Dead Romantics - Ashley Poston - E-Book
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Dead Romantics E-Book

Ashley Poston

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Beschreibung

Florence ist sicher: Die wahre Liebe ist tot. Bis sie Ben trifft, der diesen Glauben auf die Probe stellt … Der New-York-Times-Bestseller, der alle Herzen im Sturm erobert – ein Liebesroman mit hohem Wohlfühlfaktor und genau der richtigen Prise Magie Drei Geheimnisse bestimmen das Leben der jungen New Yorkerin Florence Day: - Sie ist die Ghostwriterin von Ann Nichols, der weltweit bekanntesten Romance-Autorin. - Sie schafft es nicht, deren neuen Roman zu Ende zu schreiben, denn seit ihre letzte Beziehung in die Brüche ging, ist ihr der Glaube an die Liebe abhandengekommen und das Happy End will ihr einfach nicht aus der Feder fließen. - Seit ihrer Kindheit kann sie die Geister Verstorbener sehen, die noch eine unerfüllte Mission haben.Als Florence erfährt, dass ihr Vater gestorben ist und sie zu ihrer Familie zurückreist, steht vor der Tür ihres Elternhauses kein anderer als Ben – der Lektor, der sich gerade noch geweigert hat, »Ann Nichols« Schreibblockade zu akzeptieren. Anscheinend ist es seine Mission, Florence davon zu überzeugen, dass die Liebe alles andere als tot ist. Das große Problem dabei: Er hatte einen Autounfall und ist es sehr wohl … Für Leserinnen von Ali Hazelwood, Emily Henry, Colleen Hoover sowie von romantischen Liebeskomödien mit Tiefe, die sich gern verzaubern lassen »Ich LIEBE dieses Buch! Es ist lustig, atemberaubend, hoffnungsvoll und einfach zum Träumen.« Ali Hazelwood »Das Buch ist wie ein Mix aus ›While you were sleeping‹ und ›Six feet under‹ und es ist mir ein großes Anliegen, allen gegenüber deutlich zu betonen, wie gut es ist!« The New York Times

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Seitenzahl: 481

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Über das Buch

Drei Geheimnisse bestimmen das Leben der jungen New Yorkerin Florence Day: Sie ist die Ghostwriterin von Ann Nicolls, der weltweit bekanntesten Romance-Autorin. Sie schafft es nicht, deren neuen Roman zuende zu schreiben, denn seit ihre letzte Beziehung in die Brüche ging, ist ihr der Glaube an die Liebe abhandengekommen und das Happy End will ihr einfach nicht aus der Feder fließen. Und seit ihrer Kindheit vermag sie die Geister Verstorbener sehen, die noch eine unerfüllte Mission haben.

 

Als Florence erfährt, dass ihr Vater gestorben ist und sie in die Heimat zurückreist, steht vor der Tür ihres Elternhauses kein anderer als Ben – der Lektor, der sich gerade noch geweigert hat, ihre Schreibblockade zu akzeptieren. Er ist einem Autounfall zum Opfer gefallen und anscheinend ist es seine Mission, Florence davon zu überzeugen, dass die Liebe alles andere als tot ist. Das große Problem dabei: Er ist es sehr wohl …

Ashley Poston

Dead Romantics

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Yola Schmitz

 

 

 

Für alle Autorinnen und Autoren, die uns an ein Happy End glauben lassen

Der Tagebücher letzte Ruhe

Ganz hinten links in einer Ecke im Bestattungsinstitut LETZTE RUHE liegt unter einer losen Bodendiele eine Metalldose mit einem Stapel alter Tagebücher. Die Einträge erinnern stark an die erotischen Fantasien eines weiblichen Teenagers mit einer Schwäche für Lestat de Lioncourt und den Typen aus Akte X.

Aber wenn man nichts gegen Gespenster und Vampire und Blutschwüre und Lederoutfits hat, dann sind die Geschichten darin gar nicht so schlecht.

Stellt sich die Frage, warum jemand einen Stapel Tagebücher voller anzüglicher Fan-Fiction unter den Dielen eines jahrhundertealten Bestattungsinstituts versteckt, aber das fragt man einen Teenager vergeblich. Da kommt man nicht weit.

Die habe ich dort eben versteckt, einfach so, okay? Als ich ans College ging, wollte ich diese düsteren, schaurigen Geschichten wie aus der Addams Family begraben. Was war da besser geeignet als ein Bestattungsinstitut?

Und beinahe wären sie auch unter den Dielen geblieben.

1.Die Ghostwriterin

Jede gute Geschichte hat ein paar Geheimnisse.

Zumindest sehe ich das so. Mal sind es Liebesgeheimnisse, mal Familiengeheimnisse oder sogar Mordgeheimnisse, und einige sind so bedeutungslos, dass sie einem kaum wie Geheimnisse vorkommen. Monumental sind sie nur für diejenigen, die sie bewahren. Jeder Mensch hat ein Geheimnis. Jedes Geheimnis hat eine Geschichte.

In meiner Vorstellung hat jede Geschichte ein Happy End.

Wäre ich die Heldin einer Geschichte, dann müsste ich drei Geheimnisse gestehen.

Erstens: Ich habe meine Haare seit vier Tagen nicht gewaschen.

Zweitens: Meine Familie betreibt ein Bestattungsinstitut.

Und drittens: Die umjubelten Romanzen von Megabestsellerautorin Ann Nichols schreibe ich. Ich bin ihre Ghostwriterin.

Und ich war gerade verdammt spät dran zu einem wichtigen Termin.

»Warten Sie auf mich!« Ich rannte am Sicherheitsdienst vorbei direkt auf den Fahrstuhl zu.

»Miss«, versuchte der irritierte Wachmann mich aufzuhalten. »Sie müssen sich hier eintragen! Sie können nicht einfach …«

»Florence Day! Falcon House Publishers! Rufen Sie oben bei Erin an, die kann es Ihnen bestätigen«, rief ich noch zurück und glitt mit meinem Kaktus im Arm in den Aufzug.

Als sich die Türen schlossen, beäugte ein Mann in einem grauen Anzug skeptisch meine Pflanze.

»Ein Geschenk für meine neue Lektorin«, erklärte ich, da es eigentlich nicht meine Art war, grundlos kleine Sukkulenten mit mir herumzutragen. »Sicher nicht für mich. Mir geht alles ein, was ich in die Finger bekomme. Sogar schon drei Kakteen.«

Der Mann hüstelte und wandte sich von mir ab. »Das ist aber reizend«, tröstete mich die Frau mir gegenüber.

Also war es ein fürchterliches Geschenk. Das hatte ich schon vermutet, aber ich hatte lange auf dem Bahnsteig der Linie B gewartet und mit meinem Bruder am Telefon eine kleine Panikattacke gehabt. Da war eine alte Dame mit Lockenwicklern im Haar gewesen, die Kakteen für einen Dollar das Stück verkaufte. Und wenn ich nervös bin, kaufe ich eben gerne ein. Eigentlich nur Bücher, aber neuerdings wohl auch Zimmerpflanzen.

Der Mann im grauen Anzug stieg auf der zwanzigsten Etage aus, die freundliche Frau auf der siebenundzwanzigsten. Bevor sich die Aufzugtüren wieder schlossen, warf ich einen Blick in ihre Welten: Makelloser weißer Teppich und polierte Holzböden mit Glasvitrinen, hinter denen sich alte Bücher langweilten. Es gab einige Verlage hier im Gebäude, sogar eine Zeitung hatte ihre Geschäftsräume auf einem der Stockwerke. Ich hätte, ohne es zu wissen, mit dem Lektor oder der Lektorin von Nora Roberts im Aufzug stehen können.

In meinen flachen Schuhen, der ausgebesserten Strumpfhose und dem übergroßen karierten Mantel wurde mir im Verlagshaus immer besonders bewusst, wie die Leute mit einem Blick auf mich zu dem Schluss kamen, dass ich die Mindestgröße für eine Fahrt in dieser Achterbahn nicht erreicht hatte.

Was zugegebenermaßen stimmte. Ich bin knapp einen Meter sechzig groß, und was ich trage, ist vor allem gemütlich und selten chic. Meine Mitbewohnerin Rose witzelt gerne, dass ich eine Achtzigjährige im Körper einer Achtundzwanzigjährigen bin.

Manchmal kommt auch mir das so vor.

Netflix und Chill ist doch mit einem Gesundheitskissen und einer heißen Zitrone einfach am besten.

Als sich die Fahrstuhltüren auf der siebenunddreißigsten Etage öffneten, trat ich auf den leeren Gang und klammerte mich an meinen Kaktus wie an einen Rettungsring. Die Räumlichkeiten von Falcon House Publishers waren makellos und weiß. Auf beiden Seiten des Gangs standen sauber glänzende Büchervitrinen, in denen die Bestseller und Meisterwerke der letzten fünfundsiebzig Jahre Verlagsgeschichte aufgereiht waren.

Über die Hälfte der Regale zu meiner Linken waren gefüllt mit Ann Nichols’ Büchern: Die Tochter des Seefahrers, Der Wald der Träume, Ein Haus für die Ewigkeit. Diese Titel hatte meine Mutter verschlungen, als ich noch ein Teenager war und erotische Fan-Fiction über Lestat schrieb. Daneben standen Anns neuere Werke: Die Möglichkeit der Liebe, Geständnisse eines Schwerenöters (darauf war ich besonders stolz) und Ein Kuss auf der Mitternachtsmatinee. Das Glas projizierte mein Gesicht auf die Buchrücken. Ich sah in das blasse Antlitz einer übermüdeten jungen Frau mit dunklen Ringen unter den Augen und ungewaschenen blonden Haaren, die in einem unordentlichen Knoten steckten. Dazu trug ich einen bunten Schal und einen übergroßen beigen Pulli, in dem ich eher wie der Stargast auf dem Schnarchfestival des Monats aussah, nicht so, als hätte ich einen Termin in einem der erfolgreichsten Verlagshäuser der Welt.

Eigentlich hatte auch gar nicht ich den Termin. Ann Nichols war eingeladen worden, und alle glaubten, dass ich nur ihre Assistentin war.

Und so war ich nun hier gelandet.

Die dunkelhaarige Rezeptionistin Erin hielt einen Finger hoch, und während sie ihr Telefonat – es ging um eine Salatbestellung zum Mittagessen – beendete, stand ich mit dem Kaktus im Arm unsicher in der Lobby. Als sie endlich auflegte, sah sie von ihrem Bildschirm auf und erkannte mich. »Florence!« Sie lächelte freundlich. »Du siehst ja richtig fit aus. Wie geht es Rose? Die Party letzte Nacht war echt der Hammer.«

Als ich daran dachte, wie Rose und ich um drei in der Früh nach Hause gestolpert waren, wurde mir schwindelig. Ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen. »Ja, wirklich der Hammer.«

»Ist Rose noch am Leben?«

»Die hat schon ganz anderes überstanden, das kannst du mir glauben.«

Erin lachte. Dann sah sie sich in der Lobby um, als ob sie noch jemanden erwartete. »Kommt Mrs Nichols denn heute nicht?«

»Oh nein, sie ist oben in Maine und macht … na ja, was sie eben in Maine macht.«

Erin schüttelte den Kopf. »Ich frage mich manchmal, wie das Leben wohl so ist, weißt du? Für die Ann Nicholsens und Stephen Kings dieser Welt.«

»Muss nett sein«, stimmte ich ihr zu. Ann Nichols hatte ihre kleine Insel in Maine seit etwa fünf Jahren nicht mehr verlassen. Zumindest nicht, seit ich für sie als Ghostwriterin tätig war.

Ich löste den bunten Schal, den ich mir um den Hals bis über den Mund gewickelt hatte. Obwohl der Winter vorbei war, hielt New York immer eine letzte Kältewelle bereit, bevor es endgültig Frühling wurde. Das war heute der Fall und so schwitzte ich nun in meinem dicken Mantel.

»Eines Tages«, fügte Erin hinzu, »musst du mir erzählen, wie du die Assistentin von Ann Nichols geworden bist.«

Ich musste lachen. »Das habe ich doch schon, übers Internet. Sie hatte eine Anzeige auf Craigslist geschaltet.«

»Das glaube ich dir nicht.«

Ich zuckte mit den Achseln. »C’est la vie.«

Erin war ein paar Jahre jünger als ich und auf ihrem Schreibtisch hatte sie stolz ihr Diplom von der Columbia University aufgestellt. Rose hatte sie vor einer Weile über eine Dating App kennengelernt. Ein paarmal waren sie ausgegangen, aber seitdem waren sie, soweit ich wusste, rein platonische Freunde.

Das Telefon an der Rezeption klingelte. »Wie dem auch sei, du kannst vorgehen«, sagte Erin schnell, »du kennst dich ja noch aus, oder?«

»Natürlich.«

»Super. Viel Erfolg!«, fügte sie hinzu, bevor sie den Anruf in bester Kundenservice-Manier entgegennahm. »Guten Morgen! Falcon House Publishers, Erin am Apparat. Wie kann ich Ihnen helfen?«

Dann war ich wieder mir selbst überlassen.

Ich wusste, wo ich hinmusste. Meine ehemalige Lektorin hatte ich so häufig besucht, dass ich die Gänge blind kannte. Tabitha Margraves war vor Kurzem, zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt, in Rente gegangen. Mit jedem Schritt, den ich mich ihrem Büro näherte, hielt ich mich fester an meinem armen Kaktus fest.

Tabitha wusste, dass ich Anns Ghostwriterin war. Sie und Anns Agentin waren die Einzigen, die eingeweiht waren, abgesehen von Rose, aber Rose zählte nicht. Hatte Tabitha diese Information an meine neue Lektorin weitergegeben? Ich hoffte es sehr. Sonst würde das hier ein unangenehmes erstes Treffen werden.

Die Gänge waren von Milchglaswänden gesäumt, die für Privatsphäre sorgen sollten, aber erstaunlich wenig dazu beitrugen. Ich sah Schemen von Lektoren und PR-Leuten und hörte sie gedämpft über Einkäufe, Marketingstrategien, Verträge, Budgets und Buchtouren sprechen.

All die Dinge, von denen man außerhalb des Verlagswesens selten hörte.

Das Verlagswesen hatte etwas Romantisches an sich, bis man selbst dort arbeitete. Dann entpuppte es sich auch nur als eine weitere unternehmerische Hölle.

Ich ging an ein paar Volontären vorbei, auf deren Tischen sich Manuskripte so hoch stapelten, dass man sie dahinter kaum sah. Sie wirkten gestresst und knabberten nervös an ihren Karotten und ihrem Hummus herum. Erins Salatbestellung hatte sie wohl nicht eingeschlossen. Volontäre verdienten ohnehin nicht genug, um sich Essen liefern zu lassen. Die Anordnung der Büros folgte einer Hierarchie, je weiter man ging, desto höher wurde das Gehalt. Am Ende des Gangs hätte ich das Büro beinahe nicht erkannt. Der Blumenkranz an der Tür und die Aufkleber an der Milchglaswand, auf denen TUESEINFACH! und LIEBEISTEWIG! stand, waren verschwunden.

Für einen Augenblick dachte ich, ich wäre falsch abgebogen, bis ich die Praktikantin an ihrem kleinen Schreibtisch wiedererkannte, die gerade manisch und den Tränen nahe dabei war, freie Vorableseexemplare in Umschläge zu schieben.

Meine neue Lektorin hatte keine Zeit verschwendet, den Blumenkranz zu entsorgen und die Motivationssticker loszuwerden. Ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war?

Kurz bevor Tabitha in den Ruhestand ging, waren wir immer häufiger aneinandergeraten. »Liebesromane leben vom Happy End. Ann weiß das doch«, betete sie mir zwinkernd vor, denn im Grunde genommen war ich ja Ann.

»Ann glaubt aber nun mal nicht mehr an die Liebe«, entgegnete ich ihr dann. Als sie schließlich in Rente ging und nach Florida zog, standen wir beide kurz davor, uns an den Kragen zu gehen. Irgendwie schafft sie es immer noch, an die Liebe zu glauben.

Ich wiederum habe diese Lüge längst durchschaut.

Liebe bedeutet, sich fünfzig Jahre mit jemandem abzugeben, damit dieser Jemand einen einmal beerdigt. Ich kenne mich da aus, meine Familie betreibt ein Bestattungsinstitut.

Tabitha schimpfte mich unromantisch, als ich ihr das sagte.

Ich finde es schlicht realistisch.

Das ist ein Unterschied.

Ich setzte mich mit meinem Kaktus im Arm auf einen der beiden Stühle vor dem Büro. Während ich wartete, scrollte ich durch meinen Instagram-Feed. Meine Schwester hatte ein Foto vom Bürgermeister unserer Heimatstadt, einem Golden Retriever, gepostet und ein Anflug von heftigem Heimweh überkam mich. Heimweh nach dem Wetter, dem alten Bestattungsinstitut, dem fantastischen Brathähnchen meiner Mutter.

Ich fragte mich, was es wohl heute Abend zu essen gab.

In Gedanken verloren, hörte ich nicht, dass die Bürotür geöffnet wurde, bis mich eine tiefe männliche Stimme ansprach. »Verzeihen Sie die Verzögerung, bitte kommen Sie rein.«

Überrascht sprang ich auf die Beine. War ich im falschen Büro gelandet? Ich sah mich um, zur Linken sah ich die manische Brünette mit ihren Umschlägen und zur Rechten den HR-Direktor, der in seinen Salat seufzte. Nein, ich hatte mich bestimmt nicht geirrt.

Der Mann räusperte sich ungeduldig.

Ich presste den Kaktus so fest an mich, dass der Topf leise zu knacken anfing. Zögerlich betrat ich das Büro.

Und blieb wie versteinert stehen.

Dieser Typ setzte sich in den Ledersessel, von dem Tabitha über fünfunddreißig Jahre lang (vermutlich länger, als er auf der Welt war) nicht wegzudenken gewesen war. Der Tisch, auf dem bis vor Kurzem noch allerlei Keramikfiguren und Bilder ihres Hundes gestanden hatten, war sauber und aufgeräumt, alles hatte seinen Platz. Der Mann dahinter und der Schreibtisch ergänzten sich perfekt. Auch er wirkte auf Hochglanz poliert in seinem makellosen weißen Hemd, das an den breiten Schultern spannte. Er hatte die Ärmel bis zu den Ellbogen hochgekrempelt und gab so den Blick auf wirklich beeindruckend sexy Unterarme frei. Sein schwarzes Haar war sorgfältig zurückgekämmt, wodurch sein Gesicht noch markanter wirkte. Auf seiner langen Nase saß eine rechteckige Brille. Als ich genauer hinsah, konnte ich ein paar Sommersprossen auf seinem Gesicht ausmachen. Eine beim rechten Nasenloch, zwei auf der Wange, eine genau über der dichten rechten Augenbraue. Eine ganze Reihe möglicher Konstellationen. Im ersten Moment wollte ich einen Stift nehmen und die Verbindungslinien ziehen, um ihre Mythen entschlüsseln zu können. Im zweiten wurde mir schlagartig bewusst …

Oje.

Er war heiß. Und er kam mir bekannt vor. Ich hatte ihn auf Verlagsevents mit Rose und mit meinem Ex-Freund schon ein paarmal gesehen. Mir fiel sein Name nicht ein, aber ich war ihm bestimmt schon mehr als einmal begegnet. Ich hielt den Atem an und fragte mich, ob er mich wohl auch erkannte. Ja …?

Einen Augenblick lang sah es so aus, denn seine Augen weiteten sich, zwar nur einen Bruchteil, aber genug, um mir den Eindruck zu geben, dass da irgendwas klingelte. Dann war der Moment vorbei.

Er räusperte sich wieder.

»Sie müssen die Assistentin von Ann Nichols sein«, legte er ohne Umschweife los. Er stand auf und ging um den Tisch, um mir die Hand anzubieten. Er war ein Riese. Es kam mir vor, als wäre ich auf einmal mitten in Hans und die Bohnenranke gelandet, so groß war er. Eine wirklich gut gebaute Bohnenranke, die ich nur allzu gerne besteigen wollte.

Stopp. Nein, Florence. Böses Mädchen, schimpfte ich mich selbst. Du wirst ihn nicht wie einen Baum besteigen, weil das dein neuer Lektor ist und ihn das zu einem absolut nicht besteigbaren Baum macht.

»Florence Day«, sagte ich und nahm seine Hand. In seinem festen Händedruck schien meine Hand fast vollständig zu verschwinden.

»Benji Andor, aber Sie können mich Ben nennen«, stellte er sich vor.

»Florence«, wiederholte ich, überrascht davon, dass ich überhaupt etwas rausbrachte.

Er verzog die Mundwinkel zu einem leichten Lächeln. »Das sagten Sie schon.«

Erschrocken zog ich die Hand zurück. »O Gott. Stimmt … Entschuldigung.« Ich ließ mich ein wenig zu heftig auf den harten IKEA-Stuhl fallen und platzierte den Kaktus auf den Knien. Meine Wangen brannten, und wenn ich sie fühlen konnte, dann konnte er garantiert sehen, wie ich rot anlief.

Er setzte sich und rückte einen Stift auf seinem Schreibtisch gerade.

»Freut mich, Sie kennenzulernen«, fing ich an. »Verzeihen Sie die Verspätung. In der U-Bahn war heute Morgen die Hölle los. Erin sagt mir immer wieder, ich soll eine andere Verbindung nehmen, aber ich fahre trotzdem jedes Mal mit der gleichen Bahn, ich bin eine Idiotin.« Bevor ich mich bremsen konnte, fügte ich noch hinzu: »Oder eine Masochistin.«

Er lachte laut auf. »Oder beides.«

Ich biss mir auf die Backe, um nicht zu grinsen. Er hatte ein tolles Lachen, tief und kehlig wie Donnergrollen.

Oje, das lief ja überhaupt nicht wie geplant.

Er mochte mich, aber das würde sich in etwa fünf Minuten schlagartig ändern. Gerade mochte ich mich nicht einmal selbst. Wie war ich bloß auf die Idee gekommen, ein Kaktus würde es einfacher machen?

Er rückte seinen Stuhl an den Schreibtisch und richtete einen Füller parallel zur Tastatur aus. Alles in diesem Büro war so aufgeräumt. Er gehörte sicher zu den Menschen, die ein falsch einsortiertes Buch im Buchladen an die richtige Stelle zurückräumten.

Alles hatte seinen Platz.

Er war der Typ Schlagwortliste, ich eher von der Sorte Haftnotizen.

Das könnte mir jedoch gelegen kommen. Er machte nicht den Eindruck, als hätte er viel Verständnis für Melodrama, und solche Menschen sind selten Romantiker. Daher würde ich keinen mitleidigen Blick kassieren, wenn ich ihm gleich sagte, dass ich nicht mehr an Liebesromane glaubte. Er würde nur andächtig nicken und genau wissen, wovon ich sprach. Und das war mir deutlich lieber als Tabitha Margraves, wenn sie mich wieder einmal mit ihren großen, traurigen Augen ansah und fragte: »Warum glaubst du nicht mehr an die Liebe, Florence?«

Weil man sich die Finger verbrennt, wenn man sie zu lang ins Feuer hält.

Mein neuer Lektor richtete sich auf. »Ich bedauere es sehr, dass Mrs Nichols heute nicht kommen konnte. Es hätte mich gefreut, sie kennenzulernen«, fing er an und riss mich damit aus meinen Gedanken.

Nervös rutschte ich auf meinem Stuhl herum. »Oh, hat Ihnen Tabitha das nicht gesagt? Ann verlässt Maine nicht. Ich glaube, sie lebt auf einer Insel oder so. Klingt jedenfalls gut, ich würde auch nicht wegwollen. Maine soll wohl recht schön sein.«

»Das ist es! Ich bin dort aufgewachsen«, bestätigte er. »Da gibt es viele Elche. Und die sind riesig.«

Bist du dir sicher, dass du nicht selbst halb Elch bist?, flüsterte mir mein tückisches Hirn zu, und wieder ermahnte ich mich, dass solche Gedanken äußerst unangebracht waren.

»Das muss Sie ja dann gut auf die Ratten in New York vorbereitet haben.«

Wieder lachte er. Diesmal schien er sich selbst damit zu überraschen. Auch sein Lächeln war wunderbar und strahlend. Es reichte bis zu seinen tiefbraunen Augen. »Darauf hätte mich nichts vorbereiten können. Kennen Sie die am Union Square? Man könnte problemlos auf ihnen reiten.«

»Ach, das wussten Sie nicht? Unten an der Eighteenth Street Station gibt es einen Rattenverleih. Wenn Sie also mal mausreiten wollen …«

»Oh, das muss ich mir merken. Machen Sie das oft?«

»Aber ja, so ein kleiner Reit-Mausflug tut immer gut!«

»Wow, Sie sind ja ein wahrer Mauster des Wortspiels.«

Ich schnaubte vor Lachen und sah weg, irgendwohin, nur nicht zu ihm. Mir gefiel sein Charme, und ich wollte ihn nicht enttäuschen. Aber es half nichts.

Er räusperte sich und sagte: »Nun, Miss Day, ich denke, wir sollten uns über Anns neuen Roman unterhalten …«

Ich umklammerte den Kaktus auf meinem Schoß. Mein Blick schoss von einer weißen Wand zur anderen. In diesem Büro gab es einfach nichts, was man ansehen konnte. Früher war es immer mit allem Möglichen vollgestopft gewesen – Blumen und Fotos und Buchcover an den Wänden –, aber jetzt hing lediglich ein gerahmter Masterabschluss in Belletristik an der Wand.

»Muss es ein Liebesroman sein?«, sprudelte es einfach aus mir heraus.

Verwundert hob er den Kopf. »Wir verlegen hier nun mal … Liebesromane.«

»Das … das weiß ich, aber Nicholas Sparks schreibt auch traurige Bücher und John Greene schreibt melodramatische Sick Lit. Meinen Sie nicht, ich, äh, ich meine Mrs Nichols, könnte auch etwas in der Art schreiben?«

Einen Augenblick zögerte er. »Sie meinen, etwas Tragisches?«

»Oh nein. Immer noch eine Liebesgeschichte. Natürlich. Aber eine echte Liebesgeschichte, die nicht auf ein perfektes ›Happy End‹ hinausläuft.«

»Aber unser Geschäft ist nun mal das Happy End«, erklärte er vorsichtig und wählte seine Worte sorgsam.

»Aber das ist doch eine Lüge, oder nicht?«

Er spitzte die Lippen.

»Die Liebe ist tot und all das hier kommt mir wie Betrug vor.« Die Worte sprudelten aus mir heraus, bevor mein Gehirn seine Zustimmung dazu geben konnte. Sobald mir klar wurde, was ich da gerade laut ausgesprochen hatte, zuckte ich zusammen. »Das habe ich nicht … Das ist nicht Anns Haltung, das ist nur meine Meinung.«

»Sind Sie ihre Assistentin oder ihre Lektorin?«

Seine Worte trafen mich wie eine Ohrfeige. Ich sah zu ihm rüber und wurde still. Seine Augen hatten ihren goldenen Schimmer verloren, das Gesicht mit den Lachfalten war wieder zu einer glatten, emotionslosen Maske geworden.

Ich klammerte mich fester an den Kaktus. Er war irgendwie zu meinem Verbündeten im Kampf geworden. Also wusste er nicht, dass ich Anns Ghostwriterin war. Tabitha hatte es ihm nicht gesagt, oder es schlicht vergessen. Aber ich musste es ihm sagen.

Er war schließlich mein Lektor.

Aber ein wütender, beschämter Teil von mir traute sich nicht. Ich wollte nicht, dass er mitbekam, wie viel ich nicht auf der Reihe hatte. Als Anns Ghostwriterin sollte ich das doch, oder? Das Leben auf der Reihe haben?

Sollte ich nicht besser sein?

Als ich jung war, las meine Mutter die Bücher von Ann Nichols, und so las ich sie auch. Mit zwölf schlich ich mich in der Bibliothek zu den Liebesromanen und las Der Wald der Träume heimlich zwischen den Regalen. Ich kannte ihr Werk vorwärts und rückwärts, so gut wie das hundert Mal gehörte Album meiner Lieblingsband.

Und dann war ich zu ihrer Feder geworden.

Obwohl Anns Name auf dem Cover stand, hatte ich Die Möglichkeit der Liebe, Geständnisse eines Schwerenöters und Ein Kuss auf der Mitternachtsmatinee geschrieben. Seit fünf Jahren schickte mir Ann Nichols einen Scheck, damit ich diese Bücher schrieb, und die Worte in diesen Büchern, meine Worte, waren von der New York Times Book Review bis hin zur Teen Vogue gelobt worden. Diese Bücher standen neben Nora Roberts, Nicolas Sparks und Julia Quinn in den Regalen. Und sie waren von mir ganz allein.

Ich schrieb für eine der größten Autorinnen von Liebesromanen, es war ein Job, für den die meisten morden würden, und ich … ich würde alle enttäuschen.

Vielleicht hatte ich sie sogar schon enttäuscht. Ich hatte auf mein letztes Pferd gesetzt, darauf, dass ich ein Buch schreiben könnte, das alles andere als ein Happy End hat, aber er hatte das abgelehnt.

»Mr Andor«, fing ich mit heiserer Stimme erneut an, »es ist einfach so …«

»Ann muss das Manuskript zum vereinbarten Termin abgeben«, unterbrach er mich kühl und in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. Die Wärme von gerade eben war verschwunden. Ich schrumpfte auf dem harten IKEA-Stuhl immer weiter in mich zusammen.

»Die Deadline ist morgen«, flüsterte ich.

»Genau, morgen.«

»Und was … wenn sie das nicht schafft?«

Seine Lippen waren zu einer schmalen Linie geworden. Er hatte einen breiten Mund mit einem Grübchen in der Mitte, das mehr über ihn verriet, als es ihm recht zu sein schien. »Wie viel Zeit braucht sie noch?«

Ein Jahr. Zehn Jahre.

Eine Ewigkeit.

»Äh, einen Monat vielleicht?«, fragte ich hoffnungsvoll.

Seine Brauen schossen in die Höhe. »Auf gar keinen Fall.«

»So was braucht eben seine Zeit!«

»Das verstehe ich«, stieß er hervor, und ich zuckte zusammen. Er nahm seine Brille ab und sah mich an. »Darf ich ehrlich zu Ihnen sein?«

Nein, auf gar keinen Fall. »Ja …?«, antwortete ich vorsichtig.

»Weil Ann schon drei Mal um eine Verlängerung der Abgabefrist gebeten hat, müssen wir das Buch ohnehin, selbst wenn wir es morgen bekommen, so schnell wie möglich durchs Lektorat und die Korrekturfahnen jagen, um noch in der Zeit zu bleiben. Aber das geht eben nur, wenn wir es morgen bekommen. Das ist Anns großer Herbsttitel. Und zwar ein Liebesroman mit Happy End. Das ist ihr Markenzeichen. Dafür haben wir sie unter Vertrag. Die Reklame läuft schon. Wir kriegen vielleicht sogar eine ganze Seite Werbung dafür in der New York Times. Es steckt viel Arbeit in diesem Buch. Deswegen habe ich auch mit Anns Agentin gesprochen, und die hat mich an Sie verwiesen, ihre Assistentin.«

Diesen Teil der Geschichte kannte ich schon. Anns Agentin Molly Stein war nicht gerade erfreut über meinen Anruf gewesen. Sie dachte, alles laufe wie am Schnürchen. Ich brachte es nicht übers Herz, ihr zu sagen, dass dem nicht so war. Molly hatte mir beim Ghostwriten stets ziemlich freie Hand gelassen, und das lag vor allem daran, dass die Bücher Teil, eines Vertrags über vier Titel waren. Nun ging es um den letzten Teil, und sie erwartete von mir, dass ich es nicht versaute.

Aber da saß ich nun.

Ich wollte mir nicht einmal vorstellen, dass Molly es Ann erzählen würde. Oder wie enttäuscht Ann wäre. Ich hatte sie nur einmal getroffen, aber fürchterliche Angst davor, sie zu enttäuschen. Das ging einfach nicht.

Sie war mein Vorbild. Und jemanden zu enttäuschen, zu dem man aufsieht, ist als Erwachsener genauso scheiße wie als Kind.

Benji fuhr fort: »Was auch immer Mrs Nichols davon abhält, ihr Manuskript abzugeben, wird nicht nur für mich, sondern auch für Marketing und Herstellung zum Problem. Wenn wir in der Zeit bleiben wollen, brauchen wir das Manuskript morgen.«

»Das … das weiß ich, aber …«

»Und wenn sie es nicht rechtzeitig schafft«, fügte er hinzu, »dann müssen wir leider unsere Anwälte einschalten.«

Anwälte. Das hieß Vertragsbruch. Das hieß, ich hatte es so sehr versaut, dass es kein Zurück mehr gab. Ich hatte nicht nur Ann enttäuscht, sondern auch ihren Verlag und ihre Leser, einfach alle.

Und das passierte mir nicht zum ersten Mal.

Der Raum wurde plötzlich immer kleiner, oder ich bekam eine Panikattacke. Ich hoffte sehr, es war Ersteres. Ich atmete flach, bekam kaum Luft.

»Miss Florence? Geht es Ihnen gut? Sie sind ein wenig blass«, bemerkte er, aber seine Stimme kam von weit weg. »Möchten Sie ein Glas Wasser?«

Ich schob meine Panik in die kleine Kiste ganz hinten in meinem Kopf, wo auch der ganze Rest lag. Der ganze üble Rest, mit dem ich mich nicht konfrontieren wollte, mit dem ich mich nicht konfrontieren konnte. Die Kiste war sehr praktisch. Ich schloss darin alles ein. Verriegelt und verrammelt. Ich zwang mich zu einem Lächeln. »Nein, alles gut. Es ist nur ein bisschen viel. Und Sie haben recht. Natürlich haben Sie recht.«

Er schaute mich zweifelnd an. »Dann also morgen?«

»Ja«, krächzte ich.

»Gut. Bitte richten Sie Mrs Nichols meine besten Grüße aus. Ich freue mich, mit ihr zusammenzuarbeiten. Und verzeihen Sie, ist das ein Kaktus? Den sehe ich erst jetzt.«

Ich blickte auf die Sukkulente hinunter, die ich, während es in der Kiste in meinem Kopf tobte, auf meinem Schoß ganz vergessen hatte. Ich verabscheute diesen Mann, und wenn ich auch nur eine Minute länger in diesem Büro blieb, würde ich entweder den Kaktus nach ihm werfen oder anfangen zu weinen.

Oder beides.

Ich sprang auf die Beine und stellte ihm den Kaktus auf den Schreibtisch. »Das ist ein Geschenk.«

Dann schnappte ich mir meine Tasche, machte auf dem Absatz kehrt und verließ, so schnell ich konnte, das Verlagshaus. Ich riss mich zusammen, bis ich durch die Drehtüren und hinaus in die kühle Aprilluft gestolpert war, dann konnte ich nicht mehr.

Ich holte tief Luft und fluchte laut in den traumhaft blauen Nachmittagshimmel. Dabei schreckte ich einen Schwarm Tauben auf dem Platz vor dem Verlag auf.

Ich brauchte einen Drink.

Nein, ich brauchte ein Buch. Einen Thriller. Hannibal. Lizzie Borden, etwas in der Art.

Vielleicht brauchte ich beides.

Ja, ich brauchte auf jeden Fall beides.

2.Zum Leben zu wenig

Ich hätte das Buch schon schreiben können.

Ich wusste nur nicht, wie.

Seit der Trennung war ein Jahr vergangen. Jeder hat so eine mal erlebt. Jeder weiß genau, wovon ich rede, oder? Die Art Trennung von einer Liebe, die man für ewig hielt. Und dann wird einem von dieser Liebe das Herz mit einem Löffel herausgerissen und mit Ketchup garniert auf dem Silbertablett serviert. Vor einem Jahr hatte ich meine Sachen an einem beschissenen Aprilabend aus seinem Apartment geschleppt und nie wieder zurückgesehen. Das bereute ich auch nicht. Ich würde es niemals bereuen, mit ihm Schluss gemacht zu haben.

Ich bereute es nur, dass ich überhaupt auf ihn hereingefallen war.

Danach war die Zeit vor sich hin gekrochen. Anfangs hatte ich mir vorgenommen, jeden Tag früh aufzustehen, mich mit dem Laptop auf die Couch zu setzen und zu schreiben, aber das ging nicht. Nun ja, es ging schon, aber jedes Wort war eine Qual und tags drauf löschte ich jedes einzelne.

Am einen Tag konnte ich noch schreiben, am nächsten nicht mehr. Ich hatte alle Szenen vor Augen gehabt, die romantischen ersten Begegnungen und die Schmachtmomente, hatte genau gewusst, wie sich mein Held anfühlte, wenn er meine Heldin küsste. Doch am nächsten Tag war alles weg. Wie von einem Schneesturm überfroren. Und ich wusste nicht, wie ich die Worte auftauen sollte.

Ich weiß nicht mehr, wann ich aufgehört hatte, das Word-Dokument überhaupt zu öffnen, wann ich aufgehört hatte, zwischen den Zeilen nach der Romantik zu suchen. Aber das hatte ich. Und nun steckte ich zwischen Verzweiflung und Benji Andor mächtig in der Klemme.

Gedankenverloren ließ ich bei McNally Jackson, einem Buchladen in Nolita, die Finger über Buchrücken gleiten. Ich folgte den Reihen von Titeln und Nachnamen bis zum Ende des Gangs. Liebesromane. Schnell ging ich weiter zu Fantasy und ignorierte die Romanzen, es gab sie einfach nicht.

Ich hatte nicht vorgehabt, Ghostwriterin zu werden. Wirklich nicht. Als ich einen Agenten gefunden und mein erstes Buch veröffentlicht hatte, dachte ich, ich würde mich künftig auf Literaturveranstaltungen und Buchevents rumtreiben. Ich hatte gedacht, endlich die Tür gefunden zu haben, die mich zu meiner immer weiter aufsteigenden Karriereleiter führen würde. Aber die Tür schloss sich so schnell wieder, wie sie sich geöffnet hatte. In der E-Mail stand: »Es tut uns leid, Ihnen mitteilen zu müssen …« Als ob ich Schuld daran hatte, dass mein Buch ein Flop war. Als ob ich, eine junge Frau ohne Social-Media-Follower, mit noch weniger Geld und überhaupt keinen Beziehungen, für das Schicksal eines Buches verantwortlich war, das von einem millionenschweren Multimediakonzern publiziert wurde, der über alle Mittel und Beziehungen verfügte.

Vielleicht war ich schuld.

Vielleicht hatte ich nicht genug dafür getan.

Aber das war auch egal, denn gerade schrieb ich für eine Romanautorin, die ich nur ein einziges Mal getroffen hatte, und auch das würde ich versauen, wenn ich nicht dieses gottverdammte Buch fertig schrieb. Ich hatte alle Charaktere vor Augen: Amelia, eine schlagfertige Kellnerin, die davon träumt, Journalistin zu werden. Und Jackson, den unsteten Gitarristen, der das Rampenlicht hinter sich gelassen hat. Da das Airbnb versehentlich doppelt gebucht worden ist, sitzen sie im Urlaub gemeinsam auf einer schottischen Insel fest. Die Insel ist zauberhaft und die Romanze nimmt ihren Lauf, als ein fürchterlicher Sturm vom Atlantik aufzieht. Aber dann findet sie heraus, dass er über seine Vergangenheit gelogen hat, und sie war auch nicht aufrichtig. Obwohl der Buchungsfehler zwar wirklich Zufall war, hatte sie ihn sich zunutze machen wollen, um einen Redakteur des Rolling Stone von sich zu überzeugen.

Vermutlich ist mir die Handlung einfach zu nahegegangen. Wie konnten zwei Menschen wieder zueinanderfinden und sich vertrauen, wenn sie sich doch in die Lügen des anderen verliebt hatten?

Wie machte man da weiter?

Als ich das letzte Mal versucht hatte, die Versöhnungsszene zu schreiben, in der sie sich im kalten schottischen Sturm gegenüberstehen und einander die Herzen ausschütten, um der Liebe noch eine Chance zu geben, wurde Jackson vom Blitz getroffen.

Wenn ich Rachefantasy schreiben würde, wäre das kein Problem. Aber das war hier nicht gefragt.

Gerade schaute ich durch den Stapel gebrauchter J.D. Robbs, als mein Telefon klingelte. Ich kramte danach und betete, dass es nicht Anns Agentin Molly war.

Zum Glück war sie es nicht.

Ich nahm ab. »Großartiges Timing. Ich habe ein Problem.«

Mein Bruder lachte. »Also ist dein Meeting nicht gut gelaufen?«

»Überhaupt nicht.«

»Du hättest eben besser eine Orchidee statt einer Sukkulente mitbringen sollen.«

»Ich glaube nicht, dass es an der Pflanze lag, Carver.«

Mein Bruder schnaubte. »Na gut, was ist also passiert? Hat sich deine neue Lektorin als heißer Typ entpuppt?«

Ich griff nach Royal Blue von Casey McQuiston, das nichts bei den Politthrillern zu suchen hatte, um es zurück zu den Liebesromanen zu bringen, wo es hingehörte. »Okay, dann sind zwei Dinge passiert.«

»Oje, er ist also heiß?«

»Erinnerst du dich an das Buch, das ich dir geliehen habe? Das von Sally Thorne? Küss mich, Mistkerl.«

»Groß, stoisch, aber charmant, sein Schlafzimmer ist in der Farbe ihrer Augen gestrichen?«

»Genau! Nur sind seine braun. Wie Schokolade.«

»Zartbitter?«

»Nein, eher wie Ferrero Küsschen, wenn man richtig Heißhunger hat.«

»Verflucht.«

»Jap. Und als wir uns vorgestellt haben, habe ich meinen Namen zweimal gesagt.«

»Das hast du nicht wirklich.«

Ich stöhnte. »Doch. Und dann hat er mir keine Verlängerung mehr gegeben. Ich muss das Buch fertig schreiben. Und es muss ein Happy End haben.«

Er schnaubte wieder. »Das hat er gesagt?«

»Jap.«

»Ich weiß nicht, ob mich das jetzt mehr oder weniger anmacht …«

»Carver!«

»Was denn? Ich steh eben auf Männer, die wissen, was sie wollen!«

Ich wollte ihn durch die Leitung erwürgen. Carver war das Mittelkind der Familie und der Einzige, der wusste, dass ich Ghostwriterin war. Er hatte schwören müssen, es niemandem zu verraten. Sonst würde ich seine gesammelte Fan-Fiction mit Hugh Jackman in der Hauptrolle in der Lokalzeitung veröffentlichen. Liebevolle Erpressung unter Geschwistern eben. Aber er wusste nicht, für wen ich schrieb. Darum löcherte er mich auch ständig.

Ich schlenderte in die Abteilung für Liebesromane, wo halb nackte Männer von den Regalen auf mich heruntersahen, und räumte das Buch zurück an seinen Platz unter M.

»Also, ich will ja nicht nerven, aber was hast du jetzt mit deinem Manuskript vor?«, fragte Carver.

»Ich weiß es nicht«, antwortete ich wahrheitsgemäß. Die Cover der Bücher in den Regalen verschwammen vor meinen Augen.

»Vielleicht ist es an der Zeit für etwas Neues«, schlug er vor. »Dieser Schreibjob scheint ja nicht mehr das Richtige zu sein. Und du bist zu talentiert, um dich hinter Nora Roberts zu verstecken.«

»Ich schreibe nicht für Nora Roberts.«

»Du würdest es mir aber auch nicht verraten«, erwiderte er.

»Aber es ist nicht Nora.«

»Mh-hm.«

»Wirklich nicht.«

»Nicholas Sparks? Jude Deveraux? Christina Lauren? Ann Nichols …?«

»Ist Dad da?«, unterbrach ich ihn und mein Blick fiel auf N. Nichols. Ich fuhr mit dem Finger über den Rücken von Der Wald der Träume.

Ich konnte förmlich hören, wie Carver die Stirn runzelte. »Woher weißt du, dass ich im Bestattungsinstitut bin?«

»Du rufst mich nur an, wenn du dich im Bestattungsinstitut langweilst. Gibt es in deiner IT-Firma nicht genug zu tun heute?«

»Wollte früher los. Dad ist gerade noch im Kundengespräch«, fügte er hinzu. Also sprach Dad gerade mit Hinterbliebenen über den Ablauf einer Beerdigung, den Sarg und die Kosten.

»Hast du schon mit ihm geredet?«

»Über die Brustschmerzen? Nein.«

Ich schnaubte ungehalten. »Mom sagt, er weigert sich, zu Doktor Martin zu gehen.«

»Du kennst Dad doch. Er wird schon irgendwann zum Arzt gehen.«

»Meinst du, Alice könnte ihn dazu bringen?«

Alice war wirklich gut darin, Dad von Dingen zu überzeugen, auf die er keine Lust hatte. Sie war die Jüngste und hatte Dad so fest um den kleinen Finger gewickelt, dass er ihr den Mond vom Himmel geholt hätte. Sie war es auch, die das Familienunternehmen weiterführen würde. Nur sie hatte daran Interesse.

»Habe schon gefragt«, antwortete Carver. »Es finden dieses Wochenende irgendwie drei Bestattungen statt. Wenn es nächste Woche etwas ruhiger ist, geht er bestimmt. Und es geht ihm gut. Mom ist ja da, falls was ist.«

»Warum ist er nur so stur?«

»Das sagt die Richtige.«

»Haha.« Ich entschied mich für zwei Sci-Fi-Romane und ein hübsch gebundenes Taschenbuch. Das wandelnde Schloss von Diana Wynne Jones. Bücher zu kaufen half mir immer, selbst wenn ich sie nicht las. »Kannst du wenigstens noch mal versuchen, Dad zu überzeugen? Er sollte besser früher als später gehen.«

»Sicher, wenn du ihn davon überzeugen kannst, einen Tag freizunehmen.«

Im Hintergrund hörte ich Dad rufen: »Wen überzeugen? Wovon?«

Und Carver hielt den Hörer weg (nicht, dass das mein Trommelfell ausreichend geschont hätte) und antwortete: »Nichts, alter Mann! Geh und nimm deine Vitamine. Hey, das war ein Scherz! Oh, was sagst du, Mom? Womit soll ich dir helfen? Hier. Dein zweitliebstes Kind ist am Apparat.«

»Ich bin nicht das zweitliebste«, widersprach ich.

»Okay, bye!«

Ich hörte es rauschen, als Carver den Hörer schnell an meinen Vater weitergab. Ich konnte mir gut vorstellen, wie Carver meinem Vater sein Handy zuwarf, der versuchte, ihn in den Arm zu boxen, und das Telefon dabei fallen ließ, bis Carver, die ganze Zeit laut lachend, abzog, um irgendwo anders meiner Mutter zu helfen.

Dad kam ans Telefon und seine sonore Stimme schallte durch die Leitung. »Buttercup! Wie läuft es in der Stadt, die niemals schläft?«

Beim Klang seiner Stimme, gemischt mit Carvers Lachen im Hintergrund, ging mir das Herz auf. Meine Familie fehlte mir, mehr als ich es zugeben wollte. »Ganz gut.«

»Isst du genug? Und trinkst du genug Wasser?«

»Ich sollte dich das fragen.« Ich ging den Gang entlang und setzte mich mit meiner Tasche und den Büchern auf dem Schoss auf einen der Schemel. »Alter Mann.«

Ich konnte mir vorstellen, wie er die Augen verdrehte. »Mir geht es gut. Auf meine alten Knochen ist noch immer Verlass. Wie geht es meiner Ältesten? Schon einen hübschen Städter kennengelernt?«

Ich schnaubte. »Mein Leben besteht nicht nur aus meinem Liebesleben, Dad. Liebe ist nicht alles.«

»Was hat meine wundervolle große Tochter nur so desillusioniert? Es ist eine Tragödie.« Er seufzte schwer. »Dabei bist du doch den Lenden der Liebe entsprungen.«

»Bitte hör auf, Dad.«

»Warum? Als ich deine Mutter kennengelernt habe, war ich so von ihr hingerissen, dass …«

»Dad.«

»… wir das Hotelzimmer drei Tage lang nicht verlassen haben. Drei Tage!«

»Dad.«

»Ihre Lippen waren wie zarte Rosenblüten …«

»Ich habe es verstanden, ist ja gut! Ich bin einfach noch nicht bereit für eine neue Beziehung. Vielleicht werde ich das auch nie mehr sein.«

»Vielleicht wird dich das Universum überraschen.«

Aus irgendeinem Grund hatte ich auf einmal das markante Gesicht meines neuen Lektors vor Augen. Als ob. Ich fuhr mit dem Daumen sanft über die Seiten eines der Bücher auf meinem Schoß und genoss das sanfte Flattern. »Wie läuft das Geschäft?«

»Recht gut«, antwortete Dad. »Erinnerst du dich an Doktor Cho? Deinen Kieferorthopäden?«

»Alice hat mir erzählt, dass er gestorben ist.«

»Die Beerdigung war aber sehr schön. Wunderbares Wetter für April. Der Wind hat in den Bäumen gespielt. Ich sag es dir, es war ein schöner Abschied«, schwärmte er. Dann fügte er leise hinzu: »Er hat sich hinterher bei mir bedankt.«

Jeder andere hätte gedacht, er sei verrückt. Vielleicht war er das auch ein bisschen, aber dann war ich es auch. »Ach ja?«

»Es war nett. Hab mir ein paar Tipps für meine eigene Beerdigung geholt.«

»Das wird aber noch eine Weile dauern«, witzelte ich.

»Das hoffe ich doch! Aber dann kommst du vielleicht endlich nach Hause.«

»Das wäre dann wieder Stadtgespräch.«

Er musste lachen, doch es klang schwermütig. Diese Schwermut fühlte auch ich. Schließlich war ich deshalb weggezogen. Deswegen hatte ich Mairmont verlassen. Daher war ich so weit wie möglich weggegangen, dahin, wo niemand meine Geschichte kannte.

Wenn man mit dreizehn einen Mord aufklärt, weil man mit Geistern sprechen kann, dann drucken die Zeitungen auch genau das.

JUNGESMÄDCHENÜBERFÜHRTMÖRDERMITHILFEVONGEISTERN

So etwas lässt einen nicht mehr los. Und es trug auch nicht zu meiner Beliebtheit in der Schule bei. Danach stand jedenfalls niemand Schlange, um mit mir auf den Abschlussball zu gehen. Carver und Alice konnten die Geister nicht sehen und Dads jüngere Schwester Liza und Mom auch nicht. Nur wir zwei.

Wir waren die Einzigen, die verstanden.

Noch ein Grund, weshalb ich besser allein blieb.

»Bitte geh nächste Woche zu Doktor Martin, um …«, fing ich an, aber er unterbrach mich.

»Oh, da kommt gerade ein anderer Anruf rein. Wir reden bald wieder, ja, Buttercup? Vergiss nicht, deine Mutter anzurufen.«

Ich seufzte resigniert. »Ich liebe dich, Dad.«

»Und ich dich erst!«

Er legte auf, und da wurde mir plötzlich bewusst, dass die Buchhändlerin mich giftig ansah, weil ich auf ihrem Schemel saß. Ich sprang auf und entschuldigte mich. Dann schlich ich zur Kasse.

Einer der Vorteile dieses Jobs bestand darin, dass ich Bücher von der Steuer absetzen konnte. Auch wenn ich sie nie las. Auch wenn ich sie nur dazu nutzte, mir Bücherthrone zu bauen, um mich dann daraufzusetzen und weinend ein Glas Merlot nach dem anderen zu trinken.

Es lohnte sich trotzdem.

Und der kleine Kick Serotonin ließ mich etwas weniger mörderische Gedanken hegen. Ich steckte die Bücher in meine Tasche und ging zur nächsten Bahn, die mich nach Jersey bringen würde. Das bedeutete, etwa zwanzig Minuten hinauf zur Ninth Street Station zu gehen, aber das machte nichts. Der Nachmittag war sonnig und mein dicker Mantel schützte mich vor den letzten kalten Böen. Ich lief gerne durch New York. Normalerweise halfen mir die Spaziergänge dabei, einen widerspenstigen Erzählstrang zu zähmen oder ein Kapitel einzuordnen, das nicht so recht wollte. Aber all die Spaziergänge im letzten Jahr hatten nicht dazu beigetragen, meine Schreibblockade zu lösen. Egal, wie weit ich lief. Nicht einmal heute, an dem Tag, bevor alles aus den Fugen geriet.

An der Ninth Street angekommen, stieg ich hinab in den Untergrund. Im Bahnhof war es viel wärmer als draußen. Während ich die Stufen hinunterstieg, knöpfte ich meinen Mantel auf und lockerte den Schal.

Der Zug fuhr ein und die Türen öffneten sich. Ich bahnte mir einen Weg durch die volle Bahn, zwängte mich neben die gegenüberliegende Tür und bereitete mich auf eine lange Fahrt vor. Der Zug ruckelte sanft, als er wieder anfuhr. Aus dem Fenster sah ich den vorbeigleitenden Lichtern zu.

Ich beachtete die durchsichtig schimmernde Frau nicht, die irgendwie einen freien Platz in dem Gedränge gefunden hatte. Sie sah mich eindringlich an, bis der Zug in den nächsten Bahnhof einfuhr, ich mir einen frei gewordenen Platz schnappte und eines der neuen Bücher aufschlug.

Mein Vater hätte mein Verhalten missbilligt. Er hätte ihr eine Chance gegeben. Sich mit ihr hingesetzt und sich ihre Geschichte angehört.

Eigentlich wollten sie immer nur jemanden, der ihnen zuhörte.

Aber ich ignorierte den Geist, so wie ich es seit fast zehn Jahren in der Stadt immer tat. Wenn man von vielen Leuten umgeben war, ging das leichter. Man konnte sich einfach vorstellen, sie wären nur ein weiterer gesichtsloser Schatten in der Menge. Also ignorierte ich sie weiter, bis der Zug unter dem Hudson River hindurch nach Jersey fuhr und der Geist mit einem Flackern verschwand.

3.Zum Sterben zu viel

Ich trank mein Weinglas aus und schenkte mir nach.

Eigentlich war ich gut darin, Liebesromane zu schreiben.

Ann Nichols’ Bücher waren allesamt von Fans und Kritikern hochgelobt worden. »Ein Feuerwerk der Leidenschaft und Liebe«, schrieb die New York Times Book Review über Mitternachtsmatinee, und Kirkus Review schreib, der Schwerenöter sei »ein erstaunlich unterhaltsamer Schmuseroman«, was ich als Kompliment auffasste. »Ein sensationeller Roman von einer geschätzten Geschichtenerzählerin«, schrieb Booklist. Dazu kamen noch all die Anpreisungen in Vogue, Entertainment Weekly und unzähligen anderen Veröffentlichungen. In der Hoffnung, dass ich dadurch Inspiration für das letzte Buch finden würde, hatte ich im Laufe des vergangenen Jahres alle Kritiken aus Magazinen ausgeschnitten und aus E-Mails ausgedruckt, um sie auf das Traumbord in meinem Zimmer zu heften.

Nur ein Buch noch.

Ich war doch eigentlich gut darin, Liebesromane zu schreiben. Sehr gut sogar. Aber dieses gelang mir ums Verrecken nicht. Was immer ich versuchte, alles fühlte sich falsch an.

Als wäre mir etwas abhandengekommen.

Eigentlich sollte es ganz leicht sein: eine große romantische Geste, ein schöner Heiratsantrag und ein Happy End. Wie bei meinen Eltern. Mein ganzes Leben suchte ich schon nach der wahren Liebe, wie meine Eltern sie gefunden hatten. Ich schrieb in meinen Romanen darüber, während ich selbst eine schlechte Entscheidung nach der anderen traf und mich in Typen mit unordentlichen Krawatten oder alten T-Shirts verknallte und mit Fremden flirtete, die mir in der Bahn verstohlene Blicke zuwarfen.

Ich wollte doch nur, was meine Eltern hatten. Ich wollte einfach in eine Tanzschule gehen und der Liebe meines Lebens begegnen. Mom und Dad waren einander nicht einmal als Tanzpartner zugeteilt gewesen, bis die jeweiligen Partner die Grippe bekamen – der Rest ist, wie es so schön heißt, Geschichte. Sie waren seit fünfunddreißig Jahren verheiratet. Eine Liebesgeschichte wie die ihre kannte ich sonst nur aus Romanen. Natürlich waren auch sie ab und zu unterschiedlicher Meinung und stritten, aber sie fanden wie Doppelsterne immer wieder zueinander und tanzten gemeinsam durchs Leben. Es waren Kleinigkeiten, die die beiden miteinander verbanden. Jedes Mal, wenn Dad an ihr vorbeiging, berührte er Mom sanft, und wenn Dad am Küchentisch saß, küsste sie ihm zärtlich den Kopf. Die beiden hielten noch immer Händchen, wenn sie zusammen ausgingen. Sie verteidigten einander, wenn sie recht hatten, und sprachen geduldig miteinander, wenn einer falschlag.

Selbst als ihre Kinder alle ausgezogen waren, drehten sie noch immer regelmäßig die Musik auf und tanzten zu Bruce Springsteen oder Van Morrison über die alten Rosenholzdielen durch das Foyer.

Genau das wollte ich auch. Danach suchte ich.

Doch an einem regnerischen Aprilabend vor genau einem Jahr hatte ich erkannt, dass ich so etwas nie finden würde.

Ich nahm einen weiteren großen Schluck Wein und starrte den Bildschirm an. Da musste ich jetzt durch. Ich hatte keine Wahl. Gut oder schlecht, irgendwas musste ich abgeben.

»Vielleicht …«

Das Wetter war scheußlich und der kalte Wind fuhr ihr unerbittlich in die Knochen. Nass und zitternd stand Amelia im Regen. Sie hätte einen Regenschirm mitnehmen sollen, hatte aber nicht daran gedacht. »Warum bist du hier?«

Jackson war genauso durchnässt und verfroren. »Keine Ahnung.«

»Dann geh doch.«

»Wie romantisch«, murmelte ich, löschte die Zeilen und leerte das Glas erneut.

Nachts war die Insel eigentlich zauberhaft, aber heute regnete es besonders heftig. Die nassen Klamotten klebten an Amelia wie eine zweite Haut. Um sich vor der beißenden Kälte zu schützen, wickelte sie ihren Mantel noch fester um sich.

Jacksons Worte wurden von kleinen Kondenswolken begleitet. »Wer hätte gedacht, dass sogar der Eisprinzessin kalt werden kann.«

Sie gab ihm eine schallende Ohrfeige.

»Toll, gut gemacht.« Seufzend löschte ich auch diese Passage wieder. Amelia und Jackson sollten sich eigentlich versöhnen, aus der Dunkelheit heraus gemeinsam ins Licht treten. Darum ging es nun mal in Liebesromanen, das war das große Finale, auf das alle Leser warteten und das jedes Buch von Ann Nichols ausmachte.

Aber mir gelang diese verdammte Szene nicht.

Ich war eine verdammte Enttäuschung und würde Anns Karriere killen.

Nichts war niederschmetternder als das, außer vielleicht der Zustand des Kühlschranks und der Küchenregale. Es gab nichts außer einer Packung Mac’n’Cheese mit Dinonudeln. Aber das war genau das Richtige bei schlechter Laune. Gerade als ich die Packung aus dem Regal nahm, platzte meine Mitbewohnerin durch die Wohnungstür und warf ihre Tasche aufs Sofa.

»Scheiß auf Männer«, schimpfte sie.

»Scheiß auf Männer«, stimmte ich ihr zu.

»Auf alle!« Rose stürmte in die Küche, öffnete den Kühlschrank und begann, wütend auf einer Karotte herumzukauen. Rose Wu war schon im College meine Mitbewohnerin gewesen, allerdings hatte sie ein Jahr vor mir ihr Studium abgeschlossen und war dann nach New York gezogen, um in einer Werbeagentur zu arbeiten. Vor einem Jahr war zufällig ein Zimmer bei ihr frei geworden und ich war dankbar eingezogen. Sie war meine beste Freundin und ohnehin das Beste an dieser gottverdammten Stadt.

Sie gehörte zu den Menschen, die sofort alle Aufmerksamkeit auf sich zogen, wenn sie einen Raum betraten. Sofort waren alle Augen auf sie gerichtet. Sie wusste, was sie wollte, und bekam es auch meist. Ihr Motto war: »Wer nicht wagt, der nicht gewinnt.«

Vermutlich war sie deshalb in der Agentur, in der sie arbeitete, so erfolgreich. Sie war erst seit zwei Jahren dort, aber schon zur Social-Media-Marketing-Managerin befördert worden.

»Michael«, fing sie an und schob sich noch eine Minikarotte in den Mund, »hat sich heute bei mir beschwert, dass ich unserer Klientin schaden würde. Du weißt schon, diese Schauspielerin Jessica Stone? Wir machen die Werbekampagne für ihr Klamottenlabel. Und jetzt soll alles meine Schuld sein. Dabei ist sie nicht einmal meine Klientin! Ich bin gar nicht in der Öffentlichkeitsarbeit! Sie ist eine von Stacees Klientinnen! Himmel, ich hasse diese weißen Männer, die eine Asiatin nicht von der anderen unterscheiden können.«

»Wenn du willst, bringe ich ihn um die Ecke«, bot ich vollkommen ernst an. Dabei öffnete ich die Packung Nudeln, nahm das Tütchen mit dem Käse heraus und warf die Dinos in einen Topf mit Wasser. Ich wartete nicht mal ab, bis es kochte. Was machte das schon für einen Unterschied?

Rose schob sich noch eine Karotte in den Mund. »Wenn man uns dabei nur nicht erwischen würde.«

Ich zuckte mit den Achseln. »Wir zerkleinern die Leiche, veranstalten eine Grillparty und verfüttern den Rest an die Kollegen. Ganz einfach.«

»Das klingt wie aus einem Film.«

»Grüne Tomaten«, gab ich zu.

Rose legte den Kopf schief. »Hat es da funktioniert?«

»Und ob! Außerdem habe ich ein tolles neues Rezept, das könnten wir ausprobieren.«

Seufzend räumte sie die Karotten wieder in den Kühlschrank. »Nein, nein. Es soll ja niemand eine Lebensmittelvergiftung bekommen. Ich habe eine bessere Idee.«

»Holzhäcksler?«

»Drinks.«

Das Wasser fing an zu kochen. Ich rührte mit einem Pfannenwender darin herum, da das restliche Besteck schmutzig war. »Meinst du Arsen oder …?«

»Nein, wir gehen aus. Auf ein paar Drinks.«

Ich sah sie verdutzt an. Schließlich stand ich ganz offensichtlich ohne BH und mit ungewaschenen Haaren im Schlafanzug in der Küche und machte traurige Nudeln. »Aus …?«

»Aus.« Rose ging zur Küchentür und stand dort wie Gandalf vor dem Balrog. Niemand kam an ihr vorbei. »Wir gehen aus. Ich hatte einen beschissenen Tag, und so wie es aussieht, du ja wohl auch.« Sie zeigte auf den Stapel neuer Bücher.

Ich stöhnte. »Nein, Rose, bitte lass mich hierbleiben und mein Mac’n’Cheese essen und sterben. Alleine.«

»Du wirst nicht alleine sterben«, erwiderte meine Mitbewohnerin bestimmt. »Du wirst mindestens eine Katze haben.«

»Ich hasse Katzen.«

»Das stimmt nicht, du magst Katzen.«

»Katzen sind Arschlöcher.«

»So wie alle deine Ex-Freunde, und die hast du sogar geliebt.«

Da konnte ich nicht widersprechen. Aber ich hatte keine Katzen und ich wollte auch nicht ausgehen. Ich riss das Tütchen mit dem Käse auf. »Auf meinem Konto sieht es genauso erbärmlich aus wie in meinem Liebesleben. Ich kann mir grad nicht mal ein Bier leisten, Rose.«

Sie seufzte dramatisch und nahm mir das Tütchen aus der Hand. Dann schob sie den Topf von der Flamme. »Wir gehen aus. Wir werden uns vergnügen. Ich muss mich mal wieder vergnügen und du auch. Ich habe den Eindruck, das Meeting mit deiner Lektorin ist nicht so gut gelaufen, stimmt’s?«

Natürlich war es das nicht. Warum sollte ich sonst traurige Nudeln kochen? Ich zuckte mit den Achseln. »Passt schon.«

»Florence.«

Ich atmete schwer aus. »Ann hat einen neuen Lektor. Du könntest ihn kennen, er kommt mir bekannt vor. Sein Name ist Benji irgendwas. Ainer? Ander?«

Rose riss die Augen auf. »Benji Andor?«

Ich deutete mit dem Pfannenwender auf sie. »Das war es.«

»Du verarschst mich.«

»Tue ich nicht.«

»Du Glückliche!« Rose lachte laut auf. »Er ist heiß.«

»Ich weiß, aber woher weißt du das?«

»Er war vor einem Jahr auf so einer ›Fünfunddreißig unter fünfunddreißig‹-Liste in der Time Out. Bevor sie dichtgemacht haben, war er Cheflektor bei Elderwood. Wie konnte das an dir vorbeigehen?«

Ich sah sie entnervt an, denn sie wusste genau, wieso ich das vor einem Jahr verpasst hatte. Da hatte ich nämlich aus anderen Gründen traurige Nudeln gekocht.

Sie tat meinen Einwurf einfach ab. »Freut mich, dass er noch im Verlagswesen ist, aber bei Falcon House im Imprint für Liebesromane? Wow.«

Ich zuckte die Achseln. »Vermutlich gefallen ihm Liebesromane. Habe ich eines der Bücher gelesen, für die er bei Elderwood verantwortlich war?«

Rose räumte das Käsetütchen wieder zurück in die Packung. »Der Vogelmord? Die Frau aus Cabin Creek?«

Ich starrte meine Mitbewohnerin an. »Also Thriller?«

»Grausame und morbide Psychothriller. Benji Andor ist ein moderner Rochester, aber ohne Ehefrau auf dem Speicher. Er war wohl mal verlobt, aber er hat sie am Altar stehen lassen.«

Ich sah Rose spöttisch an. »Weißt du überhaupt, worum es in Jane Eyre geht?«

»Ich habe den Film halb gesehen. Darum geht es aber nicht. Der neue Lektor von Ann Nichols ist jedenfalls der begehrteste Junggeselle der Verlagsbranche. Ich kann es kaum erwarten, bis er deine Sexszenen liest. Das sind die besten, die ich je gelesen habe. Und ich habe viel schmutzige Bücher gelesen. Und Fan-Fiction«, fügte sie noch hinzu.

»Dazu wird es nicht kommen«, unterbrach ich ihre Ausführungen. »Ich muss das Buch bis morgen Abend abgeben.«

»Wow, er hat dir also wirklich keine Verlängerung mehr gegeben.«

Stöhnend vergrub ich den Kopf in den Händen. »Nein, und wenn ich nicht abgebe, schaltet er die Anwälte ein. Und dann kommt alles raus. Hi, ich bin die Ghostwriterin. Aber nicht einmal das kann ich richtig. Und dann wird man anfangen, sich zu wundern, wo Ann Nichols eigentlich ist, und irgendein gewiefter Detektiv wird mich aufspüren, und alle werden sich fragen, ob ich Ann umgebracht habe …«

»Schatz, ich liebe dich. Aber du übertreibst.«

»Woher weißt du das?«

»Ist sie denn tot?«

»Ich weiß es nicht. Nein.« Etwas ruhiger gab ich zu: »Wahrscheinlich nicht.«

»Warum sagst du deinem Lektor nicht einfach, was Sache ist?«

Wieder seufzte ich. »Ich habe es nicht geschafft. Du hättest seinen Blick sehen sollen, als ich gefragt habe, ob ich auch eine traurige Liebesgeschichte schreiben kann. Als ob ich seinen Lieblingswelpen ertränken wollte.«

»Hat er denn mehr als einen Welpen?«

»Natürlich. Er macht definitiv den Eindruck, als hätte er mehrere Hunde. Das ist aber nicht der Punkt. Ich konnte es ihm einfach nicht sagen. Keine Chance.«

»Also hast du stattdessen vor, deine Karriere zu versauen und dein großes literarisches Vorbild zu enttäuschen.«

Ich ließ die Schultern hängen. »Genau. Darf ich dann jetzt bitte endlich meine Nudeln essen und in Ruhe in Selbstmitleid versinken?«

Rose sah mich mit steinerner Miene an. »Nein«, sagte sie scharf und zerrte mich aus der Küche in den Flur zu unseren Zimmern. »Komm schon. Wir gehen aus. Wir vergessen unsere Sorgen. Wir werden diese laute und anstrengende Stadt heute Nacht erobern! Oder bei dem Versuch untergehen.«

In diesem Moment wäre ich lieber untergegangen.

Rose hatte einen Schrank voll Designerklamotten. Wir hatten quasi einen Laufsteg in der Wohnung. Sie hatte wundervolle Glitzerfummel, weiche Blusen und Bleistiftröcke mit einem Schlitz, der gerade so weit reichte, dass man ihn noch in der Arbeit tragen konnte. Rose kramte ein kurzes schwarzes Kleid hervor. Schon seit einem Monat versuchte sie mich dazu zu bringen, es auszuführen. Endlich schien ihr Plan aufzugehen.

Ich schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Komm schon«, bettelte Rose und hielt mir das Kleid hin. »Das bringt deinen Hintern perfekt zur Geltung.«

»Du meinst wohl eher, darin kann jeder meinen fetten Hintern sehen.«

»Floreeeence«, jammerte sie.

»Roooose«, winselte ich zurück.

Sie zog die Augenbrauen zusammen. Ihre Augen wurden schmal. Dann sprach sie wieder.

»Wolpertinger.«

Bei dem Wort riss ich die Augen auf. »Wage es ja nicht«, warnte ich sie leise.

»Wol-per-tin-ger.« Sie betonte jede Silbe. Das war unser Codewort, das Signal für den Notfall. Da gab es keine Widerworte. Nun war es keine Bitte mehr, sondern ein Befehl. Einmal im Jahr durften wir beide diese Karte spielen. »Du bist keine alte Jungfer im Turm, auch wenn du seit Ewigkeiten so tust. Ich hätte das schon viel früher machen sollen. Wenn du bei deiner blöden Geschichte schon nicht weiterkommst …«

»Sie ist nicht blöd!«

»… gibt es auch keinen Grund, hier rumzusitzen und traurige Nudeln zu essen und Billigwein zu saufen. Wol-per-tin-ger.«

Fassungslos starrte ich sie an. Sie grinste frech und verschränkte die Arme vor der Brust.

Dann gab ich auf. »Na gut! Okay. Aber nur, wenn du versprichst, einen Monat lang den Abwasch zu machen.«

»Eine Woche.«

»Abgemacht.«

Darauf gaben wir uns die Hand.

Irgendwie hatte ich den Eindruck, den Kürzeren gezogen zu haben, und der verstärkte sich noch, als sie mir zurief: »Jetzt zieh dich aus und das hier an. Heute Nacht treiben wir es bunt und suchen dir eine Inspiration zum Küssen.«

»Ich will es nicht bunt treiben …«

»Ausziehen! Jetzt!«, wiederholte sie, schob mich aus ihrem Zimmer in meines und schloss die Tür. Ich starrte auf das Kleid in meinen Händen. So schlimm war es nicht. Es war zwar für meinen Geschmack viel zu kurz und hatte viel zu viele Pailletten, außerdem kostete es vermutlich mehr als eine Monatsmiete, aber es war nicht das Kitschigste in Roses Schrank. (Der Preis ging an den Regenbogenfummel, den sie jedes Jahr im Juni zur Pride Parade trug. An diesem Kleid wurde sie jedes Jahr von allen wiedererkannt.) Das schwarze Kleid war nicht wirklich mein Stil, aber womöglich brauchte ich das heute.

Vielleicht sollte ich einfach mal einen Abend vergessen, dass ich gescheitert war. So tun, als ob morgen nicht der letzte Tag mit dem besten Job meines Lebens wäre. Einfach mal für eine Nacht jemand anderes sein.

Nur für eine Nacht.

Jemand sein, der nicht scheiterte.

4.Mitgefangen, mitgehangen

Rose war ein wandelndes Nachschlagewerk des Nachtlebens. Sie wusste genau, in welchem Restaurant es die besten Burger gab und in welchem Lagerhaus der angesagteste Rave stattfand. (Und wie man dort reinkam.) Sie wusste, in welchen Kellerjazzbars die besten Sidecars serviert wurden und kannte das beste Diner für den Hunger um drei in der Früh. Sie wusste, wo man in Szenekneipen bei günstigen Cocktails neben einem künftigen Jonathan Franzen saß, der sich darüber beklagte, dass er vor lauter Arbeit die Zeit nicht fand, den nächsten großen amerikanischen Roman zu schreiben. Sie war nur mit einer Reisetasche und etwas in den Schuhen verstecktem Bargeld aus einer Kleinstadt in Indiana nach New York gekommen und hatte sich die Stadt auf eine Weise zu eigen gemacht, wie ich es nie könnte.