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Der zerschlagene Rumpf eines riesigen Schiffes ragt aus der Gischt des sturmumtosten Meers. An Bord befindet sich nur noch ein Mann - halb wahnsinnig und allein arbeitet er ohne Schlaf und Verpflegung, um das Schiff vor dem Untergang zu retten …
John Sands stößt mit seinem Bergungskutter auf dem Ärmelkanal fast mit einem manövrierunfähigen Frachtschiff zusammen. Als er das scheinbar verlassene Schiff entert, findet er dort nur den ersten Offizier Gideon Patch vor, der eine Verschwörung der Besatzung für das Unglück verantwortlich macht. Sands will dem Mann helfen und gerät in eine Geschichte aus Sabotage und Versicherungsbetrug, die sich gefährlich zuspitzt …
Der Roman wurde als "Die den Tod nicht fürchten" mit Gary Cooper und Charlton Heston verfilmt.
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Seitenzahl: 489
Der zerschlagene Rumpf eines riesigen Schiffes ragt aus der Gischt des sturmumtosten Meers. An Bord befindet sich nur noch ein Mann – halb wahnsinnig und allein arbeitet er ohne Schlaf und Verpflegung, um das Schiff vor dem Untergang zu retten…
John Sands stößt mit seinem Bergungskutter auf dem Ärmelkanal fast mit einem manövrierunfähigen Frachtschiff zusammen. Als er das scheinbar verlassene Schiff entert, findet er dort nur den ersten Offizier Gideon Patch vor, der eine Verschwörung der Besatzung für das Unglück verantwortlich macht. Sands will dem Mann helfen und gerät in eine Geschichte aus Sabotage und Versicherungsbetrug, die sich gefährlich zuspitzt…
Der Roman wurde als »Die den Tod nicht fürchten« mit Gary Cooper und Charlton Heston verfilmt.
Ralph Hammond Innes (* 15. Juli 1913 in Horsham; † 10. Juni 1998 in Kersey) war ein englischer Schriftsteller, der über 30 Romane sowie Kinder- und Reisebücher schrieb. Er ließ sich auf seinen Weltreisen zu Abenteuergeschichten inspirieren, die häufig in rauer Natur und auf hoher See spielen. Viele seiner Romane wurden verfilmt, so auch sein Werk »The Wreck of the Mary Deare«, das mit Gary Cooper und Charlton Heston in Deutschland unter dem Titel »Die den Tod nicht fürchten« bekannt wurde.
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Hammond Ines
Das Wrackder Mary Deare
Aus dem Englischen übersetztvon Werner Peterich
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ERSTER TEIL. Das Wrack
ZWEITER TEIL. Die Verhandlung
DRITTER TEIL. Das Plateau des Minquiers
Impressum
Ich war abgespannt und fror, und etwas bedrückt war ich auch. Ein Widerschein der roten und grünen Positionslaternen geisterte fahl in den Segeln. Das war aber auch alles, was ich sehen konnte, denn ringsum herrschte tiefe Finsternis, aus der nichts als das träge Rauschen der Wellen an mein Ohr drang. Ich brachte meine erstarrten Beine in eine andere Lage und lutschte an einem Malzbonbon. Die Seehexe dümpelte leicht, die Masten schwankten gespenstisch hin und her, und die Segel flappten bei jeder Bewegung. Der Wind war so flau, dass er das Boot kaum vorwärtstrieb, doch die durch die Märzstürme aufgewühlte Dünung hatte immer noch Kraft, und ich war mir trotz meiner Benommenheit die ganze Zeit darüber klar, dass dies nur die Ruhe vor dem Sturm sei. Der Sechs-Uhr-Wetterbericht hatte nicht gerade ermutigend geklungen: aufkommende Winde bis zu Sturmstärke im Seegebiet von Rackall, Shannon, Sole und Finisterre. Hinter dem Kompasshauslicht streckten sich die verschwommenen Umrisse des Bootes; ich konnte sie in der Dunkelheit mehr ahnen als sehen. Wie oft hatte ich nicht von diesem Augenblick geträumt! Aber es war März, und nachdem wir nun schon fünfzehn Stunden über den Kanal schipperten, war die erste Begeisterung darüber, ein eigenes Boot zu besitzen, verflogen; außerdem ließ die Kälte einfach keine Freude mehr darüber aufkommen. Draußen in der Finsternis schimmerte es weiß auf: eine Welle brach sich schäumend, klatschte gegen die Gilling, dass mir der Gischt ins Gesicht spritzte, und ergoss sich weißbrodelnd übers Heck, um dann langsam in der Nacht zu verlaufen. Herrgott, war es kalt! Kalt und klamm obendrein – und nicht ein einziger Stern am Himmel.
Die Tür des Kartenhauses sprang auf und gab mir den Blick in die Kabine frei; Mike Duncans durch das Ölzeug noch unförmiger wirkende Gestalt erschien mit zwei dampfenden Bechern im hell erleuchteten Viereck. Dann schlug die Tür wieder zu, die freundliche Welt unten verschwand wie ein Spuk, und um mich herum herrschten wieder Nacht und die See. »’ne Tasse heiße Suppe?« Jäh und gespenstisch tauchte Mikes lustiges, sommersprossiges Gesicht aus dem Dunkel in das trübe Licht des Kornpasshauses. Aus den Falten seines wollenen Kopfschützers heraus lächelte er mir zu und reichte mir den Becher. »Direkt ’ne Wohltat nach der stickigen Kombüse«, sagte er, und dann war sein Lächeln mit einem Mal wie ausgelöscht. »Himmel, was ist denn das?« An meiner linken Schulter vorbei starrte er wie gebannt auf einen Punkt backbord achteraus. »Das kann doch unmöglich der Mond sein, oder?«
Ich fuhr herum. Ganz weit in der Ferne, wie es schien, kroch ein kaltes, verschwommen-grünliches Leuchten herauf, eine Art Spektrallicht, und im selben Augenblick schössen mir siedendheiß sämtliche Schauergeschichten durch den Kopf, die ich jemals von alten Seebären gehört hatte.
Währenddessen nahm das Licht stetig an Leuchtkraft zu, unirdisch phosphoreszierend – ein grausiges Leuchten, wie von einem aufgedunsenen Glühwurm. Unversehens verdichtete es sich, verhärtete sich zu einem grünen Stecknadelkopf, und ich schrie Mike zu: »Den Scheinwerfer … rasch!« Es war die Steuerbordlampe eines großen Dampfers, der haargenau auf uns zugebraust kam. Schon tauchten – trübe und gelblich – die Decklichter auf, und dann drang auch leise und dumpf das rhythmisch-gespannte Stampfen der Maschinen an unser Ohr.
Der Strahl des Scheinwerfers stieß in die Nacht hinaus, und uns blendete der Widerschein von einer dicken Nebelwand, die uns umgab. Ohne dass ich es gemerkt hatte, waren wir in der Dunkelheit in dichten Seenebel hineingelaufen. Schwach schimmerte im Lichtkegel das Weiß einer Bugwelle, und dann traten die schattenhaften Umrisse des Bugs selbst aus dem Ununterscheidbaren heraus. Einen Augenblick lang konnte ich die ganze vordere Hälfte des Dampfers erkennen. Wie ein Geisterschiff tauchte er aus dem Nebel auf, und schon ragte unheildrohend und unversöhnlich der fühllose Bug hoch über uns. Da wirbelte ich das Steuerrad herum, es kam mir vor, als warte ich eine Ewigkeit darauf, dass die Seehexe auf mein Manöver reagierte, der Klüver sich wieder füllte und den Vorsteven herumdrückte – und dabei kam das drohende Rauschen der Bugwelle immer näher. »Er rammt uns! Himmel, er rammt uns!« Noch heute habe ich den Klang von Mikes angstvoll sich überschlagender Stimme im Ohr. Er gab Blinksignale mit dem Aldis, wobei er die Brücke selbst anstrahlte. Die ganzen Aufbauten waren sekundenlang hell erleuchtet, die Glasscheiben warfen das Licht grell zurück. Immer näher kam der turmhoch ragende Koloß, donnerte pausenlos mit mindestens Acht Knoten und ohne von seinem Kurs abzuweichen direkt auf uns zu.
Krachend schwangen Groß- und Besansbaum über. Der Klüver stand jetzt back. So ließ ich ihn einen Augenblick, stand da und beobachtete fieberhaft, wie der Bug langsam – wie im Zeitlupentempo, schien mir – vom Wind abfiel. Von der Spitze des langen Bugspriets bis zur Höhe des Großmastes war jetzt jede Einzelheit der Seehexe in den grünlichen Schimmer der Steuerbordlaterne hoch über uns getaucht. Ich fierte die Backbordklüverschot, holte die Steuerbordschot ein, sah, wie das Segel sich füllte – da schrie mir Mike zu: »Pass auf! Festhalten!« Im selben Augenblick hörte ich es auch schon brüllen, und eine ganze Wand schäumenden Wassers ging auf unser Boot nieder. Es schwemmte über das Cockpit, riss mich fast um, sodass ich Mühe hatte, das Steuerrad nicht fahren zu lassen. Die Segel schwenkten wild hin und her und legten sich so weit auf die Seite, dass die Spitzen von Besan und Großsegel für einen Augenblick im Rücken einer Welle verschwanden, während sich viele Tonnen Wasser über unser Deck ergossen; haarscharf glitt die Bordwand des Dampfers an uns vorbei.
Langsam richtete sich die Seehexe wieder auf, und weißschäumend lief das Wasser ab. Ich hatte das Ruder in der Gewalt, und Mike, der sich immer noch an die Pardune klammerte, fluchte, so laut er konnte. Trotzdem gingen seine Worte im dumpfen Gestampfe der Schiffsmaschinen fast unter. Und dann kam ein anderes Geräusch aus der Nacht – das wuchtige Schlagen einer zum Teil aus dem Wasser herausragenden Schiffsschraube.
Ich schrie Mike eine Warnung zu, doch er hatte die Gefahr bereits erkannt und den Scheinwerfer wieder angeschaltet, dessen grelles Licht auf dick von Rost verkrustete Eisenplatten prallte und uns – hoch über dem Wasser – die mit Tang überzogene Ladewasserlinie zeigte. Darüber wölbten sich die Platten zum Heck, und wir konnten sehen, wie die Schiffsschraube die Wogen peitschte und das Wasser zu brodelndem Schaum schlug. Die Seehexe erbebte, die Segel hingen schlaff herab. Dann rutschte sie den Rücken einer Woge hinunter, geradewegs in den Hexenkessel hinein, und die Schiffsschraube wirbelte so nahe an unsere Backbordseite, dass der Schaum über das Kajütendeck geschleudert wurde und bis zum Großsegel hinaufspritzte.
All das dauerte nur wenige Augenblicke, dann entfernte sich das hohe Heck, rasten die Schrauben in der Dunkelheit vor unserem Bugspriet, und wir trieben im aufgewühlten Kielwasser. Der Scheinwerfer streifte den Namen des Dampfers – Mary Deare, Southampton –. Noch ganz benommen starrten wir zu der von Rostwasserstreifen halb verwischten Beschriftung hinauf, während das Heck langsam seine scharfen Umrisse verlor, um plötzlich ganz von der Nacht verschluckt zu werden. Nur das Stampfen der Maschinen war noch zu hören, bis auch dies immer schwächer wurde und endlich völlig verstummte. Ein schwacher Brandgeruch haftete noch eine Weile in der feuchten Luft. »Hunde!« schrie Mike, der jetzt seine Stimme wieder fand, »Hunde!« Immerzu wiederholte er dies eine Wort.
Die Tür des Kartenhauses wurde von innen aufgerissen, und eine Gestalt trat heraus. Es war Hal. »Alles in Ordnung mit euch?« Seine etwas zu ruhige und zu heitere Stimme zitterte leicht.
»Haben Sie denn nicht gesehen, was passiert ist?« schrie Mike ihm zu.
»Doch, ich hab’ es gesehen«, erwiderte Hal.
»Sie müssen uns erkannt haben. Ich habe den Scheinwerfer direkt auf die Brücke gerichtet. Wenn sie Ausguck gehalten hätten …«
»Ich glaube nicht, dass sie den Ausguck besetzt hatten. Ja, ich glaube nicht einmal, dass überhaupt jemand auf der Brücke war.«
Er sagte das so ruhig hin, dass ich im Augenblick gar nicht begriff, was für eine Ungeheuerlichkeit in seinen Worten lag.
»Was soll das heißen … kein Mensch auf der Brücke?«
Er stieg aufs Deck herauf. »Es war kurz bevor die Bugwelle uns traf. Ich wusste, dass irgendetwas nicht in Ordnung war, kam gerade noch bis zum Kartenhaus und folgte durchs Fenster dem Schein des Aldis. Sie hatten ihn ja direkt auf die Brücke gerichtet«, wandte er sich an Mike. »Ich glaube nicht, dass dort oben jemand war. Jedenfalls hab’ ich keinen Menschen entdecken können.«
»Großer Gott!« rief ich. »Weißt du denn, was du da sagst?«
»Ja, natürlich weiß ich das.« Er sagte das in bündigem Ton – ganz der ehemalige Offizier. »Merkwürdig, nicht?«
Er war nicht der Mensch, leichtfertig Behauptungen aufzustellen. H.A. Lowden – von all seinen Freunden Hal genannt – war ehemaliger Artillerist, Oberst im Ruhestand, der in den Sommermonaten alle möglichen Ozeanregatten segelte, also etwas vom Handwerk verstand.
»Wollen Sie damit sagen, dass das Schiff ohne Führung gelaufen ist?« Mikes Stimme klang verwundert.
»Ich weiß es nicht«, entgegnete Hal. »Es klingt unglaublich, aber ich kann nur immer wieder sagen, dass ich das Brückeninnere einen Augenblick völlig klar überblicken konnte, und soweit ich festzustellen vermochte, war kein Mensch darin.«
Wir schwiegen. Wahrscheinlich waren wir alle drei von der Vorstellung völlig überwältigt. Der Gedanke, dass ein so großes Schiff ohne Rudergänger durch die von Klippen verseuchten Gewässer vor der französischen Küste pflügte … Nein, es war absurd!
Mike, der sich offenbar wieder in der Gewalt hatte, durchbrach als erster das Schweigen: »Was ist denn mit den Suppenbechern passiert?« Nochmals schaltete er den Aldis ein, und da lagen die Becher auf dem Boden des Cockpits, das fußhoch mit Wasser vollgeschlagen war. »Da muss ich ja wohl noch ’ne Suppe aufsetzen, was?« Und dann, zu Hal gewandt, der gegen das Kartenhaus gelehnt dastand: »Wie ist es mit Ihnen, Oberst? Für Sie auch ’n Becher Suppe?«
Hal nickte. »So was lehne ich niemals ab.« Er blickte Mike nach, bis dieser unten verschwunden war, und dann wandte er sich an mich. »Jetzt, wo wir allein sind, kann ich’s ja ruhig zugeben«, sagte er, »das war schon ein scheußlicher Augenblick. Wie ist es nur möglich, dass wir genau vor seinen Bug gelaufen sind?«
Ich setzte ihm auseinander, dass der Dampfer von uns aus gesehen in Lee gelegen habe und wir daher seine Maschinen nicht hätten hören können. »Das erste, was wir sichteten, war die Steuerbordlampe, die aus dem Nebel herauskam.«
»Keine Nebelhörner?«
»Zumindest haben wir keine gehört.«
»Merkwürdig!« Einen Augenblick stand er aufgereckt vor dem Schein der Backbordseitenlampe, dann kam er zu mir herüber und setzte sich auf das Süll. »Hast du mal ’n Blick aufs Barometer geworfen?«
»Nein«, sagte ich. »Wie steht es?«
»Es fällt.« Er hatte die langen Arme fröstelnd gekreuzt und zog seinen dicken Seemannspullover zu Recht. »Weißt du, dieser Sturm kann nämlich ziemlich plötzlich über uns herfallen.« Ich sagte nichts; er zog seine Pfeife aus der Tasche und begann zu rauchen. »Offen gestanden, John, mir ist nicht gerade behaglich zumute.« Die Ruhe, mit der er das sagte, verlieh seinen Worten nur umso mehr Nachdruck. »Wenn der Wetterbericht Recht behält und der Wind auf Nordwesten dreht, liegt die Küste genau in Lee. Ich hasse Stürme, und ich hasse es, Leeküsten vor mir zu haben, besonders dann, wenn es die Küsten der Kanal-Inseln sind.«
Ich dachte, er wollte, dass ich Kurs auf die französische Küste nähme und schwieg daher; ich saß einfach da, starrte auf die Kompassrose, spürte, wie sich alles in mir gegen seine Wünsche versteifte und war doch gleichzeitig auch ein wenig bange.
»Es ist ein Jammer mit dem Anlasser«, murmelte er. »Wenn der nicht kaputt wäre …«
»Warum bringst du das gerade jetzt aufs Tapet?« Dies war nämlich der einzige wunde Punkt an der Seehexe. »Du hast immer behauptet, du verachtest Motorsegler.«
Mit seinen blauen Augen, auf denen die Reflexe vom Kompasslicht tanzten, blickte er mir offen ins Gesicht. »Ich wollte doch nur sagen, dass wir den Kanal schon halb überquert hätten, wenn der Anlasser nicht im Eimer wäre«, meinte er gutmütig. »Dann sähe die Lage jetzt etwas anders aus.«
»Wie dem auch sei, ich gehe nicht auf Gegenkurs.«
Er nahm die Pfeife aus dem Mund, als ob er etwas sagen wolle, schob sie dann aber doch zurück und saß nur da und starrte mich mit seinen wachsamen, blauen Augen an.
»Der tiefere Grund ist ja doch nur, dass du bisher immer auf hochfeudalen Jachten gesegelt bist!« Eigentlich hatte ich ihn nicht verletzen wollen, aber ich war wütend, und meine Nerven hatten sich seit dem Zwischenfall mit dem Dampfer noch nicht beruhigt.
Es herrschte peinliches Schweigen. Endlich hörte er auf, an seiner Pfeife zu ziehen. »Ich möchte ja nur, dass wir heil ’rüberkommen«, sagte er ruhig. »Die Takelage ist morsch, das Tauwerk halb vermodert, und die Segel …«
»Das haben wir in Morlaix alles überprüft«, schnitt ich ihm brüsk das Wort ab. »Schon viele Jachten haben in wesentlich schlechterem Zustand als die Seehexe den Kanal überquert.«
»Aber nicht im März und bei Sturmwarnung. Und nicht ohne Motor.« Er erhob sich, ging nach vorn bis zum Mast, bückte sich und zerrte an irgendetwas herum. Es gab ein Geräusch, als ob Holz splitterte; dann kam er zurück und warf mir ein Stück von der Reling vor die Füße. »Da, das kommt von der Bugwelle.« Er setzte sich wieder neben mich. »Der Kahn ist nicht stark genug, John. Er ist nicht überholt worden, und wer weiß, ob nicht der Rumpf, nachdem er zwei Jahre vor der französischen Küste im Schlick gelegen hatte, genauso verrottet ist wie das Tauwerk.«
Ich hatte mich mittlerweile gefangen und sagte: »Der Rumpf ist in Ordnung. Er muss kalfatert werden und ein paar Planken ausgebessert, aber das ist auch alles. Ich habe jeden einzelnen Quadratzentimeter mit dem Messer untersucht, ehe ich das Boot gekauft habe. Das Holz ist tadellos in Ordnung.«
»Und wie steht es mit den Spanten?« Er hob die rechte Augenbraue ein wenig in die Höhe. »Das kann doch nur ein Fachmann beurteilen, ob die Spanten …«
»Aber ich hab’ dir doch gesagt, dass ich sie untersuchen lassen werde, sobald wir in Lymington sind.«
»Schon, aber was hilft uns das jetzt? Wenn dieser Sturm plötzlich losbricht … Ich bin ein vorsichtiger Segler«, fügte er hinzu. »Ich liebe die See, aber ich weiß auch, dass man immer auf der Hut vor ihr sein muss.«
»Ich kann es mir nun einmal nicht leisten, vorsichtig zu sein«, erwiderte ich, »jedenfalls im Augenblick nicht.«
Ich hatte, zusammen mit Mike, erst vor kurzem eine Bergungsgesellschaft gegründet, und jeder Tag, den wir unser Boot später nach England brachten, war ein verlorener Tag für die Bergungssaison. Das wusste Hal ganz genau.
»Ich meine ja nur, du solltest einen einzigen Strich von deinem direkten Kurs abhalten«, sagte er. »Schoten dichtgeholt, können wir gerade Hanois auf Guernsey anliegen. Wenn der Wind schralt, könnten wir unter Umständen sogar im Hafen von St. Peter Port Schutz suchen.«
Natürlich … ich fuhr mir mit der Hand über die Stirn. Warum hatte ich nicht schon früher gemerkt, worauf er hinauswollte! Aber ich war hundemüde, und der Zwischenfall mit dem Dampfer hatte mich bös mitgenommen. Zu sonderbar, wie das Schiff stur auf uns zugedampft war!
»Es nützt eurer Bergungsgesellschaft gar nichts, wenn das Boot hops geht.« Hals Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Er hatte mein Schweigen für Ablehnung genommen. »Und dann, ganz abgesehen von der Takelage, sind wir auch nicht stark genug bemannt.«
Das stimmte. Wir waren nur zu dritt, denn unser viertes Besatzungsmitglied, Ian Baird, lag seit Morlaix seekrank in der Koje und fiel somit aus. Eine Crew von drei Mann auf einem Vierzigtonner, das war normalerweise tatsächlich zu wenig. »Na schön«, erklärte ich. »Dann lass uns Kurs auf Guernsey nehmen.«
Er nickte, als habe er schon längst gewusst, dass ich nachgeben würde. »Dann steuere Nord 65° Ost.«
Ich legte das Ruder nach Backbord herum und beobachtete, wie die Kompassrose auf den neuen Kurs einschwang. Hal musste ihn kurz vor dem Zwischenfall mit dem Dampfer im Kartenhaus abgesetzt haben. »Ich nehme an, du hast auch die Distanz herausgenommen, ja?«
»Vierundfünfzig Meilen. Und bei diesen Windverhältnissen«, fügte er hinzu, »schaffen wir es nicht vor Mittag.«
Wieder peinliches Schweigen. Ich konnte hören, wie er an seiner leeren Pfeife zog, blickte jedoch nicht zu ihm hinüber, sondern hielt die Augen ständig auf den Kompass gerichtet. Eine Blamage, dass ich nicht selbst darauf gekommen war, St. Peter Port anzulaufen! Aber es hatte soviel Arbeit gekostet, das Boot in Morlaix seeklar zu machen … ich hatte den Kopf so voll gehabt, dass ich auch jetzt kaum an etwas anderes denken konnte.
»Dieser Dampfer!« Ein wenig zögernd kam seine Stimme aus der Dunkelheit, ein behutsamer Versuch, mein Schweigen zu brechen. »Zu merkwürdig«, murmelte er. »Weißt du, wenn nämlich wirklich kein Mensch an Bord war …« Er brach ab und meinte dann halb scherzhaft: »Das wäre eine Bergungsaufgabe gewesen, die dich für dein ganzes Leben saniert hätte.« Ich spürte den ernsten Unterton in dem, was er sagte, doch als ich ihn ansah, zuckte er nur mit den Schultern und lachte. »Ach, ich glaube, ich haue mich wieder hin.« Er stand auf, und sein ›Gute Nacht‹ drang wie ein fernes Echo aus der schwarzen Türöffnung des Kartenhauses zu mir herüber.
Bald darauf brachte mir Mike einen Becher heiße Suppe. Er blieb, bis ich ausgetrunken hatte und erging sich in wilden Vermutungen über die Mary Deare. Dann verließ auch er mich, und die pechschwarze Nacht hüllte mich wieder ganz ein. Sollte es möglich sein, dass tatsächlich niemand auf der Brücke gewesen war? Ein unbemannter Dampfer, der blindlings durch den Englischen Kanal raste! Nein, das war zu phantastisch! Und doch, wie ich so allein und fröstelnd auf meinem Posten stand, nichts als den hin- und hertanzenden fahlen Schimmer in den Segeln vor Augen und das monotone Tropfen des an der Leinwand zu Wasser kondensierten Nebels im Ohr – da schien mir alles möglich.
Um drei Uhr löste Hal mich ab, ich schlief zwei Stunden lang und träumte von nichts anderem als von drohend aufragenden, rostigen Bügen, die sich langsam, unendlich langsam über uns senkten, um uns in die Tiefe zu schicken. Schweißgebadet und völlig verstört wachte ich auf, lag eine Weile da und dachte darüber nach, was Hal gesagt hatte. Nein, es müsste wirklich nicht mit rechten Dingen zugehen, wenn wir, ohne es darauf abgesehen zu haben, dazu kämen, ein Schiff zu bergen, ehe wir überhaupt … Doch ich hatte den Gedanken noch gar nicht zu Ende gedacht, da war ich auch schon wieder eingeschlafen. Und als ich mich dann jählings an den Schultern gerüttelt fühlte und in der trüben, alles Denken tötenden Stunde vor Morgengrauen ans Ruder stolperte, hatten sich diese Bilder längst verwischt, und die bittere Kälte ließ keinen Gedanken an die Mary Deare mehr aufkommen.
Um zehn Minuten vor sieben saßen Hal und ich im Kartenhaus, um den Wetterbericht zu hören. Er begann mit einer Sturmwarnung für die westliche Kanalzone, und für unser Gebiet, die Zone von Portland, lautete er: »Anfangs nördliche Winde, langsam auf Nordwest drehend und bis zu Sturmstärke ansteigend.« – Hal blickte mich an, sagte aber kein Wort. Das war auch nicht nötig. Ich stellte unsere Position fest und gab Mike Anweisung für den Kurs auf St. Peter Port.
An diesem Morgen herrschte eine eigenartige Atmosphäre. In den höheren Lagen war der Wind böig, und als wir unser Frühstück beendet hatten, jagten die Wolken mit ziemlicher Geschwindigkeit über den Himmel. In den unteren Lagen jedoch war der Wind recht flau, sodass wir trotz Großsegel, Besan und Ballon nur mit drei Knoten durchs Wasser krochen und die Seehexe träge rollte. Im Übrigen war es diesig und die Sicht nicht weiter als zwei Meilen. Wir sprachen nur das Nötigste. Ich glaube, dass wir alle drei uns nur zu sehr der Gefahr bewusst waren, die auf uns lauerte. St. Peter Port war immer noch dreißig Meilen entfernt. Das Schweigen und das Warten auf Wind waren niederdrückend. »Ich werde nochmals unsere Position feststellen«, sagte ich. Hal nickte, als habe er gerade den gleichen Gedanken gehabt.
Aber über den Karten zu brüten, half auch nichts. Wenn meine Berechnung stimmte, waren wir sechs Meilen Nord-Nord-West von den Roches Douvres, jener Ansammlung von Felsen und Unterwasserklippen, welche die westlichen Ausläufer der Kanalinseln bilden. Dennoch war ich mir nicht ganz sicher; mein Koppelbesteck war zu sehr von Tide und Abtrift abhängig.
Und dann machte Mike eine Beobachtung, die meine ganzen Berechnungen über den Haufen zu werfen drohte. »Da ist ein Felsen zwei Strich steuerbord voraus!« rief er mir zu. »Scheint ziemlich hoch aus dem Wasser zu ragen.«
Ich griff nach dem Fernglas und schoss aus dem Kartenhaus hinaus. »Wo?« Mein Mund war plötzlich hart und trocken. Wenn das die Roches Douvres waren, mussten wir beträchtlich weiter versetzt worden sein als ich angenommen hatte. Und was sollte es sonst sein? Zwischen den Roches Douvres und Guernsey war nichts als offene, freie See. »Wo?« stieß ich noch einmal hervor.
»Dort drüben!« Ich folgte Mikes ausgestrecktem Arm.
Doch so sehr ich mich auch anstrengte, ich konnte nichts sehen. Die Wolkendecke war im Augenblick etwas aufgerissen, ein fahles Sonnenlicht wurde von der ölglatten See zurückgeworfen und sogleich wieder von der feuchtigkeitsgeschwängerten Atmosphäre aufgesogen. Ein Horizont war nicht zu erkennen, Wasser und Luft schienen weit draußen ineinander überzugehen. Das Glas vor den Augen, versuchte ich den Dunst zu durchdringen. »Ich kann ihn nicht entdecken«, sagte ich. »Wie weit ungefähr?«
»Ich weiß nicht, jetzt hab’ ich ihn auch aus den Augen verloren. Aber weiter als eine Meile war er bestimmt nicht entfernt.«
»Bist du sicher, dass es ein Felsen war?«
»Ich glaube schon. Was sollte es sonst sein?« Wieder suchte er mit zusammengekniffenen Augen die blinkende See ab. »Es war ein großer Felsen mit einer Art Turm oder Spitze in der Mitte.«
Der Leuchtturm von Roches Douvres! Ich warf Hal, der am Ruder stand, einen raschen Blick zu. »Wir müssen den Kurs ändern«, sagte ich. »Die Tide versetzt uns mindestens zwei Knoten.« Meine Stimme klang erregt. Wenn es wirklich die Roches Douvres waren und der Wind noch mehr abflaute, konnten wir geradewegs auf die Riffe zugetrieben werden.
Er nickte und drehte das Steuerrad. »Du musst mindestens fünf Meilen auf deine Kopplungsberechnung aufschlagen.«
»Ich weiß.« Er runzelte die Stirn. Den Südwester hatte er abgenommen, und sein abstehendes graues Haar verlieh seinem Gesicht etwas Überrascht-Koboldhaftes. »Ich nehme an, dass du dich als Nautiker ein bisschen unterschätzt, aber du bist der Käpt’n. Wie viel soll ich höher liegen?«
»Zwei Striche wenigstens.«
»Es gibt eine alte Regel«, murmelte er. »Im Zweifelsfall soll der kluge Seemann so handeln, als ob seine Kopplungsberechnung doch richtig sei.« Halb spaßig und halb ernst schob er seine buschigen Augenbrauen in die Höhe und sah mich an. »Vergiss nicht, dass wir an Guernsey nicht vorbeilaufen dürfen.«
Eine gewisse Unsicherheit bemächtigte sich meiner. Möglich, dass es die übermäßige Anspannung der vergangenen Nacht war, auf jeden Fall war ich mir nicht sicher, was im Augenblick das Beste für uns wäre. »Hast du ihn gesehen?« fragte ich Hal.
»Nein.«
Ich wandte mich an Mike und fragte ihn nochmals, ob es auch tatsächlich ein Felsen gewesen sei.
»Wie soll man das bei dieser Sicht mit Sicherheit sagen?«
»Aber dass du etwas gesehen hast, das steht fest?«
»Felsenfest. Und in der Mitte war eine Art Turm.«
Wie gefiltert brach ein Sonnenstrahl durch die diesige Atmosphäre und überzog das Cockpit mit einem verschämten Glanz. »Dann müssen es die Roches Douvres sein«, sagte ich entmutigt vor mich hin.
»Da!« rief Mike. »Dort ist er wieder … da drüben!«
Ich folgte mit den Augen seinem ausgestreckten Arm. Weit draußen, dort wo die Sicht aufhörte, traten, matt überhaucht vom bleichen Sonnenlicht, die Umrisse eines flachen Felsens mit einem Leuchtturm in der Mitte aus dem Dunst heraus. Gleich darauf hatte ich ihn im Glas, aber es war nichts weiter als ein unbestimmtes, verschwommenes Gebilde … ein rötlicher Fleck, der da durch den goldenen Dunst hindurchschimmerte. Mit einem Satz war ich im Kartenhäuschen, nahm die Karte vor und starrte auf die Markierungen der Roches Douvres. Eine volle Meile nordwestlich des dreißig Meter hohen Leuchtturms waren Unterwasserfelsen angegeben. Wir mussten uns unmittelbar am Rande dieser gefährlichen Klippen befinden. »Steuer Nord«, schrie ich Hal zu, »dass wir so schnell wie möglich von hier wegkommen.«
»Aye, aye, Käpt’n.« Er wirbelte das Ruder herum und rief Mike zu, die Schoten zu trimmen. Als ich aus dem Kartenhaus kam, blickte er sich über die Schulter nach dem Leuchtfeuer um. »Weißt du«, meinte er, »irgend etwas ist komisch an der Sache. Ich hab’ zwar die Roches Douvres nie gesehen, kenne aber die Kanalinseln ziemlich gut; so einen rötlich schimmernden Felsen gibt es in dieser Gegend nicht.«
Ich lehnte mich gegen das Kartenhäuschen und richtete das Fernglas noch einmal auf das verschwommene Gebilde. Das Sonnenlicht drang jetzt stärker durch, die Sicht wurde mit jedem Augenblick besser. Schließlich sah ich es klar vor mir und lachte fast vor Erleichterung. »Nein, das ist auch kein Felsen«, sagte ich, »sondern ein Schiff.« Jetzt konnte kein Zweifel mehr darüber bestehen. Der rostige Rumpf war keine verschwommene Form mehr, sondern stand klar und scharf konturiert vor dem Grau, und das, was wir für den Leuchtturm gehalten hatten, war sein einziger Schornstein.
Uns dreien war ein Stein vom Herzen gefallen, und unter Lachen nahmen wir den alten Kurs wieder auf. »Der Pott scheint beigedreht zu haben«, meinte Mike, als er aufhörte, die Großschot durchzuholen, und anfing, sie aufzuschießen.
Es sah tatsächlich so aus, als ob Mike Recht habe, denn jetzt, wo wir wieder auf dem alten Kurs lagen, schien der Dampfer seine Position überhaupt nicht verändert zu haben. Er drehte uns seine Breitseite zu, so als ob der Wind ihn in dieser Lage halte, und als sich der Abstand zwischen ihm und uns allmählich verringerte und die Umrisse klarer wurden, erkannte ich, dass das Schiff keine Fahrt machte und nur leicht in der Dünung rollte. Wenn wir unseren augenblicklichen Kurs beibehielten, mussten wir es etwa eine halbe Meile an Steuerbord passieren. Ich griff nach dem Kieker. Irgendetwas war an dem Schiff … irgendetwas an seiner Form und an seinem rostigen Rumpf; außerdem lag der Bug merkwürdig tief im Wasser.
»Wahrscheinlich lenzen sie die Bilgen.« Hal sagte das so zögernd, als ob auch ihm die Sache nicht recht geheuer vorkomme.
Ich stellte das Fernrohr ein, und plötzlich stand mir das ganze Schiff klar vor Augen. Es war ein altes Fahrzeug mit steilem Bug und glattem Deckssprung. Es hatte ein altmodisches, elliptisches Heck, um die Masten herum herrschte ein wirres Durcheinander von Ladebäumen, und außerdem hatte es viel zuviel Aufbauten. Der einzige Schornstein ragte fast genauso kerzengerade in die Höhe wie die Masten. Früher musste der Rumpf einmal schwarz gemalt gewesen sein, doch jetzt machte das Ganze einen rostüberzogenen, verkommenen Eindruck. Was mich jedoch am meisten bewog, immer wieder scharf hinzusehen und das Glas nicht abzusetzen, war, dass das ganze Deck ausgestorben zu sein schien. Und dann entdeckte ich das Rettungsboot. »Halte direkt auf den Dampfer zu, Hal«, befahl ich.
»Stimmt was nicht?« fragte er; er hatte augenblicklich die Besorgnis herausgehört, die in meinen Worten mitschwang.
»Ja. Eines der Rettungsboote hängt von seinen Davits auf und nieder.« Aber nicht nur das allein! Die anderen Davits waren leer. Ich reichte ihm den Kieker. »Sieh dir mal die vorderen Davits an«, sagte ich ihm, und meine Stimme zitterte ein wenig. Eine merkwürdige Erregung hatte mich gepackt.
Bald konnten wir die leeren Davits sowie das in den Fallen hängende eine Rettungsboot mit bloßem Auge erkennen. »Sieht aus, als ob die Crew von Bord gegangen sei«, sagte Mike. »Und wie tief der Bug im Wasser liegt! Glaubst du …« Er sprach den Satz nicht zu Ende. Alle hatten wir den gleichen Gedanken.
Wir segelten den Dampfer mitschiffs an. Der Name am Bug war derart von Rost überzogen, dass wir ihn nicht entziffern konnten. Aus der Nähe sah alles noch viel schlimmer aus. Von den rostigen Bugplatten hatten sich einige gelockert, die Aufbauten waren teilweise schwer beschädigt, der Bug selbst lag tatsächlich tief im Wasser, und das Heck ragte hoch empor, sodass wir den obersten Teil der Schraube erkennen konnten. Von den Ladebäumen hingen in wirrem Durcheinander Drähte herab. Der Frachter machte einen bös’ mitgenommenen Eindruck.
Wir näherten uns ihm bis auf Kabellänge, und ich rief ihn durch unser Megaphon an. Meine Stimme verlor sich im Schweigen der See. Keine Antwort. Nur das Schwappen der Wellen gegen die Bordwand war zu hören. Wir liefen am Schiff entlang, und Hal versuchte, die Seehexe dicht hinter ihrem Heck herumzubringen. Ich bin überzeugt, dass ich nicht der einzige war, der gespannt nach dem Namen Ausschau hielt. Und dann wurde die Beschriftung plötzlich hoch über uns sichtbar, von Streifen rostigen Wassers halb verwischt, wie in der Nacht zuvor: Mary Deare, Southampton.
Es war ein ziemlich großes Schiff, mindestens 6000 Tonnen. So verlassen wie es dalag, hätten Rettungsschlepper und andere Schiffe in der Nähe sein müssen, aber weit und breit war kein anderes Fahrzeug zu sehen. Allein und ohne ein Zeichen von Leben an Bord trieb die Mary Deare zwanzig Meilen vor der französischen Küste auf den Wellen. Als wir hinter dem Heck hervorkamen und an der Steuerbordseite zurücksegelten, suchte ich nach den Rettungsbooten: beide Davits waren leer.
»Sie haben recht gehabt«, wandte Mike sich mit gepresster Stimme an Hal. »Es war also heute Nacht tatsächlich kein Mensch auf der Brücke.«
Schweigend und ein wenig beunruhigt von dem Gedanken, was sich auf dem Schiff wohl abgespielt haben mochte, starrten wir, die Bordwand entlanggleitend, zum Deck hinauf. Aus dem großen Schornstein löste sich eine lächerlich dünne, kaum wahrnehmbare Rauchfahne. Das war das einzige Zeichen von Leben. »Sie müssen das Schiff verlassen haben, kurz bevor wir beinahe gerammt worden wären«, sagte ich.
»Aber er dampfte doch mit voller Kraft auf uns zu!« Hal sagte das mehr zu sich selbst als zu uns. »Man geht doch nicht von Bord und lässt die Maschinen mit voller Kraft weiterlaufen! Und warum haben sie nicht um Hilfe gefunkt?«
Ich musste an das denken, was Hal mir letzte Nacht halb im Scherz gesagt hatte. Wenn da wirklich kein Mensch an Bord war … Da stand ich, die Hände fest um die Reling geklammert, den Körper vornübergeneigt und suchte angestrengt nach irgendeinem Lebenszeichen. Aber es war nichts zu sehen, nichts, als die dünne Rauchfahne, die sich vom Schornstein löste. Bergen! Ein 6000-Tonner, der von der Mannschaft verlassen im Kanal trieb! Das war unglaublich! Und wenn es uns gelänge, ihn mit eigener Kraft in irgendeinen Hafen zu manövrieren … Ich wandte mich an Hal. »Glaubst du, du kannst mit der Seehexe längsseits gehen, so nahe, dass ich eins von den Fallen zu fassen bekomme?«
»Mach keine Dummheiten!« warnte er. »Die Dünung ist noch ganz schön hoch. Wir können doch nicht unser Boot aufs Spiel setzen, und wenn der Sturm …«
Ich aber dachte in diesem Augenblick nicht daran, vorsichtig zu sein. »Klar zum Halsen!« schnitt ich seine Bedenken ab. »Ree!« Wir wendeten, und ich schickte Mike nach unten, um Ian aus der Koje zu holen. »Wir segeln ihn dicht unterm Wind an«, erklärte ich Hal, »und im Vorbeifahren werde ich versuchen, nach einem der Tampen zu springen.«
»Das ist doch Wahnsinn«, ereiferte er sich. »Was meinst du, wie hoch du da klettern musst! Und stell dir vor, der Wind frischt auf! Vielleicht können wir dich nicht mal wieder auf …«
»Ach, zum Teufel mit dem Wind!« schrie ich. »Bildest du dir etwa ein, ich lass mir eine solche Gelegenheit aus der Nase gehen? Mag der liebe Himmel wissen, was aus den armen Teufeln geworden ist, die den Kahn verlassen haben, jedenfalls ist es für Mike und mich die große Chance.«
Einen Augenblick starrte er mich an, dann nickte er. »Okay! Schließlich ist es dein Boot.« Mittlerweile hatten wir uns der Mary Deare wieder genähert. »Wenn wir in Lee von ihr kommen«, sagte Hal, »sind wir ganz abgedeckt. Aber es wird trotzdem schwierig sein …« Er unterbrach sich und blickte zum Stander hinauf.
Ich hatte das gleiche getan, denn das Boot lief nicht mehr so ruhig wie vorher. Die Bugwelle rauschte vernehmlich, und Gischt sprühte auf die Back nieder. Der Stander wies nach Steuerbord. Am Kompass stellte ich die Windrichtung fest. »Du wirst keine Schwierigkeiten haben, von der Mary Deare freizubleiben«, sagte ich. »Wir haben jetzt Nordwest.«
Er nickte und sah zu den Segeln hinauf. »Du bist also noch immer entschlossen, an Bord zu gehen?«
»Ja.«
»Na schön, dann bleib aber jedenfalls nicht länger, als unbedingt nötig. Es ist schon ziemlich viel Druck in den Segeln.«
»Ich werde es so schnell wie möglich abmachen«, versprach ich. »Und wenn du meinst, dass ich mich zu lange aufhalte, blas nur mit dem Nebelhorn.«
Wir liefen jetzt etwa vier Knoten, und die Mary Deare kam rasch näher. Ich trat an die Kartenhaustür und rief nach Mike, der auch sofort erschien. Bleichgesichtig und verschwitzt folgte ihm Ian, der direkt aus seiner Koje kam. Ich drückte ihm den Bootshaken in die Hand und postierte ihn am Bug, damit er die Seehexe abstoßen solle, falls wir Gefahr liefen, mit dem Dampfer zu kollidieren. »Wir segeln ihn direkt an, und kurz vorher werden wir über Stag gehen, sodass wir die Fahrt aus dem Schiff nehmen. Du brauchst also nur aufzupassen, dass wir nicht zusammenstoßen.« Ich zog mein Ölzeug aus. Schon ragte die rostige Bordwand der Mary Deare über uns, erschreckend hoch! »Klar zum Wenden?« fragte ich.
»Klar zum Wenden«, bestätigte Hal, und dann schwang er das Ruder herum. Langsam, sehr langsam begann die Seehexe beizudrehen. Sekundenlang schien es, als werde sie dem Dampfer ihren langen Bugspriet in die rostigen Platten bohren. Doch dann hatte sie es geschafft. Jetzt, wo wir in Lee der Mary Deare lagen, war vom Wind kaum etwas zu spüren. Träge flappten die Segel. Die Querstücke am Top der Masten, die Salinge, streiften, als wir in der Dünung rollten, fast die Bordwand der Mary Deare. Ich griff nach der Taschenlampe, lief zum Mast, kletterte auf die Steuerbordreling, hielt mich mit den Händen an den Wanten fest und neigte mich vor. Wir liefen an den Fallen der vorderen Davits vorbei. Immer noch klafften ein paar Meter Abstand zwischen Schiffswand und Seehexe. Langsam ging Hal näher heran. Ich lehnte mich außenbords und sah die Fallen des achteren Davits auf mich zukommen. Plötzlich gab es über mir ein lautes Knarren: die Saling schrammte über die Platten. Das erste Fall kam näher. Ich lehnte mich hinaus so weit ich konnte, aber immer noch fehlte ein ganzes Stück zwischen dem Tau und meiner Hand. »Jetzt!« rief Hal. Wieder knarrte die Saling über mir. Die Gewalt des Stoßes zitterte durch die Wanten, an denen ich mich festhielt. Doch dann schloss sich meine andere Hand um das Halteseil, ich ließ mich los, prallte gegen den Rumpf der Mary Deare und versank, da sich das Schiff gerade auf die Seite neigte, bis zu den Knien im Wasser. »In Ordnung!« schrie ich.
Hal rief Ian zu, abzustoßen. Ich sah, wie er wild mit dem Bootshaken hantierte. Dann traf mich das Ende der Spiere mit solcher Gewalt zwischen den Schulterblättern, dass ich fast mein Tau fahren ließ. Verzweifelt hangelte ich mich am Tampen in die Höhe, denn ich hatte Angst, die Seehexe könnte beim Wenden mit ihrem Heck die Wand der Mary Deare schrammen und mir die Beine zerquetschen. Da knirschte auch schon dicht unter meinen Füßen Holz auf Eisen, ich sah, dass die Seehexe vom Dampfer losgekommen war und von ihm fortstrebte. »Mach’s kurz!« rief Hal mir noch zu.
Die Seehexe legte sich bereits auf die Seite, ihr Bug schnitt glatt durch die Wellen, und am blasigen Kielwasser sah ich, dass sie Fahrt aufnahm. »So schnell ich kann«, rief ich zurück, und dann kletterte ich.
Das Tau schien endlos, und dabei rollte die Mary Deare auch noch die ganze Zeit über, sodass ich einmal weit überm Wasser hing und dann wieder gegen ihren Rumpf geschleudert wurde. Es gab Augenblicke, in denen ich glaubte, ich würde es nie schaffen. Als ich endlich doch das Oberdeck erreichte, war die Seehexe bereits eine halbe Meile entfernt, obgleich Hal gegen den Wind ankreuzte und sie so hart am Wind hielt, dass die straffen Segel killten.
Die See war jetzt nicht mehr so glatt wie noch vor wenigen Stunden. Auf der sich hebenden und senkenden Dünung warfen sich kleine Wellen auf, die, wenn sie brachen, unregelmäßige weiße Muster bildeten. Aber ich hatte keine Zeit, weiter darauf zu achten. Ich hielt die Hände trichterförmig vor den Mund und rief: »Mary Deare! Ahoi! Ist noch jemand an Bord?« Eine Möwe, die sich in einem der Ventilatoren niedergelassen hatte, wechselte beunruhigt ihr Standbein und beobachtete mich mit ihrem starren Auge. Keine Antwort, nichts war zu hören außer der Tür des Achterdeckshauses, die mit monotoner Regelmäßigkeit auf- und zuklappte, und dem Rettungsboot, das ebenfalls in gleichmäßigen Abständen gegen die Bordwand schlug. Jetzt war nicht mehr daran zu zweifeln: Die Mannschaft war von Bord gegangen. Alles wies auf ein fluchtartiges Verlassen hin: die leeren Fallen der Davits, Kleidungsstücke, die verstreut auf Deck umherlagen, der Laib Brot im Speigatt, ein in den Schmutz getretenes Stück Käse, ein halboffener Koffer, aus dem Nylonstrümpfe und Zigaretten herausquollen, ein paar Seestiefel; sie mussten nachts Hals über Kopf in die Boote gegangen sein.
Aber warum?
Für einen Augenblick beschlich mich ein unheimliches Gefühl – ein verlassenes Schiff mit all seinen Geheimnissen und der Todesstille, die über allem lag – ich kam mir wie ein Eindringling vor und warf rasch einen Blick zurück auf die Seehexe. Die nahm sich jetzt in der bleifarbenen Unendlichkeit der See und des Himmels nicht größer aus als ein Spielzeugschiffchen. Nun ächzte auch noch der Wind durch die verlassenen Aufbauten: ›Eil’ dich! Eil’ dich!‹
Ja, es galt, festzustellen, was eigentlich mit dem Schiff los war und dann eine Entscheidung zu treffen. Ich lief daher aufs Vorschiff und kletterte die Treppe zur Brücke hinauf. Das Steuerhaus war leer. Eigentlich hatte ich nichts anderes erwartet, aber ich war doch wie vor den Kopf geschlagen. Alles sah so normal aus; auf einem Sims standen ein paar schmutzige Tassen umher, eine Pfeife war ordentlich auf einem Aschenbecher abgelegt worden, auf dem Stuhl des Kapitäns lag ein großes Fernglas – und der Maschinentelegraph stand auf »Voll voraus«. Es war, als ob jeden Augenblick der Rudergänger hereinkommen und seinen Platz am Steuer wieder einnehmen würde.
Draußen jedoch sah ich, dass das Schiff viel durchgemacht haben musste. Die gesamte Backbordnock der Brücke war eingedrückt worden, die Treppe verbogen und verbeult, unten auf dem Brunnendeck hatten die Brecher offenbar die Persenning der Vorschiffsluke zerrissen, und in wirren Verschlingungen lag eine Stahltrosse da. Doch all dies erklärte noch lange nicht, warum das Schiff verlassen worden war; offensichtlich war man gerade dabei gewesen, eine neue Persenning über die Luke zu spannen, und es lag auch noch frisches Zimmerholz umher, als ob die Matrosen nur eben fortgegangen wären, um zwischendurch eine Tasse Tee zu trinken. Auch der Kartenraum hinter der Brücke brachte kein Licht in das Geheimnis; im Gegenteil, denn das Logbuch mit der letzten Eintragung lag offen auf dem Schreibtisch: 20 Uhr 46 – Leuchtfeuer von Les Heaux, Peilung 114°, etwa 12 Meilen. Wind: Süd-Ost, Stärke 2. Ruhige See. Gute Sicht. Änderten Kurs auf Needles, Nord 33° Ost. Als Datum war der 18. März angegeben, und die Zeitangabe bewies, dass diese Eintragung genau eindreiviertel Stunden vor dem Zeitpunkt gemacht worden sein musste, wo wir ums Haar von der Mary Deare gerammt worden wären. Die Eintragungen im Logbuch waren stündlich vorgenommen worden, sodass das Ereignis, das die Mannschaft bewogen hatte, ihr Schiff zu verlassen, sich genau zwischen neun und zehn Uhr dieses Abends abgespielt haben musste, wahrscheinlich kurz nachdem sie in den Nebel hineingelaufen waren.
Ich überflog die vorherigen Eintragungen, fand jedoch nichts, was darauf hinwies, dass man mit der Preisgabe des Schiffes gerechnet hatte. Gewiss, sie hatten einen Sturm nach dem andern durchgemacht, und das Schiff war arg mitgenommen worden, aber das war auch alles. Mussten wegen gefährlicher See beidrehen. Brecher schlagen zum Teil gegen die Brücke. Machen Wasser in Raum 1. Die Lenzpumpen schaffen es nicht. Diese Eintragung vom 16. März klang am bedenklichsten. Zwölf volle Stunden hatte, wie ich las, Windstärke 11 geherrscht, und auch die Tage zuvor, seitdem sie das Mittelmeer und die Straße von Gibraltar hinter sich hatten, war der Wind niemals unter Stärke 7 hinuntergegangen, ja, hatte nicht selten mit 10 volle Sturmstärke erreicht. Die Lenzpumpen waren die ganze Zeit über in Betrieb gehalten worden.
Wenn sie das Schiff beim Sturm am 16. März verlassen hätten, wäre das verständlich gewesen, doch das Logbuch besagte, dass sie am Morgen des 18. bei klarem Wetter, mäßigem Seegang und Windstärke 3 Ushant gerundet hatten, und es hieß sogar: Die Pumpen machen gute Fortschritte. Die Leute sind dabei, die Trümmer fortzuräumen und die Luke von Raum 1 zu reparieren.
Wie sollte ich mir all das zusammenreimen?
Ein Niedergang führte zum oberen Bootsdeck hinunter. Die Tür der Kapitänskammer stand offen. Dort drinnen war alles sauber und aufgeräumt, nichts stand herum, nirgends ein Zeichen überstürzten Von-Bord-Gehens. Vom Tisch her, aus einem schweren Silberrahmen, lächelte mich das Foto eines Mädchens an; ihr Blondhaar schimmerte im Licht, und darunter hatte sie geschrieben: Für Daddy … Hals- und Beinbruch! Und komm bald zurück! Herzlichst … Janet.
Eine dünne Schicht Kohlenstaub lag auf dem Rahmen, dem Tisch und auf einem Aktenordner, in dem, wie ich sah, die Frachtpapiere abgeheftet waren. Aus ihnen ging hervor, dass die Mary Deare am 13. Januar in Rangun eine für Antwerpen bestimmte Ladung Baumwolle übernommen hatte. Oben auf einem mit Papieren gefüllten Ablegekörbchen lagen mehrere säuberlich mit einem Messer geöffnete, in London abgestempelte Luftpostbriefe mit der Anschrift: Kapitän James Taggart, D. Mary Deare, Singapur. Sie stammten von derselben, etwas unausgeglichenen, aber schwungvoll gerundeten Handschrift wie die Widmung unter dem Foto. Unter diesen Briefen, zwischen einem Stoß anderer Papiere, fand ich die mit ziemlich kleinen, gestochenen Schriftzügen bedeckten und »James Taggart« unterzeichneten Blätter eines Reiseberichtes, der jedoch nur die Fahrt von Rangun bis Aden umfasste. Auf dem Tisch, neben dem Ablegekorb, lag ein bereits zugeklebter, an Miss Janet Taggart, University College, Gower Street, London, W.C.1 adressierter Brief. Diese Anschrift stammte von einer anderen Hand, und der Umschlag war noch unfrankiert.
All diese Kleinigkeiten, diese privaten Dinge – ich weiß nicht, wie ich es erklären soll – jedenfalls verstärkten sie noch jenes unbehagliche Gefühl, das mich ohnehin befallen hatte. Da war diese Kammer – mir war, als spürte ich in der lastenden Stille, wie hier alle schwerwiegenden Entschlüsse gefasst worden waren, die das Schicksal dieses Frachters bestimmt hatten, seit er über die sieben Weltmeere fuhr – und nun lag eine Grabesstille über dem ausgestorbenen Schiff. Dann entdeckte ich an den Haken an der Tür zwei Regenmäntel, blaue Offiziersregenmäntel von der Handelsmarine, einer neben dem andern und der eine viel größer als der andere.
Ich ging nach draußen und knallte die Tür hinter mir zu, als könnte ich damit die plötzlich in mir aufsteigende, unklare Angst übertönen. »Ahoi! Ist noch jemand an Bord?« Laut und rau hallte das Echo meiner Stimme durch die leeren Gänge des Schiffes. Dringender klang jetzt vom Deck das Stöhnen des Windes an mein Ohr: ›Eil’ dich!‹ Ja, ich durfte keine Zeit verlieren! Ich musste rasch untersuchen, wie es um die Maschinen stand und ob es möglich sei, das Schiff wieder unter Dampf zu bekommen.
Ich kletterte den dunklen Schacht eines Niederganges hinunter, folgte dem Licht meiner Taschenlampe, leuchtete durch eine offen stehende Tür in die Messe und sah, dass die Tische noch gedeckt und nur die Stühle hastig zurückgestoßen worden waren. Ein schwacher Brandgeruch hing in der dumpfen Luft, doch er rührte nicht von der Kombüse her – das Feuer war erloschen, der Herd kalt. Der Strahl meiner Taschenlampe glitt über eine halbleere Corned-Beef-Büchse auf dem Tisch, über Butter, Käse, einen Laib Brot, dessen Kruste mit einer feinen Schicht Kohlenstaub bedeckt war – Kohlenstaub auf dem Griff des Messers, mit dem das Brot geschnitten worden war, Kohlenstaub auf dem Fußboden.
»Ist jemand da?« rief ich, so laut ich konnte. »Ahoi! Ist hier niemand?« Keine Antwort. Ich trat wieder auf den Betriebsgang hinaus, der backbords den ganzen Mittelschiffsteil durchzog. Es herrschte tiefe Stille, und es war finster wie in einem Bergwerksstollen. Ich folgte dem Gang, und dann blieb ich plötzlich stehen. Da war es wieder … dies Geräusch, das ich die ganze Zeit über vernommen hatte, ohne mir dessen bewusst zu werden; ein Geräusch, als ob Kies hin- und hergeschüttet würde. Leise hallte es im ganzen Schiffsrumpf wider, als ob die Kielplatten über den Meeresgrund schurrten. Ein merkwürdiger, schauriger Laut, der unvermittelt abbrach, als ich weiterging, sodass ich in der Stille, die sich plötzlich auftat, wieder das Heulen des Windes oben hörte. Die Tür am anderen Ende des Betriebsganges sprang durch die rollende Bewegung des Schiffes auf und ließ einen schwachen Schimmer von Tageslicht herein. Ich ging darauf zu und spürte, dass der beißende Brandgeruch sich verstärkt hatte, sodass er jenes moderige Gemisch von heißem Öl, verdorbenem Essen und Meerwasser, das die Zwischendecks aller Frachtschiffe durchdringt, überdeckte. Ein Feuerwehrschlauch, der an einer Zapfstelle in der Nähe der Maschinenraumtür angeschraubt war, schlängelte sich durch Wasserlachen hindurch zur Tür hin und verschwand draußen auf dem Brunnendeck. Ich ging ihm nach. Draußen, im Tageslicht, sah ich, dass Luke 3 rauchgeschwärzt, verkohlt und – wie ich erkannte, als ich näher kam – teilweise sogar ganz von Feuer weggefressen war, während man Luke 4 halb aufgerissen hatte. Feuerwehrschläuche ringelten sich auf Deck und verschwanden in der offenen Inspektionsluke von Laderaum 3. Ein paar Sprossen kletterte ich die steile Leiter hinunter und ließ den Strahl meiner Taschenlampe schweifen. Kein Rauch, nirgends auch nur ein Schimmer von Glut, und der allerdings starke Brandgeruch war nicht mehr frisch, halb wie verwaschen und wie vermischt mit dem beizenden Geruch von Chemikalien. Ein leerer Schaumlöscher rollte hin und her und schepperte gegen den Stahl der Schottwand. In der schwarzen Höhle des Laderaums fiel der Strahl meiner Taschenlampe auf angekohlte, zum Teil mit Feuchtigkeit voll gesogene Baumwollballen, und ich vernahm das Geräusch von hin- und herschwappendem Wasser.
Das Feuer war aus – erloschen – auch nicht das kleinste Rauchwölkchen. Dennoch hatte die Mannschaft das Schiff verlassen! Wie sollte ich mir das erklären? Ich musste an unser Erlebnis in der vergangenen Nacht denken, wie auch da leichter Brandgeruch in der nebligen Luft gehangen hatte, nachdem das Schiff an uns vorübergebraust war. Und dann der Kohlenstaub in der Kapitänskammer und in der Kombüse. Irgendjemand musste das Feuer gelöscht haben. Das Geräusch, das ich vorhin gehört hatte, als ob Kies hin- und hergeschüttet würde, fiel mir ein, und ich lief zur Tür des Maschinenraums zurück. Konnten das nicht Kohlen gewesen sein? Ob wohl jemand unten im Heizraum war? Irgendwo auf dem Schiff schlug eine Luke zu, aber vielleicht war es auch nur eine Tür. Ich trat auf die Laufbrücke, die über den schwarzen Abgrund des Maschinenraums führte, und von der Grätings und Stahlleitern nach unten führten. »Ahoi!« rief ich. »Ahoi! Ahoi!« Keine Antwort. Meine Taschenlampe brachte geputzte Messingteile zum Aufblitzen und glitt über matt polierten Stahl inmitten der dunklen Formen der Maschinen. Keine Bewegung … Nur, dass irgendwo, während das Schiff sich hin- und herwiegte, Wasser kleine, klatschende Geräusche machte.
Ich zögerte. Sollte ich den Heizraum hinuntersteigen? Eine unbestimmte Furcht hielt mich zurück. Und in diesem Augenblick hörte ich die Schritte.
Langsam hallten sie durch den Steuerbordbetriebsgang – der Tritt von Stiefeln klang hohl auf den Eisenplatten; der langsame und schleppende Gang eines Menschen, der am Maschinenraum vorüber- und auf die Brücke zuging. Allmählich verhallten die Schritte, gingen unter im Gurgeln des Wassers in den Bilgen tief unter mir. Ich kann höchstens zwanzig Sekunden wie angewurzelt dagestanden haben – dann lief ich auch schon auf die Tür zu, stemmte mich dagegen, sprang auf den Verkehrsgang hinaus, strauchelte in meiner Hast über eine Stufe, ließ dabei meine Taschenlampe fahren und prallte gegen die gegenüberliegende Wand mit einer Gewalt, dass ich dadurch erst wieder recht zur Besinnung kam. Meine Taschenlampe lag in einer Wasserlache und leuchtete in der Dunkelheit wie ein Glühwurm. Ich bückte mich, hob sie auf und schickte den Strahl durch den Gang.
Kein Mensch war zu sehen. Der Lichtschein erhellte schwach das Dunkel und fiel auf die Leiter, die zum Deck hinaufführte – der Gang war leer. Ich rief – keine Antwort. Das Schiff schlingerte, Holz ächzte, Wasser gluckste, und über mir hörte ich gedämpft die Tür zum Achterdeckshaus auf- und zuschlagen. Und dann drang ein schwacher, ferner, aber dennoch drängender Ton an mein Ohr: das Nebelhorn der Seehexe, das mich zurückrief.
Stolpernd lief ich weiter, und als ich mich der Decksleiter näherte, mischte sich das Stöhnen des Nebelhorns in das Ächzen des Windes, der um die Aufbauten fuhr. Eil dich! Eil dich! Noch dringlicher klang es jetzt – Drängen im Pfeifen des Windes, Drängen im Heulen des Nebelhorns.
Ich erreichte die Decksleiter und wollte gerade hinaufklettern, da sah ich ihn. Einen Augenblick, während der Schein meiner Taschenlampe über ihn hinweghuschte, waren klar die Umrisse einer Gestalt sichtbar gewesen, die schwarz und nur mit einem hellen Schimmer in den Augen regungslos ein wenig im Hintergrund eines Türrahmens stand. Wie gebannt blieb ich stehen, versteinert vor Entsetzen – die Stille, die geisterhafte Stille des ausgestorbenen Schiffes legte sich mir gleich einem Eisenring um die Kehle. Doch dann ließ ich den Strahl meiner Taschenlampe voll auf ihn fallen. Er war ein Riese von einem Kerl, in einer Seemannsjacke und Seestiefeln und über und über mit Kohlenstaub bedeckt. Schweiß war ihm übers Gesicht gelaufen und hatte Spuren wie von Tränen in seine rußigen Wangen gegraben; seine Stirn glänzte. Die ganze rechte Seite seines Kinns war bös zerschunden und blutverkrustet. Jählings löste er sich aus seiner Erstarrung und kam auf mich zugestürzt. Die Taschenlampe wurde mir aus der Hand geschlagen, und ich spürte einen durchdringenden Geruch von Schweiß und Kohlenstaub, als er mich mit seinen kräftigen Händen bei den Schultern packte, mich wie ein Kind umdrehte und mein Gesicht in das fahle Tageslicht wandte. »Was wollen Sie?« fragte er mit barscher, krächzender Stimme. »Was haben Sie hier zu suchen? Wer sind Sie?« Er schüttelte mich heftig, als ob er dadurch die Wahrheit aus mir herausholen könne.
»Ich heiße Sands«, stieß ich hervor, »John Sands. Ich wollte nur nachsehen …«
»Wie sind Sie an Bord gekommen?« In seiner rauen Stimme schwangen ein gebieterischer Ton und eine kaum gebändigte Wildheit.
»An den Fallen«, entgegnete ich. »Wir sichteten die treibende Mary Deare, und als wir sahen, dass sämtliche Rettungsboote fehlten, sind wir längsseits gegangen, um nachzuforschen …«
»Nachzuforschen?« Feindselig starrte er mich an. »Hier gibt’s nichts nachzuforschen.« Und dann, mich immer noch bei den Schultern haltend, fragte er mich überstürzt: »Ist Higgins bei Ihnen? Haben Sie ihn aufgefischt? Sind Sie deswegen hier?«
»Higgins?« Verständnislos sah ich ihn an.
»Jawohl, Higgins.« Es lag etwas Verzweifeltes und zugleich Wildes in der Art, wie er diesen Namen aussprach. »Wenn der nicht gewesen wäre, läge die Mary Deare längst sicher im Hafen von Southampton. Wenn Sie Higgins bei sich haben …« Er unterbrach sich, legte den Kopf auf die Seite und lauschte. Das Nebelhorn erklang jetzt aus größerer Nähe, und Mike rief mich durchs Megaphon an. »Sie rufen nach Ihnen.« Er presste mich mit seinen Händen wie mit einem Schraubstock. »Was ist das für ein Schiff?« fragte er befehlend. »Ich meine, was für eine Art Schiff haben Sie?«
»Eine Jacht.« Und ohne eigentlichen Grund fügte ich noch hinzu: »Sie haben uns vorige Nacht fast gerammt.«
»Eine Jacht!« Er ließ mich los und seufzte leise, wie erleichtert auf. »Dann machen Sie nur, dass Sie zurückkommen. Der Wind frischt auf.«
»Sie haben recht«, sagte ich. »Wir müssen uns beeilen … Sie und ich!«
»Ich?« Er runzelte die Stirn.
»Selbstverständlich«, sagte ich. »Wir nehmen Sie mit, und wenn wir St. Peter Port erreichen …«
»Nein!« Fast wie ein Peitschenhieb kam dieses eine Wort von seinen Lippen. »Nein! Ich bleibe auf meinem Schiff.«
»Dann sind Sie also der Kapitän?«
»Ja.« Er bückte sich, hob die Taschenlampe auf und reichte sie mir. Schwach drang Mikes Stimme herauf, eine eigentümlich dünne Stimme, wie ein körperloser Ruf aus der Welt draußen. Mit tiefen Klagetönen fegte der Wind über die See. »Sie dürfen keine Zeit verlieren«, sagte er.
»Ja, kommen Sie«, forderte ich ihn auf. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass er so unvernünftig sein würde, auf dem Schiff zu bleiben.
»Nein, ich bleibe.« Und dann schrie er mich an, als sei ich taub: »Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich bleibe!«
»Nehmen Sie doch Vernunft an«, sagte ich. »Sie allein können hier gar nichts ausrichten. Wir wollen nach St. Peter Port. Vielleicht schaffen wir es in ein paar Stunden, und von dort aus können Sie …«
Er schüttelte den Kopf mit einem Blick wie ein zu Tode gehetztes Tier, hob den Arm und forderte mich durch eine unmissverständliche Gebärde auf, das Schiff zu verlassen.
»Es kommt ein Sturm auf.«
»Wem sagen Sie das?«
»Dann … ich begreife Sie nicht … das ist Ihre einzige Chance.« Und da er der Kapitän war und offensichtlich an sein Schiff dachte, fügte ich noch hinzu: »Und für Ihr Schiff ist das auch die einzige Hoffnung. Wenn Sie nicht bald einen Hochseeschlepper hierher bekommen, wird der Dampfer geradewegs auf die Kanalinseln zugetrieben. Sie können viel mehr für Ihr Schiff tun, wenn Sie …«
»Verlassen Sie augenblicklich mein Schiff!« Ein Zittern lief durch seinen mächtigen Körper. »Machen Sie, dass Sie von hier fortkommen, verstanden? Ich weiß, was ich zu tun habe.«
Der Ausbruch war ungezügelt, seine ganze Haltung drohend, aber ich ließ mich nicht einschüchtern und versuchte es noch einmal. »Glauben Sie denn, dass man Sie herausholen wird?« fragte ich und setzte, als er mich nicht zu verstehen schien, hinzu: »Haben Sie um Hilfe gefunkt?«
Einen Augenblick zögerte er, doch dann sagte er: »Ja, ja, ich habe um Hilfe gefunkt. Aber jetzt gehen Sie!«
Ich kämpfte mit mir. Doch was sollte ich noch sagen? Und wenn er nicht wollte … Schon auf halber Höhe der Leiter, drehte ich mich noch einmal um. »Wollen Sie sich’s nicht doch überlegen?«
Sein Gesicht leuchtete mir unten aus der Dunkelheit entgegen: ein starkes, hartes Gesicht, noch jung, aber mit scharf eingekerbten Falten, die durch die Strapazen der letzten Stunden noch vertieft erschienen. Er machte einen verzweifelten, aber dabei gleichzeitig merkwürdig rührenden Eindruck. »Kommen Sie, Mann … noch ist es Zeit!«
Er würdigte mich keiner Antwort, sondern drehte sich einfach um und ließ mich stehen. Da kletterte ich die Leiter weiter hinauf. Der Wind, der übers Deck fegte, warf sich mit ganzer Gewalt auf mich, die See ringsum war mit Schaumkronen bedeckt, und die Seehexe dümpelte zwei Kabellängen entfernt wild auf den Wellen.
Ich hatte mich zu lange aufgehalten. Sobald die Seehexe wendete, um mich wieder aufzunehmen, gab es für mich keinen Zweifel mehr darüber. Der große Yankee-Klüver drückte, als sie herangerauscht kam, ihren Bug in die windgepeitschten Wogen; wie eine Lanze rammte sie ihren Bugspriet in den Rücken der Wellen, durchbohrte sie und kam gischttriefend wieder zum Vorschein. Hal hatte recht gehabt! Hätte ich nur auf ihn gehört, und wäre ich nicht an Bord gegangen! Ich lief zu den Davits und verfluchte den Wahnsinnigen, der es schlankweg abgelehnt hatte, sein Schiff zu verlassen. Wäre er mitgekommen, hätte mein ganzes Unternehmen jedenfalls noch einen Sinn gehabt.
In einer plötzlichen Bö legte sich die Seehexe gefährlich auf die Seite, Hal kämpfte mit dem Ruder, brachte sie aber durch den Wind herum. Sämtliche Segel flappten wie wild. Es knallte wie ein Pistolenschuss, als der große Klüver sich mit Wind füllte und das Boot derart krängte, dass, als es eine Welle hinunterrutschte, die ganze algenbewachsene Unterseite des Hecks für einen Moment sichtbar wurde. Und dann riss mit einem Mal der Klüver mittendurch und ging in Fetzen. In den Böen hatte der Wind jetzt Sturmstärke erreicht; sie hätten die Segel reffen müssen, doch wie sollten sie das, wo sie doch nur zu dritt waren! Es war Irrsinn, zu versuchen, längsseits zu kommen. Niemals zuvor hatte ich es erlebt, dass die See von einer Stunde zur anderen so aufgewühlt worden war. Doch Mike winkte mir zu, wies mit dem Daumen nach unten, während Hal das Ruder umlegte und die Mary Deare von der Seite anzusegeln versuchte. Das Großsegel war kaum mit Wind gefüllt und flappte, während die Reste des Klüvers am Vorstag flatterten. Da packte ich eine der Fallen, schwang mich hinaus und rutschte Hand über Hand abwärts, bis ein Wogenkamm mich bis zu den Hüften durchnässte, ich hochblickte und die rostigen Platten haushoch über mir ragen sah.
Jetzt konnte ich die Seehexe hören, konnte hören, wie sie mit dem Bug auf die Wellen prallte und der Rumpf rauschend durchs Wasser schnitt. Dann drangen Rufe an mein Ohr, und über die Schulter hinweg sah ich sie in den Wind drehen und gefährlich nahe herankommen, merkte, dass die Jacht nicht beidrehen wollte und der Bugspriet fast die Bordwand des Frachters berührte. Eine neuerliche Bö stieß mich an die Bordwand, der Großbaum schwenkte krachend über, die Segel füllten sich wieder, und knappe fünfzehn Meter von mir entfernt, der ich hilflos zwischen Himmel und Wasser hin- und herschaukelte, brauste die Jacht an mir vorbei. Hal rief mir etwas zu: »Der Wind … stark … das Schiff dreht.« Das war alles, was ich verstand, und doch war er so nahe, dass ich das Wasser von seinem Ölzeug tropfen und seine blauen Augen sah, die mich unter dem Südwester hervor bestürzt anblickten.