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Der erste Roman des Bestsellerautors! Bov Bjergs bisher unbekannter Debütroman. Die Druckauflage wurde bei einem Lagerbrand vernichtet. Nun erscheint das Buch erstmals für ein breites Publikum. Paula ist Ende dreißig und übersetzt Gebrauchsanweisungen. Sie lebt in den USA, "schon so richtig amerikanisch dick" – eine "Verschollene", die ihrer Heimat doch nicht entkommen kann: Denn eines Tages muss sie sich auf den Weg zurück machen. Widerstrebend reist sie noch einmal in das Dorf ihrer Kindheit. Das von der Schwester bewohnte Elternhaus wird zum Schauplatz einer atemberaubenden Geschichte. Paulas Vater war Friedhofssteinmetz, und nun ist sein eigenes Grab abgelaufen. Es ist an Paula, seinen Stein abzumontieren und nach Hause zu schaffen. – Deadline ist ein suggestiver Roman, der die Schocks modernen Menschseins überragend gestaltet, mit spielerischer Sprache und makabrem Witz. "Das überraschendste Leseerlebnis des Jahres. Ein ganz neuer Ton, eine völlig neue Schreibart; ich könnte nichts Vergleichbares nennen." Christoph Hein "Ein sich selbst beschleunigender Roman über die Konkurrenz zwischen letzten Chancen und letzten Dingen." Monika Rinck
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Seitenzahl: 160
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BOVBJERG
ROMAN
Die Erstausgabe von »Deadline« erschien 2008 im Mitteldeutschen Verlag (Halle/Saale).
Für die vorliegende Neuausgabe hat der Autor den Text revidiert.
ISBN 978-3-98568-002-3
eISBN 978-3-98568-003-0
1. Auflage 2021
© Kanon Verlag Berlin GmbH, 2021
Nachwort © Gunnar Cynybulk, 2021
Lektorat der Originalausgabe: Sabine Franke
Umschlaggestaltung Anke Fesel / bobsairport
Herstellung: Daniel Klotz / Die Lettertypen
Satz: Marco Stölk
Druck und Bindung: Pustet, Regensburg
Printed in Germany
www.kanon-verlag.de
Für M.
Der Fußboden ist die Unterlage unserer täglichen Existenz, auf ihm ruht und bewegt sich das ganze Tagesleben.
Raoul Tranchirer
Der Boden ist die durch Verwitterung entstandene Schicht an der Grenze zwischen der Atmosphäre und der Lithosphäre. Dieser Bereich ist von Wasser, Luft und Lebewesen durchsetzt.
Wikipedia
Eine Mail von der Agentur. Ich las: »pulse – Puls, Takt, Rhythmus«. Ich las: »taking decisions«, »your task«. Und die senkrechten Striche seien extraordinarily annoying. »Stehen die für ›oder‹, oder wofür stehen die?«
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Amerika – Work – Text – Death
Dank
Da war ich sechs Jahre alt. Da war ich zehn Jahre alt. Da war ich gerade zehn, zwölf, fünf, acht, eineinhalb, elf Jahre alt. Ungefähr, erst, etwa, knapp fünf Jahre alt.
Seit diesem Tag vor dreißig Jahren war ich immer pünktlich. Überpünktlich. Heute, im Beruf, war das von Vorteil.
Deadline war Deadline, Deadlines waren servanda. Fünf Minuten vor der Zeit: wahre Pünktlichkeit. Höflichkeit der Könige, courtesy der kings. Nur noch die Überschrift: The results you want! Die Resultate, die Sie wollen? Für Taschenrechner unmöglich. Für Ergometer: machbar. Nicht brillant, aber machbar. Die Resultate, die Sie wollen! In einer halben Stunde war Deadline.
Abflug: 18.25.
Check-in: 16.25.
Zwei Stunden Weg zum Flughafen (zu Fuß!) – Aufbruch: 14.25. Knapp drei Stunden, dann musste ich los. Genaue Uhrzeit: 11.30.
Boden: Sisal, Boden: Nadelfilz, Boden: Steinzeug (Schachbrett). Der Kühlschrankhebel klackerte. Die Katze rutschte | schleuderte um die Ecke, zur Küchentür herein, bremste drei Fuß entfernt. Lauerte. Die Polystyrolschachtel knarrte | raspelte | quietschte, als ich sie aus den Gittern zog. Frittierte Auberginen, Hacksteaks u. Ä., Backkartoffeln, ein Extradöschen Sour Cream. Ich fingerte ein Würstchen aus der Box und warf es der Katze | dem Stubentiger | Patchworklöwen zu, die beugte einen breiten Kopf darüber und nickte und biss und kaute und nickte. Ich zog einen Sack Katzenstreu vom Zwischenboden, stellte ihn neben den halb leeren Sack neben der Katzentoilette in der Menschentoilette, anderthalb Säcke, das musste reichen, das würde reichen. Dicke würde das reichen, dicke. Ich war schon wieder am Schwitzen. Die Mikrowellenelektronik klirrte | schepperte pling-pling-pling. In einer viertel Stunde war Deadline.
Lies nicht beim Essen! Lies nicht beim Essen! Ich konnte gut vermeiden, dass beim Essen das Fett aus dem Essen oder die Soße oder der Saft aus dem Essen auf die Tastatur tropfte oder das Essen aus dem Essen tropfte. Ich konnte das gut vermeiden, das konnte niemand so gut vermeiden, wie ich das vermeiden konnte. Im rechten Moment die richtige Drehung. Drehung aus dem Handgelenk, aus der Schulter, im Extremfall (Tropfen unter Unterlippe, beide Hände voll) radikales Rückwärtskippen des Kopfes, Stirn nach hinten, Kinn nach vorn.
Knapp drei Stunden, dann musste ich los. Hohe Zeit, mich endlich vorzubereiten, einzulesen, einzugrooven, ich hatte ja alles vergessen, die Originaldateien schon lange gelöscht. Die Suchmaschine schrieb die Sätze fort:
»nach Hause gehen und«. Nach Hause gehen und ein bisschen was frühstücken. Nach Hause gehen und wieder von vorne beginnen. Nach Hause gehen und über dein Leben nachdenken. Nach Hause gehen und hatte keine Beschwerden.
Uhrzeit: 11.55. In fünf Minuten war Deadline.
The results you want! Die Resultate, die Sie wollen? Viel zu teigig. The results you want! Jeden Tag die Resultate, die Sie wollen? Zu beflissen. Zu muttchenhaft. Topfig. Topfit. Täglich Top-Ergebnisse! Das war es. Täglich Top-Ergebnisse! Eine Headline vom Feinsten. Headline vor der Deadline, Kund hat Grund zum Nettsein. Täglich Top-Ergebnisse! Täglich auf der Stelle treten, strampeln, radeln, Top-Ergebnisse mit Pulsmessung per Ohrclip, Kardio-Programm und elektromagnetischer Wirbelstrombremse, Top-Ergebnisse mit TFT-Display und interaktiven Trainingsfilmen (Galibier, Fedaia, Wurzjoch, Grossglockner High Alpine Road), Top-Ergebnisse mit optionalem Leistungsdiagramm-Laserdrucker, da konnte man die Werte schwarz auf weiß oder bunt auf weiß oder bunt auf bunt nach Hause tragen vom Heimtrainer bzw. zu Hause lassen, vom Drucker zum Schreibtisch tragen, lochen und im Persönlichen Fitness-Assistenten abheften. The results you want. Täglich Top-Ergebnisse!
Ich änderte die Überschrift, prüfte noch einmal das Cleaning, kontrollierte Tags und Absatzmarken. Ersetze unsichtbaren Text durch nichts. Ein paar Tabellen waren zerschossen, das hatte ich übersehen, jetzt wurde es doch noch knapp. Tabellen flicken, kopieren nach: Out-Ordner. Translation Memory, Query. Hatte noch keine Query geschrieben. Dokument öffnen? Ja klar, nun mach schon! In die Query die Alternativen (pulse: Puls | Takt | Rhythmus), zu recherchierende Trademarks (Moviebike?), To Do’s. »In den Teilen drei bis acht die Absatzmarken noch entfernen bitte, danke, Bussi«. Ordner zippen, Mail an Lektor. Dreißig Minuten nach der Deadline, sorry für the delay, Ctrl + Return und ab. Rechnung an die Agentur, dazu eine Message: Bin die Woche weg, vacation wie angekündigt.
Ich packe meinen Koffer und nehme mit: Oberteile (7+1).
Ich packe meinen Koffer und nehme mit:
Oberteile (7+1) und Socken (7+1).
Oberteile und Socken und Slips (7+1).
Oberteile und Socken und Slips und Rock (1).
Hosen (2), Blusen (3), Wasch- | Kulturbeutel. Kultur, das war Haarbürste, Zahnbürste, Zahnpasta, Tampons. Deoroller, Creme Tag, Creme Nacht, Lidschatten, Wimperntusche, Lippenstift, das war Kultur. Aus Läuseblut, wer’s glaubt. Und Wattepads.
Es klingelte an der Wohnungstür. Boden: Nadelfilz (aubergine). Im Treppenhaus Jeff. Er habe sich gefragt | er habe gewundert, »I wondered«, ob ich wohl noch da sei. Ob ich wohl vergessen hätte, ihm den Wohnungsschlüssel rüberzubringen, oder vielleicht auch mich anders entschieden. Das wäre, wenn es denn so wäre, durchaus kein Problem, nein, gar nicht, keineswegs.
Ich packe meinen Koffer und nehme mit: Slipeinlagen, Diaphragma, Gel. Voraussetzung für einen guten Sitz: eine ausgeprägte Nische hinter dem Venusknochen am Vaginaleingang. Regenjacke, Sandalen, Slipper. Slip, Slipper, slippery slope. Laptop, Handheld, Kabel (div.). DVDS (Wörterbücher, Lexika etc.), Papier. Einen Drucker würde Schwesterherz schon haben, nein, würde sie natürlich nicht haben, die 24/7-Mutterhausundehefrau, Faltenrock around the clock. Jeden Tag die Resultate, die Sie wollen.
Ich brauchte einen Drucker, für die Korrekturbögen, ich konnte nicht korrigieren am Schirm. Lesen ja, nicht korrigieren. Gegen eine Bildschirmschrift, da war kein Auflehnen. Der Bildschirm hatte immer recht, der Rechner, das Netz, die Suchmaschine auch, die Suchmaschine hatte erst recht recht.
Der Schwager, der Mann im Haus, die Hosen an, der würde sicher einen Drucker haben, in seinem Arbeitszimmer. Schwesterherz hatte in ihrem Arbeitszimmer Spülmaschine (eintausend Watt), Herd (neunhundert Watt) und Dunstabzugshaube (zwei mal zweihundertzwanzig Watt). Den Drucker konnte ich hierlassen, einen Drucker hatte sicher der Schwager in den Hosen, die er anhatte, ziemlich sicher.
Im Treppenhaus Jeff.
Ich: »So you don’t want to look after the cat?«
Nein, nein, er habe nur gewundert.
»She can stay at the cat hotel, that’s absolutely no problem.«
Nein, nein, es sei okay für ihn, ohne Weiteres okay.
»I can have her put to sleep, that’s fine for me.« Bei »me«: Stimme steil nach oben. Rascher Anflug bis zum »r« von »for«, durchstarten, Joystick ranreißen. »That’s fine for meee.«
Jeff starrte. Als ob der Vorschlag mit dem Einschläfern ihm gegolten hätte. Ich zeigte ihm die Katzenstreubeutel und erklärte, dass er nach Möglichkeit zwei Mal täglich den Futternapf füllen und die Kacke aus der Kiste schippen solle. Sei die Kiste verkackt, gehe die Katze nicht mehr dort, sondern überall anders hin, sich zu entleeren. Er habe eine gute Haftpflichtversicherung, lachte Jeff sinnlos.
Ob er einen Kaffee wolle? Einen Sunny-Sunday-Afternoon-Kaffee? Uhrzeit: 13.10.
Boden: Ziegel (Läuferverband). Hinter mir der Rollkoffer. Er kollerte und wackelte, die Rädchen quietschten. Der Koffergriff vibrierte in den gekrümmten Fingern. Eine Einfahrt, davor eine Bordsteinabsenkung. Das eine Rädchen verstummte, das andere quietschte tiefer, eine Quarte (Terz?) tiefer, dann kippte der Koffer weg, der Koffergriff verdrehte sich und wand sich aus der nassen Hand. Es war eine Schnapsidee gewesen, einen Koffer mit Griff an der Schmalseite zu kaufen, weil das angeblich schlanker wirkte. Es war eine Scheißidee gewesen, zu glauben, man könne so einen Koffer zu beherrschen lernen, es komme nur auf die Übung an, und nach zehn oder nach fünfzig Reisen habe man den Griff so eines Koffers schon im Griff. Hatte man nicht.
Kurze Rast, nur kurz, ganz kurze Rast. Vorn das leere Pflaster, versetzte Klinkerbänder, quer über den Bürgersteig. Die Steine dunkel feucht. In den Ritzen Schaum. Der Gehweg war gerade erst mit Seifenlauge abgespritzt worden.
Rechts Fassaden. Ich wischte einen Ziegelabriebstrich von der Hartschale (dunkelsilber) des Hartschalenkoffers. Ein weiterer weißer Kratzer. Der fiel kaum auf. Die Hartschale, die nicht sehr hart war, war mit weißen (Talkum) Strichen gemustert.
Ein Schweißtropfen glitt den Nasenrücken hinunter, rutschte auf den rechten Flügel, blieb am Nasenloch hängen, schien innen wieder hochzukriechen, kitzelte, fiel ab. Weiter.
Rechts Glas (ich, Koffer), Glas (ich, Koffer), Edelstahl, Backstein, Backstein, Glas (ich, Koffer), Backstein, Granit, Messing, Sandstein, Glas (ich, Koffer), Granit. Sandstein gekrönelt, Granit geriffelt, Marmor gestockt. Weit vorn wehte ein Schatten übers Trottoir, eine Ratte oder ein Papierknäuel. Es war eine völlige Schnapsidee | Scheißidee gewesen, zu Fuß zum Flughafen gehen zu wollen, durch die halbe Stadt bis zum Kai. Die Oberschenkelinnenseiten rieben | scheuerten bei jedem einzelnen Schritt aneinander und ich schwitzte wie ein Schwein, du fette Sau, du fette Sau. Ich sezierte dieses absurde Vorhaben beim Gehen, die Gedanken unterlegt von Hosenstoffkratzen und Rollkoffergrollen, Beweggründe, frühkindliche Motivation usw., der Fall lag ja ganz klar. Boden: Ziegel, ein Schachtdeckel, Gusseisen kreuzschraffiert. In der Schraffur erhaben ein Pfeil, der zeigte die Richtung. Zum Glück war es Sonntagnachmittag, zum Glück war hier kein Mensch unterwegs. Zum Pech war kein Taxi zu sehen.
Sandstein, Sandstein, Backstein, Glas (ich, Koffer), Marmor. Grüner Marmor. Indien? Rosa Marmor. Norwegen? Vermont wahrscheinlich, alle beide, grün und rosa. Edelstahl, Granit, Glas (ich, Koffer), Glas (ich, Koffer), Backstein. Vorn Backstein, rechts Backstein. Dieses Zusammen von senkrecht und waagrecht, Fassade und Gehweg. Dieser rechte Winkel, dieser jähe Wechsel vom Stehen zum Liegen, ohne jeden Übergang. Den konnte man da im Raum ja dauerhaft sehen, den Wechsel, festhalten, festklopfen, festmauern | -betonieren | -schrauben. Der Koffer kippte. In der Zeit konnte man ihn nicht fixieren, diesen Moment zwischen Stehen und Liegen, nicht einmal die Sekunden davor, die letzten Sekunden. Ich hob den Koffer auf die Rädchen. Diese Scheißzeit, die ging einfach weiter und weiter. Ich blieb wieder stehen, wischte Salzwasser von der Oberlippe, von der Stirn, aus dem Dekolleté.
Im ganzen Finanzviertel gab es nur einen Imbiss, der am Sonntag geöffnet hatte. Er lag zwei Häuser entfernt. Glas (ich, Koffer), Glas (ich, Koffer). Ich war gut in der Zeit, gut in der Scheißzeit. Ich war immer pünktlich.
Am Tresen lehnten zwei Männer. Clowns in Karohosen, gelbe und grüne Riesenkaros. Die Bedienung stapelte Donuts in Pappschachteln, Dutzende, von jeder Sorte einen. Sagte: »Und nicht mit dem Essen spielen.« Die Clowns nickten. Mit Packpapiersäcken drängten sie sich vorbei. Rote Haare, blaue Haare. Der eine hatte seine Nase auf die Stirn gesetzt.
Ich bestellte fünf Donuts. Einmal natur, einmal mit Schokoladendragees (hier: M&M’s, drüben: Smarties). Dreimal orange Glasur. Und einen großen Kaffee.
Draußen vor dem Schaufenster zwei kahle Männer und zwei dünne blonde Frauen. Auf den T-Shirts der Männer stand »<beer>«, darunter stülpten sich die Bäuche nach außen, nach vorn zur Schaufensterscheibe, zu mir her, unter den Bäuchen stand: »</beer>«. Auf den Tops der Frauen: »<tits>«, darunter wie angekündigt, darunter: »</tits>«. Beer, beer, tits, tits. Slash beer, slash beer, slash tits, slash tits.
Ich verbrühte mir die Zungenspitze am Kaffee.
Hinten grollte der Rollkoffer, rechts stiegen die Fassaden, vorn lag das rotbraune Pflaster. Vorn stand in der Luft ein Radau, in den ging ich Schritt für Schritt hinein. Dieselmotoren | -generatoren (Brummen), Stahl (Kreischen), Beton (Knirschen). Der Rollkoffer schob und drängelte, die Räder murmelten: Beeil dich, beeil dich! Quietschten in den Naben. Ein Orchester von Pressluftbohrern. Eine Bigband? Erst hörte ich im Lärm das Rollen nicht mehr, dann nicht mehr das Quietschen, nur noch Lärm, klaren, reinen Lärm, dann stand ich an einem Metallgitterzaun. Schuttlastwagen, Bagger, Planierraupen. Eine Zugramme zog ihr Gewicht, pile driver (tech.), den Rammbär | Fallblock | Rammklotz, der eine hatte wirklich auf »Rammbär« bestanden, der eine Hersteller damals, zog den Rammbär langsam in die Höhe, brumm brumm, stoppte, klinkte aus, das Eisen rutschte nach unten, zwei Tonnen, knallte auf die Stahlspundwand mit Zisch und Tschakka. Die Ramme zog das Gewicht langsam nach oben, und wieder. Von den rostigen Spundwänden phosphoreszierten Lettern und Ziffern grün und orange.
Betonpfeiler und Eisenträger. Reste der alten Autobahn, der Hochstraße. Eine durchtrennte Fahrbahn, aus der die rostige Armierung ragte, zerrissene Abwasserrohre, Leitungsschächte und Kabel. Ein Bagger mit Hydraulikschere, die schnitt durch Asphalt und Unterbau. Brocken stürzten herab. Jemand schwenkte einen Schlauch, der versprühte Wassertröpfchen. Wo sie zu Boden sanken, war die Luft rein und klar und durchsichtig, für ein paar Augenblicke.
Unten gingen Arbeiter schon auf der Tunneldecke herum, Arbeiter in Bauwesten, muskulöse Donuts mit oranger Warnglasur, riefen Anweisungen, eine Spur zu laut, stießen Zeigefinger in die Luft und schwenkten Arme, eine Spur zu deutlich, und selbst der, der ganz am Rand im Schatten eines Bretterstapels dicke Nägel aus gebeizten, teerverschmierten Bohlen zog, führte das Eisen wie bei einer Schauspielprüfung. Eine Raupe mit breitem Ausleger strich glänzend schwarzes Erdpech | Bitumen auf den Beton. Das Bitumen dampfte.
Der Autoverkehr sollte unter die Erde, sollte unter der Erde, sollte in die oder in der Grube fahren, dazu rissen sie die Stadt auf, von oben nach unten, Nord nach Süd. Sie schlugen der Hochstraße die Stelzen weg und drückten den Verkehr in den Tunnel und Gras drüber. Jetzt waren sie beim Graben also hier angelangt. Da vorn ging es weiter.
Vor einem halben Jahr noch ging es da vorn weiter, unter der Hochstraße durch, an den Reihen der parkenden Autos vorbei, hinüber zur Wasserfront. Da vorn ging es nicht weiter.
Ein Schild, »Zur Wasserfront hier entlang 1,5 Meilen«, ich zog den Rollkoffer am Lärm vorbei, den Zaun entlang, entlang an Armiergitterhaufen und Schalbretterstapeln. Manchmal kippte der Koffer, ohne dass ich gehört hatte, dass ein Rädchen nicht mehr quietschte. Kippte, der Griff drehte sich, bog die Finger auf, dann lag der Koffer da, die Rädchen von sich gestreckt.
Ich schwitzte | transpirierte, tropfte am Zaun entlang, entlang an der Großen Grube, am Big Dig, wie sie es nannten. Big Dig, man musste genau sein mit der Aussprache, Big Dig, Big Dick, vorbei an Handramme und Pressluftstampfer, ich schlingerte ins Schlüpfrige, oversexed (overdressed?) and underfucked, diese Geilheit in der Panik, wenn alles zu spät war. Ich war gut in der Zeit. Vorbei an sonnengebackenen Donuts, die kurz her, durch mich durch, wieder weg schauten.
Ich roch. Ich roch etwas. Heißer Stein, verbrannter Staub. Verbrannter Steinstaub, scharf und beruhigend. In diesem Geruch war alles gut. Hinter dem Metallzaun sprühte ein Trennschleifer Funken. Ein Donut beugte sich mit der Maschine über einen Bordstein aus Granit.
Schleifstaubwölkchen und Qualm wehten herüber. Ich hatte Zeit. Silberne Schwaden. Ich zog Staub und Rauch in die Nase. Zog den Geruch über die Riechschleimhaut ins Stammhirn, vom Stammhirn ergoss der Geruch sich in meinen Leib. Alles war gut. Keine Vergangenheit, keine Geschichte. Und dann war es wirklich so (und nicht nur supposed to be): reine Gegenwart. Ruhig und heiter wie ein Mensch, dem nichts mehr geschehen kann. Kein Koffer, der kollerte. Kein Koffer, der warnte: Beeil dich, beeil dich!
Der Arbeiter setzte die Schleifmaschine ab und zog die Schutzbrille aufs Kinn. Er lachte und rief herüber, ich konnte nicht hören, was. Ich schaute weg, auf den Weg: Granitplatten. Uhrzeit: 15.10.
Am Pier. Boden: Beton. In der Marina Jachtengedümpel, Mastenwinken. Das Wasser klatschte an Bootsrümpfe, Kaimauern, Anlegerpfosten. Ich war noch immer gut in der Zeit. In vierzig Minuten begann der Check-in, da drüben am anderen Ufer. Das Wassertaxi wackelte | schaukelte | gautschte zum Anleger her. Neben mir ein Mann, er reckte den Kopf (Seitenscheitel) aus einem hellen Blouson, er wippte auf den Schuhspitzen und rief zu den Kassenhäuschen hinüber: »Kommt ihr jetzt endlich?« Auf Deutsch. Der Bootsführer warf die Leine über den Pfahl, sprang an Land und zog die Alubrücke herüber. Von den Kassenhäuschen eine Frauenstimme: »Ich weiß nicht, ob das das richtige Boot ist!«
»Aber ich weiß es!« Der Mann winkte die Familie her, an sich vorbei, erst die Frau, dann die Kinder. Die Frau blieb stehen, die war auch nicht gerade schlank, winkte die Kinder an sich vorbei, »Vorsicht auf der Brücke! Haltet euch fest!« Die Kinder balancierten, die Arme ausgestreckt, freihändig über das Blech. »Komm«, sagte die Frau zum Mann, winkte auch ihn vorbei, dann setzte die Frau sich wieder in Bewegung, schließlich stand die ganze Amöbe, Mann und Frau und eins, zwei, drei Kinder, auf den Planken des Wassertaxis.
Ich drückte mich durch das Brückengeländer aufs Boot. Setzte mich auf den Schwimmwestenkasten, den Rollkoffer neben den Schenkeln. Die Griffstangen links und rechts, der Hartplastikgriff oben quer. Ein Monitor, durch den ich die Passagiere bewachte. Zweireiher, die von der Sonntagsarbeit nach Hause fuhren, zurück in die Einflugschneise, zu ihren Häuschen mit Grüngrün vor dem Fenster und Ergometer dahinter. Täglich Top-Ergebnisse! Ein paar Touristen mit Reisetaschen. Ein Pärchen von der Westküste, drei Italiener.
Früher waren die Fähren am Wochenende voller Downtown-Familien gewesen, die einen Ausflug zum Flughafen machten, und voller geschiedener Väter mit ihren Söhnen. Seit ein paar Jahren waren die Fähren am Samstag und Sonntag fast leer.
Der Kassierer kam mit einer Kellnerbörse (Glattleder, schwarz). Zum Deutschen sagte er: »Die Karten gelten hier nicht. Zehn Dollar.« Er lachte, und das klang, als lache er in eine Polystyrolschachtel. »Nein, Wale können Sie hier nicht sehen. Seien Sie froh. Sieht diese Gondel vielleicht hochseetauglich aus? Der Finback sagt einmal Hi mit dem Blasloch, und zum Abschied gibt er uns die Fluke, dass es ein Abschied für immer ist. Wir fahren bloß rüber und wieder zurück, das ist alles.«
»Der fährt nicht zur Sandbank. Der fährt zum Flughafen.« Der deutsche Mann, zur Frau.
»Der fährt zum Flughafen.« Die Frau, zu den Kindern.
Der eine Junge: »Au jaaa, Flugzeuge anschauen!«
Das Mädchen: »Keine Walfische?«
Mann, zum Kassierer: »Man kann bestimmt die Flugzeuge anschauen, da drüben? Gibt es eine Besucherterrasse?«
Kassierer: »Geschlossen, aus Sicherheitsgründen, you know.«
Ich schob den Koffergriff in die Schale und schaute aufs Wasser. Irgendwo da hinten, aus dem Hafen raus und links, da schwammen die Wale, weideten wie dicke Schweine über der Sandbank, fette Sau, fette Sau. Die dicken Wassersäuger, die hatten es leicht, die saugenden Dicken, die mit ihrem Auftrieb, stiegen und sanken, manchmal sprangen sie sogar aus dem Wasser, Berge von Fleisch und Tran auf wenn auch kurzen, aber doch: Parabelflügen, ohne Gewicht in der Sekunde am Scheitel.
Es gab auch Haie da hinten, ich hatte sie selbst einmal gesehen, im Fernsehen, wie sie ein Whalewatchingboot umkreisten, schwarze Streifen, denen das Gekräusel an der Wasseroberfläche die Konturen zerrupfte. Ich langte in die Packpapiertüte. Oranger Zuckerguss leuchtete. Ich kaute und fühlte mich leicht.