Das Zeichen der Vier - Sir Arthur Conan Doyle - E-Book

Das Zeichen der Vier E-Book

Sir Arthur Conan Doyle

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Beschreibung

"Nichts ist trügerischer als eine offenkundige Tatsache" (Sherlock Holmes). "Im Jahr 1878 hatte ich meinen Doktor an der Medizinischen Fakultät der Universität London gemacht und im Royal Victoria Military Hospital Netley die für Militärärzte vorgeschriebene medizinische Spezialausbildung absolviert." - So beginnt ein Mythos. Sir Arthur Conan Doyles Detektivgeschichten wurden oft kopiert, vielfach verfilmt und mehr als einmal fürs Fernsehen adaptiert. Aber woher rührt eigentlich die Faszination für den kühlen Logiker Sherlock Holmes und seinen Kompagnon Dr. Watson? Viermal ließ der britische Autor sein berühmtes Duo insgesamt auf Romanlänge ermitteln, jeder Band avancierte rasch zum Klassiker der Kriminalliteratur. Der zweite Fall mit dem Originaltitel The Sign of Four erschien erstmalig 1890 in "Lippincott's Monthly Magazine". Er liegt hier in vollständiger Neuübersetzung von Susanne Luber vor. Dazu gibt's ein Kompendium zum Holmes-Kosmos mit einem Who's who, einer Einführung in den Kriminalroman von Joachim Kalka und einer Doyle-Chronik

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Seitenzahl: 330

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SIR ARTHUR CONAN DOYLE

Das Zeichen der Vier

Der zweite Sherlock-Holmes-Roman Leipziger Ausgabe

Vollständig neu übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Susanne Luber

neu gefasst und mit Anmerkungen versehen von Gerd Haffmans

HAFFMANS VERLAG BEI ZWEITAUSENDEINS

Die englische Originalausgabe The Sign of the Four wurde zuerst im Februar 1890 in Lippincott’s Monthly Magazine veröffentlicht, die Buchausgabe folgte im selben Jahr bei Spencer Blackett in London. Die deutsche Erstausgabe erschien unter dem Titel Das Zeichen der Vier im Verlag Robert Lutz, Stuttgart 1902. Weiteres in der Editorischen Notiz am Schluss des Bandes.

1. Auflage, Winter 2021. Alle Rechte vorbehalten. Alle Rechte an dieser Neuedition & Neuübersetzung vorbehalten. Copyright © 2021 by Haffmans Verlag bei Zweitausendeins Versand-Dienst GmbH, Bahnhofstr. 30, 82340 Feldafing. Gestaltung & Produktion: Zweitausendeins. Umschlagsillustration: Christiane Nebel. ISBN 978-3-96318-136-8

Inhalt

1. Kapitel: Die Kunst der Deduktion

2. Kapitel: Die Darlegung des Falles

3. Kapitel: Auf der Suche nach einer Lösung

4. Kapitel: Die Erzählung des kahlköpfigen Mannes

5. Kapitel: Die Tragödie von Pondicherry Lodge

6. Kapitel: Sherlock Holmes gibt eine Lehrstunde

7. Kapitel: Die Episode vom Fass

8. Kapitel: Die Irregulären von der Baker Street

9. Kapitel: Ein Glied der Kette bricht

10. Kapitel: Das Ende des Insulaners

11. Kapitel: Der grosse Agra-Schatz

12. Kapitel: Die seltsame Geschichte des Jonathan Small

ANHANG

Anmerkungen

Editorische Notiz

Kompendium

Bemerkungen zu Sherlock Holmes von Joachim Kalka

Eine Einführung in den Kriminalroman

Who’s Who

Kleine ACD-Chronik

1. KAPITEL

Die Kunst der Deduktion

Sherlock Holmes langte nach der Flasche vom Kaminsims und entnahm einem zierlichen Saffianleder-Etui eine Spritze. Mit seinen langen, weißen, feinnervigen Fingern setzte er die dünne Nadel auf, dann schob er die Manschette des linken Hemdärmels hoch. Sein Blick ruhte eine Weile nachdenklich auf seinem sehnigen Unterarm und dem Handgelenk, die beide über und über von vernarbten Spuren zahlloser Einstiche bedeckt waren. Dann stieß er die scharfe Nadel in die Haut, drückte den kleinen Kolben nieder und sank mit einem langen Seufzer des Wohlbehagens in die Samtpolster seines Lehnstuhls zurück.

Drei Mal täglich, über viele Monate hinweg, war ich Zeuge dieses Vorgangs gewesen, ohne mich durch die lange Gewohnheit damit abzufinden. Im Gegenteil, mein Verdruss über diese Szene wuchs von Tag zu Tag, und nachts ließ mir mein Gewissen keine Ruhe bei dem Gedanken, dass ich nicht den Mut aufbrachte, dagegen einzuschreiten. Wieder und wieder hatte ich mir geschworen, mir diese Last von der Seele zu reden, aber in der kühlen, nachlässigen Art meines Gefährten lag etwas, das mir deutlich sagte, er sei der Letzte, dem gegenüber man sich auch nur die geringste Freiheit herausnehmen dürfe. Seine enormes Wissen, sein überlegenes Auftreten und die vielen Situationen, in denen ich Zeuge seiner außergewöhnlichen Fähigkeiten geworden war – all dies machte mich ihm gegenüber unsicher und schüchtern und hinderte mich, ihm Widerstand entgegenzusetzen.

An diesem Nachmittag jedoch – ob es der starke Burgunder war, den ich zum Mittagessen getrunken hatte oder ob mich Holmes’ provokantes, planmäßiges Vorgehen besonders gereizt hatte – meinte ich plötzlich, es nicht länger ertragen zu können.

»Was ist denn heute an der Reihe«, fragte ich, »Morphium oder Kokain?«

Träge hob er den Blick von dem alten Folianten, der aufgeschlagen vor ihm lag.

»Kokain«, sagte er, »eine siebenprozentige Lösung. Möchten Sie probieren?«

»Nein, ganz bestimmt nicht«, antwortete ich barsch. »Ich habe die Folgen des Afghanistan-Feldzugs noch nicht überwunden und kann meiner Konstitution keine zusätzliche Belastung zumuten.«

Er lächelte über meine Heftigkeit. »Vielleicht haben Sie recht, Watson«, sagte er. »Ich vermute, der Physis ist es tatsächlich abträglich. Aber die Wirkung auf den Geist empfinde ich als so überaus stimulierend und erhellend, dass dagegen alles andere von geringem Belang ist.«

»Aber bedenken Sie doch«, mahnte ich eindringlich, »um welchen Preis! Ihre Hirntätigkeit mag ja, wie Sie sagen, angeregt und beschwingt werden, trotzdem ist es ein pathologischer, morbider Prozess, der eine fortschreitende Gewebeveränderung zur Folge hat und zumindest eine bleibende Schwächung zurücklässt. Sie wissen doch selbst, welch schwarze Stimmung Sie danach jedes Mal überkommt. Wahrhaftig, das lohnt sich nicht! Weshalb bloß riskieren Sie um eines bloßen flüchtigen Genusses willen den Verlust jener hervorragenden Fähigkeiten, mit denen Sie begabt sind? Bitte bedenken Sie, dass ich nicht nur als Freund so zu Ihnen spreche, sondern auch als Arzt zu einem Mitmenschen, für dessen Gesundheitszustand er sich in gewissem Maß mitverantwortlich fühlt.«

Er schien nicht beleidigt zu sein. Im Gegenteil, er legte die Fingerspitzen aneinander und stützte die Ellbogen auf die Armlehnen seines Sessels wie jemand, der Lust auf ein gutes Gespräch hat.

»Mein Geist«, sagte er, »rebelliert gegen Stillstand. Geben Sie mir ein Problem zu lösen, geben Sie mir Arbeit, die abstruseste Geheimschrift zu entziffern, die vertrackteste Analyse, dann bin ich in meinem Element. Dann kann ich auf künstliche Stimulantien verzichten. Aber die öde Routine des Daseins ist mir unerträglich. Ich verzehre mich nach geistiger Anspannung. Deshalb habe ich mir auch einen eigenen, ganz speziellen Beruf gewählt oder vielmehr geschaffen – denn ich bin der Einzige meiner Art auf der Welt.«

»Der einzige nicht amtliche Detektiv?« fragte ich ungläubig.

»Der einzige nicht amtliche Beratende Detektiv«, erwiderte er. »Ich bin die letzte und höchste Appellationsinstanz in allen Fragen der Kriminalistik. Wenn Gregson, oder Lestrade, oder Athelney Jones am Ende ihrer Weisheit sind – was beiläufig gesagt ihr Normalzustand ist –, dann wird der Fall mir vorgelegt. Ich prüfe die Fakten auf Basis meines Expertenwissens und gebe ein fachmännisches Urteil ab. Dabei erhebe ich keinerlei Anspruch auf öffentliche Anerkennung. Mein Name erscheint in keiner Zeitung. Die Arbeit selbst, das Vergnügen, ein Betätigungsfeld für mein spezielles Talent gefunden zu haben, ist mein größter Lohn. In dem Jefferson-Hope-Fall hatten Sie ja Gelegenheit, meine Arbeitsmethoden ein wenig kennen zu lernen.«

»Ja, allerdings«, sagte ich mit Nachdruck. »Nie in meinem Leben hat mich etwas derart beeindruckt. Ich habe sogar ein Büchlein darüber publiziert mit dem etwas reißerischen Titel ›Studie in Scharlachrot‹.«

Er wiegte betrübt den Kopf.

»Ich habe es überflogen«, sagte er. »Aber ehrlich gesagt, ich kann Ihnen nicht dazu gratulieren. Kriminalistik ist eine exakte Wissenschaft – oder sie sollte es jedenfalls sein –, und genauso kühl und emotionslos sollte sie dargestellt werden. Sie haben sich aber bemüht, der Sache einen romantischen Anstrich zu geben, und das hat einen ähnlichen Effekt wie die Anreicherung des fünften Postulats der euklidischen Geometrie durch eine Liebes- oder Entführungsgeschichte.«

»Aber es gab doch eine Liebesgeschichte!« protestierte ich. »Ich konnte doch nicht die Tatsachen verfälschen.«

»Manche Tatsachen sollten lieber verschwiegen werden, oder wenn man sie schon nennt, sollte man zumindest das richtige Augenmaß haben. Das einzige wirklich Erwähnenswerte an diesem Fall war die besondere Art der analytischen Schlussfolgerung von den Wirkungen auf die Ursachen, durch die es mir gelungen ist, den Fall zu lösen.«

Ich war verstimmt über diese Kritik an meinem Werk, das ich eigens verfasst hatte, um ihm eine Freude zu machen. Ich gebe auch zu, dass ich über die Selbstgefälligkeit verärgert war, mit der er zu erwarten schien, dass jede Zeile meines Büchleins seinem höchstpersönlichen, speziellen Vorgehen gewidmet sein sollte. Mehr als einmal in all den Jahren, die ich mit ihm in der Baker Street verbracht hatte, kam ich nicht umhin zu bemerken, dass der besonnenen, überlegenen Art meines Gefährten eine gewisse Eitelkeit zugrunde lag. Ich erwiderte jedoch nichts, sondern blieb schweigend im Sessel sitzen und streckte mein lädiertes Bein aus. Es hatte vor nicht allzu langer Zeit eine Jezail-Kugel abbekommen, und wenn die Verletzung mich auch beim Gehen nicht allzu sehr behinderte, bereitete sie mir doch bei jedem Wetterumschwung arge Schmerzen.

»Mein Wirkungsfeld hat sich neuerdings auf den Kontinent ausgedehnt«, bemerkte Holmes nach einer Weile, während er seine alte Bruyère-Pfeife stopfte. »Vergangene Woche konsultierte mich François le Villard, der, wie Sie vermutlich wissen, mittlerweile zu den besten Leuten der französischen Kriminalpolizei gehört. Er besitzt ganz die keltische Gabe des raschen, intuitiven Erfassens, aber ihm fehlt das breite Spektrum exakten Wissens, das für die Vervollkommnung seiner Kunst unentbehrlich ist. Der Fall drehte sich um ein Testament und wies einige durchaus interessante Züge auf. Ich konnte ihn auf zwei ganz ähnliche Fälle hinweisen, einer in Riga 1857, der andere in St. Louis 1871, das brachte ihn auf die richtige Spur. Hier ist sein Brief, den ich heute morgen bekam und in dem er sich für meine Hilfe bedankt.«

Mit diesen Worten schob er mir ein zerknittertes Blatt ausländisches Briefpapier herüber. Ich überflog die Zeilen, und eine Fülle bewundernder Ausdrücke stach mir ins Auge: Der Brief wimmelte nur so von magnifiques, coup-de-maîtres und tours-de-force, mit denen der Franzose seine glühende Bewunderung ausdrückte.

»Er spricht wie ein Schüler zu seinem Lehrer«, sagte ich.

»Ach, er bewertet meinen Anteil zu hoch«, sagte Sherlock Holmes leichthin. »Er hat selbst beachtliches Talent. Er besitzt zwei von den drei Fähigkeiten, die ein idealer Detektiv haben muss: die Fähigkeit der Beobachtung und die der Deduktion. Es fehlt ihm lediglich noch an Faktenwissen, aber das kommt mit der Zeit. Jetzt ist er gerade dabei, meine kleinen Schriften ins Französische zu übersetzen.«

»Ihre Schriften?«

»Ach, das wussten Sie nicht?« rief er lachend. »Ja, ich bekenne mich schuldig, Verfasser mehrerer Monographien zu sein. Sie behandeln alle technische Dinge. Dieses Buch zum Beispiel ist meine Abhandlung ›Über die Unterscheidung der Asche verschiedener Tabaksorten‹. Darin spezifiziere ich einhundertvierzig verschiedene Arten von Zigarren-, Zigaretten- und Pfeifentabak, mit Farbtafeln, die die unterschiedlichen Ascherückstände zeigen. Das ist eine Frage, die in Kriminalprozessen immer wieder auftaucht und für die Beweisführung zuweilen von größter Bedeutung sein kann. Wenn man zum Beispiel mit Bestimmtheit sagen kann, dass ein Mord von einem Mann verübt worden ist, der eine indische Lunkah-Zigarre geraucht hat, so engt das die Zielrichtung der Ermittlung natürlich stark ein. Für das geübte Auge unterscheidet sich die schwarze Asche einer Trichinopoly-Zigarre von der weißen, flaumigen Asche von Birds-Eye-Tabak so deutlich wie ein Kohlkopf von einer Kartoffel.«

»Sie haben einen außerordentlichen Sinn für Details«, bemerkte ich.

»Ich weiß um ihre Bedeutung. Dies hier ist meine Monographie über das Lesen von Fußspuren, mit Bemerkungen über die Verwendung von Gips als Mittel, die Abdrücke zu konservieren. Und das ist eine interessante kleine Arbeit über die Auswirkungen des Berufsstandes auf die Form der Hand, mit Lithographien, die die Hände von Dachdeckern, Seeleuten, Korkschneidern, Schriftsetzern, Webern und Diamantschleifern zeigen. Das ist von großem praktischen Nutzen für den wissenschaftlich arbeitenden Detektiv – insbesondere in Fällen, wo es darum geht, eine Leiche zu identifizieren oder das Vorleben eines Verbrechers zu rekonstruieren. Aber ich langweile Sie gewiss mit meinem Steckenpferd.«

»Absolut nicht«, erwiderte ich aufrichtig. »Es ist mir von höchstem Interesse, insbesondere seit ich Gelegenheit hatte, Ihre praktische Anwendung dieser Kenntnisse mitzuerleben. Aber Sie sprachen gerade von Beobachtung und Deduktion. Ist es nicht so, dass das eine gewissermaßen das andere impliziert?«

»Schwerlich«, antwortete er, lehnte sich behaglich in seinem Lehnstuhl zurück und schickte aus seiner Pfeife dicke blaue Wolken zur Decke. »Die Beobachtung zeigt mir zum Beispiel, dass Sie heute Vormittag auf dem Postamt in der Wigmore Street waren, aber die Deduktion sagt mir, dass Sie dort ein Telegramm aufgegeben haben.«

»Das ist richtig!« rief ich. »Beides stimmt! Aber ich weiß beim besten Willen nicht, wie Sie darauf gekommen sind. Es war ein spontaner Entschluss, und ich habe es keiner Seele gegenüber erwähnt.«

»Es ist die einfachste Sache der Welt«, meinte er und schmunzelte über meine Verblüffung, »so lächerlich einfach, dass sich eine Erklärung eigentlich erübrigt. Aber sie mag dazu dienen, die Grenzen der Beobachtung und der Deduktion aufzuzeigen. Die Beobachtung zeigt mir einen kleinen Klumpen rötlicher Erde am Oberleder Ihres Schuhs. Nun ist vor kurzem direkt vor dem Postamt in der Wigmore Street das Pflaster aufgerissen und ein Schacht ausgehoben worden, und es lässt sich kaum vermeiden, in die aufgeworfene Erde hineinzutreten, wenn man in das Gebäude hinein will. Die Erde dort hat einen speziellen rötlichen Farbton, der, soweit ich weiß, sonst nirgends in der Gegend vorkommt. So weit die Beobachtung. Der Rest ist Deduktion.«

»Und wie kamen Sie auf das Telegramm?«

»Nun, ich wusste natürlich, dass Sie keinen Brief geschrieben hatten, denn ich saß Ihnen ja den ganzen Vormittag gegenüber. Außerdem kann ich in Ihrem offen stehenden Schreibtisch einen Bogen Briefmarken und ein dickes Bündel Postkarten erkennen. Weshalb sollten Sie also ins Postamt gegangen sein, außer um ein Telegramm aufzugeben? Wenn man alle anderen Eventualitäten ausschließt, muss das, was übrig bleibt, die Wahrheit sein.«

»In diesem Fall trifft das sicherlich zu«, pflichtete ich ihm nach kurzem Nachdenken bei. »Allerdings lag dieser Fall, wie Sie selbst sagen, sehr einfach. Würden Sie es für unverschämt halten, wenn ich Ihre Theorie auf eine härtere Probe stelle?«

»Ganz im Gegenteil«, antwortete er, »es würde mich davon abhalten, eine zweite Dosis Kokain zu nehmen. Es ist mir ein Vergnügen, mich jedem Problem zu widmen, das Sie mir vorlegen.«

»Ich habe Sie einmal behaupten hören, dass es kaum möglich sei, einen Gegenstand täglich in Gebrauch zu haben, ohne ihm den Stempel der eigenen Persönlichkeit aufzudrücken, so dass ein geübter Beobachter daraus auf den Charakter des Besitzers schließen kann. Nun habe ich hier eine Uhr, die erst kürzlich in meinen Besitz gelangt ist. Würden Sie wohl die Freundlichkeit haben, mir Ihre Meinung über den Charakter und die Gewohnheiten des früheren Eigentümers mitzuteilen?«

Ich reichte ihm die Uhr, nicht ohne ein Gefühl innerer Belustigung, denn diese Aufgabe war, wie ich glaubte, unlösbar, und ich wollte ihm wegen des rechthaberischen Tons, den er zuweilen anschlug, eine kleine Lehre erteilen. Er wog die Uhr in der Hand, musterte eingehend das Zifferblatt, dann öffnete er das Gehäuse und untersuchte das Uhrwerk, erst mit bloßem Auge, dann mit einem starken Vergrößerungsglas. Als er die Uhr endlich wieder zuschnappen ließ und sie mir mit enttäuschtem Gesichtsausdruck zurückgab, konnte ich mich eines Lächelns kaum erwehren.

»Es gibt nur sehr wenige deutliche Fakten«, sagte er. »Die Uhr ist vor kurzem gereinigt worden, das beraubt mich der wichtigsten Anhaltspunkte.«

»Richtig«, sagte ich. »Sie ist gereinigt worden, bevor man sie mir übersandt hat.«

Insgeheim machte ich meinem Gefährten den Vorwurf, sein Nichtwissen mit einer höchst lahmen und schwachen Ausrede zu bemänteln. Welche Anhaltspunkte erwartete er denn von einer Uhr, die nicht gereinigt worden war?

»Obgleich wenig befriedigend, war meine Untersuchung doch nicht gänzlich fruchtlos«, fuhr er fort, während er mit verschleierten Augen träumerisch zur Decke blickte. »Ihre Richtigstellung vorbehalten, würde ich sagen, dass die Uhr Ihrem älteren Bruder gehört hat, der sie von Ihrem Vater geerbt hat.«

»Das schließen Sie zweifellos aus dem H. W. auf der Rückseite?«

»Genau. Das W. deutet auf Ihren eigenen Namen hin. Das Datum auf der Uhr reicht beinahe fünfzig Jahre zurück, und das Monogramm stammt aus der gleichen Zeit wie die Uhr. Sie ist also für die vorige Generation angefertigt worden. Nun ist es üblich, dass Wertgegenstände an den ältesten Sohn vererbt werden, und der trägt mit großer Wahrscheinlichkeit den Vornamen des Vaters. Ihr Vater ist, soviel ich weiß, seit vielen Jahren tot. Die Uhr muss demnach aus dem Besitz Ihres ältesten Bruders stammen.«

»Das ist soweit richtig«, sagte ich. »Können Sie sonst noch etwas sagen?«

»Er war nachlässig in seinen Gewohnheiten – sehr nachlässig und liederlich. Als Erbe hatte er gute finanzielle Aussichten, aber er vergab alle Chancen, lebte längere Zeit in Armut, unterbrochen von kurzen Intervallen von Wohlstand, verfiel schließlich dem Trunk und starb. Das ist alles, was ich folgern kann.«

Ich sprang vom Sessel auf und humpelte erregt im Zimmer umher, mit einem bitteren Gefühl im Herzen.

»Das ist Ihrer unwürdig, Holmes!« rief ich. »Ich hätte nicht geglaubt, dass Sie so tief sinken können. Sie haben Erkundigungen eingezogen über das Leben meines unglücklichen Bruders, und jetzt geben Sie vor, Ihr Wissen auf phantastische Art zu deduzieren. Sie können mir unmöglich zumuten zu glauben, Sie hätten das alles von der alten Uhr abgelesen! Das ist herzlos, und offen gesagt, es grenzt an Scharlatanerie.«

»Mein lieber Doktor«, erwiderte er freundlich, »ich bitte Sie aufrichtig um Verzeihung. Ich hatte die Sache als abstraktes Problem betrachtet und dabei vergessen, das es für Sie persönlich schmerzlich sein muss. Aber ich versichere Ihnen: Bevor Sie mir die Uhr gezeigt haben, wusste ich nicht einmal, dass Sie überhaupt einen Bruder hatten.«

»Aber wie in aller Welt haben Sie dann all diese Dinge herausbekommen? Es stimmt alles ganz haargenau – in allen Einzelheiten!«

»Oh, da hatte ich Glück. Ich konnte nur durch Abwägung der Wahrscheinlichkeiten zu einem Ergebnis kommen. Ich hatte nicht erwartet, es so genau zu treffen.«

»Aber Sie haben nicht einfach nur geraten?«

»Nein! Ich rate niemals. Raten ist eine abscheuliche Angewohnheit – es schadet dem logischen Denken. Die Sache erscheint Ihnen nur deshalb so rätselhaft, weil Sie weder meinem Gedankengang folgen noch jene kleinen Details wahrnehmen, die zu wichtigen Schlussfolgerungen führen können. Beispielsweise habe ich mit der Feststellung begonnen, dass Ihr Bruder nachlässig war. Wenn Sie den unteren Teil des Uhrgehäuses betrachten, werden Sie bemerken, dass es nicht nur an zwei Stellen eingebeult ist, sondern überall Kratzer und Schrammen aufweist – eine Folge der Gewohnheit, die Uhr zusammen mit anderen harten Gegenständen wie Münzen oder Schlüsseln in der Tasche zu tragen. Es ist sicherlich keine Meisterleistung zu folgern, dass ein Mann, der so achtlos mit einer Fünfzig-Guineen-Uhr umgeht, ein nachlässiger Mensch sein muss. Ebenso ist die Schlussfolgerung nicht weit hergeholt, dass jemand, der einen so wertvollen Gegenstand erbt, auch anderweitig gut versorgt sein dürfte.«

Ich nickte zustimmend, um zu zeigen, dass ich seiner Argumentation folgte.

»Nun pflegen Pfandleiher in England bei versetzten Uhren die Nummer des Pfandscheines mit einer feinen Nadel in die Innenseite des Gehäuses zu ritzen«, fuhr Holmes fort. »Das ist praktischer als ein Etikett, denn so kann die Nummer nicht verloren gehen oder verwechselt werden. Mit meiner Lupe konnte ich im Innern des Uhrgehäuses nicht weniger als vier solcher Nummern erkennen. Daraus folgt: Ihr Bruder steckte des Öfteren in einer finanziellen Klemme. Zweite Schlussfolgerung: Er kam zeitweise wieder zu Wohlstand, sonst hätte er das Pfand nicht wieder einlösen können. Betrachten Sie schließlich noch den Uhrdeckel mit dem kleinen Schlüsselloch. Sehen Sie die tausend winzigen Schrammen rund um das Schlüsselloch, wo der Schlüssel immer wieder abgerutscht ist? Kein nüchterner Mensch würde solche Kratzer hinterlassen. Aber auf der Uhr eines Trinkers findet man sie regelmäßig. Er zieht sie nachts auf und hinterlässt diese Spuren seiner unsicheren Hand. Was ist an alledem so rätselhaft?«

»Es ist klar wie der helle Tag«, antwortete ich. »Verzeihen Sie, dass ich Sie zu Unrecht so angefahren habe. Ich hätte mehr Vertrauen in Ihre fabelhaften Fähigkeiten setzen sollen. Darf ich fragen, ob Sie gegenwärtig mit der Untersuchung eines Falles befasst sind?«

»Leider nicht. Daher das Kokain. Ich kann nicht leben ohne geistige Anstrengung. Wofür soll man sonst leben? Kommen Sie einmal hierher ans Fenster. Gab es jemals etwas Trübseligeres, Schaleres, Sinnloseres als diese Welt? Sehen Sie nur, wie die gelben Nebelwolken durch die Straße treiben und an den fahlbraunen Häusern vorüber ziehen. Was könnte hoffnungsloser prosaisch und materialistisch sein? Was nützt es denn, Doktor, Talent zu haben, wenn man es nicht anwenden kann? Verbrechen ist banal, das Dasein ist banal, und nur banale Fähigkeiten gelten etwas in dieser Welt.«

Ich wollte gerade meinen Mund zu einer Entgegnung auf seine Tirade öffnen, als ein kurzes Klopfen an der Tür ertönte und unsere Hauswirtin eintrat, ein Messingtablett mit einer Visitenkarte in der Hand.

»Eine junge Dame wünscht Sie zu sprechen, Sir«, sagte sie zu meinem Gefährten.

»Miss Mary Morstan«, las er laut. »Hm – der Name sagt mir nichts. Bitten Sie die junge Dame herauf, Mrs Hudson. Gehen Sie nicht, Doktor. Es wäre mir lieb, wenn Sie hier blieben.«

2. KAPITEL

Die Darlegung des Falles

Miss Morstan betrat unser Wohnzimmer mit festem Schritt und in äußerlich ruhiger Haltung. Sie war jung, blond, klein und zierlich, trug tadellose Handschuhe und war sehr geschmackvoll gekleidet. Die Schlichtheit ihres an-spruchslosen Kostüms ließ allerdings auf beschränkte Mittel schließen. Ihr Kleid war von einer stumpfen grau-beigen Farbe, ohne Spitzen oder Besatz, dazu trug sie einen kleinen Turbanhut im gleichen tristen Farbton, der nur durch die Andeutung einer weißen Feder an der Seite ein wenig aufgehellt wurde. Sie besaß weder besonders regelmäßige Gesichtszüge noch einen auffallend schönen Teint, aber ihr Gesichtsausdruck war lieblich und anziehend, und aus ihren großen blauen Augen sprach ein ungewöhnlich reiches Seelenleben voller Wärme und Mitgefühl. Ich bin auf drei Kontinenten Frauen verschiedener Nationen begegnet, aber niemals hatte ich ein Gesicht gesehen, in dem sich so deutlich eine edle, feinfühlige Natur ausprägte. Doch als sie auf dem Stuhl Platz nahm, den Holmes ihr anbot, konnte es meiner Aufmerksamkeit nicht entgehen, dass ihre Lippen zitterten und ihre Hand bebte, und dass sie alle Anzeichen heftiger innerer Erregung aufwies.

»Ich bin zu Ihnen gekommen, Mr Holmes«, sagte sie, »weil Sie der Dame, bei der ich in Diensten stehe, Mrs Cecil Forrester, vor einiger Zeit bei der Aufklärung einer kleinen häuslichen Verwicklung behilflich gewesen sind. Sie war tief beeindruckt von Ihrer Freundlichkeit und von Ihren Fähigkeiten.«

»Mrs Cecil Forrester«, wiederholte er nachdenklich. »Ja, ich glaube, ich konnte ihr damals einen kleinen Dienst erweisen. Doch der Fall lag, soweit ich mich erinnere, sehr einfach.«

»Sie sah das anders. Aber von meinem Fall können Sie unmöglich das Gleiche sagen. Etwas Seltsameres und Rätselhafteres als meine derzeitige Lage kann ich mir kaum vorstellen.«

Holmes rieb sich die Hände, und seine Augen glänzten. Er beugte sich im Sessel nach vorn, und seine scharfen, adlerartigen Zügen zeigten den Ausdruck höchster Konzentration.

»Legen Sie mir Ihren Fall dar«, forderte er sie in knappem geschäftsmäßigen Ton auf.

Meine Anwesenheit wurde mir allmählich peinlich. »Sie werden mich gewiss entschuldigen«, murmelte ich, während ich mich erhob.

Doch zu meiner Überraschung hob die junge Dame ihre behandschuhte Hand, um mich zurückzuhalten.

»Wenn Ihr Freund so freundlich sein würde, hier zu bleiben, könnte er mir vielleicht einen großen Dienst erweisen«, sagte sie.

Ich sank in meinen Sessel zurück.

»Die Tatsachen sind, in aller Kürze, die folgenden«, fuhr sie fort. »Mein Vater war Offizier in einem indischen Regiment. Als ich noch ein Kind war, schickte er mich in die Heimat zurück. Meine Mutter war gestorben, und da ich in England keine Verwandten hatte, wurde ich in einem angesehenen Pensionat in Edinburgh untergebracht, wo ich bis zu meinem siebzehnten Lebensjahr blieb. Im Jahr 1878 erhielt mein Vater, der damals dienstältester Hauptmann seines Regiments war, einen zwölfmonatigen Heimaturlaub. Er telegrafierte mir von London aus, dass er gut angekommen sei und dass ich sogleich zu ihm kommen solle; als Adresse nannte er das Langham Hotel. Aus seiner Nachricht sprach, wie ich mich erinnere, nichts als Liebe und Güte. In London angekommen, fuhr ich sogleich zum Langham Hotel, wo ich erfuhr, dass Captain Morstan in der Tat dort abgestiegen war, aber am Abend zuvor ausgegangen und noch nicht zurückgekehrt sei. Ich wartete den ganzen Tag auf ihn, ohne jedoch eine Nachricht zu erhalten. Am Abend setzte ich mich auf Rat des Hoteldirektors mit der Polizei in Verbindung, und am nächsten Morgen gaben wir in allen Zeitungen Suchanzeigen auf. Unsere Nachforschungen blieben jedoch ohne Erfolg, und bis zum heutigen Tag gibt es keinerlei Lebenszeichen von meinem unglücklichen Vater. Er war in die Heimat zurückgekehrt voller Hoffnung, hier ein wenig Ruhe und Behaglichkeit zu finden, und stattdessen –«

Sie hob die Hand zum Mund, und ein unterdrücktes Schluchzen erstickte ihre Stimme.

»Das Datum?« fragte Holmes und schlug sein Notizbuch auf.

»Er verschwand am 3. Dezember 1878 – vor beinahe zehn Jahren.«

»Sein Gepäck?«

»War im Hotel geblieben. Darin fand sich nichts, was uns einen Hinweis hätte geben können – nur Kleidungsstücke, ein paar Bücher und eine Menge Kuriositäten von den Andamanen. Mein Vater war einer der Offiziere, die dort das Kommando über die Wachmannschaften der Strafkolonie hatten.«

»Hatte er Freunde in London?«

»Nur einen, soweit ich weiß: Major Sholto von seinem eigenen Regiment, 34th Bombay Infantery. Der Major hatte nicht lange zuvor seinen Abschied genommen und lebte nun in Upper Norwood. Selbstverständlich setzten wir uns sofort mit ihm in Verbindung, aber ihm war nicht einmal bekannt, dass sein Offizierskamerad in England war.«

»Ein erstaunlicher Fall«, bemerkte Holmes.

»Das Erstaunlichste daran habe ich Ihnen noch gar nicht erzählt. Vor ungefähr sechs Jahren – um genau zu sein, am 4. Mai 1882 – erschien in der Times ein Inserat, in dem nach der Adresse von Miss Mary Morstan geforscht wurde, samt der Versicherung, es sei zu ihrem Vorteil, sich zu melden. Weder ein Name noch die Adresse des Inserenten waren angegeben. Ich hatte damals gerade meine Stelle als Gouvernante im Haus von Mrs Cecil Forrester angetreten. Auf ihren Rat hin ließ ich meine Adresse auf der Annoncenseite der Zeitung erscheinen. Und noch am selben Tag erhielt ich mit der Post eine Pappschachtel, in der eine große, schimmernde Perle lag. Ohne Begleitschreiben, ohne ein einziges Wort. Seither ist mir jedes Jahr am gleichen Tag eine ähnliche Schachtel mit einer ähnlichen Perle zugeschickt worden, immer ohne Hinweis auf den Absender. Die Perlen sind nach dem Urteil eines Kenners von seltener Art und von bedeutendem Wert. Sehen Sie selbst, wie schön sie sind.«

Mit diesen Worten öffnete sie ein flaches Etui und zeigte uns sechs der schönsten Perlen, die ich je gesehen hatte.

»Ihre Aussage ist höchst interessant«, sagte Sherlock Holmes. »Hat sich darüber hinaus noch etwas ereignet?«

»Ja, und zwar heute. Das ist es, weshalb ich zu Ihnen gekommen bin. Heute Morgen erhielt ich diesen Brief – aber vielleicht möchten Sie ihn selbst lesen.«

»Danke«, sagte Holmes. »Das Kuvert ebenfalls, wenn ich bitten darf. Poststempel: London SW. Datum: 7. Juli. Hm! Abdruck eines männlichen Daumens in der Ecke – vermutlich vom Briefträger. Papier von der besten Sorte. Der Umschlag kostet einen Sixpence die Packung. Der Mann ist offenbar wählerisch in seinen Schreibwaren. Keine Adresse.

›Seien Sie heute Abend um sieben Uhr vor dem Lyceum Theatre, bei der dritten Säule von links. Falls Sie misstrauisch sind, bringen Sie zwei Freunde mit. Ihnen ist Unrecht geschehen, und Sie sollen zu Ihrem Recht kommen. Lassen Sie die Polizei aus dem Spiel, sonst ist alles vergebens. Ihr unbekannter Freund.‹

Nun, wahrhaftig, das ist ein nettes kleines Rätsel! Was gedenken Sie zu tun, Miss Morstan?«

»Genau das wollte ich Sie fragen.«

»Wir müssen natürlich hingehen – Sie und ich und – ja natürlich, Doktor Watson ist genau der richtige Mann. Wie Ihr Korrespondent geschrieben hat: zwei Freunde. Wir beide haben schon früher zusammengearbeitet.«

»Aber wird er denn auch mitkommen?« fragte sie mit süßem Bitten in ihrer Stimme und in ihrem Blick.

»Ich bin stolz und glücklich, Ihnen einen Dienst erweisen zu dürfen!« rief ich feurig.

»Sie sind beide sehr liebenswürdig«, sagte sie. »Ich habe ein zurückgezogenes Leben geführt, und ich habe keine Freunde, an die ich mich wenden könnte. Wenn ich um sechs Uhr wieder hier bin, ist das rechtzeitig genug?«

»Ja, aber nicht später«, antwortete Holmes. »Nur noch eine Frage: Ist diese Handschrift die gleiche wie die der Adressen auf den Perlenpäckchen?«

»Ich habe sie mitgebracht«, antwortete sie und kramte ein halbes Dutzend Zettel hervor.

»Sie sind wirklich eine musterhafte Klientin. Sie haben einen sicheren Instinkt. Lassen Sie sehen!« Er breitete die Papiere auf dem Tisch aus, und sein rascher, scharfer Blick wanderte von einem zum anderen. »Die Handschrift ist verstellt, ausgenommen in dem Brief«, sagte er dann, »aber es steht außer Frage, dass alles von der selben Hand geschrieben wurde. Sehen Sie, wie das griechische ›e‹ sich hartnäckig behauptet, und den kleinen Schnörkel beim ›s‹ am Wortende. Diese Schriftstücke stammen unzweifelhaft von ein und derselben Person. Ich möchte Ihnen keine falschen Hoffnungen machen, Mrs Morstan, aber besteht eine Ähnlichkeit zwischen dieser Handschrift und der Ihres Vaters?«

»Nicht die geringste.«

»Das dachte ich mir. Wir erwarten Sie dann hier um sechs Uhr. Bitte erlauben Sie mir, diese Papiere vorerst hier zu behalten. Vielleicht möchte ich sie mir vor unserem Treffen noch einmal ansehen. Jetzt ist es erst halb vier. Also dann, au revoir.«

»Au revoir«, erwiderte unsere Besucherin, schenkte jedem von uns einen freundlichen, strahlenden Blick, barg das Etui mit den Perlen wieder in ihrem Busen und eilte davon.

Ich trat ans Fenster und blickte ihr nach, wie sie raschen Schrittes die Straße hinunterging, bis das graue Hütchen mit der weißen Feder nur noch ein Punkt in der dunklen Menge war.

»Welch überaus reizende junge Frau!« rief ich, als ich mich wieder zu meinem Gefährten umwandte.

Der hatte seine Pfeife wieder angezündet und lehnte mit halb geschlossenen Augen im Sessel.

»So?« meinte er unbeteiligt, »das ist mir nicht aufgefallen.«

»Sie sind wirklich ein Automat – eine Rechenmaschine!« rief ich. »Zuweilen haben Sie etwas entschieden Unmenschliches an sich.«

Er lächelte nachsichtig.

»Es ist von allergrößter Bedeutung«, sagte er dann, »sein Urteil niemals von persönlichen Eigenschaften einer Person beeinflussen zu lassen. Für mich ist ein Klient stets ein neutrales Wesen, eine mathematische Größe in einem Problem. Jede Art von Gefühl steht im Widerspruch zum klaren Denken. Ich kann Ihnen versichern, dass die anziehendste Frau, die ich je gesehen habe, am Galgen endete, weil sie ihre drei kleinen Kinder vergiftet hatte, um die Lebensversicherung einzustreichen, und der äußerlich abstoßendste Mann, den ich kenne, ist ein Philanthrop, der beinahe eine Viertelmillion für die Londoner Armen gespendet hat.«

»Aber in diesem Fall –«

»Ich mache nie eine Ausnahme. Ausnahmen entkräften die Regel. Hatten Sie jemals Gelegenheit, den Charakter eines Menschen aus seiner Handschrift abzuleiten? Was meinen Sie über das Geschreibsel dieses Burschen?«

»Die Schrift ist regelmäßig und gut leserlich«, antwortete ich. »Vielleicht ein Geschäftsmann, ein Mann mit starker Persönlichkeit.«

Holmes schüttelte den Kopf.

»Beachten Sie die Oberlängen«, sagte er. »Sie reichen kaum über die Mitte hinaus. Dieses ›d‹ hier könnte auch ein ›a‹ sein, und dieses ›l‹ ein ›e‹. Charakterstarke Menschen neigen immer zu deutlichen Oberlängen, wie unleserlich ihre Schrift sonst auch sein mag. Seine ›k‹s verraten Unentschiedenheit, und seine Großbuchstaben Selbstgefälligkeit. Ich werde jetzt ausgehen, ich möchte noch ein paar Auskünfte einholen. Derweil darf ich Ihnen dieses Buch empfehlen – eine der bemerkenswertesten Abhandlungen, die je geschrieben wurden: Winwood Reades Martyrium der Menschheit. In einer Stunde bin ich wieder da.«

So saß ich an dem kleinen Erkerfenster, das Buch in der Hand, aber in Gedanken weit von den kühnen Spekulationen des Autors entfernt. Meine Gedanken galten unserer Besucherin – ihrem Lächeln, dem warmen, vollen Klang ihrer Stimme und dem sonderbaren Geheimnis, das ihr Leben überschattete. Wenn sie siebzehn Jahre alt war, als ihr Vater verschwand, musste sie jetzt siebenundzwanzig sein – ein schönes Alter, in dem man die Befangenheit der Jugend abgelegt hat und durch Erfahrung reifer geworden ist. Ich saß und sann, bis mir schließlich so gefährliche Gedanken in den Kopf kamen, dass ich aufsprang und an meinen Schreibtisch eilte, um mich in den neuesten Artikel zur Pathologie zu vertiefen. Wer war ich denn – ein Militärarzt mit einem schwachen Bein und einem noch schwächeren Bankkonto! Wie konnte ich es wagen, an solche Dinge auch nur zu denken? Sie war eine mathematische Größe in einem Problem – weiter nichts. Wenn meine Zukunft düster aussah, dann war es auf alle Fälle besser, sich ihr wie ein Mann zu stellen statt zu versuchen, sie durch phantastische Irrlichter aufzuhellen.

3. KAPITEL

Auf der Suche nach einer Lösung

Es war bereits halb sechs, als Holmes zurückkam. Er war beschwingt, voller Energie und in vortrefflicher Laune, eine Stimmung, die bei ihm mit Anfällen schwärzester Depression wechselte.

»Da ist nichts besonders Mysteriöses in dieser Angelegenheit«, sagte er, während er den Tee trank, den ich ihm eingegossen hatte. »Die Fakten scheinen nur eine einzige Erklärung zuzulassen.«

»Was! Sie haben die Lösung schon gefunden?«

»Das wäre zu viel gesagt. Ich habe einen vielversprechenden Hinweis gefunden, das ist alles. Aber er ist sehr vielversprechend. Allerdings fehlen noch die Details. Ich habe die alten Jahrgänge der Times durchgesehen und herausgefunden, dass Major Sholto aus Upper Norwood, ehemals 34th Bombay Infantery, am 28. April 1882 verstorben ist.«

»Ich mag ja arg begriffsstutzig sein, Holmes, aber ich kann nicht erkennen, was daran vielversprechend ist.«

»Nicht? Das wundert mich. Betrachten Sie die Sache doch einmal so: Captain Morstan verschwindet. Die einzige Person in London, die er aufgesucht haben kann, ist Major Sholto. Major Sholto bestreitet, von Morstans Anwesenheit in London gewusst zu haben. Vier Jahre später stirbt Sholto. Eine Woche nach seinem Tod erhält Captain Morstans Tochter ein wertvolles Geschenk, was sich seither Jahr für Jahr wiederholt und nun darin gipfelt, dass sie einen Brief bekommt, in dem gesagt wird, ihr sei Unrecht geschehen. Welches andere Unrecht kann damit gemeint sein, als dass ihr der Vater genommen wurde? Und warum sollten die Geschenksendungen unmittelbar nach Sholtos Tod einsetzen, wenn nicht aus dem Grund, dass Sholtos Erbe etwas über das Geheimnis weiß und den Wunsch nach Wiedergutmachung hat? Oder haben Sie vielleicht eine andere Theorie, die sich mit den Fakten deckt?«

»Aber was für eine absonderliche Art der Wiedergutmachung! Und wie absonderlich arrangiert! Weshalb sollte er denn erst jetzt diesen Brief schreiben und nicht schon vor sechs Jahren? Außerdem schreibt er, dass sie zu ihrem Recht kommen soll. Welches Recht ist damit gemeint? Man darf doch kaum annehmen, dass ihr Vater noch lebt. Und von einem anderen Unrecht wissen wir in ihrem Fall nichts.«

»Es gibt noch einige Unklarheiten; sicherlich gibt es noch einige Unklarheiten«, räumte Holmes nachdenklich ein, »aber unser Ausflug heute Abend wird sie beseitigen. Ah, da fährt ein Wagen vor, und Miss Morstan sitzt darin. Sind Sie bereit? Dann sollten wir uns beeilen, denn es ist schon kurz nach sechs.«

Ich griff nach meinem Hut und nach meinem schwersten Stock, wobei mir nicht entging, dass Holmes seinen Revolver aus der Schublade holte und ihn in seine Manteltasche gleiten ließ. Offenbar rechnete er damit, dass es bei unserem nächtlichen Vorhaben lebhaft zugehen könnte.

Miss Morstan war in ein dunkles Cape gehüllt; ihr empfindsames Gesicht wirkte gefasst, aber blass. Sie hätte kein Weib sein müssen, wenn sie angesichts der seltsamen Unternehmung, zu der wir aufbrachen, kein tiefes Unbehagen empfunden hätte, aber sie bewies vollkommene Selbstbeherrschung und antwortete bereitwillig auf einige zusätzliche Fragen, die Sherlock Holmes ihr stellte.

»Major Sholto war ein vertrauter Freund von Papa«, sagte sie. »In seinen Briefen hat er den Major häufig erwähnt. Er und Papa hatten das Kommando über die Truppen auf den Andamanen, dadurch verbrachten sie viel Zeit miteinander. Ach, übrigens – in Papas Schreibtisch wurde ein merkwürdiger Zettel gefunden, mit dem niemand etwas anfangen konnte. Ich glaube zwar nicht, dass er wichtig ist, aber ich dachte, Sie würden ihn vielleicht gern sehen wollen, deshalb habe ihn mitgebracht. Hier ist er.«

Holmes entfaltete den Zettel behutsam und strich ihn auf seinem Knie glatt. Dann inspizierte er ihn sorgfältig und methodisch mit seinem Vergrößerungsglas.

»Das Papier ist ein indisches Fabrikat«, sagte er. »Es war eine Zeitlang mit Nadeln auf einem Holzbrett festgesteckt. Die Zeichnung zeigt offenbar den Grundriss eines Gebäudeteils – eines sehr großen Bauwerks mit zahlreichen Räumen, Gängen und Korridoren. An einer Stelle ist mit roter Tinte ein kleines Kreuz eingezeichnet, darüber steht in verblasster Bleistiftschrift ›3,37 von links‹. In der linken Ecke ist eine eigenartige Hieroglyphe zu sehen: vier Kreuze nebeneinander, deren Balken sich berühren. Daneben steht in grober, ungelenker Handschrift: ›Das Zeichen der Vier – Jonathan Small, Mahomet Singh, Abdullah Khan, Dost Akbar‹. Nein, ich gebe zu, da sehe ich keinen Zusammenhang mit unserer Angelegenheit. Trotzdem ist das Dokument offenkundig von Bedeutung. Es wurde sorgsam in einer Brieftasche aufbewahrt, denn keine der beiden Seiten ist vergilbt.«

»In seiner Brieftasche haben wir es gefunden.«

»Bewahren Sie es gut auf, Miss Morstan, es wird uns vielleicht noch von Nutzen sein. Ich beginne zu vermuten, dass dieser Fall sich als wesentlich diffiziler und hintergründiger erweisen könnte, als ich zunächst gedacht hatte. Das muss ich neu überdenken.«

Er lehnte sich in die Wagenpolster zurück, und ich sah an seinen zusammengezogenen Brauen und seinem abwesenden Blick, dass er scharf nachdachte. Miss Morstan und ich unterhielten uns mit gedämpfter Stimme über unsere nächtliche Unternehmung und was sie wohl bringen würde, unser Gefährte dagegen verharrte bis zum Ende der Fahrt in undurchdringlichem Schweigen.

Es war ein Septemberabend und noch nicht einmal sieben Uhr, aber es war ein trüber Tag gewesen, und jetzt lag ein dicker, nasser Nebel über der großen Stadt. Schmutzigfarbene Wolken hingen trist über schmutzigen Straßen. Die Laternen rechts und links des Strand waren zu matten, diffusen Punkten geschrumpft, welche schwache Lichtkreise auf das nasse Pflaster warfen. Aus den Schaufenstern der Geschäfte strömte helles Licht in die dunstige Nebelluft hinaus und zeichnete trübe, rasch wechselnde Muster auf die von vielen Menschen belebte Straße. Es hatte etwas Unheimliches, fast Gespenstisches, diese endlose Prozession von Gesichtern durch diese schmalen Lichtstreifen huschen zu sehen – traurige und frohe, verhärmte und heitere. Sie glitten aus dem Dunkel ins Licht und wieder zurück ins Dunkel, wie es der Menschen Los ist. Ich bin sonst nicht leicht Stimmungen unterworfen, aber dieser trübe, dunkle Abend, verbunden mit dem geheimnisvollen Abenteuer, auf das wir uns eingelassen hatten, machte mich nervös und bedrückt. Miss Morstan war unschwer anzusehen, dass sie das Gleiche empfand. Nur Holmes war über solche flüchtigen Eindrücke erhaben. Er hielt ein aufgeschlagenes Notizbuch auf den Knien, in das er im Licht seiner Taschenlampe ab und zu Ziffern und Notizen eintrug.

An den Seiteneingängen des Lyceum Theatre standen die Menschen bereits dicht gedrängt. Vor dem Haupteingang fuhren in dichter Folge zwei- und vierrädrige Wagen vor, denen Herren mit steifer Hemdbrust und in Shawls gehüllte, diamantenbehängte Damen entstiegen. Wir hatten die dritte Säule, den Ort unseres Stelldicheins, kaum erreicht, da wurden wir von einem klein gewachsenen, kräftigen dunkelhaarigen Mann in Kutscherkleidung angesprochen.

»Sind Sie die Herrschaften, die Miss Morstan begleiten?« fragte er.

»Ich bin Miss Morstan, und diese beiden Gentlemen sind meine Freunde«, antwortete sie.

Zwei seltsam durchdringende Augen musterten uns mit scharfem Blick.

»Sie müssen schon entschuldigen, Miss«, sagte er mit störrischer Miene. »Aber ich habe Anweisung, mir Ihr Wort geben zu lassen, dass keiner Ihrer Begleiter von der Polizei ist.«

»Darauf kann ich Ihnen mein Wort geben«, lautete ihre Antwort.

Er ließ einen scharfen Pfiff ertönen, woraufhin ein Gassenjunge eine Kutsche heranführte und den Schlag öffnete. Der Mann, der uns angesprochen hatte, schwang sich auf den Bock, während wir unsere Plätze im Wageninnern einnahmen. Wir saßen kaum, da ließ der Kutscher die Peitsche auf dem Rücken des Pferdes spielen, und los ging die rasche Fahrt durch die nebeltrüben Straßen.

Es war eine eigentümliche Situation. Wir fuhren mit unbekanntem Auftrag einem unbekannten Ziel entgegen. Entweder war diese Einladung nichts als ein schlechter Scherz – was als Hypothese kaum haltbar war –, oder wir hatten Grund anzunehmen, dass unsere Expedition wichtige Enthüllungen bringen würde. Miss Morstans Haltung blieb entschlossen und gefasst wie zuvor. Ich versuchte zwar, sie durch Erzählungen von meinen afghanischen Abenteuern abzulenken und ein wenig aufzuheitern, aber ehrlich gesagt war ich selbst in dieser Situation so aufgeregt und so gespannt auf die Dinge, die auf uns zukamen, dass meine Darstellung gelegentlich etwas durcheinander geriet. Noch heute behauptet sie, ich hätte ihr eine ergreifende Anekdote erzählt, wie mitten in der Nacht eine Muskete in mein Zelt geschaut hätte und ich ein doppelläufiges Tigerjunges darauf abgefeuert hätte. Zunächst war ich noch in der Lage, einigermaßen die Richtung zu verfolgen, in die wir fuhren, aber schon bald – kein Wunder bei der Schnelligkeit der Fahrt, bei dem Nebel und bei meiner beschränkten Kenntnis von London – hatte ich die Orientierung gänzlich verloren und bemerkte nur noch, dass die Strecke, die wir zurücklegten, offenbar sehr lang war. Sherlock Holmes hingegen war keinen Moment im Zweifel. Während die Kutsche über offene Plätze und durch zahllose Querstraßen und Gassen ratterte, murmelte er die Straßennamen vor sich hin:

»Rochester Row. Nun Vincent Square. Jetzt kommen wir bei der Vauxhall Bridge Road heraus. Wir fahren wohl auf die Surrey-Seite hinüber. Richtig, das dachte ich mir. Jetzt sind wir auf der Brücke. Sehen Sie, hier kann man einen Blick auf den Fluss erhaschen.«

Tatsächlich war für einen flüchtigen Augenblick das breite, ruhig fließende Wasser der Themse zu erkennen, auf dem sich die Lampenlichter spiegelten, aber unsere Kutsche jagte weiter, in das Straßenlabyrinth der jenseitigen Themseseite hinein.