Deadly Game - Die Abrechnung - Michael Caine - E-Book

Deadly Game - Die Abrechnung E-Book

Michael Caine

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Beschreibung

Das sensationelle Thrillerdebüt von Filmlegende Michael Caine.

Auf einer Müllkippe in Ostlondon wird eine Metallkiste mit radioaktivem Material gefunden. Aber die sofort herbeigerufene Polizei kommt zu spät: Bevor die Beamten eintreffen, wird die Kiste bei einem brutalen Überfall geraubt. Neben den Geheimdiensten ermitteln auch DCI Harry Taylor und sein Team. Sie sind bekannt für ihr unorthodoxes Vorgehen – aber auch für ihre Erfolge. Bald kristallisieren sich während der Untersuchung zwei Verdächtige heraus: Beide werden des Waffenhandels im großen Stil verdächtigt, und eine Atombombe auf britischem Boden wäre sowohl für den einen als auch für den anderen ein überragender Coup. Für Taylor und sein Team beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit …


»Ein altmodisches Vergnügen, erzählt mit Caines typisch ironischem Humor.« Daily Mail

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Seitenzahl: 459

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Buch

Auf einer Müllkippe in Ostlondon wird eine Metallkiste mit radioaktivem Material gefunden. Aber die sofort herbeigerufene Polizei kommt zu spät: Bevor die Beamten eintreffen, wird die Kiste bei einem brutalen Überfall geraubt. Neben den Geheimdiensten ermitteln auch DCI Harry Taylor und sein Team. Sie sind bekannt für ihr unorthodoxes Vorgehen – aber auch für ihre Erfolge. Bald kristallisieren sich während der Untersuchung zwei Verdächtige heraus: Beide werden des Waffenhandels im großen Stil verdächtigt, und eine Atombombe auf britischem Boden wäre sowohl für den einen als auch für den anderen ein überragender Coup. Für Taylor und sein Team beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit …

Michael Caine

Deadly Game

Die Abrechnung

Thriller

Deutsch von Wolfgang Thon

Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel »Deadly Game« bei Mobius, London.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung des urheberrechtlich geschützten Inhalts dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright der Originalausgabe © Michael Caine 2023

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2024 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Anja Rüdiger

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de nach einer Originalvorlage von Hodder & Stoughton UK

Umschlagmotiv: © Shutterstock.com

HK · Herstellung: KH

Satz und E-Book Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-31977-9V001

www.limes-verlag.de

Für Shakira, Niki, Natasha, Taylor, Allegra und Miles.

1

Wenn sich Dave an den Moment zurückerinnerte, als er die Kiste zum ersten Mal gesehen hatte, hätte er geschworen, dass sie geleuchtet hatte. Aber er war sich nicht mehr sicher. Denn er war ehrlich gesagt etwas verwirrt, durch die Gehirnerschütterung und die allgemeine Aufregung, die seit Stunden um ihn herum herrschte. Und auch wegen seines nervlichen Zustands ganz allgemein. Jedenfalls sagte ihm seine Erinnerung, etliche Tage nachdem es passiert war, dass da eine Art schwaches Flimmern an den Rändern des schwarzen Metalls gewesen war.

Selbst jetzt, da er in einem klapprigen Krankenhausbett auf das Röntgenbild und die Ergebnisse der anderen Tests wartete, über die sich die Ärzte noch nicht ganz im Klaren waren, konnte er sich keinen Reim darauf machen. Das Ganze ergab nicht wirklich Sinn, vor allem nicht die Geschwindigkeit – und die Brutalität –, mit der alles passiert war. Eben hatte er noch telefoniert, und in der nächsten Minute war er von der Hälfte aller Uniformierten von London umgeben. Die Officers hatten ihn immer wieder gefragt, ob es ihm gut gehe und ob er ihnen bitte nur noch einmal beschreiben könne, was genau er gefunden habe und wie.

Dave sah auf den ausgefransten Kittel hinunter, in den man ihn gesteckt hatte: die übliche peinliche Krankenhausuniform; das triste Punktmuster war auf dem grauweißen Stoff kaum noch zu erkennen. In seinem Handrücken steckte eine Kanüle, und neben dem Bett hingen ein paar Infusionsbeutel an Ständern. »Nur so lange, bis Sie wieder auf den Beinen sind«, hatte ihm die Schwester versichert. Wo waren seine Kleidung und seine Stiefel? Sein Handy? Hatte man Jess benachrichtigt, wie er es verlangt hatte? Sie und die Kinder waren bestimmt schon krank vor Sorge. Aber jedes Mal, wenn er versuchte, eine Antwort zu bekommen oder sich aufzuraffen, legte sich wieder der dumpfe Schleier des klinischen Schocks um sein Bewusstsein. Mit Sicherheit wusste er nur, dass irgendjemand in seinem Schädel mit einem Bohrhammer zugange war – jedenfalls fühlte es sich so an – und dass das, worüber er und Terry an diesem Morgen gestolpert waren, irgendwie irgendjemandem irgendwo den Tag verdammt vermiesen würde.

*

Wie Dave schon all den Officers – erst Uniformierten, dann welchen in Schutzkleidung und schließlich den Anzugträgern – erzählt hatte, war es ein ganz gewöhnlicher Tag gewesen. Bis er aufgehört hatte, gewöhnlich zu sein.

Er war wie immer um acht Uhr bei ihrem Schuppen angekommen, hatte Tee aufgesetzt und auf Terry gewartet. Der tauchte immer pünktlich um zehn nach acht auf. In seiner Schutzweste, dem T-Shirt, der mit Farbe bespritzten Jeans und den abgelatschten Doc Martens sah Terry wie der Härtere von ihnen aus, obwohl Dave, wie sie beide wussten, der Stärkere war. Wenn es darum ging, einen Holzbalken oder ein Kopfteil von der Pritsche eines Lastwagens zu ziehen, übernahm immer Dave die Führung.

Der größte Teil ihrer Arbeit bestand im Herunterheben und Sortieren. Sie mussten das Zeug aus den offenen Lastwagen und Vans auf die Deponie hieven und dann alles mehr schlecht als recht auf den richtigen Haufen legen, bereit zum »Recycling«. So verlangten es die städtischen Vorschriften, obwohl Dave noch nie erlebt hatte, dass ihr halbherziges Aussieben und Sortieren einen Unterschied gemacht hätte. Die Haufen wurden größer, die Welt drehte sich weiter, und es änderte sich nicht viel.

Die Müllhalde lag fünf Gehminuten von der Stepney High Street entfernt und war auf drei Seiten von alten Lagerhäusern umgeben, von denen zurzeit zwei zu Büros umgebaut wurden. Die andere Seite, direkt an der Straße, war durch einen zwanzig Fuß hohen Maschendrahtzaun abgesperrt. Das Tor darin war groß genug, dass auch größere Fahrzeuge es passieren konnten, und es gab ein paar Überwachungskamera-Attrappen, um Landstreicher und Drogensüchtige abzuschrecken. Nur selten schaffte es jemand über den Zaun, und derjenige wurde dann meistens auf einem vergammelten Chesterfield-Sofa unter einer Plane schlafend aufgefunden. Aber die Chancen, dass jemand, der diese Art von Unterkunft dringend brauchte, den Zaun überhaupt überwinden konnte, standen ziemlich schlecht.

Terry hatte einmal eines der örtlichen Straßenmädchen und ihren Freier bewusstlos auf einer Matratze entdeckt, die auf einem der Müllhaufen gelegen hatte. Er hatte sich gefragt, ob er ihnen, wie es seine Aufgabe gewesen wäre, die Leviten lesen oder sie zu ihrer Sportlichkeit beglückwünschen sollte. Denn selbst wenn sie sich mit Ketamin oder Speed aufgeputscht hatten, war das eine ordentliche Klettertour. Also hatte er ihnen nur befohlen, die Kurve zu kratzen. Wie er später zu Dave gesagt hatte, hatte er selten jemanden schneller die Kurve kratzen sehen.

Häufiger jedoch fanden sie Gegenstände, die nachts über den Zaun geworfen worden waren. Illegale Müllentsorgung. Große Säcke mit Giftmüll, Kleinmöbel oder Haushaltsgegenstände. Vergammeltes Fleisch, Fisch, Obst und Gemüse, das von Markthändlern oder Restaurantangestellten auf dem Heimweg entsorgt wurde. An solchen Tagen brauchte man wirklich eine Gesichtsmaske. Manchmal waren die morgendlichen Funde auch einfach nur sonderbar: eine große Kiste mit Perücken – das war ein guter Fang gewesen – oder ein medizinisches Lehrskelett, das zusammengesunken am Tor gelehnt hatte, als Dave eingetroffen war.

Jedenfalls machte einer von ihnen immer als Erstes die Runde und hakte die einzelnen Punkte auf dem Klemmbrett ab. Das gehörte zur Routine und war in der Gemeindeordnung vorgeschrieben. Unter »Gesundheit und Sicherheit«, reglementiert wie fast alles andere, das ihren Tag bestimmte. Ein weiteres Kästchen, das es abzuhaken galt, bevor gegen neun Uhr am Morgen die planmäßigen Lieferungen aus dem ganzen Bezirk eintrudelten.

An jenem Morgen startete Dave den schnellen Rundgang über das Gelände, während Terry völlig gebannt einem Disput zwischen Laura Woods und Ally McCoist über die Spurs auf TalkSPORT lauschte. Als Dave aus dem Schuppen trat, staunte er, was da für ein schöner Morgen anbrach. Der Himmel war wolkenlos und strahlend blau, aber eine angenehme Brise strich kühl über seine Stirn, als er durch Schutt, Rost und Ruinen stapfte.

Neben dem Möbelhaufen lag ein Fußball. Das war nicht das erste Mal. Am Abend zuvor mussten ihn spielende Kinder auf der Straße versehentlich auf die Müllkippe gekickt haben. Er nahm Anlauf, zielte auf einen etwa zwanzig Meter entfernten beigefarbenen Ledersessel und erwischte den Ball genau mit der richtigen Stelle seines Stiefels. Tor! Er reckte jubelnd eine Faust hoch. Ein gutes Omen für den Tag, oder?

Vielleicht auch nicht. Neben dem Komposthaufen – einem Hügel aus Erde, verrottenden Pflanzen und Unkraut, der im Sommer zum Himmel stank – stand eine Metallbox. Das war definitiv ein Neuzugang und in mehrfacher Hinsicht eine seltsame Entdeckung.

Erst einmal war da die Größe, die der eines Koffers oder einer kleinen Umzugskiste entsprach, je nach Betrachtungsweise. Sie schien aus schwarzem Stahl oder etwas Ähnlichem zu sein und wirkte abgenutzt, als hätte sie bereits eine kleine Reise hinter sich. Jedenfalls sah sie schwer aus. Viel zu schwer, als dass jemand sie hätte über den Zaun und so weit auf das Gelände hätte werfen können. Also, folgerte Dave, hatte man sie aus einem bestimmten Grund dorthin gestellt. Was allerdings überhaupt keinen Sinn machte.

Zweitens entdeckte er, als er genauer hinsah, Reihen von Buchstaben, Zahlen und etwas, das er für irgendeine Art von codierten Symbolen hielt, die einen großen Teil des Metalls bedeckten. Jedenfalls gehörten die nicht zum lateinischen Alphabet. Die Kanten waren mit kreisförmigen Markierungen versehen, die irgendeine Art von Warnung zu sein schienen. Toxisch? Giftig? Aber all das passte nicht zusammen. Es gab schließlich spezielle Lagerstätten für solche Dinge, vorzugsweise sechshundert Fuß unter der Erde.

Und drittens war die Kiste komplett verschlossen, auch wenn Dave keine Verriegelung finden konnte. Er versuchte, sie auf die andere Seite zu wuchten, und war von ihrem Gewicht überrascht, als sie mit einem ominösen Knall auf den Boden krachte. Nein, es gab keinen Öffnungsmechanismus oder etwas Ähnliches. Weder an oder in den Griffen, noch, soweit er sehen konnte, an den Scharnieren. Was sich auch immer im Inneren befand – wenn überhaupt etwas drin war –, sollte wohl nicht so leicht zugänglich sein, gelinde gesagt. Dave fuhr mit dem Finger über das Durcheinander aus unentzifferbaren alphanumerischen Zeichen. Was konnten die bedeuten? Er hatte nicht die geringste verdammte Ahnung. Gar keine.

»Tel!«

Keine Antwort. Sein Kollege war wohl noch immer von der Diskussion im Radio gefesselt.

»Tel!« Diesmal rief er lauter, und endlich hörte ihn Terry und streckte den Kopf aus der Tür des Schuppens.

»Was?« Er klang verärgert, als hätte ihm jemand den Morgen versaut.

»Komm und sieh dir das an!« Dann setzte Dave etwas leiser hinzu: »Verdammt!«

Terry hatte es nie eilig, und er hatte nicht vor, an diesem Donnerstagmorgen mit dieser Lebensmaxime zu brechen. Er schlenderte auf Dave zu. »Was hast du gefunden? Einen Lottoschein?«

»Halt die Klappe, Tel. Hier, sieh dir das an.« Dave deutete auf die große schwarze Kiste.

Terry musterte sie flüchtig und kniete sich dann hin, um sie sich genauer anzusehen. »Verdammte Scheiße«, sagte er. »Was, zum Teufel, ist das?«

»Das frage ich mich auch, Muppet.«

Terry versuchte, die Kiste anzuheben, aber er schaffte es kaum, sie auch nur zu bewegen. »Mein Gott, ist das Ding schwer! Da ist garantiert etwas drin, das definitiv kein normaler Schrott ist.«

»Ganz genau«, sagte Dave. »Und wie ist die hierhin gekommen? Das wüsste ich gern.« Er rieb sich nervös die Hände, eine alte Gewohnheit. »Fast so, als wäre sie hier für jemanden abgestellt worden.« Er machte erneut eine Pause. »Das ist echt merkwürdig. Aber letztlich hat sie keiner abgeholt. Oder was meinst du?«

Terry ignorierte die Frage. »Diese ganzen Zahlen und das Zeug, das sieht aus … ich weiß auch nicht. Irgendwie sieht es offiziell aus. Als wäre es von der Regierung oder einer Firma oder so? Verdammt sonderbar.« Er stand auf. »So etwas hab ich in meinen drei Jahren hier noch nie gesehen. Du?«

Dave schüttelte den Kopf. »Nein. Und ich hab hier schon fast sechs Jahre abgerissen. Ich sag dir, das gefällt mir nicht, Tel. Lass uns anrufen.« Dave warf wieder einen Blick auf die Kiste. »Wenn ich mir das Ding so ansehe, sagt mir mein Gefühl, dass wir es zum Problem von jemand anderem machen sollten. So schnell wie möglich. Einverstanden?«

Terry nickte. »Du nimmst mir die Worte aus dem Mund, David, Sir.« Dann fuhr er fort: »Hast du dein Handy dabei? Meins ist am Arsch.«

»Es liegt zum Aufladen auf dem Schreibtisch«, antwortete Dave.

Sie marschierten nebeneinander zum Schuppen zurück, vereint in ihrer Entschlossenheit, dieses Ding so schnell wie möglich loszuwerden.

Im Schuppen zog Dave eine Schublade auf und schob Terry ein Formular rüber. »Füll das bitte aus. Das ist Standard, wenn wir eine andere Behörde als die Stadtverwaltung einbeziehen.«

Tel zuckte mit den Schultern. »Von mir aus. Himmel, noch mehr Papierkram.«

»Hallo? – Ja. Die Polizei. Danke.« Er wartete, bis er verbunden wurde. »Ja, hallo, ist da die Polizei? Hi, mein Name ist Drayton. David Drayton. Ich arbeite auf der Mülldeponie von Stepney. – Ja, das ist richtig. – Wie bitte? – D-R-A-Y-T-O-N. – Ja, unter dieser Nummer.« Er wartete wieder. »Mein Kollege und ich haben auf dem Gelände einen Gegenstand gefunden, der … nun ja, in keinem Inventar steht und für den keiner von uns zuständig ist. Auch nicht die örtliche Behörde. Ehrlich gesagt, uns bereitet das Objekt ein wenig Kopfzerbrechen. – Nein, keine Ahnung. Es sieht aus, als wäre es irgendwas … Wissenschaftliches oder was auch immer. – Wonach genau es aussieht? Na ja …«

Dave beschrieb die Kiste, so gut er konnte, und erklärte, warum sie ihnen beiden derart sonderbar vorkam. Einen Moment befürchtete er schon, dass dieses Gespräch in einer Sackgasse enden würde. »Warum ich mir Sorgen mache? Hören Sie, uns kommt hier alles Mögliche unter, glauben Sie mir, Kumpel. Aber das hier ist keine gewöhnliche Ostlondoner illegale Müllentsorgung, das sage ich Ihnen. Es ist … nun, das Ding sieht aus, als könnte es gefährlich sein, denke ich mal. – Was? – Nein. Nein, keiner von uns fühlt sich unwohl … Warten Sie kurz, ich frage meinen Kollegen. Tel?« Terry schüttelte stumm den Kopf. »Nein, dem geht’s auch gut. – Jep, putzmunter. Wir haben nur beide gedacht … Oh, toll, Sie schicken also einen Streifenwagen? Wann ist der ungefähr da? – Wann? – Wirklich? – Okay, je früher, desto besser. – Danke. Ich danke Ihnen vielmals. Auf Wiederhören.«

Terry sah ihn fragend an. Dave runzelte die Stirn. »Hat sich nicht angehört, als stünden wir ganz oben auf ihrer Prioritätenliste. Aber hier in der Gegend ist das wohl auch nicht anders zu erwarten, oder? Diebstahl, Drogen … Sie haben ganz sicher Wichtigeres zu tun. Wie auch immer, ich möchte dieses … Ding«, er deutete aus dem schmutzigen Fenster des Schuppens, »so schnell wie möglich loswerden. Wenn ich was in diesem Job gelernt habe, dann, dass man mit nichts zu tun haben will, was über der eigenen Gehaltsklasse liegt. Und was auch immer in dieser Kiste ist, gehört definitiv dazu.«

Terry warf einen Blick über die Schulter zur Müllhalde. »Ich sagte doch, das sieht nach der Regierung aus. Irgendwas Medizinisches. Wahrscheinlich ist in der Kiste irgendein grässliches neues Virus. Die doktern doch immer an neuen Viren rum, stimmt’s? In ihren Laboren. Und wir wissen nur zu gut, dass Unfälle passieren können. Verstehst du, Dave?«

Jetzt war Dave an der Reihe, auf cool zu machen. »Wovon redest du da? Viren? Mein Gott, die letzte Auffrischungsimpfung hat dir wohl ganz schön zugesetzt, was?«

»Ja, ist einfach, spöttisch zu sein, aber sieh dir doch an, was wir alle beim letzten Mal durchgemacht haben. Angeblich kam es von irgendeinem Markt oder einer Fledermaus oder so, aber es ist rein zufällig in der Stadt aufgetaucht, in der sie all diese geheimen Labore haben. Und das war letztlich noch harmlos, verglichen mit einigen der Horrorsachen …«

»He, du müsstest dich mal reden hören! Du findest eine dubiose Kiste auf einer Müllhalde in Stepney, und plötzlich siehst du einen biologischen Krieg vor dir? Pandemie: Season II. Du hast wirklich eine lebhafte Fantasie, Terence, mein Junge. Beruhigen wir uns wieder und warten, bis die Bullen kommen und alles wieder in Ordnung bringen, ja?«

Er merkte, dass Terry von der Verarschung leicht genervt war. »Trinken wir noch eine Tasse Tee und warten ab, okay?« Er stand auf und ging zur Spüle, um den Kessel aufzusetzen. »Dann können wir im Carpenters’ ein zeitiges flüssiges Mittagessen einnehmen und unseren aufregenden Morgen feiern. Ich geb einen aus.«

Bei dieser Aussicht wurde Terry munter. »Wär’ unhöflich, es auszuschlagen, nicht wahr?«

»Ganz genau.«

Sie saßen schweigend da, während das Wasser im Kessel siedete, und lauschten dem Verkehr, dem Geschrei der Kinder auf dem Schulweg und dem entfernten Wummern eines Soundsystems, das in einem der Geschäfte in den modischen Galerien ausgetestet wurde, die in den letzten Jahren ein paar Blocks weiter aus dem Boden geschossen waren.

Was als Nächstes geschah, entzog sich weitgehend Daves Erinnerung, als er jetzt in seinem Krankenhausbett lag und versuchte, es sich ins Gedächtnis zu rufen. Er wusste noch, dass sie geplaudert und an ihrem Tee genippt hatten. Und dann bewegte sich etwas in seinem peripheren Blickfeld, draußen, vor dem Schuppen. Ein Schemen, der schnell, entschlossen und unbarmherzig auf sie zukam. Als Nächstes wurde die Tür des Schuppens aufgerissen, und dann folgte ein heftiger, brutaler Tumult.

Dave erinnerte sich daran, dass eine Gestalt mit einer schwarzen Sturmhaube Terry einen harten Schlag auf den Kopf versetzt hatte, der seinen Protest im Keim erstickte und Terry augenblicklich zu Boden schickte. Dave konnte noch gerade »Was, zum Teufel …?« schreien, als sich ein Arm um seinen Hals legte und ein heftiger Schlag seine Schläfe traf. Das war sehr schmerzhaft, und er verlor völlig die Orientierung. Doch bevor er auch nur darüber nachdenken konnte, wie schmerzhaft und verwirrend das war, geschweige denn die Person, die dafür verantwortlich war, auffordern konnte, gefälligst damit aufzuhören, traf ihn ein weiterer Schwinger. Dann war alles schwarz.

2

Harry Taylor versuchte zum ersten Mal seit gefühlt sechs Wochen auszuschlafen. Nicht dass er das Gefühl hatte, er hätte es verdient.

Wenn er etwas hasste, dann unerledigte Angelegenheiten. Und die letzte Nacht gehörte definitiv in diese nervige Kategorie – um es milde auszudrücken. Sein schlimmes Bein schmerzte allein bei dem Gedanken.

Jedes Mal, wenn er die Augen schloss, hörte er das Pfeifen der Kugeln und das Zischen der Gasgranaten, die Schreie wütender oder verwundeter Männer und das Heulen eines davonrasenden Geländewagens. Das reine Chaos. Kurz gesagt, eine vermasselte Operation.

Seit fast einem Jahr waren er und sein Team hinter einem hochkarätigen Ziel her: dem Crick-Syndikat. Diese Londoner Ganoven betrieben in der dritten Generation ein lukratives Geschäft mit Schutzgelderpressung, Prostitution und Rauschgift in der Stadt. Zwei Brüder, Lionel und »Sweety« Ray, sowie ihre jüngere Schwester Bren hatten aus der altbackenen Cockney-Firma einen internationalen Konzern geschmiedet, der wahrscheinlich sogar börsentauglich war. Und trotz Gott weiß wie vielen Verhaftungen im Laufe der Jahre war nicht einer der drei auch nur angeklagt, geschweige denn verurteilt worden.

Sicher, einige ihrer Leutnants, die weit unten in der Nahrungskette standen, saßen im Gefängnis, ein paar von ihnen auch für längere Zeit. Aber nicht einer von ihnen hatte die Cricks verpfiffen. Sie wussten, was mit ihren Familien geschehen würde, wenn sie es täten. Mord, Körperverletzung, Menschenhandel, Unterschlagung, Einbruch, Betrug … Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Eine Organisation wie die der Cricks konnte es sich leisten, hin und wieder ein paar Unterbosse zu verlieren, solange die nicht sangen. Und das taten sie nie.

Was, so hatte Harry seinen Vorgesetzten beim New Scotland Yard immer wieder vorgebetet, verdammt schlecht war.

Seine Dienstzeit beim Militär hatte ihn gelehrt, dass man, um ein Ziel auszuschalten – eine Bande, ein Team von Attentätern, einen Schurkenstaat –, stets auf den Kopf zielen musste. Eine saubere Enthauptung. Eine Eliminierung der Führung, wo auch immer sie saß – und oft genug lauerte sie in den Schatten. Und das bedeutete in diesem Fall Lionel, Sweety, Bren und eine Handvoll hochkarätiger Mitglieder ihres inneren Kreises. Sie alle lebten jetzt in Monaco, obwohl sie oft in ihre Geburtsstadt zurückkehrten, um die Operationen der Organisation im Auge zu behalten. Solange die Oberbosse nicht eingesackt und dingfest gemacht waren, würde das Syndikat weiter florieren.

Die hohen Tiere hatten mit ihren politischen Vorgesetzten gesprochen und Harry schließlich grünes Licht gegeben. Der Crick-Tempel sollte mit allen zur Verfügung stehenden legalen Mitteln niedergerissen werden. »Misten Sie den Saustall aus, DCI Taylor«, befahl ihm ein Deputy Commissioner, der dabei nicht nur an die Schlagzeilen dachte, sondern auch an eine Position an der Spitze der Metropolitan Police, auf die er schielte.

Aber das war leichter gesagt als getan, versteht sich. Die Operation hatte endlose Monate Überwachung rund um die Uhr erfordert, sowohl in der realen als auch in der digitalen Welt, sowie stundenlanges mühsames Durchforsten von Dokumenten und Datenbanken. Natürlich war Harry froh, dass er all die Annehmlichkeiten nutzen konnte, die die Met zu bieten hatte. Er hatte schon immer gesagt, dass ein Laptop das Leben erleichterte, solange man nicht erwartete, dass er einen Psychopathen fesseln und ihm Handschellen anlegen würde.

Und ja, sie hatten jede Menge SIGINT – Signals Intelligence – verwendet, etliches davon aus Übersee. Sie waren froh über jede Hilfe, die die Spione ihnen leisteten. In einigen Fällen war das sogar recht beachtlich gewesen. Aber letztlich waren es die verdeckten Ermittlungen, die gute altmodische Polizeiarbeit, die Observationen und das Ausquetschen von Informanten – oder »überzeugende Konversationen«, wie Harry es in seinen Berichten an seine Vorgesetzten umschrieb –, die ihnen die benötigten Hinweise geliefert hatten. Es waren Polizisten, nicht Algorithmen, die ihnen die Chance verschafft hatten, wie die Falken auf die Spitze der Cricks hinabzustoßen.

Dabei waren drei Stränge zusammengelaufen. Der erste war der Hinweis, dass ein Hubschrauber und ein Privatjet sehr diskret und äußerst kurzfristig gechartert worden waren, um eine Anzahl »Furnival Commodities« von Monaco nach Nizza und dann weiter nach London City zu transportieren. Wie sich herausstellte, handelte es sich bei »Furnival« um eine Scheinfirma, die offiziell zwei Pariser Anwälten gehörte, in Wirklichkeit aber laut MI5 eine Strohfirma für Crick-Aktivitäten war.

Zweitens verfügte die National Crime Agency (NCA) über einigermaßen gesicherte Informationen, dass in London eine Art Auktion stattfinden würde, zu der angeblich Interessenten aus der Unterwelt, vielmehr deren vertrauenswürdigste Vertreter, in die Hauptstadt kommen wollten. Dort wollten sie das Los, worum auch immer es sich handelte, begutachten und darum bieten. Es gab keine weiteren Informationen darüber, was dieses »Los« war oder welche Player kommen würden. Aber das machte die vorgebliche Stippvisite der Cricks in der Stadt noch interessanter. Auf was waren sie scharf, und gegen wen boten sie?

Und drittens hatte ein korrupter Zollbeamter etwas von einer großen Ladung hochwertigen Heroins ausgeplaudert, die am nächsten Tag in einem Container nach Dover verschifft werden sollte. Er war für die Summe von 50 000 Pfund – zur Begleichung seiner Spielschulden – an dem Geschäft beteiligt. Dafür sollte er alles in seiner Macht Stehende tun, um die Ware von Bord des Schiffs und über die Zollgrenze zu bringen.

Das führte Harry und sein Team zum Kontaktmann des Zollbeamten, der unter dem Decknamen »Jericho« bekannt war. Es handelte sich um einen nicht ganz unbedeutenden Drogendealer, der in Folkestone untergetaucht war und auf Aufträge wartete. Er war außerdem ein gewalttätiger Zuhälter mit einem Vorstrafenregister so lang wie sein Arm. Vor allem aber war er ein Junkie, der angeblich zwei Jahre lang clean gewesen war, aber kürzlich einen Rückfall gehabt haben sollte und verzweifelt einen Schuss brauchte, als Harrys engste Mitarbeiter, DI John Williams und DS Iris Davies, ihn aufsuchten.

Endlich hatten sie eine Schwachstelle gefunden und wussten etwas, was die Cricks offensichtlich nicht wussten. Es gab einen Punkt, auf den sie Druck ausüben konnten.

Nach drei Jahren unter Harry – zunächst als Sergeant, dann als DI – schien sich John an das berüchtigte »Taylor-Temperament« und die Wutausbrüche gewöhnt zu haben, die durch alles ausgelöst wurden, was Taylors Ansicht nach schlampig, zweitklassig oder nachlässig war. Im Gegensatz zu dem, wie es auf Außenstehende wirkte, gehörte das zu Harrys Vorgehensweise, zu seiner Art, anstehende Aufgaben zu bewältigen und die Menschen, für die er verantwortlich war, zu führen. Johns Frau hatte im Jahr zuvor entschieden, dass das Leben mit einem wohlhabenden Wirtschaftsprüfer erfüllender sei als das mit einem zumeist abwesenden Polizisten, und die Kinder nach der Trennung mitgenommen. Harry hatte nichts weiter dazu gesagt, sondern seinem Detective Inspector aufmunternd auf die Schulter geklopft und ihn bei der Stange gehalten, indem er sich regelmäßig um John kümmerte und ihn mal zu einem Heimspiel an die Stamford Bridge oder zu Boxabenden in der York Hall in Bethnal Green mitnahm.

Wäre John jemals so dumm gewesen, seinem Chef »emotionale Intelligenz« zu unterstellen, wäre seine Belohnung eine dicke Lippe gewesen. Harry hasste Psychogeschwätz, Selbstgefälligkeit und – was für ihn am schlimmsten war – jede Erwähnung von »Wellness« fast so sehr, wie er Kriminelle verabscheute. Aber er hatte ein Herz – was man allerdings aufgrund seines üblichen Auftretens niemals vermutet hätte.

Harry hatte gewusst, dass John den Fall Crick gut überstehen würde, egal, wie anstrengend und nervenaufreibend er auch sein mochte. Für Detective Sergeant Iris Davies jedoch war es eine Prüfung ganz anderer Art.

Iris war zweiunddreißig – sechs oder sieben Jahre jünger als John – und gehörte erst seit einem Jahr zu Harrys Team. Sie war nach einem Erpressungsfall in den West Midlands zur Met befördert worden. Harry hielt viel von ihr und zweifelte keine Sekunde daran, dass sie eines Tages zur Deputy Commissioner aufsteigen würde – vielleicht sogar noch höher. Aber er hoffte, dass ihre Zeit hinterm Schreibtisch nicht zu früh beginnen würde, denn er war der festen Überzeugung, dass ihre Talente als Polizeibeamtin dort verschwendet wären.

Außerdem war sie eine ausgebildete Scharfschützin. Laut ihrer Ausbilder ein Naturtalent auf dem Schießplatz. Sie war in der Lage, sich zehn Stunden lang in einem Einsatznest voll und ganz zu konzentrieren, während sie auf das »Go« in ihrem Ohrhörer wartete, das womöglich gar nicht kommen würde. Welchen Nutzen hatte das alles in einem Seminar über bürgernahe Polizeiarbeit oder bei der Anhörung eines Ausschusses der London Assembly?

Trotzdem war sich Harry nicht sicher gewesen, ob sie für die letzten harten Monate der Crick-Operation bereit war.

Aber als es dann so weit war, hatte sie alle Erwartungen übertroffen, möglicherweise sogar ihre eigenen. Sie hatte nächtelange Observationen erledigt und hatte an schlaflosen Wochenenden mit den Finanzleuten über verschleierten Konten gebrütet. Während eines Verhörs hatte sie einem langjährigen Mitarbeiter von Crick eine verpasst, nachdem er sich über »afghanische Schlampen, die in Containern verrecken« ausgelassen hatte. Harry war überzeugt, dass sie das Zeug zu einer erstklassigen Polizistin hatte – auf der Straße ebenso wie im Konferenzraum oder vor einer Reihe von Computerbildschirmen. Sie war, wenn er ehrlich war, schon etwas Besonderes. Und obwohl er es sich selbst kaum eingestehen mochte, genoss er ihre Gesellschaft mehr und mehr.

Wie sich herausstellte, brach Jericho in weniger als einer halben Stunde ein. Das war, wie John damals bemerkte, wahrscheinlich sogar für Harry ein Rekord. Unter einer nackten Glühbirne in seinem eigenen Keller, schwitzend und zitternd vom Drogenentzug, hatte Jericho ihnen alles gesagt, was sie wissen mussten.

Ja, die Crick-Geschwister waren auf dem Weg nach London. Er wusste allerdings nicht, welche von ihnen. Ja, ihre beiden Topleute – Barry Sayles und »Long« Charlie Watkins – würden sich auf den Weg nach Folkestone machen, um die Lieferung zu checken und, sofern sie in Ordnung war, die Überweisung von mehreren Millionen Pfund an den Verkäufer der Ware zu genehmigen.

Harry stand auf und streckte sich. Es fiel ihm erfreulich leicht, seine Zehen mit den Fingerspitzen zu berühren, und er musterte seinen Körper im Spiegel neben dem Bett. Alles in allem gar nicht so schlecht, wenn man es recht bedachte. Ein bisschen grün um die Nase, von Narben übersät, die ein ganzes Buch von Geschichten erzählten, aber insgesamt noch in anständiger Verfassung. Vor allem, wenn er überlegte, was in der Nacht zuvor geschehen war.

Einen Monat zuvor war er fünfundvierzig geworden, und obwohl er es niemandem gegenüber zugab, spürte er allmählich das Alter. Noch ließ sein Tempo nicht wirklich nach, aber er spürte, dass es bald so weit sein würde. Er brauchte stets ein bisschen länger, um über die Wehwehchen und Schmerzen von der Arbeit hinwegzukommen.

Trotzdem kam er mit drei oder vier Stunden Schlaf pro Nacht aus, genau wie damals, wenn er während eines Einsatzes in Helmand ein Nickerchen hatte machen dürfen. Allerdings hatte er in Afghanistan nie richtig geschlafen. Nicht wirklich fest. Wenn man wusste, was gut für einen war, hielt man immer mit einem offenen Auge Ausschau nach den Klingen der Taliban, die meistens nachts aufblitzten.

Gegen diese Bande konnte man sich keine Fehler leisten. Und ebenso wenig konnte man das, wenn der Gegner so geübt und brutal war wie die Cricks.

Und genau das brachte ihn zum Grübeln. Waren die Fehler der vergangenen Nacht seine Schuld?

Harry hatte gedacht, er hätte die Sache durchschaut. Von seinem provisorischen Kommandoposten im Shorncliffe Army Camp aus hatte er live mitverfolgt, wie die Bombardier Challenger 350 auf dem City Airport landete und – Volltreffer – sämtliche Geschwister Crick, Sayles, Watkins und drei Schläger ausstiegen. Sie teilten sich in drei Gruppen auf und wurden genau um 01:10 Uhr in schwarzen Bentley Bentaygas abtransportiert.

»Alle Fahrzeuge werden überwacht, Sir«, wurde Harry über Ohrhörer gemeldet.

»In Ordnung, Dasher«, sagte Harry. »Folgt den dreien und meldet alles Interessante über Funk. Haltet euch zurück, aber verliert sie nicht!« Bill »Dasher« Brown war der Chef der Überwachung bei Scotland Yard und kannte Harry schon seit Jahren. Es war gut, ihn in ihrem Team zu haben, vor allem in dieser Nacht.

John sah vom Laptop auf. »Die Hubschrauber sollen sich fernhalten, Harry. Wir haben acht Fahrzeuge da unten. Wenn die Cricks merken, dass sie beschattet werden …«

»Mach dir keine Sorgen«, entgegnete Harry. »Dasher lässt uns schon nicht hängen.«

»Alpha-Team«, meldete sich die Stimme in seinem Ohr.

»Was gibt’s Neues?«

»Sieht so aus, als seien die Fahrzeuge eins und zwei unterwegs zum Embankment.«

»Das ist naheliegend«, antwortete Harry. »Die Cricks haben ein Penthouse in der Nähe von Lambeth Palace. Wahrscheinlich ist das ihre erste Station diese Nacht. Vielleicht frischen sie da ihr Haarspray auf.«

»Wir behalten sie den ganzen Weg über im Auge. Fahrzeug drei fährt in Richtung Osten. In Ihre Richtung.«

»Das dürften Sayles und Watkins sein. Verstanden, Dasher.«

Harry wandte sich an Iris. »Gibt’s was Neues von den Hackern?«

Sie überprüfte ihren Bildschirm. Die Hacker waren eine sonderbare Gruppe von pickeligen Kids in den Zwanzigern, die in einem muffigen Raum im dritten Stock des Thames House, dem Sitz des MI5, hockten und dort versuchten, sich in jedes System zu hacken, das man ihnen vorgab. Genau genommen in so ziemlich alles. Angefangen von einer Bank in Moskau bis zu einem TikTok-Konto in Cardiff. In diesem speziellen Fall waren es die GPS-Systeme von drei Luxus-SUVs.

»Noch nicht«, sagte sie. »Oh, doch, warte. Fahrzeug drei. Unsere Teenie-Genies haben gerade die Koordinaten abgefangen. Wo wollen diese Bastarde hin? Eine Sekunde, Boss … Ah, da haben wir es. East Cliff und Warren Country Park. Auch sehr schön.«

Sie zeigte Harry Bilder von dem Ort. Idyllische Wälder, Feldwege und Picknickplätze für Familienausflüge.

»Jede Menge Deckung«, sagte er. »Sehr passend für diese Art von Verabredung.«

»Nur zehn Minuten von hier entfernt«, fügte sie hinzu.

»John, du bleibst am Funk«, sagte Harry. »Iris und ich fahren dorthin. Besorg uns schnellstens Verstärkung, okay? Wir brauchen volle taktische Unterstützung, wie erwartet. Das könnte ziemlich heikel werden. Ich glaube nicht, dass dieser Haufen wegen ein paar harscher Worte aufgibt.«

Harry und Iris trugen bereits Schutzwesten. Sie war mit einer Heckler & Koch G36 bewaffnet, in seinem Holster steckte eine Glock. Es bestand durchaus die Möglichkeit, dass sie beides brauchen würden. Sayles und Watkins würden nicht kampflos aufgeben, und was die Leute betraf, mit denen sie sich treffen wollten – nun, das war eine bekannte Unbekannte, aber auf jeden Fall eine verdammt gefährliche.

»Gibt es Neuigkeiten von der Auktion, John?«, fragte Harry.

»Alles ruhig. Könnte ein Blindgänger sein. Ich meine, was heißt schon ›Auktion‹? Das hier ist ja wohl was anderes als Sotheby’s.«

»Das werden wir sehen. Bleib dran und halt uns auf dem Laufenden, über alles – egal, was. Das ist unsere Nacht, John. Wir bringen diese Drecksäcke endlich zu Fall. Okay?«

»Verstanden«, sagte John und wandte sich wieder den Bildschirmen zu, auf denen die Symbole der drei Bentleys und eine Reihe von Orten eingeblendet waren.

Zwei Posten des Gurkha Second Bataillon hatten draußen Wache gehalten, stumm und unerschütterlich. Harry und Iris waren in ihren nicht gekennzeichneten Police Range Rover gestiegen und losgefahren. Erst am Kontrollpunkt am Ausgang wurden sie langsamer. Dort hielten Schutzplanken und mehrere Tore die bedrohliche Außenwelt auf Abstand. Gurkhas, das wusste Harry, überließen nichts dem Zufall.

»Der Treffpunkt ist ein kleiner Rastplatz mit einem Unterstand und einem Schotterparkplatz. Sieht aus, als würde der Unterstand tagsüber auch als Café genutzt«, meldete John über Funk. »Crick-Fahrzeug drei ist noch fünfundzwanzig bis dreißig Minuten entfernt.«

»Ist in der Nähe etwas los?«, wollte Harry wissen.

»Noch nichts. Dasher lässt eine Einheit in der Nachbarschaft patrouillieren. Die fahren kurz vorbei und schicken Bilder. Laut Cheltenham-Satelliten gibt es aber nichts zu berichten.«

»Verstanden.«

Der Park lag tatsächlich nur zehn Minuten vom Camp entfernt. Sie ließen den Range Rover abseits der Straße stehen, in der Nähe eines großen viktorianischen Gebäudes, das wie ein Forschungszentrum oder eine kleine Firmenniederlassung aussah. Harry und Iris gingen die letzten hundert Meter mit ausgeschalteten Taschenlampen und hielten sich an der Baumgrenze auf der anderen Seite der Straße.

»Taktisches Vorgehen vor Ort«, sagte John über Funk. »Drei Einheiten sind weniger als eine Minute vom Ort des Geschehens entfernt, die vierte Einheit zwei Minuten. Es gibt mehr, wenn Sie sie brauchen.«

»Verstanden.«

Harry und Iris stießen auf den Unterstand. Der hatte an einer Seite eine Mauer aus Backstein, hinter der sie in Deckung gingen.

»Na, hallo«, meldete John. »Da kommt eine ganze verdammte Autokolonne von Osten auf euch zu.«

»Aus Dover? Woher?«, fragte Harry. »Kannst du ihre Strecke anhand der Verkehrsüberwachungskameras zurückverfolgen?«

»Bin schon dabei. Ich lass die Nummernschilder durchlaufen … Nein, die kamen von einer Landzunge, nicht von einem Hafen. Es scheint, als hätten sie ihre Reise etwa acht Meilen westlich von Dover begonnen. Das sagt natürlich nichts darüber, wo das Paket ursprünglich angekommen ist.«

»Verschieb das auf später, John. Konzentrier dich auf das Treffen und darauf, wer sich uns da nähert.«

»Crick-Fahrzeug drei ist nur noch ein Viertelklick von euch entfernt.«

»Bereithalten!«, befahl Harry. »Alle Einheiten in Bereitschaft. Warten Sie auf mein Kommando.«

Iris und er hockten hinter der Mauer, und Harrys Puls pochte in seinen Schläfen. Das war es, nach all diesen Jahren. Die Chance, eine der letzten großen Londoner Gangs auszuschalten und die Stadt – und das ganze Land – ein bisschen sicherer zu machen. Aber er durfte sich von diesem Traum nicht ablenken lassen. In diesem Moment musste Harry cooler bleiben als der Arsch von Olaf, dem Schneemann.

Es war zwei Uhr nachts. Der Rastplatz wurde plötzlich in Licht getaucht, als drei identische schwarze BMW XSUVs in die Schotter-Parkbucht einbogen. Bevor Harry und Iris die Nummernschilder überprüfen konnten, kehrte die Dunkelheit zurück – und die folgende Stille war ohrenbetäubend.

Iris klappte das Nachtsichtgerät ihres Einsatzhelms nach unten. »Ich kann zwei Nummernschilder erkennen, glaube ich … Ja, UK, 2022 reg. Ich schicke es an John.«

»Crick-Fahrzeug drei nähert sich«, meldete John in ihren Ohrhörern.

»Verstanden«, sagte Harry. »Alle Einheiten warten auf mein Zeichen.«

Der Bentley schnurrte auf die Waldlichtung und durchquerte ihr Blickfeld. Eine gefühlte Ewigkeit – bei der es sich nur um knapp eine Minute handelte – rührten sich die Insassen der vier Fahrzeuge nicht.

Dann, als ob sie die Spannung nicht länger ertragen könnten, stiegen Fahrer und Beifahrer des ersten BMW aus und gingen auf den Unterstand zu. Sie waren groß und dunkelhaarig, trugen Lederjacken und Jeans und waren jünger, als Harry erwartet hatte. Sie wirkten eher wie vertrauenswürdige Mittelsmänner als Unterbosse oder Consiglieri.

Daraufhin stiegen auch alle vier Passagiere aus dem Bentley aus.

Harry erkannte Long Charlie Watkins sofort an seiner massigen Silhouette. Er trug Anzug und Stiefel wie üblich und hatte es mittlerweile zu einigem Wohlstand gebracht. Aber er war sich immer noch nicht zu schade, sich ein paar Fingernägel auszureißen, wenn der Job es verlangte.

»Ich habe Watkins im Blick«, sagte Harry. »Und – verflucht – da ist ja auch seine bessere Hälfte, Barry Sayles. Sieh an, sieh an. Was für eine Augenweide.«

Sayles war drahtig, durchtrieben, nervös. Kleiner als Watkins, aber nicht weniger tödlich. Seine Spezialität waren früher Elektroden gewesen. Der Legende nach spielte er immer Charlie Parker in voller Lautstärke, um die Schreie seiner Opfer zu übertönen.

Die beiden Parteien gingen aufeinander zu und begrüßten sich kurz. Immerhin ging es ums Geschäft, nicht darum, Höflichkeiten auszutauschen. Ihrer Körpersprache nach gefiel es Long Charlie und Barry überhaupt nicht, im Rampenlicht der Öffentlichkeit zu stehen. Sie wollten tun, was nötig war, und so schnell wie möglich wieder verschwinden. Doch allein ihre Anwesenheit zeigte, wie wichtig dieses Treffen war.

Sayles und Watkins folgten den beiden geheimnisvollen Männern zum ersten BMW und warteten, während die anderen den Kofferraum öffneten. Charlie hob einen behandschuhten Finger und winkte einen seiner Leibwächter zu sich, der die Kapuze seines Hoodies aufgesetzt hatte.

Nach einer kurzen Pause nahm der Kapuzenmann etwas in die Hand und ging zum Bentley zurück.

»Er überprüft die Ware«, sagte Harry. »Das wird bestimmt lustig.«

»Woher weißt du das?«, erkundigte sich Iris.

»Ich weiß es nicht. Nicht sicher jedenfalls. Aber ich wette darauf, dass ich recht habe.« Er atmete tief durch. »Okay. Auf mein Zeichen. Wenn ich grünes Licht gebe, rücken alle Einheiten vor. Verhaftet alle Anwesenden. Und geht davon aus, dass die Verdächtigen alle bewaffnet sind. Also extreme Vorsicht.«

Nachdem er seine wie auch immer geartete Aufgabe erfüllt hatte, stieg der Crick-Hoodie aus dem Bentley und zeigte Sayles und Watkins den erhobenen Daumen.

Das war es.

»Alle Einheiten – go!«, befahl Harry.

Die paar Minuten, die auf diesen entscheidenden Moment folgten, verschwammen bereits in Harrys Erinnerung, als er am nächsten Morgen auf der Bettkante saß. Der Rastplatz wurde von dem taktischen Team plötzlich in grelles Licht getaucht. Eine mit Megafon verkündete Warnung befahl den Ganoven, sich hinzulegen und darauf zu warten, dass man ihnen Handschellen anlegte. Augenblicklich fielen Schüsse, zuerst aus Richtung der BMWs, dann von den Crick-Handlangern.

Iris schaltete die beiden in den ersten dreißig Sekunden aus. Von Kugeln durchlöchert, fielen sie um wie verrenkte Schaufensterpuppen.

Sayles wollte weglaufen, aber Harry schoss ihm ins Bein und verließ seine Position, um ihn sich zu schnappen und in ihre Deckung zu schleifen. Was, wie er wusste, höchst leichtsinnig war. Nein, dachte er, du bist eine kleine Ratte, die von nun an definitiv in einem Käfig leben wird.

Er hörte den unverkennbaren Knall einer Rauchgranate, die von Gott weiß woher geworfen worden war. »Rauchgranaten!«, rief er Iris zu. Sie setzte ihre Maske auf. Sayles begann zu husten. »Und du hältst gefälligst die Klappe!«, brüllte Harry ihn an.

Auf dem Rastplatz, der nur wenige Sekunden zuvor noch so ruhig gewesen war, herrschte reines Chaos, und die Kommunikationskanäle wurden mit zum Teil widersprüchlichen Meldungen überflutet. Harry spürte, wie die Kugeln durch die Luft pfiffen. So hatte er sich das nicht vorgestellt. Nicht mal annähernd.

»Ich habe Sayles!«, rief Harry. »Alle Einheiten Statusmeldung!«

»Einheit Bravo. Wir haben einen Officer verloren. Zwei von den anderen sind auch tot, glaube ich. Sie wollen mit ihren SUVs abhauen.«

»Ich zähle vier in den Fahrzeugen, und Watkins ist verschwunden.«

»Einheit Charlie nimmt die Verfolgung auf!«, befahl Harry. »John, besorgen Sie mehr Verstärkung, sofort!«

Mit aufheulenden Motoren rasten drei BMWs in die Nacht hinaus und wirbelten Schotter auf. Schwaden hingen in der Luft, und es dauerte einige Minuten, bis sich Rauch und Staub so weit gelichtet hatten, dass man die Folgen des Kampfes sehen konnte.

Zwei von der BMW-Truppe waren tatsächlich tot. Harry fluchte, als eine weitere Leiche am Tatort entdeckt wurde. Watkins. Er war offenbar aus nächster Nähe erschossen worden, was darauf schließen ließ, dass seine neuen Geschäftspartner ein doppeltes Spiel vermutet hatten.

Zu Harrys Ärger schüttelten die BMWs ihre Verfolger nach etwa vier Meilen ab. Die Fahrzeuge tauchten am nächsten Morgen auf dem Parkplatz eines Elektronikgroßhandels in Folkestone wieder auf und wurden vom SCD4, dem forensischen Team der Met, abgeschleppt. Harry bezweifelte, dass sie viel finden würden. Vielleicht etwas DNA, aber auch die würde dann wahrscheinlich zu nichts führen. Berufskriminelle waren heutzutage sehr vorsichtig; nur von einem relativ kleinen Prozentsatz von ihnen war die DNA in der entsprechenden Datenbank gespeichert.

Sicher, sie hatten Sayles. Dank der beeindruckend reinen Heroinprobe, die sich noch immer im Blutkreislauf der Leiche seines nicht identifizierten Komplizen befand – ausreichend Beweis dafür, dass es sich um ein großes Drogengeschäft handelte –, würde er für lange Zeit einfahren. Aber er würde trotzdem nicht reden. Er hatte zwei Töchter, von denen eine ein angesagtes Blumengeschäft in Chelsea führte, während die andere an der St. Andrews Englisch studierte. Wenn er auch nur ein Wort über die Cricks sagte, waren beide Mädchen innerhalb von vierundzwanzig Stunden tot. Die Zusicherungen der Vernehmungsbeamten, sie würden die Mädchen schützen, beeindruckten ihn nicht im Geringsten. Obwohl er noch nicht mal angeklagt war, sagte seine Haltung bereits mehr als deutlich, dass ihm klar war, dass er im Gefängnis sterben würde.

Und die drei Crick-Geschwister? Die waren tatsächlich in ihrem Penthouse im Embankment und waren genervt, zu so später Stunde Besuch von den Detectives zu bekommen. Obwohl sie um drei Uhr morgens noch wach waren und seltsamerweise mitten in der Nacht Besuch von zwei ihrer Anwälte hatten.

Lionel, Sweety und Bren leugneten bei der Befragung jegliche Kenntnis von dem Geschäft in Folkestone. Sicher, sie hatten den verstorbenen Mr. Watkins und den unglücklichen Mr. Sayles als Mitglieder ihres Sicherheitsteams beschäftigt, aber sie waren, wie sie übereinstimmend zu Protokoll gaben, geradezu schockiert, dass die beiden mit Rauschgifthändlern zu tun gehabt haben sollten. Das konnten sie natürlich nur schwer glauben, und allein der Gedanke sei für sie entsetzlich.

Sie selbst waren nur in London, um einige Immobilien zu begutachten, die sie in ihr Familienportfolio aufnehmen wollten. Das erklärte auch, so sagten sie, die Anwesenheit ihrer Anwälte. Sie hatten lange gearbeitet und waren für ein Dinner und ein Gläschen Champagner geblieben. Außerdem wollten die drei am nächsten Tag an der Geburtstagsfeier einer Nichte in Chiswick teilnehmen. Mit Festzelt und allem Drum und Dran.

Eine »Auktion«? Aber nein, auch davon wussten sie nichts. Eine Auktion von was genau? Sicher, es stimmte, dass sie ihre Fühler in den Kunstmarkt ausgestreckt hatten, aber ihre Aktivitäten wurden von einem erfahrenen Agenten orchestriert, der den Großteil seiner Geschäfte in Paris abwickelte.

Die Maske verrutschte nur einmal, ganz am Ende der Befragung. Die beiden Detectives, die von Bren zur Tür begleitet wurden, wünschten ihnen zähneknirschend eine gute Nacht. Da knurrte Lionel: »Warum verpisst ihr euch nicht einfach aus unserem Haus, ihr dreckigen Scheißbullen?«

Zu diesem Zeitpunkt war Harry bereits zu Hause und versuchte, vor der Nachbesprechung am nächsten Morgen noch etwas Schlaf zu bekommen. Er wusste, dass der Yard die ganze Sache als Triumph darstellen würde: die Verhaftung eines hochrangigen Gangsters, dem nun eine mehrfache lebenslange Haftstrafe drohte. Den Tod des legendären Ganoven Long Charlie Watkins durch eine Kugel, der sich ideal für reißerische Artikel in den Boulevardzeitungen eignete, sowie den von zwei noch nicht identifizierten kriminellen Komplizen, vermutlich Albaner. Und um der Geschichte emotionale Tiefe zu verleihen, den Tod eines mutigen Officers im Dienst. Der Mann wurde als der fünfundzwanzigjährige Constable Jai Bahri identifiziert.

Als Harry am nächsten Morgen auf seinem Bett saß, sah er nur Misserfolge. Watkins’ Tod brachte ihnen gar nichts. Alle drei Cricks waren immer noch auf freiem Fuß, und es war unwahrscheinlich, dass sie in nächster Zeit noch mal ihren Kopf aus der Deckung nehmen würden. Und ein junger Polizist war bei einem chaotischen Feuergefecht ums Leben gekommen. Sicher, Sayles würde seine Zeit absitzen – Gott, lass ihn verrotten! –, aber es war nicht die Nacht gewesen, die sich Harry erhofft hatte. Der Saustall war nicht ausgemistet worden.

Es war nur ein verdammtes Chaos gewesen, und das war seine Schuld.

Um zehn Uhr morgens klingelte sein Telefon, und er erkannte die Stimme am anderen Ende der Leitung sofort.

»Alles klar, Dornröschen?«, begrüßte ihn DCS Bill Robinson. »Sie dachten wohl, Sie könnten es sich heute gemütlich machen, was?«

»Daran habe ich tatsächlich gedacht, Chief, ja«, murmelte Harry.

»Vergessen Sie’s! Und schaffen Sie Ihren Arsch ins Büro!« Er wollte schon auflegen, als er noch hinzufügte: »Ach, und, Harry?«

»Ja?«

»Es wäre vielleicht eine gute Idee, auf dem Weg hierher mal die Nachrichten zu checken.«

3

Die meisten von Harrys Kollegen konnten nicht glauben, dass er immer noch einen XJS fuhr. Jaguar hatte die Produktion dieser schönen Biester 1996 eingestellt, und sie schluckten etwa einen Liter Benzin pro Kilometer. Sie waren auch nicht gerade die praktischsten Einsatzfahrzeuge für die Polizeiarbeit – versuchen Sie mal, einen eins fünfundneunzig großen Koksdealer in ein Coupé zu quetschen. Das bedeutete, Harry musste oft einen Wagen aus dem Fuhrpark der Metropolitan Police benutzen, wenn er im Dienst war. Und was die jüngeren Mitarbeiter betraf, kam der Besitz eines solchen Autos der Aussage »Der Klimawandel geht mir am Arsch vorbei« ziemlich nahe. So was war wohl nur noch mit einem Aufkleber Mein Auto fährt auch ohne Wald auf der Stoßstange zu toppen.

Harry hatte nichts gegen Bäume, aber er liebte nun mal Oldtimer, und er wollte verdammt sein, wenn er sich von jemandem vorschreiben ließ, was er fahren durfte und was nicht.

Allerdings bereitete er sich auf das schmerzhaft Unvermeidliche vor, den Zeitpunkt, an dem die neuen Gesetze griffen, welche Autos man auf der Straße benutzen durfte und welche nicht, und er sich dann irgendwann selbst verhaften musste. Bis dahin war der XJS einer der wenigen eindeutigen Luxusgüter, die er sich gönnte.

Außerdem war er eine gute Tarnung. Polizisten in den 2020ern sollten keine schnittigen Protzkarren fahren. Sie sollten überhaupt nicht viel tun, wenn er darüber nachdachte. Dafür durften sie sich an eine Reihe von Regeln halten, die sie von Jahr zu Jahr mehr einschränkten. Das ständige Tragen von Bodycams, das Gleichstellungsgesetz büffeln, zweimal nachdenken, bevor sie etwas sagen, damit sich ja kein Verdächtiger über »Diskriminierung« beschweren konnte. Bei all diesem neuen Kram und angesichts all der Vorschriften waren sie kaum noch echte Polizisten, sondern halb Roboter, halb Bürokraten – zumindest in Harrys Augen.

Nicht dass er sich für einen dieser Dinosaurier hielt. Er hasste prügelnde Polizisten und das rassistische und sexistische Gerede in der Kantine. Aber er hasste es auch, von Leuten wie ein Kind behandelt zu werden, die nie gespürt hatten, wie eine Kugel einen halben Zentimeter an ihrem Ohr vorbeistreifte, oder noch nie vor Mörserbeschuss in Deckung hatten gehen müssen – so wie er zehn Stunden lang in Tora Bora; zwei seiner Kameraden waren an diesem Tag gefallen.

Harry hasste auch den Ausdruck »Bulle der alten Schule« – vor allem, wenn er auf ihn angewandt wurde, was bei der Met oft passierte. Und nein, er hielt Polizeibeamte nicht für Sozialarbeiter oder Kommunalpolitiker. Ihr Job war die Strafverfolgung, schlicht und einfach. Sie waren keine Therapeuten.

Trotzdem: Er war nicht Dixon von Dock Green, um Himmels willen. Oder John Thaw in The Sweeney. Harry war in den Achtzigerjahren aufgewachsen und wusste alles über soziale Unruhen und darüber, wie es war, wenn arme, machtlose Menschen von den Behörden mies behandelt wurden. Es war abscheulich. Er war erst drei Jahre alt gewesen, als seine Nachbarschaft 1981 durch das Feuer in New Cross traumatisiert worden war. Damals waren dreizehn junge Schwarze ums Leben gekommen – und niemand war angeklagt, geschweige denn verfolgt worden. Er hatte das British Movement marschieren sehen, und ihm hatte sich angesichts des Hasses, den diese Neonazis verbreiteten, der Magen umgedreht.

Mehr als viele Menschen aus der Mittelschicht, die zur Met kamen, um Kurse über diesen »Ismus« oder jene »Voreingenommenheit« zu halten, hatte er die hässliche Seite des Lebens aus nächster Nähe kennengelernt und nur Verachtung für diejenigen übrig, die die Flammen der Bigotterie schürten. Er brauchte keinen speziellen Kurs, um sich anzueignen, was er bereits aus erster Hand erfahren hatte.

Tatsächlich war er nur durch Zufall in den Polizeidienst geraten. Als er nach der Schule zur Armee gegangen war, hatte man nach vier Jahren bei den Irish Guards sein Talent entdeckt und ihn ermutigt, sich beim SAS zu bewerben. Das beinhaltete einen Test von Ausdauer und Durchhaltevermögen, wie er ihn noch nie zuvor erlebt hatte. Und den er, nachdem er ihn bestanden hatte, nie wieder auf sich nehmen wollte.

Das war natürlich Zufall gewesen. Das Leben mit einem braunen Barett in Hereford war eine Kombination aus ängstlichem Warten und plötzlicher unglaublicher Aktivitäten – von denen die meisten nie an die Öffentlichkeit gelangten, geschweige denn, dass sie es in die Zeitungen oder ins Fernsehen schafften. In Helmand und Kolumbien, Georgien und Myanmar hatte er der Queen und seinem Land in Operationen gedient, die von Exfiltration – wie hatte es dieser dumme Diplomat geschafft, sich im Dschungel entführen zu lassen? – bis hin zu Blitzangriffen auf Terroristenlager reichten. Er und seine Kameraden hatten gewusst, dass die Informationen von Leuten beschafft worden waren, die dabei ihr Leben riskiert hatten, und dass sie nur wenige Stunden lang verwertbar waren. Er hatte viele Wunden provisorisch versorgt, bei der Rettung von Zivilisten aus Katastrophengebieten geholfen und viel zu viele seiner Kameraden im Einsatz sterben sehen – ja, Harry Taylor hatte die Welt gesehen, schon klar.

Und dann, an einem glühend heißen Tag in Camp Bastion, als die Sonne schon unterging, aber immer noch Hitze verbreitete, erwischte ihn einer seiner besten Kumpel, Sergeant Jim »Jawbone« Jackson, ziemlich heftig am rechten Knie. Und das bei einem Fußballspiel fünf gegen fünf, verdammt. Jawbone hatte gelacht, als sich Harry, brüllend wie am Spieß, am Boden gewunden hatte. Aber dann war er ziemlich schnell still geworden, als ihm klar wurde, dass sein Freund nicht mehr stehen konnte – und dass, wie der Sanitäter noch vor Ort gewarnt hatte, der Schaden am Knie Harry für »eine ganze Weile« außer Gefecht setzen würde.

Zwei Operationen später – eine davon in einem Spezialkrankenhaus in London – war aus »einer ganzen Weile« »auf unbestimmte Zeit« geworden. Obwohl das Knie gut verheilte, denn er war noch ein junger Mann, konnte es jederzeit nachgeben. Er wusste, dass das Regiment ein solches Risiko niemals eingehen würde. Und er selbst auch nicht, um fair zu sein.

Und so stand Harry vor einer schwierigen Entscheidung, einer der Entscheidungen, die zu dem Leben gehörten, das er gewählt hatte. Was waren seine Optionen? Welche Zukunft hatte Harry Taylor, während er unter dem Gipsverband seines Beins herumstocherte, auf den seine Kumpels Obszönitäten und »Gute Besserung, du Arschloch« gekritzelt hatten? Er würde niemals mehr für einen Truppeneinsatz tauglich befunden werden, so viel war klar. Er konnte Soldat bleiben, aber dann musste er zu seinem ursprünglichen Regiment zurückkehren und einen Schreibtischjob annehmen, ohne Aussicht, je wieder im Feld eingesetzt zu werden. Er konnte auch die Armee verlassen und sehen, was das Zivilleben einem Mann zu bieten hatte, der – im wahrsten Sinne des Wortes – mit einem Tritt aus den Special Forces hinausbefördert worden war. Wie er bei seiner Verabschiedung in Bastion sagte: »Es war ein Zweikampf, der mich erwischt hat, nicht die Taliban.«

Und das war’s dann. Er ließ das Militär hinter sich und fragte sich nach seiner Genesung, was er mit dem Rest seines Lebens anfangen sollte. Er erlangte seine alte Fitness zurück und lief innerhalb von sechs Monaten nach seiner Rückkehr nach Großbritannien wieder Halbmarathons. Was hatte er nach seinen dreißig Jahren auf der Erde vorzuweisen? Ein paar Medaillen. Einige streng geheime Erinnerungen. Und ein bisschen Geld, das er für eine Anzahlung auf eine Wohnung zurückgelegt hatte. Man gibt nicht viel von seinem Sold aus, während man in der Wüste Kugeln ausweicht.

Aber er hatte weder Frau noch Kinder, und es waren auch keine in Sicht. Von Zeit zu Zeit traten Frauen in sein Leben, die ihn in der Regel in freundschaftlichem Einvernehmen verließen. Aber beim Abschied machten sie immer deutlich, dass sie mehr von ihm gewollt hatten, mehr Engagement. Er sah zwar nicht gerade wie ein Filmstar aus, war aber schlank, eins fünfundachtzig groß, hatte dichtes dunkles Haar und markante Gesichtszüge. Seine Freundinnen hatten ihn je nachdem als »römisch«, »hart« und mit den Worten von DeeDee, der Friseurin aus Peckham, »scheiß fit« beschrieben. Er ging zu Verabredungen, genoss die Gesellschaft von Frauen, aber er schaffte es irgendwie nie, die nächste Stufe zu erreichen. Oder so etwas wie eine Lebenspartnerschaft einzugehen. Sie sagten, er wäre mit seinem Job verheiratet.

Und sie hatten recht. Denn er hatte sich drei Monate nach seiner Rückkehr aus Afghanistan bei der Polizei beworben und in Hereford unterschrieben. Sein alter Herr hatte das als »eines deiner Vom-Regen-in-die-Traufe-Manöver« bezeichnet. Aber was hätte er sonst tun sollen? Im Verkauf arbeiten? Singen und tanzen? Für einen Mann mit seinem Lebenslauf gab es natürlich immer noch diese zwielichtigen Sicherheitsfirmen mit anonymen Büros in Mayfair. Einrichtungen, die von Oberschülern geführt wurden, die sich selbst als »Vertragspartner« bezeichneten und alle möglichen anrüchigen Dienstleistungen in der ganzen Welt feilboten, solange der Preis stimmte. Harry war stolz darauf, Soldat gewesen zu sein. Aber er kannte den Unterschied zwischen einem Soldaten und einem Söldner.

Eigentlich hatte er schon immer gewusst – wenn auch nur unterschwellig –, dass er als Polizist enden würde, wenn er, aus welchen Gründen auch immer, die Armee verlassen würde.

In den ersten Monaten zu Hause wurde er von Schlaflosigkeit geplagt. So sehr, dass er einen Arzt aufsuchte. Der sagte ihm, dies komme bei Veteranen häufig vor, und verschrieb ihm Schlaftabletten. Davon fühlte sich Harry jedoch die meiste Zeit über groggy, was alles andere als wünschenswert war. Als er dann die Tabletten im Klo runtergespült hatte und über seine missliche Lage nachdachte, wurde ihm klar, dass er das Problem falsch herum angegangen war. Er litt nicht an einem Überschuss an Adrenalin. Er vermisste es.

Am nächsten Tag schrieb er eine Bewerbung für die Aufnahme in den Polizeidienst. Das war die beste Entscheidung, die er je getroffen hatte, wie er jedem, der ihm zuhörte, freimütig gestand. Denn trotz aller Frustrationen hatte ihm seine zweite Karriere erspart, für immer im Schatten seiner ersten zu leben. Und er war als Polizist erfolgreich, nicht zuletzt dank der Führung und der Förderung des Mannes, den er jetzt gerade aufsuchte: Detective Chief Superintendent Bill Robinson.

Der Wagen glitt aus der Garage, und Harry lenkte ihn nach rechts auf die Borough High Street und schaltete das Radio ein. Der LBC-Moderator sprach gerade mit einem etwas atemlosen Reporter, der irgendwo an einem Tatort war.

»Und das ist alles, was wir bis jetzt wissen, Ben?«

»Ja, das hat man uns bisher jedenfalls mitgeteilt, aber wir erwarten im Laufe des Tages eine Pressekonferenz, möglicherweise mit Met Commissioner Sir Muhammad Baqri.«

»Wie viele Menschen wurden evakuiert?«

»Nun, wir haben noch keine genaue Zahl, Gavin, aber meinen Quellen zufolge sind es zwischen sechzig und einhundert. Die meisten Wohnblöcke, die abgeriegelt wurden, sind unbewohnt oder befinden sich im Bau, und die Bauarbeiter müssen die Arbeit ruhen lassen, bis die Polizei die Häuser freigibt.«

»Nur um die Zuhörer zu beruhigen, Ben, es gab keinen direkten Zwischenfall.«

»Nein, soweit wir wissen, nicht. Vor etwa einer Stunde gab es Berichte über eine Bombenentschärfungseinheit und den Einsatz eines ferngesteuerten Roboters, aber diese Berichte sind, wie ich betonen möchte, unbestätigt. Außerdem laufen – wie ich selbst gesehen habe – viele Polizeibeamte in Schutzanzügen auf dem fraglichen Gelände herum.«

»Sagen Sie uns, was das bedeutet, Ben.«

Der Reporter hielt einen Moment inne. »Ich möchte betonen, dass ich hier nur spekuliere, Gavin, denn wir müssen auf die Pressekonferenz der Met warten, aber diese Schutzanzüge könnten ein Hinweis darauf sein, dass es um chemischen oder giftigen Abfall geht. Das wäre ein denkbares Szenario. Aber ich möchte wirklich betonen, dass dies im Moment nur eine Hypothese ist.«

»Wie ist die Stimmung unten in Stepney?«

»Also, vor einer halben Stunde hat hier noch das reinste Chaos geherrscht. Ich habe fünfzehn Feuerwehrautos und eine ähnliche Anzahl von Krankenwagen gezählt. Schaulustige werden weggeschickt. Die U-Bahn-Station ist immer noch geschlossen, und viele Fußgänger und Verkehrsteilnehmer werden aus dem abgeriegelten Gebiet geleitet. Ich würde sagen, die zuständigen Behörden wissen, womit sie es zu tun haben, und bemühen sich, die Anzahl der Menschen in dem Gebiet zu reduzieren, während sie versuchen, der Lage Herr zu werden, womit auch immer sie es zu tun haben.«

»Wissen wir, ob es heute ein COBRA-Treffen geben wird?«