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Manchmal ist die Liebe nur einen Zeitsprung entfernt Als Clementine die Wohnung ihrer Tante erbt, ist ihr bereits klar, dass es sich um einen ganz besonderen Ort handelt. Und das nicht nur, weil Analea einer der exzentrischsten Menschen war, die Clementine kannte. Denn die Wohnung ist verzaubert und bringt ihre Bewohnerin ohne Vorwarnung sieben Jahre in die Vergangenheit. Daher weiß Clementine sofort, dass sie nicht in der falschen Wohnung, sondern in der falschen Zeit gelandet ist, als in ihrer Küche plötzlich ein Mann steht. Ein Mann mit einer Vorliebe für Zitronenkuchen und umwerfenden Augen. Das klingt gar nicht so schlecht? Ist es aber – denn Tante Analeas wichtigste Regel lautete immer: Verliebe dich niemals in dieser Wohnung! Die wunderschöne Cosy-Romance mit viel Witz und einer Prise Magie der TikTok-Erfolgsautorin - Forced Proximity - Only One Bed - Slow Burn - SoulmatesEbenfalls bei dtv erschienen: Ashley Postons ›Dead Romantics‹
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Seitenzahl: 470
Veröffentlichungsjahr: 2025
Seit Clementines Tante Analea vor sechs Monaten gestorben ist, lässt sie niemanden mehr an sich heran und konzentriert sich vollkommen auf ihre Karriere als PR-Managerin im Verlag. Sie kann sich deswegen auch nicht vorstellen, jemals wieder einen Fuß in Analeas Wohnung an der Upper East Side zu setzen, geschweige denn, darin zu wohnen. Doch leider bleibt ihr keine andere Wahl. Als sie eines Morgens darin aufwacht und von einem fremden Mann begrüßt wird, dämmert ihr, dass das, was Analea ihr immer erzählte, tatsächlich wahr sein muss: Die Wohnung besitzt die Fähigkeit, ihre Bewohnerinnen sieben Jahre in die Vergangenheit zurückzuschicken. Und das wortwörtlich. Aber dass sie gleich so einen gutaussehenden Koch als unfreiwilligen Mitbewohner bekommt, hatte Clementine nicht erwartet. Offenbar haben Clementine und Iwan eine Vergangenheit, aber haben sie auch eine gemeinsame Zukunft?
Ashley Poston
Liebe ist eine Frage des Timings
Roman
Aus dem amerikanischen Englischvon Yola Schmitz
Für all die Foodies da draußen, denen Popcorn in der Mikrowelle anbrennt. Wenn wir auch noch kochen könnten, wären wir zu stark.
My Darling Clementine
»Diese Wohnung ist verzaubert«, hatte Tante Analea einmal verkündet. Sie saß in ihrem vogeleierblau bezogenen Ohrensessel und trug das Haar mit einer langen silbernen Haarnadel hochgesteckt. Dabei sah sie mich so herausfordernd an, als wollte sie wissen, ob ich mich traute nachzufragen. Ich war gerade acht geworden und davon überzeugt, alles zu wissen.
Natürlich war diese Wohnung verzaubert. Meine Tante lebte in einem über hundert Jahre alten Gebäude in der Upper East Side. Es hatte Löwen aus Stein an den Dachvorsprüngen, deren Ohren abgebrochen waren und die sich nur noch mit Mühe an die Giebel klammerten. Alles hier war verzaubert, wie das Licht, das morgens eidottergelb in die Küche fiel. Im Arbeitszimmer fanden mehr Bücher Platz, als es der Raum erlaubte. Die Regale platzten aus allen Nähten, Bücher stapelten sich auf dem Fensterbrett so hoch, dass beinahe kein Licht mehr hereindrang. Auf der Backsteinwand im Wohnzimmer konnte ich Landkarten unbekannter Gegenden lesen. Das Badezimmer hatte riesige Fenster aus Milchglas, durch die gebrochenes Licht auf die himmelblauen Wände und die Badewanne mit den Löwenfüßen fiel. Es war der ideale Ort, um zu malen. Meine Wasserfarben erwachten zum Leben, die Farbe tropfte mir vom Pinsel, während ich mir Länder vorstellte, die ich noch nie besucht hatte. Und nachts schien der Mond im Schlafzimmerfenster so nah, dass ich ihn beinahe hätte einfangen können.
Die Wohnung war wirklich verzaubert. Daran hatte ich keinen Zweifel. Ich war nur davon überzeugt, dass meine Tante sie verzaubert hatte. Wie sie lebte, so frei und unbefangen, steckte alles um sie herum an.
»Nein, nein«, winkte sie mit der Hand ab, in der sie eine brennende Marlboro hielt. Der Rauch zog aus dem offenen Fenster, scheuchte die zwei Tauben auf, die auf dem Fensterbrett saßen, und verflüchtigte sich dann im wolkenlosen Himmel. »Das meine ich nicht im übertragenen Sinn, mein Darling Clementine. Vielleicht glaubst du mir nicht, aber ich verspreche dir, es ist wahr.«
Sie beugte sich vor, und ihr herausfordernder Blick wurde zu einem Lächeln, das ihre braunen Augen zum Funkeln brachte. Dann verriet sie mir ein Geheimnis.
Meine Tante hat immer gesagt, wenn du irgendwo nicht dazugehörst, dann tu so lange so, bis du es tatsächlich tust.
Außerdem hat sie mir geraten, immer einen gültigen Reisepass zu haben, Rotwein zu Fleisch zu trinken und Weißwein zu allem anderen, eine Arbeit zu finden, die mich emotional und intellektuell erfüllt, mich zu verlieben, wann immer sich mir die Gelegenheit bietet, denn bei der Liebe komme es vor allem aufs Timing an, aber vor allem immer dem Mond hinterherzujagen.
Jage immer, immer dem Mond hinterher.
Sie selbst hatte diese Ratschläge befolgt und war überall auf der Welt zu Hause gewesen. Sie war durch ihr Leben geschlendert, als ob sie auf jede Party auch ohne Einladung gehörte, hatte sich in jedes einsame Herz verliebt und in jedem Abenteuer ihr Glück gefunden. Sie hatte diese Aura: Touristen fragten sie nach dem Weg, wenn sie selbst auf Reisen war, Kellner fragten sie nach ihrer Meinung zu Wein und teurem Whiskey, Berühmtheiten wollten alles über ihr Leben erfahren.
Als meine Tante und ich einmal im Tower von London waren, fanden wir uns plötzlich auf einer exklusiven Party in der königlichen Kapelle von St. Peter ad Vincula wieder und schafften es dank eines wohlplatzierten Kompliments und ihrer eindrucksvollen Statement-Halskette, nicht rausgeworfen zu werden. Dort trafen wir den Prinzen von Wales oder Norwegen oder sonst woher, der die Musik auflegte. An viel mehr kann ich mich leider nicht erinnern, weil ich überschätzt hatte, wie viel exquisiten Scotch ich vertrage.
Aber so war jedes Abenteuer mit meiner Tante. Sie verstand es meisterhaft dazuzugehören.
Wenn du dir nicht sicher bist, welche Gabel du bei einem schicken Dinner benutzen sollst? Schau es dir bei deinem Sitznachbarn ab. Du hast dich in der Stadt, in der du schon immer lebst, verlaufen? Tu so, als wärst du zu Besuch. Falls du zum ersten Mal in der Oper bist und keine Ahnung hast? Nicke wissend und sage etwas zum klingenden Vibrato. Wenn du in einem Sternerestaurant eine Flasche Rotwein trinkst, die mehr kostet als eine Monatsmiete? Kommentiere seinen Abgang und tu so, als hättest du schon besseren getrunken.
Und in diesem Fall traf das auch zu.
Die Zwei-Dollar-Flasche Wein von Trader Joe’s schmeckte besser als das hier, aber die köstlichen Vorspeisen machten es wieder wett. Es gab Speckdatteln und gegrillten Ziegenkäse mit Lavendelhonig und geräucherte Forelle, die einem im Mund zerfiel. Wir saßen in einem hübschen kleinen Restaurant mit sanfter gelber Beleuchtung. Die großen Fenster waren weit geöffnet, um die Geräusche der Stadt hereinzulassen, Ranken von Efeututen und grüne Farne hingen über unseren Köpfen, und dank der Klimaanlage wehte eine leichte Brise um unsere Schultern. Die Wände waren mit Mahagoni verkleidet, die Sitze mit Leder bezogen. In dieser Junihitze würde ich mir die Haut an den Oberschenkeln abziehen, sollte ich nicht vorsichtig aufstehen. Das Lokal war gemütlich, zwischen den Tischen gab es genug Platz, sodass wir über die betriebsamen Geräusche aus der Küche die leisen Gespräche der anderen Gäste nur als Murmeln wahrnahmen.
Falls ein Restaurant mit einem flirten konnte, dann war ich eindeutig bezirzt.
Fiona, Drew und ich saßen an einem kleinen Tisch im Olive Branch, einem Sternerestaurant in SoHo, in das Drew uns jetzt schon seit Wochen schleppen wollte. Normalerweise machte ich nicht so lange Mittagspause, aber es war Freitag und Sommer, und außerdem hatte Fiona, Drews Frau, bei mir noch etwas gut, weil ich letzte Woche, als sie mit uns ins Theater wollte, spontan absagen musste. Drew Torres war Lektorin und immer auf der Suche nach einzigartigen und talentierten Autorinnen und Autoren. Daher schleifte sie mich und Fiona auf die seltsamsten Konzerte, Theaterstücke und Events, die ich je gesehen hatte. Und das will etwas heißen, denn ich war mit meiner Tante schon in vierunddreißig Länder gereist, und sie hatte ein besonderes Talent darin, seltsame Orte zu entdecken.
Dieses Lokal wiederum war wirklich, wirklich reizend.
»Das hier ist ganz offiziell das schickste Mittagessen, bei dem ich je war«, verkündete Fiona und schob sich noch eine Speckdattel in den Mund. Das war das Einzige, was wir bisher bestellt hatten, das auch sie essen konnte. Die rohen Streifen Wagyu-Rind standen für eine Person, die im siebten Monat schwanger war, nicht zur Debatte. Fiona war groß und spindeldürr, hatte fliederfarben gefärbte Haare und blasse Haut. Auf ihren Wangen hatte sie dunkle Sommersprossen, und sie trug gerne kitschige Ohrringe, die sie auf irgendwelchen Flohmärkten fand. Heute trug sie metallene Schlangen mit kleinen Schildern in den Mäulern, auf denen »FUCK OFF« stand. Sie war die beste Grafikdesignerin bei Strauss & Adder.
Neben ihr saß Drew, die gerade ein weiteres Stück rohes Fleisch aufspießte. Sie war vor Kurzem zur Cheflektorin bei Strauss & Adder befördert worden. Ihre Haare waren schwarz, lang und lockig, ihre Haut von einem sanften Braun. Sie war immer gekleidet, als ob sie auf dem Weg zu einer Ausgrabung im Ägypten der 1910er-Jahre wäre. Heute war keine Ausnahme: Sie trug beige Stoffhosen, ein frisch gebügeltes weißes Hemd und dazu Hosenträger.
In Begleitung der beiden fühlte ich mich etwas underdressed in meiner alten Bluse, den verwaschenen Jeans und den roten flachen Schuhen, die ich schon seit dem College hatte und die daher nur noch mit Tape an den Sohlen zusammenhielten. Aber ich konnte mich nicht von ihnen trennen. Mittlerweile hatte ich seit drei Tagen meine Haare nicht mehr gewaschen, und das Trockenshampoo half auch nichts mehr. Aber ich war heute Morgen spät dran gewesen, deshalb hatte ich mir keine großen Gedanken darüber gemacht. Ich war Senior PR-Managerin bei Strauss & Adder, war immer am Planen und Organisieren, aber irgendwie hatte ich mit diesem Essen überhaupt nicht gerechnet. Aber um fair zu sein, es war ein Freitag im Sommer, und ich hatte nicht erwartet, dass außer mir heute überhaupt jemand im Büro sein würde.
»Es ist wirklich verdammt schick hier«, stimmte ich zu. »Und viel besser als diese Lyriklesung im Village.«
Fiona nickte. »Aber ich fand es nett, dass die Drinks alle nach toten Dichtern und Dichterinnen hießen.«
Ich verzog das Gesicht. »Vom Emily Dickinson hatte ich den übelsten Kater.«
Drew sah sehr zufrieden mit sich aus. »Ist es nicht einfach toll hier? Erinnerst du dich noch an den Artikel, den ich dir geschickt habe? Der im Eater? Der Autor James Ashton ist hier der Chefkoch. Der Artikel ist schon ein paar Jahre alt, aber wirklich interessant.«
»Und du willst, dass wir ein Buch mit ihm machen?«, fragte Fiona. »Ein – was – ein Kochbuch?«
Drew wirkte ernsthaft verletzt. »Wofür hältst du mich, für eine Plebejerin? Auf gar keinen Fall. Ein Kochbuch wäre völlige Verschwendung für einen Wortmagier wie ihn.«
Fiona und ich warfen uns einen vielsagenden Blick zu. Drew hatte dasselbe auch über den Autor des Theaterstücks gesagt, dem ich letzte Woche nur knapp entgangen war, weil ich in die kleine Wohnung meiner Tante in der Upper East Side gezogen war. Am Samstag hatte Fiona mir, während ich einen Plattenspieler in den Aufzug wuchtete, erzählt, dass sie nie wieder im Meer würde baden können.
Abgesehen davon hatte Drew wirklich einen unglaublichen Instinkt dafür, was jemand schreiben könnte. Sie hatte ein unfassbares Talent für Möglichkeiten. In ihnen ging sie auf.
Das machte sie zu einem einzigartigen Kraftpaket. Immer kümmerte sie sich um die Underdogs und half ihnen, zu ihrer wahren Größe zu finden.
»Was soll denn der Blick?«, wollte Drew wissen und sah uns scharf an. »Ich hatte doch recht, was den Musiker angeht, den wir letzten Monat auf Governors Island gesehen haben, oder?«
»Sweetheart«, antwortete Fiona geduldig. »Ich muss dieses Theaterstück von letzter Woche über einen Mann, der eine Affäre mit einem Delfin hat, immer noch verarbeiten.«
Drew verzog den Mund. »Das war … ein Ausrutscher. Der Musiker aber nicht! Und auch nicht die TikTokerin, die diesen Vergnügungspark-Thriller geschrieben hat. Der wird großartig werden. Und dieser Koch … Ich weiß einfach, dass er etwas Besonderes ist. Ich will mehr erfahren über den Sommer, in dem er sechsundzwanzig geworden ist. Er spielt im Eater darauf an, aber nicht ausführlich genug.«
»Du meinst also, da findet sich eine gute Geschichte?«, fragte Fiona.
»Da bin ich mir sicher. Oder, Clementine?«
Dann sahen mich beide erwartungsvoll an.
»Ich … ich hab den Artikel leider nicht gelesen«, gab ich zu, und Fiona sah mich auf diese typische Art strafend an, die ihre zukünftigen Kinder fürchterlich reumütig werden ließe. Ich senkte beschämt den Kopf.
»Das solltest du aber!«, sagte Drew. »James Ashton war schon überall auf der Welt, so wie du. Die Art, wie er Essen und Freundschaften und Erinnerungen miteinander verbindet … Ich will ihn einfach haben.« Sie sah ausgehungert zur Küche. »Ich will ihn verdammt noch mal einfach haben.« Und immer, wenn sie diesen Blick hatte, gab es kein Halten mehr.
Ich nahm einen weiteren Schluck vom zu trockenen Wein und griff nach der Dessertkarte. Obwohl wir mittags häufig gemeinsam essen gingen – das war einer der großen Vorteile, wenn die besten Freundinnen im gleichen Unternehmen arbeiteten –, blieben wir doch meistens in Midtown, und das Essen in Midtown war …
Nun ja.
Ich habe mehr Sandwiches und Mac’n’Cheese von Food Trucks gegessen, als mir lieb ist. Im Sommer war Midtown voller Touristen, daher war es beinahe unmöglich, in Bryant Park ohne Reservierung etwas Gutes zu finden, das man nicht aus einem Food Truck gereicht bekam.
»Also, wenn du ihn dir geangelt hast, dann habe ich eine Frage zu den Desserts«, sagte ich und deutete auf die erste Nachspeise. »Was zum Teufel ist ein dekonstruierter Zitronenkuchen?«
»Oh, der ist seine Spezialität«, erklärte uns Drew, und Fiona schnappte sich die Karte, um selbst einen Blick hineinzuwerfen. »Den will ich unbedingt probieren.«
»Wenn das nur eine Scheibe Zitrone mit Puderzucker und einem Keks ist, dann lache ich mich tot«, stellte Fiona klar.
Ich sah auf mein Handy. »Egal, was es ist, wir sollten schnell bestellen und zurück ins Büro. Ich habe Rhonda gesagt, dass ich um eins wieder da bin.«
»Es ist Freitag!«, widersprach Fiona und fuchtelte mit der Dessertkarte vor meinem Gesicht herum. »Niemand arbeitet im Sommer am Freitag. Vor allem nicht im Verlagswesen.«
»Tja, ich schon«, antwortete ich. Rhonda Adder war meine Chefin, sie leitete die Marketing- und PR-Abteilung und war außerdem Mitverlegerin. Sie war eine der erfolgreichsten Frauen in der Branche. Wenn in einem Buch Bestsellerpotenzial steckte, dann wusste sie ganz genau, wie man es zum Vorschein brachte. Das war ihr großes Talent. Und apropos Talent, nur damit Fiona und Drew es wussten, fügte ich hinzu: »Drei meiner Autorinnen sind auf Lesereise, und irgendwas muss ja schiefgehen.«
Drew nickte zustimmend. »Murphys Gesetz der Buchbranche.«
»Murphys Gesetz«, wiederholte ich. »Und Juliette hat den ganzen Morgen wegen ihrem Freund geheult, deshalb will ich ihr heute etwas unter die Arme greifen.«
»Fuck Romeo-Rob«, erwiderte Drew.
»Fuck Romeo-Rob«, stimmte ich ihr zu.
»Und wenn wir schon beim Thema Dating sind.« Fiona richtete sich ein wenig auf und legte die Ellbogen auf den Tisch. Ich kannte diesen Gesichtsausdruck und unterdrückte ein Seufzen. Sie lehnte sich vor und sah mich aufmerksam mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Wie läuft es bei dir und Nate?«
Auf einmal interessierte ich mich ganz besonders für mein Weinglas, aber je länger sie mich anstarrten und auf eine Antwort warteten, desto weniger hielt ich es aus. Ich seufzte. »Wir haben letzte Woche Schluss gemacht.«
Fiona schnappte nach Luft, als wäre dieses Geständnis eine persönliche Beleidigung. »Letzte Woche? Bevor oder nachdem du umgezogen bist?«
»Während ich umgezogen bin. An dem Abend, als ihr im Theater wart.«
»Und du hast uns das nicht erzählt?«, fügte Drew eher neugierig als empört hinzu.
»Und du hast uns das nicht erzählt!«, wiederholte Fiona bestürzt. »Das ist doch wichtig!«
»Das war wirklich keine große Sache.« Ich zuckte mit den Achseln. »Wir haben per Nachricht Schluss gemacht. Ich glaube, er datet schon wieder eine Neue.« Meine beiden Freundinnen sahen mich voller Mitleid an, aber ich winkte ab. »Wirklich, ich bin okay. Wir haben eh nicht so gut zusammengepasst.«
Das stimmte zwar, aber ich erwähnte den Streit, den wir vorher am Telefon hatten, lieber nicht. Streit war auch ein zu großes Wort dafür. Es kam mir eher wie ein Schulterzucken und eine Waffenruhe auf einem längst verlassenen Schlachtfeld vor.
»Schon wieder? Du musst schon wieder lange arbeiten?«, hatte er mich gefragt. »Du weißt doch, wie wichtig heute Abend für mich ist. Ich will dich dabeihaben.«
Um ehrlich zu sein, hatte ich tatsächlich vergessen, dass an diesem Abend seine große Vernissage in der Galerie stattfand. Er war Künstler, Metallbildhauer, und diese Ausstellungseröffnung war sehr wichtig für ihn. »Es tut mir leid, Nate. Das hier ist mir wichtig.«
Und das war es, da war ich mir sicher, auch wenn ich jetzt nicht mehr genau wusste, was der Notfall gewesen war, der mich so lange im Verlag festgehalten hatte.
Er schwieg eine Weile, dann sagte er: »Wird das immer so sein? Ich will nicht an zweiter Stelle nach deinem Job kommen, Clementine.«
»Das tust du nicht!«
Aber das tat er. Voll und ganz. Ich hatte ihn auf Abstand gehalten, weil er von dort wenigstens nicht mitbekommen würde, wie kaputt ich war. Ich würde ihn weiter belügen können. Ich könnte weiterhin so tun, als ginge es mir gut. Denn es ging mir doch gut. Das musste es. Mir gefiel es nicht, wenn Leute sich um mich Sorgen machten. Das war meine Stärke, oder nicht? Man musste sich um Clementine West keine Sorgen machen. Sie fand immer einen Weg.
Nate seufzte laut und bebend. »Clementine, ich glaube, du solltest ehrlich zu dir sein.« Und das war es dann, der letzte sprichwörtliche Sargnagel. »Du bist so verschlossen, du nutzt deine Arbeit als Schutzschild. Ich glaube, ich kenne dich gar nicht richtig. Du öffnest dich nicht. Du willst dich nicht verletzlich machen. Was ist aus dem Mädchen auf den Fotos geworden? Mit Wasserfarben unter den Fingernägeln?«
Das gab es nicht mehr, aber das wusste er bereits. Er hatte mich erst, nachdem es verschwunden war, kennengelernt. Vermutlich hatte er deshalb nicht schon beim ersten Mal, als ich ihn versetzt hatte, mit mir Schluss gemacht. Weil er versuchte, das Mädchen mit den Wasserfarben unter den Fingernägeln, das er auf einem Foto in meinem alten Apartment gesehen hatte, wiederzufinden. Das Mädchen von damals.
»Liebst du mich denn überhaupt?«, wollte er wissen. »Ich glaube nicht, dass du mir das jemals gesagt hast.«
»Wir sind doch erst seit drei Monaten zusammen. Das ist noch etwas früh dafür, meinst du nicht?«
»Wenn man es weiß, weiß man es eben.«
Ich spitzte die Lippen. »Ich weiß es eben nicht.«
Und das war es dann.
Das war das Ende unserer Beziehung. Bevor ich noch etwas sagen konnte, was ich bereuen würde, legte ich auf. Dann schrieb ich ihm, dass es aus war. Ich würde ihm seine Zahnbürste zuschicken. Auf keinen Fall würde ich einen Ausflug nach Williamsburg machen, wenn es sich irgendwie vermeiden ließ.
»Außerdem«, fuhr ich fort und griff nach dem überteuerten Wein, um mir nachzuschenken, »möchte ich gerade gar keine Beziehung. Ich will mich auf meine Karriere konzentrieren. Da habe ich gar keine Zeit, mich auf irgendwelche Männer einzulassen, mit denen ich nach drei Monaten per Nachricht Schluss machen muss. Und der Sex war auch nicht so besonders.« Ich nahm einen tiefen Schluck Wein, um diese grauenhafte Erkenntnis runterzuspülen.
Drew schüttelte anerkennend den Kopf. »Schau dir das an, nicht eine Träne.«
»Sie hat doch noch nie wegen einem Typen geweint«, sagte Fiona.
Eigentlich wollte ich widersprechen, sicher hatte ich das, aber dann schloss ich den Mund wieder, denn sie hatte recht. Ich musste selten weinen, aber erst recht nicht wegen irgendeines Typen. Fiona war der Meinung, der Grund dafür wäre, dass ich sie irgendwann immer nur noch irgendein Typ nannte. Jemand, der in meiner Erinnerung nicht einmal einen Namen verdient hatte. »Das liegt daran, dass du noch nie verliebt warst«, hatte sie einmal zu mir gesagt, und vielleicht stimmte das auch.
»Wenn du es weißt, weißt du es eben«, hatte Nate gesagt.
Ich wusste nicht einmal, wie sich Liebe anfühlen sollte.
Fiona fegte alles mit einer Handbewegung fort. »Okay, was soll’s. Er hat sowieso keine finanziell unabhängige Freundin mit einem krassen Job und eigener Wohnung in der Upper East Side verdient«, sagte sie. Das schien sie an das andere Thema zu erinnern, über das ich auf keinen Fall reden wollte. »Wie ist es? In deiner Wohnung?«
Deine Wohnung. Sie und Drew hatten im Januar damit aufgehört, sie die Wohnung meiner Tante zu nennen, aber ich hatte mich noch nicht daran gewöhnt. Ich zuckte mit den Schultern.
Ich hätte ihnen die Wahrheit erzählen können. Dass ich jedes Mal, wenn ich die Wohnung betrat, damit rechnete, meine Tante in ihrem blauen Ohrensessel sitzen zu sehen, aber den Sessel gab es nicht mehr.
Genauso wenig wie sie.
»Es ist super«, sagte ich schließlich.
Fiona und Drew warfen sich einen Blick zu, der mir sagte, dass sie mir kein Wort glaubten. Zugegeben, ich war keine besonders gute Lügnerin.
»Es ist super«, wiederholte ich. »Und warum reden wir überhaupt über mich? Lasst uns diesen berühmten Koch finden und ihn auf die dunkle Seite der Macht holen.« Ich griff über den Tisch, um mir die letzte Dattel zu schnappen, und schob sie mir in den Mund.
»Ja, gut. Wir müssen nur unsere Kellnerin herwinken …«, murmelte Drew und sah sich um, ob sie jemanden auf sich aufmerksam machen konnte, aber sie war zu höflich und zu schüchtern, um mehr als einen bedeutungsschwangeren Blick durchs Lokal zu werfen. »Hebe ich einfach die Hand oder … was macht man in noblen Restaurants?«
Drew hatte sich in letzter Zeit mehr und mehr ins Zeug gelegt, um neue Autorinnen und Autoren zu finden. Aber ich fragte mich, ob nicht ein paar dieser Ausflüge – das Konzert auf Governors Island, das Theaterstück, das ich verpasst hatte, die Oper letzten Monat, die TikTok-Influencerin, mit der wir uns in einem Buchladen in Washington Heights getroffen hatten, die Ausstellung einer Künstlerin, die mit ihrem Körper malte – auch dafür sorgen sollten, mich abzulenken. Um mir aus meiner Trauer zu helfen. Aber es war jetzt sechs Monate her, und es ging mir gut.
Wirklich, das tat es.
Es war allerdings nicht leicht, jemanden davon zu überzeugen, der dabei gewesen war, wie ich nach der Beerdigung meiner Tante um zwei Uhr morgens heulend und volltrunken auf dem Badezimmerboden lag.
Die beiden hatten mich von meiner schwächsten, verletzlichsten Seite gesehen und meine Nummer trotzdem nicht sofort aus ihren Handys gelöscht. Ich war eine nicht ganz unkomplizierte Person, daher wusste ich es mehr als zu schätzen, dass die beiden immer zu mir hielten. Und mit auf diese Ausflüge geschleift zu werden, war die letzten Monate aufmunternd gewesen.
Also war die Kellnerin zu uns zu winken das Mindeste, was ich für Drew tun konnte.
»Ich mach das«, sagte ich. Als sich unsere Kellnerin von einem anderen Tisch abwandte, gab ich ihr ein Zeichen und bat sie zu uns. Ich war mir nicht sicher, ob man das in einem Nobelrestaurant so machte, aber sie kam sofort. »Könnten wir den, äh …« Ich schaute auf die Dessertkarte.
Fiona sprang ein. »Die dekonstruierte Zitronengeschichte!«
»Genau«, stimmte ich zu. »Und könnten wir vielleicht mit dem Chefkoch sprechen?« Schnell zog Drew eine Visitenkarte aus ihrer Tasche und reichte sie der Kellnerin. »Bitte sagen Sie ihm, wir kommen vom Verlag Strauss & Adder und würden gerne etwas mit ihm besprechen, ein Buch, um genau zu sein.«
Die Kellnerin schien absolut nicht überrascht, als sie die Karte nahm und sie in ihre schwarze Schürze steckte. Sie würde sehen, was sich machen ließe. Dann eilte sie davon, um unsere Bestellung aufzugeben.
Als sie weg war, klatschte Drew leise in die Hände. »Da geht was! Uh, spürt ihr das auch? Dieser Rausch ist einfach fantastisch.«
Ihre Begeisterung war ansteckend, auch wenn ich mir bei dem Koch nicht sicher war. »Das stimmt«, antwortete ich, als mein Handy vibrierte. Ich zog es aus meiner Tasche und sah die E-Mail-Benachrichtigung auf dem Display. Warum schrieb mir eine meiner Autorinnen?
Fiona lehnte sich zu ihrer Frau rüber. »Uh, was hältst du davon, wenn wir Clem mit dem neuen Nachbarn, der gerade nebenan eingezogen ist, verkuppeln?«
»Er ist niedlich«, stimmte Drew ihr zu.
»Nein danke.« Ich öffnete meine Mails. »Ich bin nach Nate nicht schon wieder bereit für eine neue Beziehung.«
»Du hast doch gesagt, du bist über ihn hinweg!«
»Trotzdem braucht es eine angemessene Trauerphase … Oh, Mist«, fügte ich hinzu, als ich meine Mails überflogen hatte, und sprang von meinem Stuhl auf. »Tut mir leid, ich muss los.«
Besorgt fragte Fiona: »Ist was passiert? Wir haben unser Dessert doch noch nicht mal.«
Ich holte mein Portemonnaie aus meiner gefälschten Kate-Spade-Tasche und zog die Geschäftskreditkarte hervor. Das hier war schließlich quasi ein Arbeitsessen. »Eine meiner Autorinnen ist gerade in Denver gestrandet, und Juliette antwortet nicht auf ihre Mails. Bezahlt das Mittagessen hiermit, und wir sehen uns im Büro«, sagte ich schuldbewusst, und Drew nahm die Kreditkarte entgegen.
Sie schaute mich verwirrt an. »Moment mal, warte.« Sie sah zur Küche und wieder zurück zu mir.
»Du schaffst das«, redete ich ihr zu, als die nächste aufgeregte Mail meiner Autorin kam. Ich umarmte die beiden, stibitzte das letzte frittierte Ziegenkäsebällchen, spülte es mit dem Rest vom Wein runter und drehte mich um, um zu gehen …
»Vorsicht!«, rief Drew, und Fiona schnappte nach Luft.
Zu spät.
Ich stieß mit einem Kellner hinter mir zusammen. Das Dessert in seiner Hand kippte zu einer Seite, er zur anderen. Reflexartig griff ich nach dem Teller, während er nach mir griff und mich wieder auf die Beine stellte. Ich schwankte, und er hielt mich fest im Arm.
»Nicht schlecht«, sagte er freundlich.
»Danke, ich …« Und da fiel mir auf, dass meine andere Hand auf seiner muskulösen Brust lag. »Oh!« Eilig gab ich ihm sein Dessert wieder und machte einen Schritt zurück. »Tut mir leid!« Ich lief rot an und konnte ihm nicht in die Augen sehen. Gerade hatte ich meine Hand viel länger als notwendig auf der Brust eines Fremden ruhen lassen.
»… Zitronenkuchen?«, fragte der Mann.
»Ja, Verzeihung, der ist für uns, aber ich muss los«, antwortete ich hastig. Meine Wangen mussten kirschrot sein. Schnell ging ich um ihn herum und flüsterte meinen Freundinnen »Viel Erfolg!« zu, dann verließ ich das Restaurant.
Zwei Anrufe bei Southwest Airlines und vier Blocks weiter hatte ich meiner Autorin den nächsten Flug zum letzten Ziel ihrer Lesereise organisiert. Ich stieg runter zur U-Bahn, um zurück nach Midtown zur Arbeit zu fahren. Dabei versuchte ich angestrengt, nicht an den festen Griff des Kellners zu denken, an seine muskulöse Brust und wie er sich zu mir geneigt hatte. Er hatte sich doch zu mir geneigt, oder nicht? Als ob er mich kannte? Oder bildete ich mir das nur ein?
Schon als ich zum allerersten Mal durch das Steinportal in das Gebäude auf der 34. Straße trat und mit dem verchromten Aufzug in den siebten Stock fuhr, war mir klar, dass Strauss & Adder ein besonderer Verlag war. Durch die Türen trat man in eine kleine Lobby mit weißen Regalen voller Bücher, selbstverlegter und besonders geliebter. Alte Ledersessel begrüßten einen und luden dazu ein, in ihre weichen Polster zu sinken, ein Buch aufzuschlagen und sich in den Worten zu verlieren.
Strauss & Adder war ein kleiner, aber eindrucksvoller Verlag in New York. Verlegt wurden Belletristik, Biografien und Lifestyle, also Selbsthilfebücher und Kochbücher und DIY-Titel. Aber am bekanntesten war der Verlag für seine Reiseführer. Wenn man einen Reiseführer für ein weit entferntes Ziel suchte, dann griff man zum Logo von Strauss und Adder, um zu erfahren, wo die besten Restaurants an den entlegensten Orten zu finden waren, an denen man sich dennoch wie zu Hause fühlen konnte.
PR-Arbeit hätte ich überall machen können, und dabei wäre ich vermutlich auch besser bezahlt worden, aber bei einer Tech-Firma oder irgendeiner fürchterlichen PR-Agentur würde ich keine kostenlosen Reiseführer bekommen. Es hatte einfach so etwas Zuversichtliches und Freundliches, jeden Tag einen Gang entlangzugehen, dessen Regale mit Büchern über Rom und Bangkok und die Antarktis bestückt waren. Der Geruch von altem Papier war wie ein ganz besonderes Parfüm. Selbst wollte ich keine Bücher schreiben, aber mir gefiel die Vorstellung all dieser alten, überholten Reiseberichte über Kathedralen und Schreine längst vergessener Gottheiten. Mir gefiel, wie ein Buch, eine Geschichte, ein paar Worte in der richtigen Reihenfolge eine Sehnsucht nach Orten und Personen erzeugen konnte, die man noch nie bereist oder getroffen hatte.
Das Büro war offen, clean und hell gestaltet, und an allen Wänden standen bis unter die Decke Regale voller Bücher. Jeder hatte seinen eigenen Bereich mit halbhohen Wänden, und auf jedem Schreibtisch standen irgendwelche persönlichen Kleinigkeiten, Bilder und Figürchen und noch mehr Bücher. Mein Schreibtisch war dem Büro meiner Chefin am nächsten. Die wichtigeren Leute hatten alle Büros mit Glastüren, als ob das dieselbe Intimität erzeugen könnte, die ich täglich mit meinen Kolleginnen erlebte. Wie zum Beispiel Juliette am Schreibtisch mir gegenüber wegen ihres Freundes, mit dem sie seit zehn Monaten mal zusammen und dann wieder getrennt war, verzweifelt schluchzen zu hören. Ihr Romeo, Rob. (Fuck Romeo-Rob.)
Immerhin sah man sie durch die Glastüren Montag nachmittags um zwei, wie alle anderen auch, antriebslos ins Leere starren.
Und letztendlich waren wir alle hier, weil wir eines gemeinsam hatten: Wir liebten Bücher.
Bis Fiona zurück ins Büro kam, hatte ich es immerhin geschafft, ein paar Interview-Anfragen rauszuschicken.
»Das Dessert war einfach fantastisch«, berichtete sie und gab mir meine Kreditkarte zurück. Sie und alle anderen Grafikerinnen und Grafiker waren in eine düstere Ecke verbannt worden, in die CEOs gerne ihre alternativen Künstlertypen steckten. Mindestens drei der Kreativen hatten angefangen, Vitamin-D-Tabletten zu nehmen, so dunkel war es dort. »Genau wie der Koch.«
»Schade, dass ich ihn verpasst habe«, antwortete ich.
Fiona zuckte mit den Achseln. »Hast du nicht. Du bist voll in ihn reingelaufen.«
Ich zögerte. Der Mann mit dem festen Griff. Der warmen, starken Brust. »Das … war er?«
»Ganz genau. Er ist ein Schatz. Wirklich süß … Ach, hast du deine Autorin aus dem Flughafen der Hölle retten können?«
»Natürlich«, erwiderte ich und riss mich von meinen Gedanken los. »Gab es daran je Zweifel?«
Fiona schüttelte den Kopf. »Ich beneide dich.«
Das ließ mich stutzen. »Warum das denn?«
»Wann immer du etwas machen musst, machst du es einfach. Ohne Umwege. Ohne Zögern. Ich glaube, deshalb mag Drew dich so gerne«, fügte sie etwas leiser hinzu. »Du bist das Excel-Sheet zu meinem Chaos.«
»Ich mache Sachen nur gerne so, wie ich es mag«, antwortete ich. Dann erzählte Fiona mir weiter, was ich im Restaurant verpasst hatte. Anscheinend war schon jemand von Faux Publishing wegen eines Buchdeals da gewesen (Parker Daniels, tippte Drew) und außerdem jemand von Simon & Schuster und von zwei HarperCollins-Verlagen sowie jemand von Macmillan. Und dabei würde es sicher nicht bleiben.
Leise pfiff ich durch die Zähne. »Da hat Drew ja mächtig Konkurrenz.«
»Ich weiß. Ich kann es gar nicht erwarten, bis das das Einzige ist, wovon sie redet«, kommentierte Fiona trocken. Sie sah auf ihre Smart-Watch und stöhnte. »Ich sollte besser mal wieder zurück in die Höhle. Kino heute Abend? Ich glaube, diese Romcom mit den beiden Killern, die sich ineinander verlieben, läuft schon.«
»Können wir das verschieben? Ich bin immer noch mit Auspacken beschäftigt. Hast du den Beleg?«, fragte ich, und Fiona kramte die Restaurantrechnung aus ihrer Tasche hervor. Während sie sich auf den Weg in die Schattenwelt machte, ging ich rüber in Rhondas Büro und legte ihr die Rechnung auf den Tisch, auch wenn sie nicht hier war.
Die anderen Chefs inklusive Reginald Strauss hatten Fotos ihrer Familien an den Wänden und auf ihren Tischen. Rhondas Büro war voller Fotos von ihr und Prominenten auf Lesungen und glamourösen Veranstaltungen. In den Regalen türmten sich Preise statt Geschenke ihrer Enkel. Es war offensichtlich, wofür sie sich entschieden hatte, welches Leben sie führte. Jedes Mal, wenn ich in ihrem Büro war, stellte ich mir vor, in ihrem orangefarbenen Stuhl zu sitzen und ihr Leben geführt zu haben.
Plötzlich ging die Glastür auf und Rhonda Adder betrat in all ihrer Glorie den Raum. »Ah, Clementine! Einen wunderschönen Freitag, wie immer«, begrüßte sie mich gut gelaunt. In ihrem schwarzen Hosenanzug und den High Heels mit Blumenprint sah sie unschlagbar aus. Ihren grauen Bob hatte sie mit einer Haarspange zurückgesteckt.
Wann immer Rhonda einen Raum betrat, war alle Aufmerksamkeit auf sie gerichtet. Das wollte ich auch. Jeder drehte sich nach ihr um. Alle Gespräche verstummten.
Rhonda Adder war so brillant, wie sie magnetisch war. Angefangen hatte sie bei einer kleinen PR-Agentur in SoHo, wo sie die Klatschspalten nach Gerüchten durchsuchte und sich mit Telefonverkäufern rumschlug. Jetzt plante und organisierte sie Buchkampagnen für einige der namhaftesten Autorinnen und Autoren auf dem Markt. Sie war eine Ikone im Verlagswesen, alle wollten so sein wie sie. Ich wollte so sein wie sie. Wie jemand, die ihr Leben im Griff hatte. Jemand, die einen Plan hatte, Ziele und genau wusste, wie sie sie erreichte.
»Schönen Freitag, Rhonda. Tut mir leid, dass ich so lange beim Mittagessen war«, sagte ich schnell.
Sie wischte das mit einer Handbewegung fort. »Das ist völlig in Ordnung. Ich habe mitbekommen, dass du Adair Lynns kleine Aufregung am Flughafen lösen konntest.«
»Sie hat wirklich nur Pech auf dieser Tour.«
»Wir sollten ihr Blumen schicken, wenn sie wieder zu Hause ist.« Dann öffnete sie eine Schublade und holte eine Tüte Schokomandeln hervor.
»Mach ich. Das Mittagessen hab ich mit der Firmenkarte bezahlt«, sagte ich und deutete auf die Rechnung und die Karte auf ihrem Schreibtisch. Sie warf einen kurzen Blick darauf und zog eine Augenbraue hoch. »Drew ist hinter einem Non-Fiction-Autor her.«
»Ah. Mandel?« Sie bot mir die Tüte an.
»Danke.« Ich nahm mir eine Schokomandel und setzte mich auf den knarzenden Stuhl ihr gegenüber. Dann gab ich ihr eine Zusammenfassung der heutigen Ereignisse. Die Podcast-Interviews waren gebucht, der Reiseplan aktualisiert, die Termine der Lesungen bestätigt. Rhonda und ich arbeiteten einfach wunderbar zusammen. Aus gutem Grund war ich ihre Stellvertreterin, und eines Tages, hoffte ich, würde ich ihre Nachfolgerin werden. Alle gingen davon aus.
Rhonda räumte die Mandeln weg und wandte sich ihrem Computer zu. Daher stand ich auf, unser Meeting war hiermit beendet. Doch dann sprach sie weiter. »Mir ist aufgefallen, dass du deinen Urlaubsantrag für Ende des Sommers zurückgezogen hast. Gibt es dafür einen Grund?«
»Ach, das.« Ich gab mir Mühe, gelassen zu wirken, und strich meine zerknitterte Bluse glatt. Ende des Sommers hatten meine Tante und ich immer unsere jährliche gemeinsame Reise angetreten. Mal nach Portugal, dann nach Spanien, nach Indien, Thailand, Japan. Mein Reisepass war voll von den Stempeln fremder Länder, die wir in all den Jahren besucht hatten. Seit ich bei Strauss & Adder arbeitete, hatte ich jedes Jahr im August dieselbe Woche freigenommen. Natürlich fiel es Rhonda auf, dass ich den Antrag dieses Jahr zurückgenommen hatte. »Ich glaube, meine Anwesenheit hier ist wichtiger. Also hab ich beschlossen, keinen Urlaub zu nehmen.«
Nie wieder.
Rhonda sah mich irritiert an. »Du machst Witze. Clementine, du hast das ganze Jahr noch keinen Tag freigenommen.«
»Was soll ich sagen? Ich liebe meinen Job.« Ich lächelte, denn das stimmte auch. Ich liebte meinen Job, und er war eine gute Ablenkung von … allem. Wenn ich mich nur auf die Dinge direkt vor mir konzentrierte, würde die Trauer mich nicht nachts um zwei einholen, wie sie es immer wieder versuchte.
»Ich liebe meinen Job auch, aber trotzdem habe ich dieses Jahr schon Urlaub auf den Malediven gemacht. Hatte dort eine fantastische Massage. Ich kann dir die Nummer meines Masseurs geben, solltest du doch Urlaub machen wollen.«
Na klar, weil ich mir das leisten konnte. Aber jetzt, da mir die Wohnung meiner Tante gehörte, konnte ich das vielleicht. Ich zwang mich zu einem Lächeln. »Mir geht es gut, wirklich. Außerdem erscheint Herbst in Boston in der Woche, und du weißt ja, wie speziell der Autor ist. Das nehme ich lieber selber in die Hand, statt Juliette …«
»Clementine?«, unterbrach sie mich. »Nimm deinen verdammten Urlaub. Dafür ist er da.«
»Aber …«
»Dein Antrag auf Rücknahme deines Urlaubs ist abgelehnt.«
»Ich fahre aber nicht mehr in Urlaub«, erwiderte ich und versuchte, mir die Panik nicht anmerken zu lassen. »Und ich hab meine Flugtickets bereits storniert!«
Rhonda sah mich über ihre rotgerahmte Brille scharf an. »Dann hast du zwei Monate Zeit, dir etwas anderes zu überlegen. Wir verlegen in erster Linie Reiseführer, leih dir einen aus. Das wird dich sicher inspirieren. Schließlich musst du Urlaub machen.«
»Das glaube ich wirklich nicht.«
Mit einem Seufzen drehte sie sich auf ihrem Stuhl zu mir und setzte ihre Brille ab, die sie an einer Kette um den Hals trug.
»Okay. Mach die Tür zu, Clementine.«
Oh nein. Ich tat, wozu sie mich aufforderte, wenn auch zögerlich. Als sie mich das letzte Mal gebeten hatte, die Tür zu schließen, hatte ich herausgefunden, dass sie den Marketingdesigner gefeuert hatte. Nervös setzte ich mich wieder. »Ist … ist etwas passiert?«
»Nein. Also. Ja, aber nichts Schlimmes.« Sie verschränkte die Finger und sah mich lange an. Sie trug dunkle Mascara und noch dunkleren Lidstrich, was ihren Blick noch intensiver machte. »Es muss ein Geheimnis bleiben, Clementine, bis die Zeit reif ist.«
Ich richtete mich auf meinem Stuhl auf. Das hier war also eine große Sache. Ging es um ein neues Buch? Die Biografie eines Promis? Hatte Strauss vor, den Verlag zu verkaufen? Hatte Michael von HR endlich gekündigt?
Rhonda fuhr fort. »Ich habe vor, Ende des Sommers in den Ruhestand zu gehen. Aber ich werde nur gehen, wenn ich Strauss & Adder in guten Händen weiß.«
Ich dachte, ich hätte mich verhört. »Du … was? Willst in den Ruhestand gehen?«
»Ja.«
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.
Mir fehlten die Worte, um meine tiefe … Bestürzung (oder Enttäuschung?) darüber auszudrücken. Strauss & Adder ohne Rhonda war wie ein Körper ohne Seele, ein Bücherregal ohne Bücher. Gemeinsam mit Strauss hatte sie den Verlag aufgebaut. Jeder einzelne Bestseller der letzten zwanzig Jahre war ihr zu verdanken.
Und sie wollte jetzt schon in den Ruhestand gehen?
»Sieh mich nicht so an«, sagte Rhonda und lachte nervös. Rhonda war nie nervös. Also nahm sie mich nicht auf den Arm. Es musste stimmen. »Ich habe genug Zeit hier investiert! Aber ich werde nicht gehen, wenn das Schiff hier ohne mich untergeht. Dafür habe ich zu viel reingesteckt«, fügte sie hinzu, als ob ihr Name an der Tür ihr gerade erst wieder eingefallen wäre. »Na ja, nur du und Strauss wissen bisher davon, und so soll es auch bleiben. Wer weiß, was für Piranhas die Presse auf uns loslässt, wenn wir es offiziell verkünden.«
Mir wurde der Mund trocken. »Oh … Okay?«
»In der Zwischenzeit möchte ich, dass du diesen Sommer schon die meisten Projekte und Neuzugänge betreust, um zu sehen, wie es läuft. Natürlich werde ich bei allen Meetings dabei sein, aber nennen wir es einen Testlauf.«
»Um zu sehen, ob ich meinen Job ohne dich hinbekomme?«
Sie sah mich verblüfft an, dann musste sie lachen. »Oh nein, Liebes. Um zu sehen, ob du meinen Platz einnehmen kannst!«
Zum Glück saß ich schon, denn meine Knie hätten nachgegeben. Ich sollte Rhondas Platz einnehmen? Ich konnte mich kaum konzentrieren, als sie dann lobte, wie hart ich arbeitete, wie zuverlässig ich war, mir erzählte, dass sie in meinem Alter genauso gewesen war wie ich und dass sie für eine solche Gelegenheit gemordet hätte. Was konnte man Besseres für die eigene Zukunft tun, als ihr die Möglichkeit zum Wachsen zu geben?
»Nun ja, du sollst nur die Hälfte meiner Aufgaben übernehmen. Als Strauss und ich den Verlag gegründet haben, wurde ich sowohl Leitung von PR und Marketing als auch Mitverlegerin, weil wir so klein waren. Aber das will ich wirklich niemandem zumuten. Mich kann es eben nur einmal geben«, fügte sie hinzu. »Je nachdem, wie es diesen Sommer läuft, könnte ich mir aber gut vorstellen, dich zur neuen Leitung der PR-Abteilung zu machen. Du bist am längsten im Team, also ist es nur fair. Abgesehen davon wäre ich doch blöd, wenn ich das nicht täte.«
Ich … wusste nicht, was ich sagen sollte.
Aber Rhonda erwartete wohl auch keine Antwort, denn sie setzte ihre Brille wieder auf und fuhr fort: »Du siehst also, weshalb du einen Urlaub sicher gut gebrauchen könntest, bevor du deinen neuen Job antrittst. Ich schicke dir die Nummer von diesem Masseur auf den Malediven.«
Mir fiel die Kinnlade runter. Dann stieß ich ein quietschendes Geräusch aus. Mir schwirrte der Kopf von all diesen Neuigkeiten.
»Könntest du mir jetzt bitte meine Termine für nächste Woche schicken? Irgendwas sagt mir, dass Juliette es sicher vergessen wird. Wieder mal.«
Das war mein Stichwort zu gehen.
Als ich aufstand, hoffte ich inständig, dass meine Beine nicht nachgeben würden. »Ich kümmere mich sofort darum«, antwortete ich und verließ Rhondas Büro.
Dass ich nicht von meinem Urlaubsantrag zurücktreten durfte, war schon ein Schock gewesen. Aber dann ließ Rhonda diese Ruhestandbombe platzen? Und ich sollte ihren Platz als Leitung der ganzen Abteilung übernehmen – wie ich es mir insgeheim immer erträumt hatte?
Ich wollte nicht darüber nachdenken.
Mein Schreibtisch war gleich gegenüber von ihrem Büro auf der anderen Seite des Gangs, nur etwa drei Meter entfernt. Er war sauber und aufgeräumt. Drew nannte ihn immer den »Kündigung-und-raus«-Schreibtisch, weil ich meine wenigen Habseligkeiten in ein paar Minuten zusammenpacken könnte, sollte ich kündigen. Was ich allerdings nicht vorhatte. Ich arbeitete zwar schon seit sieben Jahren hier, aber es gab eben nicht viel, das ich ausstellen wollte. An meiner Pinnwand hingen nur ein paar Fotos, einige meiner mit Wasserfarben gemalten Postkarten mit Motiven der Stadt: der See im Central Park, die Brooklyn Bridge, ein Friedhof in Queens. In meinem Regal standen eine Wackelkopffigur von Shakespeare und die gesammelten Werke der Brontë-Schwestern, dazu das signierte Exlibris eines Autors, an den ich mich nicht mehr erinnern und dessen Namen ich nicht mehr entziffern konnte.
Ich ließ mich in meinen Stuhl sinken, ich fühlte mich benommen und überfordert, und das zum ersten Mal seit Jahren. Ruhestand, Rhonda ging in den Ruhestand.
Und sie wollte, dass ich ihren Platz einnahm.
Panik stieg in mir auf.
Ein paar Minuten später schlich Juliette, eine zierliche weiße Frau mit blondem geflochtenem Haar, großen Rehaugen und kirschrotem Lippenstift, schniefend und mit roten Augen zurück an ihren Arbeitsplatz und ließ sich in ihren Stuhl fallen. »Wir … wir haben Schluss gemacht.«
Geistesabwesend griff ich in meine Schublade, holte eine Packung Taschentücher raus und reichte sie ihr. »Tut mir leid, meine Liebe.«
Es war ja nicht so, dass ich keinen Urlaub wollte – natürlich wollte ich das. In den letzten sieben Jahren hatte ich immer dieselbe Woche freigenommen und war irgendwohin weit weg geflogen. Es war nur … Ich wollte nicht für den Rest meines Lebens auf Flughäfen nach einer Frau in einem azurblauen Mantel und mit einem lauten Lachen Ausschau halten, die mit ihrer großen herzförmigen Sonnenbrille wedelte, damit ich sie endlich einholte.
Denn diese Frau gab es nicht mehr.
Und auch das Mädchen, das sie über alles geliebt hatte, gab es nicht mehr.
Nein, es war durch eine Frau ersetzt worden, die freitags lieber lange arbeitete, die lieber auf Arbeitsevents ging als auf erste Dates, die eine extra Strumpfhose und ein Deo in ihrem Schreibtisch aufbewahrte, nur für den Fall, dass sie die ganze Nacht durcharbeitete. (Das war bis jetzt aber noch nicht vorgekommen.) Sie war immer die Letzte im Verlag, selbst wenn die bewegungsgesteuerten Lichter meinten, sie sei schon nach Hause gegangen. Aber sie war glücklich.
Das war sie.
Endlich schaltete ich meinen Computer aus, stand auf und streckte mich. Dadurch ging das Neonlicht über mir wieder an. Es war etwa halb neun. Ich sollte aufbrechen, bevor die Sicherheitsleute ihre Runden drehten. Denn die würden Strauss und Rhonda Bescheid geben, und Rhonda war strikt dagegen, freitags so lange zu arbeiten. Also schnappte ich mir meine Tasche, stellte sicher, dass Rhonda alles für ihre Meetings am Montagmorgen auf dem Schreibtisch liegen hatte, und machte mich auf den Weg zum Aufzug.
Ich ging an dem Bücherregal vorbei, in dem Beleg- und Rezensionsexemplare landeten. Die meisten hatte ich schon gelesen, aber an einem blieb mein Blick hängen.
NEW YORK CITY FÜR INSIDER
Er musste neu sein, und mir gefiel die Ironie, einen Reiseführer über die Stadt, in der ich lebte, zu lesen. Meine Tante hatte immer gesagt, dass man sein ganzes Leben an einem Ort verbringen konnte und es dennoch immer etwas Neues zu entdecken gab.
Für einen ganz kurzen Moment dachte ich, meine Tante würde sich über das Buch sicher freuen, aber als ich es aus dem Regal nahm und in meine Tasche steckte, brach die Realität wie eine Steinmauer über mich herein.
Ich überlegte, das Buch zurückzustellen, aber ich schämte mich so, vergessen zu haben, dass sie tot war, dass ich einfach schnell zum Aufzug ging. Am Wochenende würde ich es einem Secondhand-Buchladen spenden. Der einzige Security-Mann am Eingang sah von seinem Handy auf, als ich an ihm vorbeieilte, und wunderte sich kein bisschen, mich so spät noch hier zu sehen.
Ich ging zur U-Bahn-Station und fuhr zur Upper East Side. Dort stieg ich aus und holte mein Handy heraus. Mittlerweile war es schon zur Gewohnheit geworden, auf dem Heimweg von der Haltestelle zur Wohnung meiner Tante bei meinen Eltern anzurufen.
Früher hatte ich das nie gemacht, aber seit Analea gestorben war, tat es mir gut, sie regelmäßig zu sprechen. Außerdem tat es Mom sicher auch gut. Analea war ihre große Schwester gewesen.
Nach zweimal Klingeln nahm meine Mutter ab. »Sag deinem Vater, dass es vollkommen in Ordnung ist, wenn ich endlich meinen Hometrainer in dein altes Zimmer räume«, begrüßte sie mich.
»Ich wohne seit elf Jahren nicht mehr in diesem Zimmer, es ist also absolut in Ordnung«, bestätigte ich und wich einem Pärchen aus, das auf Google Maps nach dem Weg suchte.
Ich zuckte zusammen, als Mom laut rief: »SIEHST DU, FRED! Ich hab dir doch gesagt, dass es ihr egal ist!«
»Was?«, hörte ich meinen Vater im Hintergrund. Dann hörte ich, wie er den Hörer in der Küche abnahm. »Aber was, wenn du nach Hause kommst, Liebling? Was, wenn du dein Zimmer doch wieder brauchst?«
»Das wird sie nicht«, antwortete Mom, »und falls doch, kann sie auf dem Sofa schlafen.« Ich massierte mir den Nasenrücken. Obwohl ich schon mit achtzehn ausgezogen war, hasste mein Vater Veränderung. Mom liebte Wiederholung. Die beiden waren also ein Traumpaar. »Oder etwa nicht?«
Dad beharrte: »Aber was, wenn …«
Ich unterbrach ihn. »Ihr könnt aus meinem Zimmer machen, worauf ihr Lust habt. Sogar einen Red Room, wenn ihr wollt.«
»Einen Red was …?«, fing Mom an.
Dad fiel ihr ins Wort. »Ist das so ein Sexraum wie in den Filmen?«
»FRED!«, kreischte Mom und fuhr dann fort: »Nun ja, eigentlich keine schlechte Idee …«
Mit einem tiefen Seufzer, der in etwa die gesamte Tragweite ihrer fünfunddreißig Ehejahre zusammenfasste, gab mein Vater nach: »Na gut. Du kannst deinen Hometrainer in ihr Zimmer stellen. Aber das Bett bleibt.«
Ich trat gegen einen leeren Pappbecher auf dem Gehweg. »Das muss wirklich nicht sein.«
»Aber das wollen wir«, erwiderte Dad. Ich brachte es nicht übers Herz, ihm zu sagen, dass zu Hause nicht mehr ihr zweistöckiges blaues Haus auf Long Island war. Schon lange nicht mehr. Aber auch die Wohnung in dem Gebäude, auf das ich zuging, war es nicht. Ich näherte mich ihm immer langsamer, als wollte ich es unbedingt vermeiden. »Wie war dein Tag, Liebling?«
»Gut«, antwortete ich schnell. Zu schnell. »Rhonda geht wohl Ende des Sommers in den Ruhestand, und sie will mich zur Leitung der PR-Abteilung befördern.«
Meine Eltern schnappten hörbar nach Luft. »Herzlichen Glückwunsch, Sweetheart!«, schrie Mom. »Oh, wir sind ja so stolz auf dich!«
»Und das nach nur sieben Jahren!«, fügte Dad hinzu. »Das muss ein neuer Rekord sein! Mich hat es achtzehn Jahre gekostet, bis sie mich zum Partner im Architekturbüro gemacht haben.«
»Und gerade rechtzeitig zu deinem dreißigsten Geburtstag!«, stimmte Mom fröhlich zu. »Das müssen wir unbedingt feiern.«
»Noch habe ich den Job nicht«, bremste ich sie schnell und überquerte die Straße zu dem Block, in dem die Wohnung meiner Tante war. »Es gibt sicher auch noch andere Kandidatinnen und Kandidaten.«
»Wie geht es dir damit?«, wollte Dad wissen. Er kannte mich besorgniserregend gut, auf eine Art, die Mom gänzlich abging.
Mom schnaubte. »Was denkst du denn, Fred? Sie ist außer sich vor Freude!«
»Es war nur eine Frage, Martha. Eine ganz einfache.«
Es war eine ganz einfache Frage, oder nicht? Natürlich sollte ich begeistert sein, aber trotzdem hatte ich einen Knoten im Magen. »Ich glaube, ich werde noch begeisterter sein, wenn ich endlich mit dem Umzug fertig bin«, erklärte ich. »Ich muss nur noch ein paar Kisten ausräumen.«
»Wenn du möchtest, kommen wir am Wochenende und helfen dir«, schlug Mom vor. »Analea hat sicher unglaublich viel Kram zurückgelassen …«
»Nein, nein, nicht nötig. Außerdem muss ich am Wochenende arbeiten.« Das war vermutlich nicht einmal gelogen. Irgendwas würde es schon zu tun geben dieses Wochenende. »Na ja, ich bin jetzt auch gleich zu Hause. Wir hören uns. Ich liebe euch«, fügte ich noch schnell hinzu und beendete das Gespräch, als ich gerade um die Ecke ging und das eindrucksvolle Gebäude mit dem vielsagenden Namen »Monroe« in Sicht kam. In diesem Gebäude war die Wohnung, die einst meiner Tante gehört hatte.
Und jetzt gehörte sie gegen meinen Willen mir.
Ich hatte es so lange wie möglich hinausgezögert einzuziehen, aber als mein Vermieter mir angekündigt hatte, dass er die Miete für mein Apartment in Greenpoint erhöhen würde, hatte ich keine andere Wahl mehr gehabt. Da stand die Wohnung meiner Tante in einem der begehrtesten Häuser in der Upper East Side leer, und sie hatte sie mir hinterlassen.
Also packte ich mein Hab und Gut in ein paar Kisten, verkaufte meine Couch und zog hierher.
Das Monroe sah aus wie alle anderen alten Apartmenthäuser der Stadt. Ein Gerippe mit Fenstern und Türen, das schon Bewohner beherbergt hatte, die längst verstorben und vergessen waren. Es war elfenbeinfarben getüncht und hatte eine verzierte Fassade, die an vergangene Zeiten erinnerte. Geflügelte Löwen, denen Ohren und Zähne fehlten, kauerten unter den Dachvorsprüngen und standen auf dem Treppenabsatz vor dem Eingang. Hinter der Drehtür saß ein müde dreinblickender Concierge. Seitdem ich denken konnte, war er schon hier. Heute saß er am Empfang, die Kappe leicht schief auf dem Kopf, und las den neuesten Krimi von James Patterson. Als ich reinkam, sah er auf und strahlte mich an.
»Clementine!«, rief er. »Willkommen zu Hause.«
»Guten Abend, Earl. Wie geht es Ihnen? Wie ist das Buch?«
»Dieser Patterson weiß einfach, was er tut«, antwortete er fröhlich. Dann wünschte er mir einen schönen Abend, und ich ging zu den Aufzügen. Mir schmerzte das Herz ein wenig, weil mir alles hier so vertraut war, so zugänglich und heimatlich. Das Monroe hatte schon immer alt gerochen, nur so konnte ich es beschreiben. Es roch nicht nach Schimmel oder stockig, nur … alt.
Bewohnt.
Geliebt.
Der Aufzug pingte, als er im Erdgeschoss ankam, und ich stieg ein. Er war genauso goldverziert wie die Lobby, mit viel Kupfer, das eine Politur benötigte. Auf der Sockelleiste prangten Florentiner Lilien, und an der Decke hing ein stumpfer Spiegel, aus dem eine müde und verschwommene Reflektion meiner selbst auf mich herabschaute. Sie hatte schulterlange braune Haare, die sich in der Luftfeuchtigkeit der Sommermonate an den Spitzen lockten, und einen geraden Pony, der nie richtig fiel, sondern aussah, als ob man ihn morgens um drei mit einer Küchenschere und einem gebrochenen Herzen geschnitten hätte.
Als ich acht Jahre alt gewesen war, hatte ich meine Tante zum ersten Mal in ihrer Wohnung besucht. Das ganze Haus war mir vorgekommen wie aus einem Märchenbuch. Wie etwas, über das ich in unserer überfüllten Bibliothek zu Hause gelesen hatte, ein Ort, an dem Harriet aus Spionage aller Art oder Eloise leben konnten, und ich stellte mir vor, genau wie sie zu sein.
Schließlich war Clementine auch ein Name, den man einer verschrobenen Figur in einem Buch geben würde.
Als ich zum ersten Mal mit diesem verzauberten Aufzug fuhr, hatte ich eine überdimensionierte Reisetasche in Kirschrot dabei und klammerte mich fest an Chunky Bunny, meinen Stoffhasen, den ich heute noch hatte. Damals machte es mir fürchterliche Angst, an fremden Orten zu sein, aber meine Eltern waren der Meinung, ich sei diesen Sommer bei meiner Tante besser aufgehoben, während sie unser Haus in Rhinebeck zusammenpackten und alles nach Long Island schafften, wo sie heute noch lebten. Der Spiegel an der Decke war auch damals schon trüb gewesen, und auf dem langsamen Weg nach oben war mir eine Stelle aufgefallen, an der er gewölbt war und mein Gesicht und meine Arme verzerrte wie in einem Spiegelkabinett.
Verschwörerisch hatte meine Tante gesagt: »Das ist dein vergangenes Selbst, das da auf dich runtersieht. Nur den Bruchteil einer Sekunde von dir zu dir.«
Immer wieder hatte ich mich gefragt, was ich wohl zu meinem Selbst vor dem Bruchteil einer Sekunde sagen sollte.
Damals glaubte ich noch all die Geschichten und Geheimnisse, die mir meine Tante erzählte. Ich war leichtgläubig und fasziniert von all den Dingen, die zu gut klangen, um wahr zu sein, wie ein zauberhafter Funke in dieser schnöden Welt. Ein Spiegel, der dir dein vergangenes Selbst zeigte, ein Paar Tauben, die unsterblich waren, ein Buch, das sich von selbst schrieb, eine Gasse, die in eine andere Welt führte, eine verzauberte Wohnung …
Jetzt hinterließen all diese Geschichten ein schales Gefühl in meinem Mund. Aber trotzdem, als ich hoch in den Spiegel sah, konnte ich nicht anders als mitzuspielen, wie immer.
»Sie hat gelogen«, erzählte ich meinem Spiegelbild, und ihre Lippen bewegten sich zu meinen Worten. Falls mein Selbst vor dem Bruchteil einer Sekunde überrascht war, zeigte es das nicht.
Denn es wusste es bereits.
Als ich im vierten Stock ankam, pingte der Fahrstuhl wieder. Die Apartments waren mit Buchstaben gekennzeichnet. In meinem ersten Sommer hier hatte ich so das Alphabet rückwärts auswendig gelernt.
L, K, J, I, H, G, F …
Ich ging um eine Ecke. Der Flur hatte sich in all den Jahren nicht verändert. Der Teppich war ein ausgetretener Perser, in den Ecken hingen Spinnweben. Ich ließ die Finger über die Kante der weißen Paneele gleiten, die die Wände säumten. Das Holz fühlte sich rau an.
E, D, C …
B4.
Ich blieb vor der Tür stehen und holte den Schlüssel heraus. Mittlerweile war es fast halb zehn, und ich war todmüde. Ich wollte nur noch schlafen. Ich betrat die Wohnung und zog noch in der Tür die Schuhe aus. Meine Tante hatte nur zwei Regeln in ihrem Apartment, und die erste lautete, zieh immer die Schuhe an der Tür aus.
Als ich letzte Woche eingezogen war, hatte ich all die langen Schatten genau beobachtet, als ob ich erwartete, einen Geist zu sehen. Ein kleiner Teil von mir wünschte sich das. Oder vielleicht wollte ich, dass wenigstens eine Geschichte meiner Tante wahr wurde. Aber natürlich passierte das nicht.
Jetzt sah ich kaum auf, als ich reinkam. Ich machte das Licht nicht an. Ich scannte die Schatten nicht, um zu sehen, ob sie sich verändert hatten, ob neue dazugekommen waren.
Sie hatte behauptet, die Wohnung sei verzaubert, aber mir kam sie nur einsam vor.
»Es ist ein Geheimnis«, hatte sie mir mit einem verschwörerischen Grinsen erzählt und sich einen Finger auf die Lippen gelegt. Der Rauch ihrer Marlboro kräuselte sich und zog durch das offene Fenster. Ich erinnerte mich an diesen Tag, als wäre es gestern gewesen. Der Himmel war klar, der Sommer heiß, und die Geschichte meiner Tante war fantastisch gewesen. »Du darfst es keinem verraten. Wenn du es tust, wird es dir vielleicht nie geschehen.«
»Ich verrate es keinem«, hatte ich versprochen und dieses Versprechen über einundzwanzig Jahre gehalten. »Keiner Seele werde ich es erzählen.«
Flüsternd weihte sie mich ein, ihre braunen Augen funkelten vor Aufregung, und ich glaubte ihr jedes Wort.
Heute roch die Wohnung noch immer wie damals, nach Lavendel und Zigaretten. Mondlicht fiel durch die großen Fenster im Wohnzimmer, zwei Tauben saßen draußen auf der Klimaanlage in ihr Nest gekuschelt. Die Möbel sahen alle aus wie Schatten ihrer selbst, alles war noch so, wie ich es in Erinnerung hatte. Ich stellte meine Tasche auf den Barhocker, legte den Schlüssel auf die Anrichte und ließ mich auf die blaue Samtcouch im Wohnzimmer fallen. Noch immer roch alles nach ihrem Parfüm. Selbst sechs Monate später, nachdem ich die meisten ihrer Möbel gegen meine ausgetauscht hatte.
Ich zog die gehäkelte Decke, die über der Rückenlehne hing, zu mir runter und kuschelte mich darin ein. Hoffentlich würde ich einschlafen können. Die Wohnung kam mir fremd vor jetzt, etwas fehlte, ein gewaltiger Teil, aber dennoch war sie mir so vertraut wie sonst kaum ein Ort auf der Welt. Wie ein Ort, den ich zwar kannte, an dem ich aber nicht länger willkommen war.
Ich wünschte, ich könnte diesen Ort hassen, der sich immer noch anfühlte, als ob meine Tante hier lebte. Immer noch könnte sie jederzeit aus dem Schlafzimmer kommen und mich auslachen, weil ich auf dem Sofa lag. Oh Liebling, gehst du schon schlafen? Ich habe noch eine halbe Flasche Merlot im Kühlschrank. Steh auf, die Nacht ist noch jung! Ich mach dir ein paar Eier. Lass uns eine Runde Karten spielen.
Aber sie war fort, und die Wohnung blieb mit all den albernen Geheimnissen, die sie mir zugeflüstert hatte, einsam zurück. Denn wenn diese Wohnung tatsächlich verzaubert war, wieso hatte sie mir innerhalb der letzten sechs Monate, in denen ich hier ein und aus gegangen war, meine Tante nicht zurückgebracht?
Warum war ich noch immer allein hier auf dem Sofa, lauschte den Geräuschen der Stadt, die immer weitermachte und immer weiter, während ich immer noch der Vergangenheit nachtrauerte?