegensatz zu Martha, die für sich ein Schlafwohnzimmer einrichtet, in dem auch Fritz Buttgereit übernachtet, wenn er auf Urlaub ist, bewohnen Ursula und ihre Geschwister das zweite Zimmer. Zwei kärgliche Betten stehen dort. In dem einen schlafen, oft mit ihren Zinnsoldaten in der Hand, die ein und zwei Jahre jüngeren Brüder Heinz und Fritz, in dem anderen Ursula und die kleine Erika, die für ihre selbst genähten Stoffpuppen Miniaturmöbel aus Karton bauen. Ein Fenster gibt es im Kinderzimmer nicht, sodass es oft zu dunkel zum Spielen ist. Da die Schattenspiele im Schein einer Glühbirne die Kinder gruseln, verpassen sie ihrem Rückzugsort, in dem es immer kalt ist, weil der Küchenherd die einzige Wärmequelle der Wohnung darstellt, liebevoll den Namen »das Kabinett«. Ursula braucht nicht viel Platz im Haus, denn sie hält sich lieber draußen auf, zu jeder Tageszeit und bei jedem Wetter. Sie spielt mit Murmeln oder übt sich im Seilhüpfen. Sie mag Kinder und allgemein die Menschen um sich herum. Die Vorstädtische Langgasse, an der einst auch Immanuel Kant gewohnt hat, ist eine breite, belebte Hauptstraße mit Straßenbahnverbindungen in beide Richtungen. Zusammen mit ihren Geschwistern besucht Ursula oft die nahe gelegenen Parks, um mit Erika Blumenkränze zu flechten oder ihren Brüdern aus der Schulfibel vorzulesen. Überhaupt unternimmt sie viel mit ihnen, nicht nur zur Bespaßung. Martha findet es normal, dass ihre älteste Tochter mit nur acht Jahren schon selbstständig die Jüngeren versorgt und die anfallenden Familieneinkäufe erledigt. Ihre Mutter hat vollstes Vertrauen zu Ursula, die sowohl körperlich einen stabilen Eindruck macht als auch charakterlich nicht auf den Mund gefallen ist. Sie versprüht Charme, zeigt aber immer die nötige Voraussicht, wenn Gefahr droht. Also darf die Kleine gehen und holen, was die Mutter braucht. Ursula schlendert dann zum Milchladen, kauft Butter und Käse, holt in der Bäckerei Brot und Brötchen und muss insbesondere oft zum Kolonialwarenladen laufen, um Tabak zu besorgen, denn Martha raucht wie ein Schlot. Ursulas Vater tut das nicht, er liebt die frische Luft und das Draußensein wie seine älteste Tochter. Wenn Fritz Buttgereit in der Stadt ist in seiner schicken neuen Soldatenuniform, unternimmt er aufregende Ausflüge mit seinen Kindern, zum Beispiel in den Tierpark, um die kleinen Eisbären und den Elefanten Jenny zu besuchen. Im Winter nimmt er seine Söhne und Töchter mit auf den gefrorenen Pregel zum Schlittschuhlaufen. »Wir haben auch mal mit ihm einen Ausflug an die Ostseeküste gemacht und einen schönen Strandtag verbracht«, erinnert sich Ursula. »Einmal war ich mit meinem Papa alleine auf einer Reise mit dem Zug nach Gumbinnen, wo er einen Kriegskameraden besucht hat. Mein Vater hatte mich gerne dabei. Er hatte mich gerne.«

Die 1911 geborene Martha Buttgereit hat lange dunkle Haare, ist schlank und wirkt trotz ihres verhärmten Gesichtsausdrucks auf Männer attraktiv. Sie spielt nicht gerne mit ihren Kindern, liest ihnen nicht vor, sitzt lieber kettenrauchend und Kaffee trinkend in der Stube und hört Schallplatten auf ihrem Koffergrammofon. Manchmal singt sie inbrünstig ihre Lieblingslieder von Hans Albers oder Zarah Leander mit. Martha ist mit einigen Talenten gesegnet. Sie besitzt eine außergewöhnliche Singstimme und ist außerdem leidenschaftliche Schwimmerin und Taucherin. Dafür lächelt sie kaum. Allerdings gibt es durchaus Tage in ihrem Leben, an denen sie für ihre Verhältnisse nett zu ihren Mitmenschen und lieb zu ihren Familienangehörigen ist, das wohldosiert und übers Jahr verteilt. Wenn die Kinder im Sommer lange draußen gewesen sind, wäscht sie ihnen liebevoll den Straßenteer von den Füßen. Kommen sie im Winter spät nach Hause, kocht sie ihre so geliebte heiße Milchsuppe mit Mehlklunkerchen. Als Ursula und Heinz eines Tages in der Schrebergartenanlage eine Flasche ausgraben, auf deren Etikett das Wort Äther steht, sie es für etwas zu trinken halten und es stolz der Mutter mitbringen, schnappt sie sich den Behälter und läuft damit in den Schrebergarten. Dort staucht sie die Soldaten, die es in der Erde gebunkert haben, so zusammen, dass die wie auf Kommando alles beiseiteräumen, was für herumspielende Kinder gefährlich sein kann.

Seit Kriegsbeginn kommen bei der ohnehin armen Arbeiterfamilie Buttgereit immer seltener Fleisch und Obst auf den Tisch, dafür gibt es mittags fast täglich Kohl- und Möhrensuppe sowie Kartoffeln. Morgens erhalten die Kinder statt Bienenhonig jetzt Kunsthonig aufs Brot. Bis auf den Umstand, dass Waren knapper werden und Männer an die Front ziehen und dort sterben, bemerken jedoch die wenigsten Königsberger in den ersten Jahren etwas vom Krieg. Zwar werden auch an der Pregelmündung Luftschutzkeller angelegt und finden regelmäßig Luftschutzübungen statt, aber zum Ernstfall kommt es in Königsberg lange nicht. Während im Westen des Reiches täglich schon Bomben fallen, bleibt Ostpreußen bis in den Sommer 1944 wie eine Oase der Ruhe. Allen ist versprochen worden, dass es in Deutschlands Kornkammer sicher ist und bleiben wird und amerikanische und englische Flugzeuge die Hauptstadt aufgrund der langen Distanz sowieso nicht mit Bombardements überziehen könnten. Noch vertrauen die meisten Bürger auf das Wort der Naziführung, und im Fall des Falles wollen sie auf die Treffsicherheit der Königsberger Luftwaffenhelfer setzen. An der Sorglosigkeit ändern selbst die fünf Bombenangriffe nichts, die die sowjetischen Luftstreitkräfte zwischen Sommer 1941 und Frühjahr 1943 fliegen, selbst wenn dabei zwar wenige, aber immerhin Menschen ihr Leben lassen. Größere Zerstörungen richten sie nicht an, und deshalb breitet sich auch kein Gefühl der Panik aus. Die Kaianlagen werden beschädigt, die Shell-Tankstelle an der Hindenburgstraße 9 stürzt ein, an der Hafenallee 44–46 werden Wohnhäuser zerstört.34

Eine gewachsene ostpreußische Gelassenheit steckt das alles locker weg. Während das Ruhrgebiet längst in Trümmern liegt, Städte wie Köln oder Hamburg fürchterliche Infernos hinter sich haben, das Deutsche Afrikakorps kapituliert hat und selbst die Ostfront schon um Hunderte Kilometer zurückgedrängt worden ist, sind die größten Kriegssorgen der Königsberger bis zum Sommer 1944 ganz andere. Sie kreisen um Nahrungsmittelknappheit, gestiegene Jugendkriminalität, die vermehrte Anwesenheit von Kriegsgefangenen oder das sittliche Betragen allein lebender Kriegerfrauen.35 Das Reichsjustizministerium vermerkt mit Sorge, dass Frauen zu häufig den Friseur besuchen und sich vielfach mit französischen Kriegsarbeitern einlassen. Ansonsten jedoch scheint alles friedlich. Im heißen Frühsommer 1944 spielen am Unteren Schlossteich wie gewohnt die Streicher eines Orchesters ihre Melodien auf der Terrasse des Cafés der Confiserie Schwermer, in der das beste Marzipan und der leckerste Baumkuchen der Welt hergestellt werden. Die Musikstücke mischen sich mit dem Geschrei der Kinder, die in der Badeanstalt am Oberen Schlossteich toben und planschen. Die Straßenbahnen der Stadt fahren ohne Unterbrechung, wie eh und je bringen Züge zu Beginn der Sommerferien Königsberger Familien zur Erholung an die idyllische Samland-Küste oder zu den pittoresken Fischerdörfern der Kurischen Nehrung.

Ursula denkt überhaupt nicht an Krieg. Zwar sind nationalsozialistische Symbole und Umtriebe auf den Straßen allgegenwärtig, aber sie kennt nichts anderes und wie die meisten Menschen sieht sie darin keine Gefahr. Sie schaut gerne zu, wenn die kleinen Pimpfe mit ihren Fähnchen singend durch ihre Straße marschieren oder sie beim Spazierengehen den Hitlerjungen in braunen Hemden begegnet, die große, bildschöne Bernhardinerhunde, an deren Halsbändern Sammelbüchsen für das Winterhilfswerk hängen, auf dem Gehweg umherführen. Selbst Bombenangriffe hat Ursula bis dahin weder gesehen noch gehört, und Berichte darüber liest sie nicht. Andere Hinweise auf den Krieg, wie beispielsweise die an mittlerweile jeder Litfaßsäule plakatierten Poster mit der sonderbaren Nachricht »Der Feind hört mit«, kann sie nicht deuten.