Dating-Roman - Isobel Markus - E-Book

Dating-Roman E-Book

Isobel Markus

0,0
12,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
  • Herausgeber: mikrotext
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2024
Beschreibung

Zwei Freundinnen begeben sich gemeinsam in die Welt des Online-Datings. Sie sind Mitte 40, die Kinder aus dem Haus, der letzte Herzschmerz ist Jahre her und sie suchen: Isi nach jemandem, der „einfach passt“, während Wiebke dem Credo „Let’s have fun tonight and get serious tomorrow“ folgt. Sie swipen, schreiben und treffen sich innerhalb von sieben Tagen mit sieben Personen, erleben aber erst dann die schönsten Dating-Geschichten, als sie sich vornehmen, sie nicht mehr zu suchen.

Lustig, traurig, ernüchternd, nachdenklich, absurd und turbulent erzählt der autofiktionale Roman von der Suche nach Liebe im 21. Jahrhundert, von desillusionierenden Begegnungen und digitalen Hoffnungsräumen. Von der An- und der Abwesenheit des Zufalls, von Fremde, Nähe und der Ewigkeit des Moments. Lebensentwürfe, Sehnsüchte, Neurosen, Obsessionen, Projektionen prallen aufeinander und immer wieder blitzt die Hoffnung auf. Er zeigt Menschen, die sich mit Hilfe von künstlicher Intelligenz auf der Flucht vor Einsamkeit befinden und sich während der Suche nach Zugehörigkeit offenbaren. Menschen, die versuchen, der Vereinzelung zu entkommen, sich an den Moment zurückwünschen, an dem sie sich zum letzten Mal wie sie selbst gefühlt haben. Menschen, die vertrauen, enttäuscht werden, Vertrauen missbrauchen und vielleicht irgendwann etwas von dem finden, was sie suchen – oder gerade nicht suchen. Happy End? Vielleicht!
„Geschichten mit Suchtpotential – mit das Beste, was ich seit langem gelesen habe.“
Ulrich Noller

„Hach!“
Amelie Fried

„Das ist witzig, unterhaltsam und könnte sofort verfilmt werden.“
Björn Kuhligk

„In der Gegenwartsliteratur auf Deutsch ist Isobel Markus die Göttin der kleinen Dinge. Und ab jetzt auch noch die der Dating-Prosa.“
Michael Ebmeyer

Isobel Markus ist freie Autorin und lebt in Berlin. Sie schreibt für die Berliner Szenen und weitere Rubriken der taz. Ihre Kurzgeschichten wurden in Literaturzeitschriften und Anthologien veröffentlicht und ins Arabische übersetzt. Bisher erschienen von ihr Stadt der ausgefallenen Leuchtbuchstaben (2021), Der Satz (2022) und Neues aus der Stadt der ausgefallenen Leuchtbuchstaben (2023), alle im Quintus Verlag. Dating-Roman ist ihr zweiter Roman und erscheint 2024 bei mikrotext. In der Lettrétage veranstaltet sie die senatsgeförderte Veranstaltungsreihe Berliner Salonage.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 344

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



ISOBEL MARKUSDATING-ROMAN

Cover: Inga Israel

Covermotiv: Andrej Lisakov, Unsplash

Schriften: Gentium Book Plus, AttentionPro

www.mikrotext.de

ISBN 978-3-948631-47-5

Alle Rechte vorbehalten.

© mikrotext 2024

Inhalt

Das Buch

Die Autorin

Dating-Roman

Dankeschön

Lesetipp: Dieses makellose Blau

Über den Verlag

Das Buch

Dating-Roman von Isobel Markus gibt Einblicke in die emotionalen Höhen und Tiefen des Datings, der Suche nach „dem Anderen“ und dem Ich, verrät gleichzeitig aber auch alles über Phänomene wie Date-Stalking, Benching, Ghosting, Sneating, Haunting und Breadcrumbing in der Kluft zwischen Digitalität und realer Welt, die nicht bizarrer, aber auch nicht menschlicher sein könnte.

Die Autorin

Isobel Markus ist freie Autorin und lebt in Berlin. Sie schreibt für die Berliner Szenen und weitere Rubriken der taz. Ihre Kurzgeschichten wurden in Literaturzeitschriften und Anthologien veröffentlicht und ins Arabische übersetzt. Bisher erschienen von ihr Stadt der ausgefallenen Leuchtbuchstaben (2021), Der Satz (2022) und Neues aus der Stadt der ausgefallenen Leuchtbuchstaben (2023), alle im Quintus Verlag. Dating-Roman ist ihr zweiter Roman. In der Lettrétage veranstaltet sie die senatsgeförderte Veranstaltungsreihe Berliner Salonage.

Isobel Markus

Dating-Roman

D er Mann, der mir in der Pizzeria bis vor einer Viertelstunde noch gegenüber saß, sich auf die Toilette verzogen hat und sich vielleicht mit Durchfall oder Verstopfung plagt, ist ziemlich schräg. Aber das kann ja durchaus interessant sein. Er erzählte, dass er sonntags immer Tierdokus guckt, gern über Tiere der Savanne, aber eigentlich auch alle anderen, nur die Unterwasserwelten würden ihn nicht interessieren. Ach, dachte ich, schon wieder keine Gemeinsamkeit.

Trotzdem, so lang wie er verschwunden bleibt, mache ich mir langsam Sorgen. Mittlerweile habe ich mein Glas Wein ausgetrunken, alle meine Nachrichten gecheckt und eine berufliche Mail beantwortet. Dazu habe ich Wiebke, Julia und Vala in unsere während Corona gegründete Chatgruppe Leute-ohne-Geschmack, die auch Armin und seinen Mann Donnie miteinschließt, geschrieben, dass der Typ echt schräg, aber immerhin ganz nett sei, woraufhin ein lachendes Emoji von Wiebke und jeweils ein Herz von Vala und Julia zurückkam. Hinzu setzte ich, dass ich mir allerdings Gedanken machte, wo er blieb, weil er nicht mehr von der Toilette zurückkäme und ich mich fragte, ob das eine Form des Ghostings sein könnte?

Von Julia kam ein Fragezeichen und Wiebke schickte einen Tränen lachenden Emoji und schrieb dazu: Der hat entweder die Hosen voll oder er hat sich verlaufen. Bleib einfach cool.

Ich lächle also cool und sehe, dass sich der Ober davon angesprochen fühlt.

„Noch ein Glas Wein?“, fragt er und ich nicke: „Aber nur ein Halbes, bitte.“

Er grinst wieder. Ein bisschen verständnisvoll diesmal. Vorhin war das Grinsen eher ironisch, wie ich fand. Ich glaube, er verstand direkt, als wir durch die Tür kamen, was wir sind. Ein sofort für alle ersichtlich unpassendes Online-Dating-Match.

„Online-Dating ist wie Ananas aus der Dose“, maulte ich an dem Abend mit Wiebke, als die ganze Geschichte ihren Lauf nahm. „Es erinnert schon irgendwie an Ananas, aber ohne das Sinnliche der Frucht und die natürliche Struktur. Das Geräusch beim Aufreißen einer Dosenananas ist kalt, blechern und mechanisch. Alles ist praktisch und zielgerichtet, weil mundstückgerecht aufbereitet, um schnell zu konsumieren, aber insgesamt etwas seelenlos. Dazu gleicht eine Dose der anderen. Zumindest von außen, oder nicht?“ Wiebke hatte bloß ungeduldig gesagt: „Völlig egal jetzt. Lade endlich ein Foto in die App.“ Und das habe ich dann gemacht.

Deswegen warte ich also auf den Mann ohne Gemeinsamkeit. Die fehlende Gemeinsamkeit hatten wir nämlich auch schon beim Musikgeschmack, der sich bei ihm vornehmlich auf Genesis begrenzte. Peter Gabriel hätte die Pop-Musik revolutioniert, erklärte er mir, ob ich denn wisse, dass der Musikclip von „Sledgehammer“ das allererste animierte Video überhaupt war. Ich nickte. Zufällig wusste ich das. „This will be my testimony, yeah“, hörte ich in meinem Kopf und hoffte, es wäre kein Zeichen für den Abend.

„Was machst du denn beruflich so?“, fragte ich schnell.

„Wem ist nichts zu schwör?“, antwortete er, lachte und zeigte mir ein paar lange Zähne. Ich wusste nicht, was ich antworten sollte, also rief er: „Na, dem Ingenieur!“ Er amüsierte sich über seinen Witz, während ich geistesabwesend lächelte. Ich suchte nämlich nach einem besseren Reim für Ingenieur. Mir fiel Date-Hazardeur und Gesprächs-Narkotiseur ein.

Er wohne in Wannsee praktischerweise neben einem Supermarkt und einer Bank, fuhr er fort, da hätte man alles beieinander. Außerdem würde er eine Frau ohne Drama suchen. Ich antwortete nicht, fasste mir stattdessen unwillkürlich an die Schläfe. Vielleicht als Zeichen, dass ich absolut nicht die Richtige war. Meine Dosen-Auswahl muss besser werden, dachte ich noch und versuchte mich in einem normalen Gesichtsausdruck.

Jetzt aber ist der Typ ja verschollen. Stattdessen kommt der Ober mit dem Wein und stellt mir einen Miniteller mit einem winzigen Stück Tiramisu hin. „Warte-Tiramisu“, sagt er.

Ich bedanke mich und frage, ob er mir einen Gefallen tun und mal nachsehen könne, ob auf der Herrentoilette alles okay ist.

Der Ober nickt und geht. Ich sitze also da, esse das Warte-Tiramisu und überlege, ob der Mann in der Toilette zusammengebrochen ist. Vielleicht hatte er einen Schlaganfall oder einen Herzinfarkt. In unserem Alter kann so was schon mal sein. Ich sehe ihn vor mir, wie er zusammengesackt in der Kabine liegt, die Brille auf den Fliesen, zersplittert. Um Gottes Willen, denn, fällt mir ein, ich weiß ja noch nicht mal, wie er mit Nachnamen heißt. Ich stelle mir vor, wie ich in der Notaufnahme persönliche Angaben zu „meinem Mann“ machen muss. Nachname, Geburtsdatum, Adresse.

„Ich weiß es doch nicht! Dieser Mann gehört doch gar nicht zu mir“, werde ich verzweifelt rufen und dabei den bedeutungsvollen Blick der Schwester bemerken.

Der Ober kommt wieder und sagt: „Auf der Toilette ist leider niemand.“

„Wie“, sage ich. „Aber wo steckt der Mann denn dann?“

Der Ober zuckt mit den Achseln und sieht mich mitleidig an.

Ich werde rot. Ist er etwa gegangen? Immerhin hängt sein kariertes Jacket noch über dem Stuhl. Oder findet selbst er es so hässlich, dass er es loswerden wollte? Ich überlege, ob ich vielleicht etwas Schlimmes gesagt habe, und erinnere mich, dass ich lachen musste, als der Ober die Frage nach süßem Wein bedauernd verneinte und mein Gegenüber daraufhin überlegte, sich Zucker in den trockenen Wein zu tun. Das konnte ja wohl nur ein Witz sein! Oder doch nicht?

Ich habe aus anderen Gründen gelacht, als er meinte, dass seine Exfreundin die Sitzheizung in seinem Auto als Mösenstövchen bezeichnete. Fand er super. Endlich mal eine Frau, die locker war. Endlich. Überhaupt erzählte er viel von seiner Exfreundin. Sehr viel, und dazu wollte er von mir wissen, was in der Frau eigentlich so vor sich geht.

Ja, was, dachte ich, sie wollte vielleicht bloß weg. Ich musste unwillkürlich an meine Badewanne oder mein Sofa denken. Ich könnte endlich diese Doku aus meiner Warteliste sehen oder einfach nur vor mich hinstarren. Ich seufzte und trank noch einen Schluck Wein.

Zuletzt unterhielten wir uns über meinen Namen. „Heißt du nun wirklich Isi?“, fragte er, als hätte ich ihn willentlich und in böser Absicht hinters Licht geführt. Gelogen!, sagte sein Blick.

„Aber ja“, antwortete ich. „Aber du heißt gar nicht Nick, oder wie?“

„Jo“, nickte er. Ich sah ihn irritiert an.

„Ich heiße Johannes“, erklärte er. Ich nickte wenig überrascht und unterdrückte ein Gähnen hinter meinem Weinglas.

Bereits zuvor hatte ich ein paar Mal mein Gähnen unterdrücken müssen. Okay, das war nicht sehr höflich, aber nun auch wirklich kein Grund, einfach abzuhauen.

In der Dating-App schreibe ich ihm eine Nachricht: He, wo steckst du? Ist alles okay?

Keine Antwort.

Ich winke dem Ober und als er kommt und mich mit sanften Augen ansieht, sage ich: „Ich glaube, ich möchte dann gern zahlen.“

„Es ist schon bezahlt“, sagt der Ober, „der Herr hat bereits bezahlt.“

Na gut, offenbar hat er seine Flucht doch geplant oder er wollte nicht, dass ich noch mehr esse. Also tue ich so, als wäre mir diese Information eben nur kurz entfallen: „Ahja, stimmt.“ Ich stehe auf und ziehe meine Jacke an. Das karierte Jackett lasse ich hängen.

Draußen vor der Tür steht die Ananasdose und telefoniert. Das Mösenstövchen ist dran, vermute ich. Es klingt irgendwie nach Drama. Er hat ein rotes Gesicht und sagt immer wieder: „Aber nun hör doch mal zu!“

Ich klopfe ihm von hinten auf die Schulter und hebe meine Hand zum Dank und zum freundlichen Abschied. Er guckt mich erstaunlicherweise erstaunt an. Vielleicht, weil er nicht versteht, warum ich nun mal verschwinde. Und das so zügigen Schrittes.

Auf dem Heimweg habe ich das Gefühl, entkommen zu sein und eine frohe Erleichterung breitet sich in mir aus wie vorhin der Wein in meinem Kopf.

„Du musst aber schon offen sein für eine echte Begegnung“, höre ich Wiebke da sagen und denke trotzig, aber ja doch, das war ich. Es ist ja nun wirklich nicht so, dass ich mich noch sträuben würde. Aber passen muss es eben schon.

Ich schicke ihr ein Herz und schreibe: Bin zum Glück schon auf dem Nachhauseweg.

Die Nachricht bleibt ungelesen, ich sehe Wiebkes Gesicht vor mir und überlege, was sie gerade macht.

**

Letzten Montag war Wiebke mit einer Flasche Wein im Gepäck vorbeigekommen. Am Wochenende hatte sie an einem Achtsamkeitsseminar teilgenommen und berichtete schon in der Tür entrüstet davon: „Dieses Seminar war eine Erfahrung, nur nicht so, wie ich erwartet hatte. Es waren ausschließlich Frauen da und jede wirkte ehrlich gesagt ziemlich achtlos abwesend. Ich kam mir irgendwann vor wie bei einer Gruppentherapie, weil sie ausschließlich von ihren Exmännern und anderen Geschichten aus der Vergangenheit redeten. ‚Sorry, Entschuldigung, hab ich etwas missverstanden?,‘ habe ich irgendwann gerufen. ‚Ich dachte, es geht hier heute um Achtsamkeit im Jetzt?‘ Niemand hat überhaupt nur aufgeguckt.“

Wiebke holte zwei Gläser und schenkte uns Wein ein.

„Wirklich“, meinte sie. „Und ich war so naiv zu glauben, die wollten sich auf etwas Neues einlassen, stattdessen redeten sie ausschließlich von den schrecklichen Sachen, die früher passiert sind und es wurde leider auch nicht besser.“ Sie sah mich an. „Der Punkt ist aber, dass mir dadurch sehr bewusst wurde, wie wichtig es ist, nicht in der Vergangenheit zu verharren, weißt du. Das hat es immerhin gebracht für die 200 Euro.“

„Wow“, entfuhr es mir. „Das hätte ich dir auch so sagen können.“

Wiebke grinste: „Na klar! Das sagt die Richtige. Du weißt das vielleicht theoretisch, aber praktisch hängst du auch noch den alten Geschichten mit F. nach, wenn ich das mal so sagen darf.“ Sie sah mir geradezu achtsam in die Augen. „Ausgerechnet du solltest vielleicht mal nach vorne sehen und F. loslassen.“

Ich blickte auf mein Glas und antwortete nicht gleich. Die Sache mit F. war inzwischen zwei Jahre her. Wir hatten beschlossen, keinen Kontakt mehr zu haben. Das heißt, ich hatte das beschlossen. Es fiel mir leichter, nicht womöglich auf allen Kanälen Bilder von ihm in Norwegen eingeschwemmt zu bekommen, während ich in Berlin geblieben war. Ich hatte mich damals weder zum Zusammenziehen noch zum Auswandern entschließen können. Folglich trennten wir uns. Das heißt, ich trennte mich, allerdings schweren Herzens.

Zurückbleiben ist immer schwer, dachte ich dort mit Wiebke auf dem Sofa. Egal, wer sich aufmachte, ging und einen zurückließ.

„Ich bin dabei, nach vorne zu sehen“, sagte ich schließlich.

„Hmm“, machte Wiebke und zog die Augenbrauen hoch: „Wie denn bitte?“

„Na, ich arbeite viel und sehe dabei nach vorn.“

„So ist das nicht gemeint“, sagte Wiebke sanft wie eine Nachtschwester. „Gemeint ist, sich auf etwas Neues einzulassen. Außerdem wird es langsam Zeit, dass du mal wieder ausgehst nach den letzten Fails. In deinem Homeoffice wirst du wohl niemanden kennenlernen.“

„Aber ich gehe doch aus“, rief ich empört.

Wiebke sah mich mitleidig an: „Mit einem Date, meine ich. Nicht mit mir und den anderen.“

Ach so, na gut, da hat sie vielleicht schon einen Punkt, dachte ich, während Wiebke weiterredete: „Aber Neues zuzulassen, weder die Vergangenheit noch die Zukunft zu groß werden zu lassen, sondern im Moment zu bleiben, finde ich echt gar nicht mal so blöd. Wir sind doch alle entweder in der Vergangenheit oder dauernd in der Zukunft mit unseren ganzen Terminen, Plänen und Vorstellungen. Oder?“

Ich sah aus dem Fenster und sagte gar nichts, dafür fuhr Wiebke fort: „Das wird einfach das Jahr der Liebe. Die extrem dystopischen Zukunftsprognosen machen es derzeit viel wahrscheinlicher, dass alle zusammenrücken, meinte die Kursleiterin und sie nannte es lustigerweise: den Seelenfinden.“ Wiebke zog letzteres in die Länge und grinste.

„So so“, murmelte ich peinlich berührt, während sie einen Schluck Wein nahm und an meine Zimmerdecke sah: „Wie bildet man da eigentlich den geschlechtsneutralen Plural? Seelengefährdende?“

Ich lachte kurz und nahm ebenfalls einen Schluck aus meinem Glas. Wiebke sah mich an. „Naja, aber das kann natürlich gesellschaftlich gesehen stimmen, oder? Wenn die Zukunft bedrohlich wirkt, rücken die Menschen vielleicht zusammen, verbinden sich, weil sie Schutz suchen? Menschen sind doch auch Rudelwesen.“

„Hm“, machte ich. „Und was hat das mit Achtsamkeit zu tun?“

„Es hieß, dass ein hoher Achtsamkeitsgrad helfen würde, besondere Menschen wahrzunehmen und zu erkennen. Man erkenne ihn oder sie übrigens an der unfassbaren Ruhe, die sich in einem zusammen mit der anderen Person ausbreite. Also eben nicht an Schmetterlingen im Bauch und der ganzen Aufregung, die man immer für Verliebtsein hält. Das wäre ein Irrtum und signalisiere eher Gefahr. Nur, dass du dir das mal merkst.“

„Interessant“, sagte ich und sah sie an: „Aber ist es nicht immer aufregend bei jeder neuen Begegnung?“

„Wenn es zu aufregend ist, deutet das eher auf eigene Warnzeichen und somit auf Seelengefährdende, das hört man immer wieder“, meinte Wiebke, zog ein Gesicht und fuhr fort: „Aber mal ernst, die Vorstellung, jemanden zu treffen, der passt oder sagen wir wenigstens in den Basis-Werten, das wäre doch schön, oder nicht?“

Ich nickte langsam. „Sicher, aber“, ich überlegte und kurz war es still zwischen uns, dann sagte ich: „Seitdem das mit F. auseinanderging, glaube ich nur nicht mehr so richtig daran, fürchte ich. Das fühlte sich damals nämlich blöderweise an, als wäre es passend. Gibt es so etwas dann direkt nochmal?“

Wiebke machte eine ungeduldige Handbewegung und rief: „Aber auf jeden Fall! Das war nicht das Richtige mit euch. Deshalb hast du dich ja auch getrennt. Ich sag dir, da kommt noch etwas viel Besseres.“

Ich drehte den Boden meines Glases auf meinem Knie. „Ausgerechnet du glaubst plötzlich an die große Liebe? Wie in den Romanen und Filmen, die immer bloß den Beginn erzählen und selten, wie es nach Jahren aussieht? Ist Liebe nicht eigentlich ganz viel Projektion und danach Kompromiss zwischen eigenen Erwartungen und der Realität? Also Arbeit?“

„Ja, ja. Na klar“, seufzte Wiebke. „Aber das muss ja nicht heißen, dass es schwer und anstrengend ist. Vielleicht findet man einfach gern Kompromisse mit der richtigen Person.“

Ich sagte nichts. Sie beugte sich mir entgegen und sah mich beschwörend an: „Und falls das wirklich das Jahr der Liebe sein sollte, will ich es auf keinen Fall verpassen. Und du auch nicht“, meinte sie bestimmt. „Wir machen uns einfach achtsam bewusst, was wir wollen, und gehen danach daten.“

„Ich hab das doch schon mal gemacht. Zeugt es nicht von wenig Intelligenz, wenn man etwas wieder versucht, obwohl es nicht gelingt?“, fragte ich und setzte mich in einen Schneidersitz.

„Das wird jetzt anders“, meinte Wiebke bestimmt. „Das hattest du eben schon, das war die Vergangenheit, verstehst du? Jetzt lassen wir die Projektionen außen vor und wenn der oder die Richtige auftaucht, spüren wir es. Komm schon, es ist ein Versuch.“

Ich sah sie skeptisch an. Wiebke stand auf, holte Papier und Stifte von meinem Schreibtisch und legte beides zwischen uns. „Schreib auf, was du dir an einem Partner wünschst. Schreib innere Werte auf, Charakter, Eigenschaften, alles, was du willst. Und auf die Rückseite kommen die Äußerlichkeiten. Bei dir wohl die drei Bs: Bart, Brille, Bauch. Nur mal so als Beispiel. Bei mir ist es leichter, ich bin flexibler. Meine Person muss einfach hot sein.“ Sie sah mich frohlockend an.

„Schreib auf, was dir einfällt, aber wichtig ist, dass du es nur positiv formulierst. Verstehst du? Nur achtsam liebevolle Gedanken zulassen. Dann rollst du das Papier, bindest noch eine Schleife herum und legst die Rolle mit den Wünschen an ein Fenster, damit sie sich manifestieren können und das Universum uns den Richtigen schickt.“

„Wie und dann schneit mein Seelengefährdender hier ins Haus? Den will ich auf keinen Fall“, rief ich und lachte sie aus. „Wiebke, das ist voll esoterisch.“

„Schon klar“, nickte sie. „Aber es ist ein Spiel, und zu verlieren haben wir nichts, oder? Dem Ganzen helfen wir dann noch ein wenig auf die Sprünge, indem wir online daten. Wir müssen es ja nicht ewig machen. Eher so crashdatingmäßig. Vielleicht eine Woche? Sieben Personen in sieben Tagen? Das wäre nicht zu viel vergeudete Lebenszeit, sollte es schiefgehen.“

Ich sah sie entsetzt an: „Jeden Tag ein Date? Das klingt extrem anstrengend.“

„Tja, von nichts kommt nichts“, murmelte sie. „Dating kommt vielleicht auch von Daring. Soll die KI mal was für uns tun! Los, sag ja! Zu zweit ist es bestimmt lustig. Irgendwie abenteuerlich.“ Sie sah mich abenteuerlustig an und griff nach Papier und Stift. „Aber erst ist die Wunschrolle dran.“

Ich überlegte, warum ich derart wenig Lust dazu hatte. War ich womöglich inzwischen zu zufrieden in meinem Single-Leben? Zu selbstgefällig? Es ging mir wirklich gut, wie es grad war. Oder nicht? Machte ich mir etwas vor? Oder macht es mich sogar verdächtig, dass es mir gut ging? War es vielleicht auf lange Sicht nicht wirklich gesund allein zu bleiben? Vielleicht schwächte es den Oxytocin-Spiegel und in ein paar Jahren würde man herausfinden, dass das die Lebenserwartung um mehrere Jahre herabsetzte, wer wusste das schon? Oder dachte ich einfach viel zu viel nach?

Vielleicht sollte ich es ja wirklich noch einmal versuchen, überlegte ich. Nur für die Möglichkeit oder einfach für das Abenteuer, das mit Wiebke gemeinsam zu erleben. Ich riss eine Tüte Chips auf und nahm mir ein paar heraus. Wiebke hatte schon mit dem Schreiben ihrer Wünsche begonnen und sah nicht auf, aber sie hatte recht. In meinem Homeoffice kam überraschenderweise niemand Passendes vorbei und in Bars oder Clubs hatte sich noch nie mehr ergeben als betrunkenes Knutschen. Und das war lange her. Als ich vor ein paar Jahren mal versucht hatte, jemanden online kennenzulernen, hatte ich sehr bald das Gefühl, ich verschwende meine Zeit. Anfangs war ich seltsam peinlich berührt. All die Menschen mit ihren Fotos und intimen Details, die sie dort preisgaben, als würden sie Ware auf einem Markt ausstellen. Ich wählte daher damals ein Foto, auf dem man mich kaum sah, und füllte nur das Allernö-tigste aus. Das Ergebnis ließ auf sich warten. Nach einem zweiten Foto und einem lahmen Halbsatz, reichte es immerhin für ein paar nette Unterhaltungen und interessante Geschichten, aber führte nie zu dem, wonach ich suchte. Eine echte Verbindung. Vielleicht könnte ich es ja wirklich einfach nochmal probieren. Als letzten Versuch.

Ich nahm den Stift in die Hand, überlegte, welche Eigenschaften ich mir an jemandem wünschen würde, und begann. Ich mochte Menschen, die offen im Denken waren, Humor hatten und dabei selbstironisch sein konnten, kreativ und lebenslustig waren, eine eigene Leidenschaft im Leben hatten, zugewandt waren und Spaß am Sex hatten, dazu sensibel und fähig, zu kommunizieren und sich mitzuteilen. Ein Faible zu Arthouse-Filmen wäre cool und der Mann sollte unbedingt seine Vergangenheit aufgeräumt haben. Kurzum, man muss sich verstehen und neben all dem anderen auch befreundet sein. Bei Äußerlichkeiten schrieb ich wie erwartet: Im Idealfall hat er die drei Bs: Bart, Brille und kleiner Bauch. Mehr fiel mir nicht ein. Vielleicht noch die Größe. Ich war eine tendenziell größere Frau, da wäre ein tendenziell größerer Mann passend.

„Lesen wir uns das eigentlich gegenseitig vor?“, fragte ich, aber Wiebke schüttelte den Kopf: „Auf keinen Fall, bei mir stehen extrem peinliche Sachen. Ich wäre aber soweit fertig.“ Wiebke rollte ihren Bogen zusammen, ich tat es ihr nach, suchte uns zwei Bänder, die wir um die Rollen knoteten, und legte meine Wunschrolle an mein Schreibtischfenster. Sie verstaute ihre in ihrer Tasche, sah in ihr Handy und meinte nach einer Weile: „Gut, was sagst du zu dieser App? Da müssen Frauen nach einem Match innerhalb von 24 Stunden den ersten Schritt machen.“ Sie hielt mir einen hellen Bildschirm hin.

„Na gut“, sagte ich. „Und wie funktioniert das für dich, weil du doch auch nach Frauen suchst?“

„Da haben dann offenbar beide 24 Stunden Zeit zuerst zu schreiben. Bei den Heteropaaren wollen sie wohl nur die Männer abhalten, ungebremst Nachrichten zu schicken.“

Ich nickte. „Kann sinnvoll sein. Okay, dann. Sieben Tage, sieben Männer, beziehungsweise bei dir auch Frauen. Aber mehr nicht, okay? Also bei mir nicht mehr. Und nur ein Versuch.“

Wiebke umarmte mich und drückte mir einen Kuss auf die Wange, als hätte ich ihr ein Geschenk gemacht. Dann luden wir beide die App herunter, die versprach, soviel mehr als Dating zu bieten.

„Taktisch klug könnte sein, sich generell etwas jünger zu machen“, meinte Wiebke. „Menschen in unserem Alter wollen immer Jüngere, also tricksen wir die aus, indem wir uns jünger machen. Außerdem wollen wir ja auch Jüngere, aber uns auch in unserer Altersgruppe alle Möglichkeiten offenhalten, oder? Und die Jüngeren wollen ja wiederum auch jüngere oder gleichaltrige Menschen. Daher logisch, dass wir ein bisschen schummeln müssen, oder? Wir werden praktisch dazu gezwungen.“

Ich zog die Augenbrauen hoch. „Aber das kommt doch heraus?“

„Ach“, meinte Wiebke. „Bis dahin haben wir die von unserem unermesslichen Charme überzeugt. Und so fünf kleine Jahre machen doch nichts. An unsere ersten fünf Lebensjahre können wir uns sowieso nicht erinnern, also sind die auch nicht existent.“

„Also, ich suche eher Gleichaltrige bis Ältere, glaube ich. Mit den viel Jüngeren passt es für mich nicht so ganz. Die wollen womöglich noch Kinder oder haben noch ganz kleine.“

Wiebke zuckte die Achseln und scrollte schon in ihrer Foto-Galerie.

Ich wählte nach einer Weile und Wiebkes Rat zwei Fotos, die mich einmal nachdenklich am Fenster, dann lächelnd zugewandt am Schreibtisch zeigten. Wiebke entschied sich für ein Profil von sich mit herausgestreckter Zunge, ein Ganzkörperfoto in Jeans und T-Shirt vor dem Spiegel und ansonsten zeigte sie, wie sie die Welt wahrnahm. Ziehende Wolken, eine schimmernde Schneckenspur auf einem Waldweg, eine Katze, schlafend wie eine Kugel, ein beschlagener Spiegel, auf den sie mit dem Finger „Fuck me, bitch“ geschrieben hatte. Ich fand, dass alle Fotos sie treffend beschrieben.

Wir überlegten danach, welche Fragen wir ausfüllten, und was man dagegen lieber ungesagt ließ. Sieben Tage, sieben Personen ließen wir lieber ungesagt, beschlossen wir.

Größe: 1,73 m, schrieb ich. Wiebke trug erst 1,68 m ein und fand dann: „Ach was, ich bin eigentlich auch mindestens 1,72, vor allem mit Schuhen. Ich möchte mit Schuhen ja nicht größer sein als mein Gegenüber.“

Unter der Sparte letzter Bildungsabschluss gaben wir beide Master / Diplom an, beantworteten dazu noch ein paar andere Fragen, zum Beispiel ob wir Kinder haben und /oder wollten. Ich setzte ein Häkchen bei Ja und Nein und Wiebke schrieb Nein und Nein.

Rauchen gelegentlich. Trinken in Gesellschaft.

Über mich schrieb ich: Es wäre schön, wenn es einfach passt.

Wiebke tippte: Let’s have fun tonight.

Ich sah sie an: „Aber du weißt schon, was das für Menschen anzieht, oder?“

„Stimmt.“ Sie schrieb: Let’s have fun tonight and get serious tomorrow.

„Na, das macht es unbedingt besser“, fand ich und vervollständigte noch einen der vorgeschlagenen Anfangssätze: Bei einer bevorstehenden Zombieapokalypse werde ich … mich unauffällig einbringen, schrieb ich.

Mein unnützestes Talent beschrieb ich mit: Spiegelschrift schreiben. Lustig, aber leider ziemlich unnütz.

Wiebke tippte etwas mit beiden Daumen und zeigte es mir dann:

An unpassenden Stellen lachen.

„Das stimmt ja sogar mal“, sagte ich.

**

„Wenn das seine besten Fotos sind, will ich nicht seine schlechtesten sehen“, rief Wiebke und zeigte mir das Profil eines Mannes im speckigen Shirt mit Boxershorts und Latschen in einem Plastikstuhl und einem Cocktail in der Hand. Ein anderer hatte seine Exfreundin aus dem Foto herausgeschnitten. Sehr vertrauenserweckendes Zeichen, fanden wir.

Nach einer Weile brummelte ich: „Schon seltsam diese Parameter. Wenn ich in der realen Welt jemanden kennenlernen würde, wüsste ich doch auch nicht, ob er kinky, Agnostiker oder exakt 1,87 m groß ist und einen Master-Abschluss in Japanologie hat. Hier wird echt nichts dem Zufall überlassen.“

„Ja, das läuft digital ein bisschen andersherum“, murmelte Wiebke. „Effektiver.“

„Naja, weiß nicht, ob das effektiver ist. Man muss sie sich ja dann sowieso noch in echt angucken, bevor man wirklich weiß, wie es ist.“

Wir wischten weiter, ab und zu hielt ich ihr ein Profil entgegen und fragte: „Wie findest du denn den?“ Wiebke sagte dann etwas wie: „Geht doch.“

Sie zeigte mir Profile von Frauen. Die meisten hatten sich wenigstens Mühe mit ihren Fotos gegeben, zeigten sich sportlich oder kuschelig mit Katze oder Hund, lachten fröhlich, sahen verträumt in die Gegend oder gaben sich cool auf Booten. Männer in unserem Alter dagegen waren gar nicht mal so interessant, stellte ich fest. Die, die gut aussahen im klassischen Sinne, interessierten mich oft nicht, andere wirkten uninteressant, weil langweilig, nicht mein Typ, waren mir zu schick oder zu ungepflegt. Ich las mir die Sätze zu den Fotos durch und stellte fest, sie wiederholten sich andauernd.

„Der Spruch für deine Momentachtsamkeit ist übrigens Carpe Diem. Das versteht hier jeder.“

Wiebke sah mich vernichtend an.

„Uh, guck mal den“, rief ich kurz danach. Ein nackter Mann vor dem Spiegel verbarg seinen erigierten Schwanz hinter einem Handtuch und blickte dabei leidend in die Kamera. „Ob dem was weh tut?“

„Jedenfalls ist er unfassbar unattraktiv“, meinte sie und zeigte mir die schätzungsweise achte Frau, die irgendwo am Strand Yoga machte. „Wenn ich kein Yogabild von mir einstelle, bin ich offenbar raus.“

Sobald ich ein Profil nach rechts wischte und das Gegenüber das gleiche mit mir und meinem Profil tat, ergab das ein Match, und ich konnte, das heißt, ich musste ihm schreiben, wollte ich einen Kontakt beginnen. Nach dem dritten Match dachte ich, dass das ja ganz schön anstrengend werden kann. Und zeitintensiv bei all den Anfangsnachrichten, die ich schreiben müsste. Ich probierte es aus und bezog mich auf etwas, das ich im Profil gesehen oder gelesen hatte: Hallo, freut mich, wo ist denn das auf dem Foto in der Schlucht / vor dem Wasserfall /am Strand /auf dem Gipfel? Ist das dein Pferd /Hund/Katze/Meerschwein auf deinem Foto? Dann swipte ich weiter.

Sehr entlarvend waren die Hörbeispiele, die manche Männer ihrem Profil hinzugefügt hatten. Ich hörte sie mir mit einem ähnlichen Gefühl an, als würde ich mir in einer Sturmnacht allein einen Horrorfilm ansehen. Meist hinterließen nur diejenigen Sprachnachrichten, die von sich und ihren Stimmen wahnsinnig überzeugt zu sein schienen. Auf eine ungute Art überzeugt. Sie versuchten oft, besonders dunkel und männlich sexy zu klingen, sodass es mich schon beim ersten Satz erschaudern ließ. Die Inhalte waren noch schlimmer. Entweder referierten sie darüber, dass sie gar nicht wüssten, was sie eigentlich sagen sollten oder sie teilten in rauchigen Stimmen ihre Lebensphilosophie. Einer raunte zum Beispiel: „La vie est belle und I love to love.“

Wiebke und ich schrien vor Entsetzen auf.

Andere erzählten Witze. Mein Lieblingswitz war der eines eher ernst wirkenden, hageren Typen Ende vierzig. Sein Audio war kurz und prägnant: „Was sitzt auf einem Baum und grüßt?“ Kurze Pause dann hörte man sehr ernst: „Ein Huhu.“ Daraufhin lachte er wie ein Exhibitionist an einem Parkeingang. Ich spielte es mindestens zweimal ab und machte ein gequältes Gesicht.

Wiebke sah auf: „He, aber komm, das ist schon aufschlussreich. Da weiß frau doch auf jeden Fall, was sie noch so erwarten würde. In jeder Hinsicht.“

„Ich brauche mehr Wein“, sagte ich. Die Flasche war allerdings leer, also wischte ich mich weiter durch unendliche Fotoketten. Männer vor Sonnenuntergängen in der Hocke oder noch weitere mit herausgeschnittener Partnerin. Viele fotografierten sich im Fahrstuhl oder im Auto, auf dem Surfbrett oder einem Segelboot. Fotos, die ihre Aktivität bezeugten. Selten gab es ein normales Profilfoto im Porträt.

Bald kam es mir vor, als würde ich einen Männer-Katalog durchblättern, in dem theoretisch etwas für jeden Käuferinnenwunsch dabei sein sollte. Nur meistens nicht für mich. Männer mit kurzen Hosen und schlimmen Sandalen, Männer, die Hunde küssten. Beliebt waren auch Fotos von Händen oder nackten Oberkörpern. Oder ich sah bloß ein Landschaftsfoto oder einen Motorradhelm statt eines Gesichts. Wie in aller Welt konnte ich so feststellen, ob mir derjenige gefiel? Bald war ich so mürbe von den vielen Fotos, dass ich ein paar Mal aus Mitleid jemanden nach rechts wischte, dessen Fotos und restliches Profil zumindest nicht ganz so schrecklich waren. Vielleicht verwirrte das zumindest den Algorithmus, wer wusste das schon.

Wiebke dagegen wischte und wischte, einmal hielt sie inne, hielt das Display näher an die Augen und zeigte mir danach ein Foto eines sehr streng gegelten Mannes mit Dutt und Schnauzbart, der ihm wie ein schwarzer Block unter der Nase hing. „Guck mal, der hat die Haare schön, aber nen Schnauzbart, als hätte er nen Zensurbalken bekommen, der ihm von den Augen unter die Nase gerutscht ist.“

„Wie Groucho Marx“, fand ich.

„Adios“, murmelte Wiebke und wischte ihn nach links.

Etwas später sagte ich: „Ist schon so, als ob alles einer Art kapitalistischer Kosten-Nutzen-Analyse unterzogen wird, oder? Wie viel ist mir das wert, den kennenzulernen, wenn er 70 km entfernt wohnt, und macht der mir noch mehr Umstände als nur die Entfernung?“

„Stimmt schon. Auch schräg, was die so an Forderungen haben. Ich habe hier Typen, die wollen keine Mutti, aber warm und liebevoll soll sie sein. Dünn, aber mit Kurven. Mit Niveau, aber bitteschön überschaubar und das auch nur in gewissen Situationen. Im Bett will offenbar keiner eine Frau mit Niveau, ich bitte dich. Dann ist sehr auffällig, wie extrem auf Pflege geachtet wird, bisschen wie beim Zubehör eines Autos: keine falschen Fingernägel, schöne Zähne, lange Haare, High Heels, und am witzigsten fand ich: bitte mit Augenbrauen.“

„Als hätten Frauen normalerweise eher selten Augenbrauen“, murmelte ich mittlerweile ziemlich müde.

Wiebke fuhr fort: „Frau soll sportlich und zum Pferdestehlen sein, aber um Gottes Willen trotzdem ganz Frau. Was auch immer das bedeuten soll? Und bitte schön alles mit Humor nehmen und nicht so verkniffen sein. Wenn ich das schon höre, bleibt mir das Lachen im Hals stecken. Kommt Match vielleicht von Macho oder so? Und dazu reisen offenbar alle andauernd. Hier die Bergtour im Himalaya, dort beim Bouldern, hier am Strand beim Kiten oder vor der Segelyacht. Reisen zeigt wohl, wie aktiv sie gern wären.“ Wiebke seufzte.

„Und alle schreiben in ihrem Text, sie wünschen keine ONS. Come on! Wieso wollen die alle keine One-Night-Stands? Ist doch nicht normal! Alle wollen doch vögeln, oder? Aber die tun hier, als würden sie nur auf die inneren Werte achten. Dabei muss man doch erstmal oberflächlich unterwegs sein, um sich kennenzulernen. Liegt doch in der Natur der Sache.“

„Aber vielleicht wollen nicht alle gleich mit jeder Person ins Bett?“, warf ich ein und Wiebke zuckte mit den Schultern.

**

In den kommenden Tagen stellte ich fest, dass ich ganz viel lernte, denn ich begann mit wildfremden Menschen über das Leben zu schreiben. Dabei lernte ich viel über die Art, wie online Geschichten erzählt wurden und allgemein über die vorherrschenden Kommunikationsspielregeln, wie zum Beispiel, was die Angaben in den Profilen eigentlich bedeuten konnten. Jemand, der angab, gern tiefgründige Gespräche zu führen, redete vor allem gern tiefgründig über sich selbst, stellte ich fest, und die, die schrieben, dass sie normal seien, wussten vermutlich, dass sie es eigentlich nicht waren. Die Normalos dagegen schrieben meist: Bin oft ein bisschen verrückt. Ich fand bald heraus, dass eher der Wunsch die Mutter der Profilangaben war als die Realität. Alle versuchten, eine etwas bessere Version von sich darzustellen und eben diese in der nächsten Verbindung auch zu werden.

Die Männer, die mir angezeigt wurden, ließen sich anhand ihrer Texte in fünf grobe Kategorien einteilen und eigentlich waren davon alle Red Flags, wie ich Wiebke schrieb. Red Flags, so im Sinne von: Achtung, hier stimmt was nicht.

Du meinst, wenn man merkt, der geht gar nicht?, fragte Wiebke.

Ich schickte ihr ein Herz zur Bestätigung, dazu die fünf Kategorien:

Die Verspielten

Frauen mit Augenbrauen und echten Fingernägeln gesucht. Bitte nur jung Gebliebene auf Augenhöhe zum Pferdestehlen.

Sexpositiv, kinky und versaut wäre schön.

Gutriechend und gutschmeckend bitte.

Ich suche eine Frau für alles, was zu zweit Spaß macht.

Gesucht wird eine Frau mit Ecken und Kanten, bisschen verrückt und mit dreckigem Lachen, einzig, aber nicht artig. Morgähn, kann allem widerstehen außer der Versuchung (frei nach Oskar Wilde).

Ich bin humorvoll und manchmal total crazy und verrückt.

Ein Tag ohne Lachen ist ein verlorener Tag.

Ich tanze gern und das auch aus der Reihe.

Die Faulen

Ich hätte dich auch lieber auf der Straße oder in der Sauna getroffen.

Ich weiß nicht, was ich hier schreiben soll, also frag mich einfach.

Ich find hier alle schrecklich, können aber gern telefonieren.

Meine Nummer: xxx.

Deckel für Topf gesucht.

Nur Frauen, die open minded und easy going sind, bitte keine Dramen!!!!!!!!!

Kein Freund von Dauer-Chats.

Folge mir einfach auf Instagram.

Kuschelbär sucht Raubkatze für gemütliche Abende auf der Couch.

Gern schnell treffen, ich bin hier nicht so oft.

Frag besser nicht.

Die Hoffnungsvollen

Mann 58 wünscht sich Frau zum Kinderkriegen.

Suche Frau, die mich zu schätzen weiß.

Suche meine Seelenverwandte.

Suche Frau zum Ankommen im sicheren Hafen.

Suche die große Liebe für den Rest meines Lebens.

Lass uns hier abmelden und heiraten.

Das Glas sollte mit dir immer halb voll sein.

Wo bist du?

Suche Sugar-Mommy, bezahle mit Treue, Zärtlichkeit und gestähltem Körper.

Auf der Suche nach Beständigkeit.

Mit dir auf der Lebenswelle zu einer einsamen Insel gleiten …

Die Frustrierten

Wenn du nicht aussiehst wie auf den Bildern, musst du die Drinks bezahlen, bis ich dich wie auf den Bildern sehe.

Wer als Letzter matcht, schreibt zuerst und zahlt die Zeche.

Bitte schreiben und nicht nur matchen.

Matchsammlerinnen swipen bitte nach links.

Hallo? Gibt es hier aktives Leben?

Gamechanger in meinem Leben war es, meine Ex zu verlassen.

Ich suche keine Mutter und keine Therapeutin, die habe ich nämlich schon.

Bitte keine One-Night-Stands und Frauen, die auf mein Geld aus sind.

Wir sind ein perfektes Match, wenn du dich selbst nicht zu ernst nimmst.

Wer beim Alter lügt ist raus. Keine Frauen über 40.

Wer lesen kann, ist klar im Vorteil.

Die Philosophen

Ich führe gern tiefgründige Gespräche.

Carpe diem.

Das Leben ist wie eine Schachtel Pralinen, man weiß nie, was man bekommt.

Ich liebe es zu philosophieren und spreche fließend Sarkasmus.

Carpe diem.

Ich liebe es, über das Leben zu sinnieren, gern bei einem Glas Wein.

Open minded, easy going und interested in personal growth.

Niveau ist keine Hautcreme.

Carpe diem.

Liebe ist manchmal nur einen Klick entfernt.

Ich bin humorvoll, weltoffen und reflektiert. Bitte keine Frauen außerhalb Berlins.

Gibt das Leben dir Zitronen, mach Limonade daraus.

Carpe diem.

Achtsamkeit und in seiner Mitte weilen ist mir wichtig.

Schön wäre es, wenn du aus dir herausgehen kannst.

Schrieb ich jemanden an, stellte sich heraus, dass ich selbst kaum etwas erzählen musste. Ich fragte etwas, und schon kamen die Geschichten zu mir. Selten dagegen wurde ich etwas gefragt. Ehrlich gesagt, kam mir das entgegen. Die meisten erzählten nämlich recht schnell sehr private Dinge von sich, das empfand ich als gewöhnungsbedürftig.

Als erstes schrieb ich mit Bernd, der einen Bart und eine Daunenweste trug. Er hatte eigentlich nie Kinder gewollt, aber nun waren seine zwei Töchter das Beste in seinem ganzen Leben. Viel besser als Kick-Boxen oder die Sache mit den Trucks.

Die Sache mit den Trucks?, hakte ich nach.

Er erzählte er mir, dass er über Jahre ein Hobby hatte, nämlich Monstertruckfahren. Er sei von einem Jam zum nächsten gereist mit seinem Gigantoman, so hätte sein Truck geheißen. Bis seine erste Tochter auf die Welt gekommen war. Sie habe das Hobby unmöglich gemacht, denn es sei zu gefährlich, schrieb Bernd. Allein in den letzten Jahren hätte es viele Todesopfer gegeben. Er brauche diesen Kick nun auch nicht mehr. Er habe ja jetzt die Töchter.

Ich schickte einen lachenden Emoji und schrieb: Sehr gut, aber dass ich nun leider schlafen gehen müsse nach so vielen Eindrücken.

Am nächsten Tag lernte ich Dirk und sein Hobby des Sammelns antiker Blechdosen kennen. Was denn für Dosen?, fragte ich und Dirk erzählte in aller Ausführlichkeit von seltenen Knopf-, Bonbon-, Tabak- und Sardinendosen. Echte Raritäten, ein wahrer Sammlerdosen-Schatz, der später einmal seine Rente bestreiten würde. Hm, überlegte ich, ob das klappt?, schrieb aber: Schön, wenn man so ein Hobby gefunden hat. Ja, antwortete Dirk, wurde aber nachdenklich, denn immerhin hätten die Dosen sein Leben zerstört. Seine Ehe sei deswegen gescheitert. Die Blechdosen nahmen zu viel Raum ein, hatte seine Frau gesagt und war mit seiner kostbarsten Hakendose ausgezogen.

Ich wusste nicht, was eine Hakendose ist und Dirk wusste nicht, was er in der App suchte, denn eigentlich würde mittlerweile niemand mehr in seinem Haus im Oberhavelland Platz finden, schon gar keine Frau, die hätten ja immer so viel Zeug. Und bei ihm wären ja schon überall die Dosen.

Dann wird es vielleicht schwer, antwortete ich.

Er schrieb: Danke für deine Zeit. Dann blockierte er mich.

Seltsame Sache das mit dem Blockieren, dachte ich.

Wie läuft es denn so bei dir?, textete ich Wiebke und sie antwortete in einer Sprachnachricht: „Ja läuft, habe schon drei Dateanwärter*innen für die nächste Woche, wähle danach aus, wer wann Zeit hat und knalle mir dann alle Tage nacheinander zu.“ Sie schickte einen Emoji mit heraushängender Zunge. „Und bei dir?“

„Naja“, sagte ich. „Es ist schön skurril, aber nicht gerade zielführend.“

„Wird schon. Nicht aufgeben.“ Es klang ermunternd.

**

Nicht aufgeben wollte ich auch bei Ludger, denn auch er wollte sich eigentlich wirklich gern verabreden. Zumindest fragte er danach und irgendwie reizte mich auf eine schräge Art, zu verstehen, was bei ihm los war. Er war Mitte fünfzig, erfolgreich, im Besitz von Konten und Häusern überall auf der Welt, weshalb er direkt bei der zweiten Nachricht Sorge hatte, ob ich bereits wisse, wer er sei.

Ehm, nein, schrieb ich, das weiß ich nicht.

Ludger schien erleichtert: Du musst wissen, ich bin etwas öffentlichkeitsscheu, aber das sei Steven Spielberg ja auch, wie er ihm neulich verraten habe. Obwohl er früher mal Sänger in einer Band gewesen sei, also nicht Spielberg, sondern er selbst. Spielberg hatte ihn allerdings mal überreden wollen, seine Filmidee zu ändern. Naja, das sei natürlich ein hoffnungsloses Unterfangen gewesen, denn er wisse sehr gut, was er wolle.

Interessant, dachte ich.

Wiebke kreischte in eine Sprachnachricht: Warum bist du eigentlich nicht Psychiaterin in Hollywood geworden, wo du doch überall auf solche Leute triffst? Du wärst reich und würdest dich mit Steven Spielberg über diese Geschichte amüsieren und nicht mit mir.

Aber ich lache doch am liebsten mit dir, schrieb ich ihr.

Ich fragte Ludger nach der Filmidee. Eine RomCom, antwortete er, aber darüber möchte er lieber nicht so viel sprechen, das müsse wirken. Ich könne aber sein allerneuestes Script gern proof lesen, wenn ich wolle.

Verlockend, antwortete ich, aber sorry, meine Zeit ist begrenzt.

Naja, lassen wir das, meinte er. Er würde sehr gern essen gehen, aber er sei Veganer.

Nun gut, kein Grund zu hungern, fand ich. Ob er den sehr guten veganen Vietnamesen gegenüber der Volksbühne kenne?

Nein, aber das ginge nicht, teilte er mit, denn da gebe es sicher Koriander. Ich antwortete etwas naiv: Na, dann bestellst du eben etwas ohne Koriander?

Unmöglich, antwortete Ludger. Es wäre ihm leider unmöglich ein derartiges Korianderparadies zu betreten.

Ich fragte behutsam nach, warum denn nicht.

Ludger erklärte, er würde zu den 10 % der Menschheit gehören, die es nicht ertragen könnten, wenn irgendwo im Raum Koriander gegessen werden würde. Denn er würde wie ein Drogenhund alles auf 100 Meter riechen.

Alles klar, dachte ich und schrieb: Alles klar, dann ist vielleicht Italienisch besser?

Um Gottes Willen, meinte er, das Gluten überall und der Knoblauch.

Ich seufzte und hatte schon gar keine Lust mehr mit ihm essen zu gehen.

Dann schlag du doch etwas vor, schlug ich trotzdem vor, und nachdem er hin und her überlegte, aber von indischem Curry Durchfall bekam und spanisches Essen ja so fett sei, Griechisch dagegen sicher nicht vegan sei und eben, oh Gott, mit Knoblauch, wisse er auch nicht so recht.

Ich antwortete erst mal nicht mehr.

Nach ein paar Tagen stellte ich fest, dass mich zum Treffen niemand wirklich interessierte. Offenbar schien ich mich unbewusst noch gar nicht als potenzielle Anwärterin für ein Date zu begreifen und wurde dementsprechend erst einmal zu einer Geschichtenhalde. Ich häufte die Geschichten an und die Männer waren froh, sie loszuwerden. Geradezu erleichtert. Darüber konnte man das Daten schon mal vergessen. Blöd war nur, dass ich ja einen Auftrag hatte und sieben Dates für sieben Tage finden musste. Mir blieb dafür nur noch eine Woche Zeit, denn nächsten Montag sollte es mit der Dating-Woche losgehen.

Am nächsten Abend schrieb ich mit einem Jan, der vor allem deshalb nett aussah, weil er auf dem Arm einen Wombat hielt, den er mir als Daniel vorstellte.

Wie kam es denn dazu?, fragte ich und schickte einen Emoji mit Herzchenaugen, natürlich für Daniel, den Wombat.

Jan erzählte, dass er in Australien gelebt hatte und die Familie seiner Exfreundin diesen verunglückten Wombat fand, ihn pflegte und dieser nach seiner Genesung erst gar nicht mehr gehen wollte, es dann aber doch schaffte, allerdings regelmäßig wiederkam, um immer mal eine Nacht bei ihnen zu verbringen und sich kraulen zu lassen. So bekam er einen Namen und einen Teller neben der Katze, die irgendwann tagsüber auch neben ihm schlief oder mit seiner Kacke spielte, weil die in Würfelform herauskam.

Was? Das wusste ich ja gar nicht, schrieb ich. Wombats kacken Würfel?