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Das Wacken Open Air. 4 Tage. Über 200 Bands. Über 80.000 Fans. Und eine Leiche. Direkt unter dem legendären Bullhead hängt ein Toter. War es Selbstmord? Bandleaderin Mia glaubt nicht daran und tut sich mit ihrem entfremdeten Vater Lars zusammen, um den Fall aufzuklären. Was das ungleiche Ermittlerduo nicht weiß: Dies ist nur die Spitze des Eisbergs. Denn während auf dem Festival frenetische Partystimmung herrscht, folgen weitere Morde …
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Seitenzahl: 399
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Bastian Zach
DEATH OVER WACKEN
Metal-Krimi
Metal. Moshpit. Mord. Wacken Open Air – das weltgrößte Metal-Festival. 4 Tage. Über 200 Bands. Über 80.000 Fans. Und eine Leiche. John Gallows, Sänger der Band »The SuiCiders«, wird unter dem Bullhead zwischen »Faster-« und »Harder Stage« erhängt aufgefunden. Handelt es sich, wie der Name der Band vermuten lässt, tatsächlich um Selbstmord? Mia, Bandleaderin der »Vengeful Regrets«, die mit ihrer Melodic-Death-Metal-Combo beim »Metal Battle« auftreten soll, glaubt an Mord. Sie tut sich mit ihrem Vater Lars zusammen, den sie seit Jahren nicht gesehen hat und der in einer gediegenen Midlife-Krise steckt. Gemeinsam wollen sie den Mörder schnappen. Was das ungleiche Vater-Tochter-Ermittlerduo nicht weiß: Gallows‹ Tod ist erst der Anfang. Denn zwischen Luftgitarren-Wettbewerben und feiernden Metal-Fans geschehen weitere Morde …
Bastian Zach wurde 1973 in Leoben geboren und verbrachte seine Jugend in Salzburg. Als selbstständiger Schriftsteller und Drehbuchautor lebt und arbeitet er in Wien. 2020 wurde sein Krimi-Debüt »Donaumelodien – Praterblut« für den Leo-Perutz-Preis nominiert. Seit über 35 Jahren ist Bastian Zach eingefleischter Metal-Fan, die Liebe zur Musik inspirierte ihn zu diesem Metal-Krimi.
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.
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Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Bastian Zach und Tunejadez / istockphoto.com
„Death over Wacken“-Logo und Plan-Illustration © Bastian Zach
ISBN 978-3-7349-3008-9
Ich widme dieses Buch:
Allen Enthusiasten, Traumtänzern und Nonkonformisten.
Allen Saitenquälern, Felldreschern und Mikrofonflüsterern.
Allen Talentjägern, Mischpultmaniacs und Organisationswütigen.
Und allen Headbangers, Beer Drinkers und Hell Raisers.
Kurz:
Euch allen, die ihr Rock und Metal zu dem einmaligen Erlebnis macht, das es ist.
»Würdest du mir ein Vorwort schreiben, und zwar für jeden, der oder die keine Ahnung von der Materie hat: Was ist Metal, was ist ein Festival und warum gehören diese beiden Dinge zusammen?«
Hach, Bastian, als wüsstest du nicht selbst, dass auch nur der Versuch einer Erörterung jeden Rahmen sprengen würde.
Metal. Was ist das?
Wie ich es mir gerade letzte Woche wieder anhören durfte, für manche einfach nur Lärm. Der aggressiv macht. Und unruhig. Dabei ist Radio doch so schön, denn »da läuft meine Lieblingsmusik«. Also nicht meine. Aber bei solchen Sätzen werde ich wiederum aggressiv, mindestens ungehalten. Ist Metal auch, aber mich beruhigt das. Das Lärmende, Laute, die in Akustik gebündelte Aggression. Da fühle ich mich wohl, zugedeckt, mit einer heißen Tasse Tee in der Hand. Metal ist wilde, raue Musik. Die dich nicht an die Hand nimmt, dir wie im Radio alles mundgerecht und kantenlos serviert, sondern dich hart ackern lässt, bevor sich das wohlige Gefühl des Verstandenseins einstellt. Das klingt jetzt erst einmal anstrengend, du willst doch eigentlich sofort sinnbildlich eingemummelt und umsorgt werden. So, wie du jetzt vielleicht mit diesem Buch in deinem Lieblingssessel sitzt und dich auf eine spannende Lektüre freust. Aber gab es schon einmal irgendetwas im Leben von Wert, was dir in den Schoß gefallen ist, ohne dass du etwas dafür tun musstest? Wehe, du sagst jetzt Radio!
Metal ist Musik, nein, eigentlich ist es nicht nur Musik, es ist eine Leidenschaft, die der vollkommenen Hingabe bedarf, um zu verstehen, was ich dir hier aufzudrängen versuche. Aber es ist eine Leidenschaft, die dein Leben füllt, erfüllt, mit Sinn und … ach, Metal ist das Schönste, wo (!) gibt.
Auch wenn dich erste Berührungen mit diesem dir ominösen Metal vielleicht postulieren lassen, es gehe hier nur um Bier, rhythmisches Kopfschütteln und die lückenlose Kenntnis um all die Klassiker. Deren Unkenntnis dich sofort als Fremdling identifiziert, wenn du nicht wie aus der Pistole geschossen beantworten kannst, welcher »Painkiller«-Song das waghalsigste Drum-Intro hat. Oder die Frage falsch beantwortest, welcher Iron-Maiden-Sänger der bessere ist. Denn Metal ist gewissermaßen auch eine Nerdkultur.
Und Festivals? Das sind vielleicht die perfekten Orte, dem profanen Alltag in Gänze zu entfliehen. Den Verpflichtungen, Nöten und Zwängen. In Wacken beispielsweise bedeutet das, eine ganze Woche unter Wilden, unter Gleichgesinnten zu feiern, schon morgens Bier zu trinken und gemeinsam – bei unter Umständen mäßiger Körperhygiene – Arm in Arm wie aus einer Kehle Metal-Hymne um Metal-Hymne mitzusingen. Im Gesicht dabei schweißnasse Haare zu spüren, die nicht unbedingt deine eigenen sind. Im Sonnenschein zu garen, im Regen zu headbangen, sich im Schlamm zu suhlen, nachts dein Zelt zu suchen – und morgen wieder alles von vorn.
Oder vielleicht startest du den Tag auch erst um elf mit einer Dusche.
Denn weißt du, was am allerschönsten ist? Du kannst all die Festival-Konformitäten auch einfach über Bord schmeißen und selbst entscheiden, wie dein Festival aussehen soll.
Denn Metal ist Freiheit.
Die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne durchfluteten die weitläufigen Wiesen und Felder Schleswig-Holsteins. Eine Farbenpracht in Hellorange und Grün verdrängte die vorangegangene Finsternis, zart und kraftvoll zugleich, umschmeichelte die niedrigen Häuser und Höfe.
Eine malerische Grundstimmung wie im Intro von Metallicas »Fade to Black«. Eine himmlische Erlösung, die nicht ahnen ließ, welch düstere Ereignisse folgen würden …
Tautropfen liefen an den unzähligen Zeltwänden aus Nylon oder Polyester hinab und hauchten ihr Leben im Ackerboden aus.
Dort, wo bis vor wenigen Tagen die spießbürgerlich verklärte heile Welt mit kuhglockenläutender Bauernromantik ein Stelldichein gefeiert hatte, drängten sich nun Abertausende Zelte aneinander. Bevölkert wurden diese von schwarzgewandeten Horden, die aus allen Teilen der Welt eingefallen waren, um etwas zu belagern, was es im Sturm zu erobern galt.
Dieses Etwas erhob sich südlich des Himmels, flankiert von riesigen Videoscreens – das Rohrskelett eines Behemoths, in dessen Leibesmitte der gewaltige eherne Schädel eines Bullen prangte, das Wahrzeichen des Wacken Open Air.
Doch noch war es nicht so weit. Noch herrschte elektrisierende Stille.
Unterbrochen wurde diese Ruhe nur vom Knarzen eines Seils, das unter seiner Belastung ächzte, und vom metallischen Klopfen, wenn das, was an dem Seil baumelte, gegen die Gitterrohrmasten schlug – der leblose Körper von John Gallows.
Schriiiiiiiiiing!
Das Schrillen der Türklingel durchschnitt die Stille. Mit starrem Blick lag Lars Schulze im Wohnzimmer auf seiner abgewetzten Couch, den Körper in Embryonalstellung verkrümmt.
Wie früh es war, vermochte Lars nicht zu schätzen. Aber nach dieser scheißlangen Nacht, in der er erneut kein Auge zugetan hatte, wunderte es ihn, dass der Morgen doch noch angebrochen war.
Schring! Schriiiiiiiiiing!
Ein tiefes Seufzen war die erste merkbare Regung, die den Endvierziger seit einer gefühlten Ewigkeit durchfuhr. Dann flachte seine Atmung wieder ab. Seine Augen brannten, als wären sie mit Pfefferspray verwöhnt worden, sein Mund fühlte sich so pelzig an, als würde ein Hamster darin hausen.
Lars’ Blick fiel auf die Pilsflaschen, die dicht gedrängt auf dem Couchtisch vor ihm Spalier standen. Pflichtbewussten Zinnsoldaten gleich, vereint in dem Wissen, dass trotz der gewonnenen Schlacht der letzten Nacht der Krieg verloren war.
Schring! Schring! Schring!
Lars schloss gequält die Augen. Am liebsten würde er aufspringen, die Wohnungstür aufreißen und demjenigen, der wie ein Irrer klingelte, gepflegt eins aufs Maul hauen – Belmondo-Style.
Doch er wusste, dass ihm dazu die Kraft fehlte, sowohl zum Aufspringen als auch zum Auf-die-Schnauze-Hauen. Zudem lag seine letzte körperliche Auseinandersetzung über zwanzig Jahre zurück. Oder noch länger?
Lars lauschte in Erwartung eines erneuten Klingelterrors, doch der blieb aus. Der Mann atmete auf, bereit, sich mit Leibeskräften wieder seiner Lethargie zu widmen –
Da vibrierte das Handy, das den Pilssoldaten auf dem Couchtisch Gesellschaft leistete.
Lars knurrte.
Mit der dynamischen Eleganz eines Faultiers auf Opium löste er das Handy vom klebrigen Untergrund, sah aufs Display. Seufzte in unendlichem Weltschmerz und nahm den Anruf schließlich an.
»Was willst du?«
Lars’ Stimme klang trocken und rau. Sein Blick wanderte zur Wohnungstür.
»Echt jetzt? Nein, mach ich nicht.« Er lauschte. »Nein. Darum nicht.« Ein erneutes Knurren. »Ja, okay, mach ich.«
Lars setzte sich auf. Mehrere rasselnde Atemzüge später erhob er sich, schlurfte zur Tür und sperrte sie auf.
Im Flur stand ein Mann Ende vierzig, die spärlichen Haare kurz geschoren. Sein Antlitz zierte ein Bart, der Bernd Stromberg zur Ehre gereichte, wenn auch schon mit einigen weißen Haaren akzentuiert. Sein verwaschenes Def-Leppard-Shirt spannte ihm um den Wanst, die knielange Cargo-Hose, die er trug, war jedoch frisch von der Stange. Er wirkte wie der Schankwirt eines Bierwerbespots aus den Achtzigerjahren – gemütlich, vertrauenswürdig, mit einer Prise Schalk im Nacken.
»Moin, du Lusche!«, trompetete er dem anderen entgegen.
Lars rollte mit den Augen. »Was willst du, Mike? Wo ist der verdammte Notfall?«
»Man wird doch wohl noch seinen besten Freund besuchen dürfen?«
»Um sechs Uhr morgens?«
»Schon sechs? Sorry für die Verspätung.«
Lars verengte die Augen zu Schlitzen, rümpfte die Nase. »Hast du etwa gesoffen?«
Ein irritiertes Kopfschütteln als Antwort.
Lars hielt sich die Hand vor den eigenen Mund, roch seinen Atem. »Ach so, nein, das bin ja ich.« Schlurfend machte er Platz. »Dann komm halt rein. Aber mach schnell, ich bin beschäftigt.«
Mike tat wie ihm geheißen, begutachtete dabei das Chaos im Wohnzimmer. Eine Handgranate hätte besser aufgeräumt. An allen möglichen und unmöglichen Stellen lagen gebrauchte Hemden und Unterwäsche, standen leere Flaschen in einem Potpourri unterschiedlichster Volumenprozente umher. Dazwischen lagerten Teller mit Speiseresten, Tassen mit Speiseresten und Kartonschachteln mit Speiseresten.
Mike wandte sich seinem Freund zu. »Gratuliere! Du bist der nächste Kandidat für ›Die Entrümpelungsprofis‹.«
»Ich frage noch einmal: Was willst du, Mike?« Lars fuhr sich durch die zerzausten schwarzen Haare, die ihm wirr vom Kopf abstanden.
Der andere suchte nach einem freien Platz, um sich hinzusetzen, brach das Vorhaben jedoch kurzerhand wieder ab. Er überlegte einen Moment, dann leuchteten seine Augen auf. »Ich habe zwei Worte für dich.« Er machte eine übertrieben theatralische Pause. »Männer-Trip.«
Lars ließ sich matt auf die Couch fallen. »›Männertrip‹ ist ein Wort.«
»Drauf geschissen, auch wenn’s zehn Worte sind. Pack deine Sachen und ab!«
Lars nahm eine Pilsflasche vom Tisch, lugte in die Öffnung und kippte sich den schalen Rest in seinen pelzigen Mund. »Ach, lass mal. Hab keinen Bock.«
»Kriegst du, wenn wir erst mal ›On The Road Again‹ sind.«
»Vergiss es, Mike. Außerdem: Willie Nelson hat gerade angerufen, er will seinen Song zurück.« Lars rieb sich die Stirn, als könnte er so die pochenden Schmerzen aus seinem Kopf rubbeln. »Ich bleib hier, werd ein bisschen aufräumen und mich am Abend wieder gepflegt meiner Selbstzerfleischung widmen.«
»Wirst du nicht.«
Lars zuckte mit den Schultern. »Hast recht. Aufräumen fällt aus. Vielleicht feier ich auch eine Party mit meinen drei Freunden Arnie, Sly und Bruce.« Er blickte auf das gerahmte Star-Wars-Originalplakat von 1977, das großformatig eine Wand zierte. »Oder doch lieber Episode fünf?«
»’ne super Idee. Hast du ja erst hundertmal gesehen.«
»Blödsinn. Knapp an die zweihundertmal.«
Mike ballte unwillkürlich die Fäuste. »Pass auf, mein Bester: Seit Wochen bin ich Zeuge dieses unwürdigen Schauspiels namens ›Mimimi‹. Damit ist jetzt Schluss! Das Leben ist nicht nur Scheiße. Um dir das zu beweisen, hab ich uns was organisiert. Gern geschehen, by the way. Komm schon, raus aus deiner Komfortzone oder wie auch immer du diese Müllhalde nennst.«
Lars näherte sich in Zeitlupe wieder der Embryonalstellung.
»Sag mal, hast du Lack gesoffen?« Mike stampfte wütend auf. »Ich hab schon alles in meiner Karre gebunkert, was wir für die nächsten Tage benötigen, also komm schon! Ich will verdammt sein, wenn ich meinen Fünfziger allein feiern muss.«
Lars wurde hellhörig. »Du hast Geburtstag?«
Der andere setzte einen Gesichtsausdruck auf, der jeglichen Zweifel im Keim erstickte.
Resigniert setzte Lars sich wieder auf, ließ dann den Kopf hängen, als hätte man ihn gerade dazu gezwungen, auf einer Kaffeefahrt für Senioren den Alleinunterhalter zu mimen.
»Ich hasse dich.«
Mike hielt sich beide Hände ans Herz, flötete mit verzückter Falsettstimme: »Solange du nur irgendwas für mich empfindest, bin ich dein.«
Die beiden Freunde teilten ein Grinsen.
»Mensch, meinetwegen. Was muss ich einpacken?«
»Irgendwas Sommerliches mit festem Schuhwerk. Sonnencreme. Und Regenschutz.«
»Sonnencreme und Regenschutz? Wo zur Hölle fahren wir hin? Pattaya in Schottland?«
Mike grinste wie ein Haifisch. »Überraschung! Aber je eher du mit Packen fertig bist, desto eher wirst du es erfahren.«
Der Frühverkehr in Hannover brach gerade an, da ließen Mike und Lars die Stadt bereits hinter sich.
Lars hatte es sich verkniffen, seinen Freund nach dem Zielort zu fragen, wissend, dass dieser sich weiterhin in genüssliche Geheimnistuerei hüllen würde. Zumindest empfand Lars die Fahrt als angenehm, denn das, was Mike als seine »Karre« bezeichnete, war ein brandneuer Volvo S60. Die hellgrauen Ledersitze fühlten sich an wie ein Daunenbett. Die Klimaautomatik tat ihren Job, ohne dass Lars sich wie ein Testdummie in einem Windkanal vorkam.
Als Mike auf die A 7 Richtung Norden auffuhr, wurde sein Beifahrer stutzig.
»Sag nicht, du schleppst mich nach Hamburg auf’n Kiez?«
Mike lachte. »Sind wir sechzehn?«
Sein Freund zögerte einen Augenblick, versuchte zu erkennen, ob der andere die Wahrheit in einen Scherz verpackte oder sie sprach. Schließlich beschloss er, Mike zu glauben.
»Wenn’s nicht Hamburg ist, was dann im Norden? Ostseestrand? Nordseestrand?«
»Oder gar die Arktis?«, warf Mike grinsend ein. »Ich gebe dir einen Hinweis.«
Er wählte auf dem Touchscreen der Mittelkonsole die Musik-App aus, tippte auf eine Playlist namens »El tripos de los hombres« und drückte sich anschließend genießerisch in die Polsterung des Fahrersitzes.
»Here we go.«
Aus den Lautsprechern des Audiosystems wimmerten die ersten Takte zu Poisons bittersüßer Ballade »Every Rose Has Its Thorne«.
Lars wand sich reflexartig im Autositz. »Oh Mann! Alles klar, jetzt weiß ich es. Wir fahren in ein Ayurveda-Resort zu einem Selbstfindungsseminar, wo Männer lernen, ihre weibliche Mitte zu finden. Hab ich recht?«
Mikes Lippen blieben versiegelt.
Als der Ballade »You Could Be Mine« von Guns N’ Roses und »Rock You Like A Hurricane« von den Scorpions folgten, besserte sich Lars’ Stimmung. Immerhin waren das Hits seiner Jugend.
»Na ja, da wär jetzt ein Kleenes nicht verkehrt«, meinte er und drehte sich zur Rückbank. Dort griff er eine kleine Kühlbox, die Mike deponiert hatte, klappte sie auf und entnahm eine Dose.
»Cola? Echt jetzt?«
Mike zuckte mit den Schultern. »Verzeiht, Don Promillo, aber ich muss immerhin ein Auto lenken. Was hätte es denn sein sollen? Berliner Luft?«
Ohne seinen Freund einer Antwort zu würdigen, öffnete Lars die Dose, reichte sie diesem und nahm sich selbst ebenfalls eine. Auch wenn er es nicht zugeben würde, prickelte das kalte Erfrischungsgetränk angenehm im Mund, löschte endlich die letzten Reminiszenzen an den durchzechten gestrigen Abend.
Eigentlich, gestand sich Lars insgeheim ein, war er sogar froh über Mikes »Überfall«. Zu lange hatte er sich abgeschottet, zu lange war er mit seinen Gedanken allein geblieben. Vielleicht würde ihm der Ausflug eine neue Perspektive eröffnen, einen neuen Ansatz bieten, wie er sein Leben meistern wollte nach jenem alles verändernden Tag vor vier Wochen. Tief in seinem Inneren hatte Lars wieder Bock, etwas zu unternehmen, einmal wieder einen Tag zu erleben, an dem er nicht voll Selbstmitleid in einem Meer aus Melancholie und Alkohol ertrank.
Der Weg durch Hamburg hindurch erwies sich als zäh. Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichten Mike und Lars die A 23 und der Stau dünnte sich aus, bis nichts mehr von ihm übrig blieb.
Ausfahrtsschilder wie Geschwindigkeitsbegrenzungen kamen und gingen, zogen am Auto vorbei wie kurze Erinnerungen an Erlebtes.
»Also«, nahm Lars das Gespräch schließlich wieder auf. »Sorry, dass ich nicht dran gedacht hab. Ehrlich. Ich und Termine, du weißt schon. Wann hast du nun Geburtstag?«
»Siebenundzwanzigster November.«
Lars wäre beinahe die halb volle Coladose aus der Hand gerutscht. »November? Wir haben Anfang August! Du hast gesagt, du hättest jetzt deinen Fünfziger und willst ihn nicht allein feiern.«
Mike schob einen Mundwinkel nach oben, sodass sich sein eines Auge verengte. »Hab ich nicht und will ich auch nicht. Außerdem hat es funktioniert, oder? Wir sind unterwegs und die kommenden Tage werden legendär. Wie damals, auf Poros. Weißt du noch?«
Lars’ Zorn über die Geburtstagslüge verflog ebenso schnell, wie er aufgekommen war. Zu schön war die Erinnerung an die alkoholgeschwängerten Sommerabende am Strand der griechischen Insel, an die Gruppe, deren Teil sie gewesen waren, und an die Unbeschwertheit, nur von einem Tag zum nächsten zu leben, gänzlich ohne Reue.
Damals hatten Mike und er sich gefühlt, als wären sie unbesiegbar. Die Welt gehörte ihnen und nichts und niemand würde das je ändern.
Es war jenes euphorische Gefühl, das nur jungen Menschen vorbehalten zu sein schien. Man legte es in dem Augenblick ab, in dem einen das wahre Leben mit all seiner Unerbittlichkeit einholte. Arbeit, Existenzängste und Schicksalsschläge – Nadelstiche in die Haut des sich unverwundbar Wähnenden. Bis man schließlich erkennen musste, dass man einer trügerischen Illusion aufgesessen war. Nichts und niemand kam gegen jenen übermächtigen Gegner an: die Zeit. Und das erste Opfer der Zeit war die Jugend.
»Nicht während der nächsten Tage.«
Mikes Worte rissen Lars aus seiner immer düster werdenden Gedankenspirale.
»Was?«
»Ich seh’s dir an«, fuhr er fort. »Du bist schon wieder in den Stimmungsschwankungs-Zug eingestiegen, Endstation Depression. Aber während der nächsten Tage werden wir kein Trübsal blasen. Wir werden Parte-i machen, als gäb’s kein Morgen. Deal?«
Lars schüttelte sich wie ein nasser Hund. »Deal.«
Wacken 5 km.
Lars verharrte regungslos in seinem Sitz, den Mund offen. Beim Anblick der Beschilderung dämmerte ihm, welches Ziel ihre Reise hatte. Wie in Zeitlupe wandte er sich schließlich seinem Freund zu, der ihn schelmisch angrinste.
»Na, fällt der Groschen?«
Lars strich sich den Schnurrbart glatt. »Unser Männertrip geht also zum Wacken-Festival?«
»Yeah, Wacken Open Air, Baby! Da wollten wir schon vor zwanzig Jahren hin. Jetzt ist es so weit!«
»Du wolltest schon vor zwanzig Jahren hin«, korrigierte ihn Lars aufgebracht. »Ich wollte mich noch nie zwischen Tausende von Menschen zwängen, während irgendwo eine Kapelle lärmt, die ihr Untalent mit Lautstärke kompensiert.«
»Nun ist aber gut! Zunächst einmal heißt das nicht ›Kapelle‹, sondern ›Band‹, du Opa. Und der Lärm heißt Heavy Metal.«
»Meinst du wirklich, dass der Terminus technicus einer Musikrichtung diese in irgendeiner Weise wohlklingender macht? Dass ich, hätte ich gewusst, dass es sich um Heavy Metal handelt, in Verzückung verfallen wäre?« Er zerdrückte die leere Coladose in seiner Hand. »Meine Fresse!«
Mike winkte amüsiert ab. »Was das betrifft, kann ich dich beruhigen. Es wird nicht nur Heavy Metal gespielt.« Er machte eine lange Pause. »Auch Thrash Metal, Death Metal, Pagan Metal. Dazu Dark Rock, bisschen Punk und die eine oder andere Ballade, für alte Romantiker wie uns beide. Sprich: Wacken wird ein opulenter Strauß fröhlich wummernder Melodien! Zudem erinnere ich mich noch gut an eine Zeit, als du mit Guns-N’-Roses-Shirt herumgelaufen bist.«
Lars überlegte einen Augenblick, als müsse er prüfen, ob Mikes Anschuldigung stimmte, dann warf er den Kopf zurück. »Alter, das war vor über zwanzig Jahren und hatte einen anderen Grund!«
»Hieß dieser Grund nicht ›Verena‹? So eine lustige Schlanke mit langen schwarzen Haaren, wenn ich mich recht entsinne.«
Lars knurrte zerknautscht. »Ja, du entsinnst recht.«
»Sag mal –« Mike schielte zu seinem Beifahrer. »Hat dich damals die Gute nicht auch verlassen?«
»Du merkst dir wirklich jeden Scheiß, oder?« Lars schnaubte, fügte dann kleinlaut hinzu: »Aber ja, hat sie. Nach sechs Monaten. Ist mit irgendeinem dahergelaufenen langhaarigen Bassisten auf Tour gefahren. Danke, dass du in alten Wunden bohrst. Jetzt dreh um und fahr mich wieder heim, mir ist die Lust vergangen.«
Mike wurde ernst. »Ach, komm schon, du Lusche, ist doch ewig her! Außerdem habe ich mir den Arsch aufgerissen, um noch zwei Festival-Tickets zu ergattern. Übrigens zu exakt jenem Preis, der der Zahl des Tieres entspricht. Iron Maiden lassen grüßen! Wenn das mal kein gutes Omen ist.«
Da Lars keine Reaktion zeigte, boxte Mike ihm gegen die Seite. »Sieh’s mal so: Du kannst endlich abschalten, wenn wir gemeinsam abrocken, uns die Birne zuschütten oder sonst was veranstalten.« Er bewegte die Augenbrauen auf und ab, Groucho-Marx-Style. »Männer-Quality-Time, wenn du verstehst.«
Das mahnende Schnaufen des Beifahrers ertönte.
»Okay, ja, ich hab’s selbst gehört«, gestand Mike. »Männer-Quality-Time klingt irgendwie seltsam. Aber du weißt, was ich meine.«
Lars zuckte unbedarft mit den Schultern.
Mit schweigenden Insassen passierte Mikes Auto das Ortsschild: »Wacken Kreis Steinburg«.
Niedrige, einstöckige Häuser, in gedämpftem Rot oder Grau gedeckt. Die Klinkerfassaden makellos, die Vorgärten gepflegt und liebevoll dekoriert. Büsche und Hecken waren manierlich geschnitten, die Gehwege sauber. Eine Dorfidylle wie aus dem Bilderbuch.
»Ist doch schnieke hier.« Mike schlug begeistert mit der flachen Hand aufs Armaturenbrett. »Wirst sehen, da geht gleich die Post ab. Metalheads sind ein buntes Völkchen.«
In diesem Augenblick passierten sie links und rechts der Straße eine Karawane aus Menschen, deren augenscheinlichste Gemeinsamkeit die Farbe ihrer Kleidung darstellte – oder besser gesagt die unbunte Farbe Schwarz. Die Szene wirkte wie die Zusammenkunft einer obskuren Sekte, deren albtraumhafte Zeremonien jenen Stoff boten, von dem sich Horrorfilme inspirieren ließen.
Doch das Erscheinungsbild des schier endlosen Trauerzugs konterkarierte das Gehabe, welches seine Teilnehmer an den Tag legten: herzliche Umarmungen, als hätte man sich seit Ewigkeiten nicht gesehen. Gegröle, in das die Umstehenden launig mit einstimmten, und allseits ein beinahe verstörend breites Grinsen auf den Gesichtern.
All das verriet, dass hier niemand beerdigt wurde, sondern dass hier Menschen zusammengekommen waren, die nur eins im Sinn hatten – gemeinsam eine gute Zeit zu erleben.
Mike verringerte gerade die Geschwindigkeit auf Schritttempo, als ihm ein junger Mann vor die Motorhaube sprang.
Der Wagen hielt ruckartig.
Der langhaarige Metaller, dessen schwarzes T-Shirt ein weißer Bandschriftzug zierte, der an explodierten Vanillejoghurt erinnerte, blickte die beiden Autoinsassen rastlos an.
Dann stieß er ein infernalisches »Waacköööööön!« aus.
Andere Fans wiederholten den Schlachtruf mit einer Inbrunst, als würde das Wort ungleich mehr bedeuten als die Summe seiner Laute.
Ein Klopfen an der Fensterscheibe der Beifahrertür zog Lars’ und Mikes Aufmerksamkeit auf sich. Ein Mittzwanziger mit kurzen Haaren, Spiegelbrille und viel zu kurzen Jeans-Shorts stand schwankend davor.
Lars bedeutete seinem Freund weiterzufahren, doch der ließ bereits die Scheibe hinunter.
»Was’n mit euch beiden los?«, lallte der junge Mann ins Fahrzeuginnere und versprühte dabei das olfaktorische Œuvre einer Kiezkneipe um vier Uhr früh. »Seid wohl gerade angekommen, wa?«
Lars wollte entgegnen, dass die Feststellung des Offensichtlichen nicht gerade eine intellektuelle Meisterleistung darstellte, da ließ der Festivalbesucher zwei Dosen Bier auf den Schoß des Beifahrers fallen.
»Zum Akklimatisieren, Jungs«, rief er unnötig laut ins Auto, wandte sich ab und reckte die rechte Faust in den Himmel. »Wackööön!«
Er trottete weiter, wurde gleich darauf von der Karawane der Schwarzgewandeten verschluckt.
Mike wandte sich seinem immer noch verdutzt dreinblickenden Freund zu, mit Blick auf die beiden Dosen. »Sind die kalt?« Er sah Lars herausfordernd an.
Der betrachtete die mit Kondenströpfchen übersäten Blechbüchsen, fühlte, wie ihm im Schoß fröstelte. »Die sind so kalt, wie du doof bist.«
Mike grinste, griff sich eine der beiden Dosen, öffnete sie und trank den herausquellenden Schaum, der ihm dabei auf die Hose tropfte.
Lars atmete tief durch. Was sollte der Terz, den er innerlich aufführte? Er hatte die kommenden Tage nichts Besseres zu tun, die Sonne schien und es gab Dosenbier. Was hatte er daran auszusetzen? Außerdem: Wann hatte er sein Kinder-Ich gegen ein Senioren-Ich getauscht?
»Weißt du was? Scheiß drauf. Prost!«
Lars öffnete die zweite Dose, ließ sich den kalten, bitter-hopfigen Inhalt die Kehle hinabrinnen und kümmerte sich nicht darum, dass er sich dabei das lachsfarbige Poloshirt bekleckerte. »Dann wollen wir mal! I wanna rock!«
Mike drehte die Musik laut und stieg aufs Gas. Dass gerade der superschwülstige Refrain von Mr. Bigs »To Be With You« in bester Boyband-Manier aus den Boxen jaulte, tat der Euphorie der Männer keinen Abbruch.
Mike und Lars erreichten die äußersten Äcker des Wacken-Geländes, wo Einweiser die Autokolonne routiniert dirigierten. Inmitten einer schier endlosen Schlange an Vehikeln, unter denen viele ein »W:O:A« mit Klebeband auf die Heckscheiben geklebt hatten, wurden die beiden Freunde von einer Parzelle zur nächsten gelotst. Sie rumpelten an einer Hundertschar bereits aufgeschlagener Zelte vorbei, immer weiter gen Norden, bis sich die Zeltpopulation auszudünnen begann.
Ein Schwenk nach rechts.
Bremse.
Zündung aus.
Durchatmen. Lars und Mike waren angekommen.
Nun standen die beiden inmitten eines Ackers, auf dem sich Autos und Zelte, so weit das Auge reichte, aneinanderreihten.
Lars sah sich um. »Den Campingplatz hätten wir gefunden. Aber wo ist das Festival?«
Mike holte sein Handy hervor, rief die Wacken-App auf und orientierte sich. Schließlich deutete er gen Süden. »Diese Richtung, ungefähr zwanzig Minuten zu Fuß.«
Der andere lachte kurz auf, verstummte jedoch, als er merkte, dass dies kein Scherz war.
»Willst du damit sagen, ich muss vierzig Minuten laufen, wenn mir dort einfällt, dass ich etwas im Zelt vergessen habe?«
Mike winkte ab. »Nein, nein. Können auch gute fünfundvierzig Minuten werden. Hunderttausend Besucher brauchen eben Platz, und wir sind nicht die ersten.«
Er griff in den Kofferraum seines Wagens und holte eine kreisrunde Scheibe aus Polyester heraus.
»Hier!« Er warf Lars die Scheibe zu. »Aufstellen, nicht maulen.«
Der besah sich argwöhnisch die eigentümliche Verpackung. »Das ist das Zelt? Wo sind die Zeltstangen dazu?«
Mike nahm eine zweite, ident aussehende Scheibe aus dem Kofferraum. »Siehe zu und staune, junger Padawan.«
Er öffnete den Reißverschluss, der die Scheibe umrundete, und warf das Ganze in die Luft. Wie von Zauberhand entfaltete sich ein grün-gelbes Zelt und landete bezugsfertig auf dem Acker.
»Nennt man Wurfzelt.«
Beeindruckt tat Lars es seinem Freund gleich. »Erst das Rad, dann die Dampfmaschine, nun das. Jetzt hab ich alles im Leben gesehen!«
Die beiden grinsten.
Dann drückte Mike seinem Freund eine Handvoll metallener Heringe in die Hand.
»Schön in den Boden reintreten«, meinte er mit ernster Miene. »Wie ich immer sage: Nach einem Unwetter gibt es nur zwei Arten von Campern: die, die ihr Zelt gut abgespannt haben, und jene, die wünschten, sie hätten es getan.«
Lars salutierte ironisch, trat die Bodenanker tief mit der Schuhsohle in das Erdreich des Ackers. Danach räumten die beiden Männer Sporttaschen mit ihrer Kleidung in die Behausungen, bliesen jeder eine Luftmatratze auf und teilten sich dabei zwei Dosen Bier, die Mike ebenfalls im Kofferraum verstaut hatte.
Knapp eine halbe Stunde nachdem sie angekommen waren, fühlten sich die beiden Männer startklar.
Unter dem wolkenlosen Himmel, von dem flirrend die Sonne brannte, wischte Lars sich den Schweiß von der Stirn und ließ noch einmal den Blick über die schier endlose Zeltlandschaft schweifen, unfähig, deren Ausmaß zu begreifen.
»Ich frage mich, wie wir jemals wieder unsere Zelte finden sollen.«
Mike deutete auf die Fahnen, die an etliche Behausungen mittels Kunststoffstangen befestigt worden waren und die Bandlogos oder Covermotive zierten – Orientierungshilfen und Musikgeschmackanzeiger in einem.
»Auf der hier ist der ›Trooper‹ von Iron Maiden gedruckt, auf der dort drüber steht ›Motörhead‹«, sagte Mike. »Dazwischen liegen wir. Easy as pie.«
Lars nickte skeptisch. Ob diese Wegweiser auch bei Nacht und vor allem in illuminiertem Zustand funktionierten, galt es erst noch herauszufinden.
»Oooder«, warf Mike gedehnt ein und machte mit dem Handy ein Foto seines Zelts. »Du schießt auch so ein Foto, rufst die GPS-Koordinaten in den Metadaten auf und lässt dich herleiten.«
Lars blickte drein wie ein Kleinkind, dem man erklärte, wie man mittels Pi den Radius eines Kreises berechnete.
Sein Freund grinste diebisch. »Oder einfach die beiden Zelte zwischen ›Trooper‹- und Motörhead-Fahne.« Er rieb sich die Hände. »Können wir?«
Wortlos verschwand Lars in seinem Zelt, kroch nach kurzer Zeit wieder heraus. Er hatte eine frische kurze dunkelblaue Hose und ein Hawaiihemd angezogen, das so bunt war, als hätte ein Einhorn einen Regenbogen darauf gekotzt.
»Ist jetzt nicht dein Ernst?« Mike hielt sich bestürzt die Hand vor den Mund. »Ich sagte: Nimm was Sommerliches mit.«
»Was gibt es Sommerlicheres als ein Hawaiihemd? Alter, ich hatte ja keine Ahnung, dass du mich zur Jahreshauptversammlung der Société Noir schleifst.«
Mike wollte etwas Geharnischtes entgegnen, verkniff es sich jedoch. Zumindest würde er so seinen Freund leichter in der Menge wiederfinden.
»Und jetzt?«
Mike hob seine Bierdose. »Jetzt machen wir uns vom Acker!«
»John!«
»Rachel!«
Die beiden begrüßten sich mit jener Art von Küsschen auf die Wange, die man nur Menschen zuteilwerden ließ, die man nicht leiden mochte.
Die Frau hatte erst vor Kurzem das sechste Lebensjahrzehnt passiert und ihrem Erscheinungsbild nach zu urteilen, unternahm sie alles, um dies zu verschleiern. Ihr Pixie-Haircut schimmerte in kräftigem Blueberry, den blässlichen Teint ihrer harten Gesichtszüge unterminierte ein Kajal, der aus den Augenwinkeln spitz Richtung der Schläfen stach. Ihr dunkler taillierter Blazer mit Nadelstreifen brüllte »Businesswoman!«, ihre überlangen, aufgeklebten Fingernägel »Germany’s Next Porn-Model«.
Trotz ihrer Größe von nur einem Meter fünfundsechzig wusste sie ob ihrer einschüchternden Wirkung – immerhin zelebrierte sie diese schon sehr lange. Denn wie in jeder anderen Branche auch galt in der Musikbranche die Wahl zwischen geliebt sein oder gefürchtet werden. Artist-Managerin Rachel Shaw hatte sich schon vor Jahrzehnten für Letzteres entschieden.
Ihr gegenüber stand ein Mann Ende dreißig mit stechendem Blick, der sie bei Weitem überragte. John McCallum, genannt »Gallows«, Leader der Dark-Rock-Band The SuiCiders. Die braunen, gelockten Haare fielen ihm so natürlich wie gewollt auf die Schultern, sein Dreitagebart war penibel getrimmt. Er trug ein perfekt ausgewaschenes schwarzes Shirt, eine ebenso perfekt abgewetzte schwarze Lederjacke und schwarze Jeans im Destroyed-Look. Seine beiden Arme zierten Tätowierungen im Bazooka-Kaugummi-Klebetattoo-Stil.
Gallows Körperhaltung wirkte angespannt, als erwarte er, jeden Augenblick einen Angriff abwehren zu müssen. Das kam nicht von ungefähr: Als fünfter Sohn einer katholischen Familie aus Belfast war er handgreifliche Auseinandersetzungen von Kindesbeinen an gewohnt, ebenso dass er sich alles selbst erkämpfen musste. Denn der Vater hatte die Familie früh »im Stich« gelassen, wenn auch unfreiwillig: Ein selbst gebauter Sprengsatz, den er eigentlich für die IRA und das Shankill Road Bombing konstruiert hatte, hatte ihn im Bruchteil einer Sekunde im Keller seines Hauses an die Wände verteilt. Gallows war gerade sechs Jahre alt gewesen.
Doch das war lange her. Nun stand der Musiker, der als durchaus streitbar galt, seiner Managerin gegenüber, auf dem Bretterboden eines leeren Pagodenzelts.
Rund um die beiden herrschte gespenstische Stille. Sie befanden sich auf einer kleinen Wiese hinter einem Erdwall, abseits des Festivalgeländes. Aus der Ferne waberten ab und an die dumpfen Beats einer Liveband herüber.
»My dear, wie geht’s dir?«, fragte Rachel mit britischem Akzent.
»Abgesehen davon, dass mir wie immer alles und jeder auf die Eier geht, geht’s mir gut«, antwortete Gallows in irischem Englisch.
Sein Blick fiel auf Rachels abgewinkelten linken Arm. Darin hielt sie einen cremefarbenen Chihuahua-Welpen energisch umschlossen.
»Dein Schoßhündchen scheint auch nicht zu altern«, meinte Gallows und fügte süffisant hinzu: »Das wievielte ist es schon?«
Rachel zuckte demonstrativ mit den gepolsterten Schultern, denn ihre gebotoxte Stirn ließ keine Gefühlsregung zu. »Wer zählt schon mit, you know? Sie leisten mir Gesellschaft, bis sie mir zu schwer werden. Dann tritt ein neuer an die Stelle des alten.« Sie strich dem Welpen über den Kopf, der für die sanfte Berührung dankbar zu sein schien. »Aber ich wollte dich nicht sehen, um über meinen canine companion zu plappern. Ich will wissen, ob du kalte Füße bekommen hast.« Ihr Blick wurde stechend. »Have you?«
Gallows verschränkte die Arme. »Natürlich nicht. Aber wenn du darauf anspielst, was wir letzte Woche im Hotel besprochen haben – das ist vom Tisch.«
Rachels Mimik gefror einige Sekunden lang, dann fing sie sich wieder. »Ich hab schon alles aufgesetzt, hab mit dem Nowak gesprochen. He’s on board. Was –«
»Du hast mich in einer dunklen Minute getroffen«, unterbrach Gallows sie mit fester Stimme. »In einer Band ist es wie in jeder Familie. Man streitet sich, man versöhnt sich wieder. Vor jenem Abend hatten wir bandintern einen gehörigen Krach. Ich weiß auch nicht, manchmal gehen mir die ewigen Diskussionen über jede Kleinigkeit eben besonders auf die Nerven. Als befände man sich in einer gottverdammten Selbsthilfegruppe. Ich bin gegangen und habe mich mit der Hotelbar angefreundet.«
»John, das ist nicht, was wir besprochen hatten.«
Gallows stampfte mit seinen Bikerboots auf. »Verdammt, Rachel, du kennst mich schon so lange! Du weißt, wie ich ticke. Wenn ich scheiße drauf bin, lässt man mich besser in Ruhe, das weiß doch jeder! Ich finde dann schon wieder zu mir.«
»Was ist mit unseren Plänen?«
»Unsere? Du meinst wohl eher deine Pläne!« Gallows begann, im Zelt auf und ab zu gehen. »Warum sollte ich die SuiCiders auflösen? Fuck, das ist meine Band! Mein Haus, meine Familie! Würdest du deine Familie im Stich lassen, Rachel?«
Die Managerin wirkte, als wollte sie die rechte Augenbraue heben, was jedoch das Botox verhinderte.
Gallows lächelte bitter. »Klar würdest du, wenn das Angebot stimmt.« Er überlegte. »Weißt du was? Wir beide sind durch.«
Nun blieb der Managerin der Mund offen stehen.
»You … du feuerst mich?«, stammelte sie schließlich.
»Du bist einzig auf deinen Vorteil bedacht, warst du schon immer. Ich nehme an, mit mir als Solokünstler wolltest du mal so richtig viel Kohle scheffeln. Wie der Nowak. Aber unser Bandvertrag läuft mit dieser Tour aus. Und die Veränderung, die ich bitter nötig habe, ist weder das Haus, in dem ich wohne, noch die Familie, mit der ich darin lebe. Sondern einen neuen gottverdammten Makler zu finden.«
Die Managerin und der Musiker blickten einander in die Augen, gleich zwei verfeindeten Soldaten, die Waffen im Anschlag, aber unsicher, ob man selbst schneller den Abzug betätigen konnte als der andere.
Gallows schnippte mit den Fingern. »Mach’s gut, Rachel Shaw.«
Mit diesen Worten wandte er sich um und verließ das Zelt.
Rachel schnaufte mehrere Male tief durch, als wollte sie einem Ohnmachtsanfall entgegenwirken.
Während sich ihre Hände immer stärker ins Fell verkrampften, begann der Chihuahua in ihrem Arm bitterlich zu winseln.
Schließlich ließ sie von dem Welpen ab, trat vor das Zelt und ballte die rechte Hand zur Faust.
»Screw you, John Gallows, you bloody wanker! You’re gonna fucking regret this!«
In freudiger Erwartung eines feucht-fidelen Nachmittags war Lars Mike gefolgt, der sich nach einem staubigen fünfzehnminütigen Fußmarsch jedoch erst einmal in eine Menschenschlange einreihte. Die hatte sich vor einigen Containern gebildet, die laut Ausschilderung in der Nähe der Bullhead City und des Wackinger Village lagen.
Angaben, die beiden Männern so viel sagten wie Anzeigetafeln in der Tokioter U-Bahn.
Die Schlange führte zu einem Container, in dem eine Luke geöffnet war – die Festivalbändchen-Ausgabe.
Nach einer gefühlten Ewigkeit und mit bereits gehörigem Durst erhielten Lars und Mike schließlich jeder das ersehnte Eintrittsutensil aus Kunstgewebe ums Handgelenk, das von einem Mitarbeiter mittels einer Handzange mit einer Aluminiumplombe verschlossen wurde. Inmitten des grauen Kontrollbandes, in das »Wacken« sowie der Bullhead eingewoben waren, befand sich ein Chip, mit dem man am gesamten Areal bargeldlos bezahlen konnte.
An einem nebenstehenden Unterstand luden sich die beiden Männer daraufhin mittels Automaten Geld auf den Chip und waren bereit – hin zum nächsten Bierstand. Die Funktionalität des Chips wollte schließlich unter Beweis gestellt werden!
Aus zwei Bier wurden vier.
Danach ging’s weiter.
Unter einem von drei erhöht montierten Frachtcontainern, auf denen in weißer Farbe die Worte »Louder than hell« prangten, war zunächst stopp für Lars und Mike. Wie alle Festivalbesucher mussten auch sie einen Security-Check durchlaufen, den blau gekleidete Sicherheitsleute der Metal Guard geübt wie penibel durchführten.
Erst danach durften die beiden die Bullhead City betreten.
Dort angekommen staunten sie über die schier unüberschaubare Weitläufigkeit des Areals.
»Ich war auf Festivals, die waren kaum größer als das hier.« Mike hielt Lars das Handy mit der Wacken-App unter die Nase. »Laut Plan ist die Bullhead City aber nur ein kleiner Bereich des gesamten Festivals.«
Lars nickte, ebenfalls verblüfft.
Links und rechts von ihnen strömten unzählige Feierlaunige vorbei, wohl nur ein Vorgeschmack auf das, was kommen würde, wenn das Festival am nächsten Tag offiziell startete.
Gesäumt wurde das Gelände von Pagodenzelten, in denen allerlei Köstlichkeiten gekocht, gegrillt oder frittiert zum Verzehr feilgeboten wurden. Wer sein Geld lieber für Sachwaren ausgab, wurde ebenfalls bestens bedient. Bei den offiziellen Merchandising-Ständen konnte der kaufaffine Metalhead alles Erdenkliche erwerben, worauf sich das Wacken-Logo drucken ließ – T-Shirts, Hoodies, Hosen, Kopfbedeckungen, Patches, Badetücher bis hin zu Metallschildern, Kaffeebechern und Trinkhörnern.
Am hinteren Ende des Bereichs harrten die Zwillingsbühnen Headbangers und W:E:T Stage ihrer Bespielung. In ihrer Mitte thronte ein Banner, auf das »Bullhead City« gedruckt war, darunter der namensgebende Rinderschädel.
Links vom Einlass stand eine überlebensgroße Statue, gefertigt aus Altmetall, mit Bassgitarre, Stetson-Hut, Oberlippenbackenbart und zwei großen Fibromen auf der linken Wange – Ian Fraser Kilmister, genannt »Lemmy«, Mastermind der legendären Rockband Motörhead.
Passend dazu dröhnte aus der dahinterliegenden offenen Bar mit Schindeldach rau und stampfend »Killed By Death«. Lars und Mike empfanden diese als so einladend, dass sie augenblicklich vorstellig wurden.
Im Anschluss wanderten die beiden Freunde weiter ins angrenzende Wackinger Village. Dieser Bereich bestand nicht aus Pagodenzelten, sondern aus Holzhütten, die sich optisch allesamt an frühmittelalterlichen hölzernen Behausungen orientierten. Eine Taverne lockte mit »Wacken Blut«, es wurden Schweine im Ganzen und ein ausgewachsener Ochse gegrillt und in mundgerecht zerteilten Happen verkauft.
In der Mitte des »Wackingers« fanden lautstark Schaukämpfe mit Schild und Schwert statt.
Lars und Mike schlenderten von einer Bar zur nächsten, übten sich im Armbrustschießen und Axtwerfen, wenn auch mit mäßigem Erfolg.
Bei einem Trinkwettbewerb unter Fans errangen sie jedoch den respektablen zweiten und dritten Platz, spielten dann einige Runden Bier-Pong.
Von hier an begann sich der Abend in Momentaufnahmen zu zerstückeln, gleich so, als würde man schnell von einem TikTok-Video zum nächsten wischen …
Mike, wie er sich im Luftgitarrenspiel mit anderen Besuchern maß.
Wie er von einer Gruppe Metal-Ladys dazu animiert wurde, sich das T-Shirt über den ansehnlichen Bauch und weiter bis über die Nippel hochzuziehen, inklusive kreischender Zustimmung der Damen.
Und wie Mike und ein Typ mit Plastik-Wikingerhelm die Köpfe zusammenstießen.
Lars, wie er mit einer Gruppe von drei Mexikanern mit übergroßen Sombreros auf Bruderschaft trank. ¡Salud!
Wie er von einem Fan mit pandaähnlicher schwarz-weißer Gesichtsbemalung angebrüllt wurde, als hätte sein letztes Stündlein geschlagen, der ihm dann jedoch sogleich ein halbes Bier aus seinem Becher spendierte.
Und wie Lars von einem Mann in einem Ganzkörperplüschkostüm in Haifisch-Optik innig umarmt wurde – einfach weil das ein schönes Gefühl war.
Untermalt wurden die Erlebnisse von Best-of-Nummern der Rock- und Metalgeschichte der letzten vierzig Jahre, die aus unzähligen Boxen wummerten.
Mit einem Mal spürte es Lars wieder – jenes euphorische Gefühl aus seiner Jugend, das sich so lange vor ihm versteckt hatte. Nun jedoch wollte es aus ihm herausbrechen! Eine rauschgleiche Stimmung, wie sie Steppenwolf in »Born To Be Wild« kongenial verewigten: »Explode into space«. Besser konnte man es nicht beschreiben.
Spontan umarmte Lars Mike, der die Geste herzlich erwiderte. Zu Alice Coopers »Poison« lagen sich die beiden Männer dann grölend in den Armen, drei Klassiker später beschworen sie sich ihrer immerwährenden Freundschaft.
Irgendwann erreichten Lars und Mike wieder den Ausgangspunkt ihrer Trinkreise, ein riesiges, ovales Zeltdach neben der »Lemmy Bar«, unter dem Biertische und -bänke dicht an dicht standen.
Endlich wieder sitzend, stützte Lars seinen Kopf, der ihm mit einem Mal unendlich schwer wog, auf seine Hand.
Während Megadeths »Hangar 18« mit zweistimmigen Gitarrenriffs durch den Äther melodierte, beobachtete er paralysiert das Geschehen rund um ihn. Dieses schien aus einer Endlosschleife an sich wiederholenden Szenen zu bestehen – zuprosten, trinken, lachen, singen.
Nur ab und an erhaschte Lars andere Motive. Er sah, wie am Nachbartisch ein ebenso durchtrainierter wie schwerstens tätowierter Mann unter Tränen seine Freundin bekniete, sie möge ihm irgendetwas verzeihen. Ihrer Körpersprache nach zu urteilen, ein Vorhaben, das zum Scheitern verurteilt war, zumindest an diesem Abend.
Oder eine adrette Frau Anfang vierzig, die über Mikes Witze lachte, ohne den Eindruck zu vermitteln, so hackedicht zu sein wie sein Freund.
Unter den Klängen von Dios »Holy Diver« wurde Lars schließlich Zeuge davon, wie sich zwei Männer, beide mit dunklen, langen Haaren, vor der »Lemmy Bar« erst lautstark Beschimpfungen entgegenschmetterten, bevor sie sich zu schubsen begannen und schließlich die Fäuste sprechen ließen. Sogleich wichen die umstehenden Gäste kreisförmig um die beiden Streitenden zurück. Doch anstatt sie anzufeuern, versuchten sie immer wieder dazwischenzugehen und dem Kampf ein Ende zu setzen.
Plötzlich kippte Lars rücklings von der Bierbank, blieb hilflos am Ackerboden liegen wie eine Schildkröte, die man auf den Panzer gedreht hatte.
Als ihm schließlich jemand aufhalf, hatte sich der Tumult bereits wieder aufgelöst.
Im Taumel der unzähligen Hopfenkaltschalen und des einen oder anderen Klaren bemerkte Lars, wie sich seine Gedanken zu verlangsamen begannen – und damit einhergehend auch seine Entscheidungsfindung. Ob er wohl auf andere so nüchtern wirkte, wie er sich fühlte? Sollte er noch hierbleiben, wo immer das auch war? Sollte er noch ein »Kleenes« bestellen, auch wenn ausschließlich in Einheitsgrößen ausgeschenkt wurde?
Mike könnte ihm die Fragen sicherlich beantworten, doch – wo war Mike eigentlich? Den Platz an der Bar, an der er mit der Frau herumgeschäkert hatte, besetzten nun drei Metalfans, die sich singend in den Armen lagen.
Hatte Mike ihn etwa zurückgelassen? Dem Kollegen würde er morgen ordentlich die Meinung geigen, das schwor sich Lars.
Er leerte seinen Bierbecher, stand schwankend auf und stakste Richtung Festivalausgang.
Inmitten des grellen Scheins der Zeltplatzbeleuchtung machte er sich daran, den Heimweg zu finden.
Dennoch verhedderte er sich immer wieder zwischen den Abspannseilen der Zelte und stürzte zu Boden.
Rappelte sich auf.
Taumelte weiter.
Stürzte erneut.
Ein suchender Blick über den surrealen Zeltfriedhof – wie zur Hölle sahen die Fahnen noch mal aus, an denen er sich orientieren sollte?
Lars’ verzweifeltes Seufzen verhallte ungehört in der kühlen Nacht.
Schwer atmend kniete ich auf den geriffelten Metallplatten der Bühnenkonstruktion, stützte mich mit meinen Händen vornübergebeugt ab. Mein Puls raste, mein Herzschlag erschütterte meinen ganzen Körper. Schweiß lief mir so stark über Stirn und Gesicht, als säße ich im Regen.
Aber ich hatte es geschafft! An mehr als das zu denken, war mein Verstand im Augenblick nicht in der Lage.
Ein Windstoß fuhr über das menschenleere Infield, das sich vor mir erstreckte. Dieses wurde vom eiskalten Schein einiger HQI-Strahler erhellt, Lichtquelle für jene, die während der Nacht Arbeiten an der Elektrik und andere Instandhaltungstätigkeiten verrichteten, oder die, die in den für sie bestimmten Zeitslots Waren anlieferten.
Eine weitere Bö prallte auf die riesigen Aufbauten, ließ sie quietschen, knarren und ächzen.
Langsam schälte sich ein anderer Laut aus der Geräuschkulisse, isolierte sich zunehmend. Das Knarzen von Tauwerk, wenn es unter Belastung hin und her schwang.
Wenn ich die Augen geschlossen hielt, war mir, als würde auch ich hin und her schwanken, als befände ich mich auf einem alten Segelschiff. Der Wind trug mir die Kunde von neuen Landen zu und das Knarzen zeugte von der Anstrengung, unter der sich der Seelenverkäufer durch die Wellen zwang. Selbst der Schweiß auf meinem Gesicht fühlte sich an wie die Gischt, die mir die See entgegenschleuderte – ein Gruß, erfrischend und ermutigend zugleich.
Ich hob den Kopf, öffnete langsam die Augen. Über mir baumelte leblos eine Gestalt, pendelte aus den Schatten heraus ins Licht und wieder zurück. Ein Meuterer, mit dem man kurzen Prozess gemacht und an der Rah aufgeknüpft hatte. Dieser bezahlte mit seinem Leben für das, was er mir angetan hatte. Aber nun war die Mannschaft vor ihm in Sicherheit und das Erreichen des schützenden Hafens gewiss.
Ja, dachte ich, so fühlte es sich mit einem Mal an. Nach so vielen Jahren, nach so vielen Entbehrungen und Rückschlägen würde ich endlich in ruhigere Gewässer schippern können und mein Ziel erreichen.
Das, was gestern und all die unzähligen Tage und Nächte davor nur in meiner quälenden Vorstellung existiert hatte, war endlich Wirklichkeit geworden.
Eine Tat, die alles veränderte.
Eine Tat, die alles ermöglichte.
Eine – Wohltat.
Dass der andere nun tatsächlich über mir baumelte, empfand ich noch gänzlich unwirklich, hatten meine Fieberträume mir doch mannigfaltige Formen der Abrechnung vorgeschlagen. Erschießen. Verbrennen. Zerstückeln. Zerfetzen. Ertränken. Ausbluten.
Nun war es die Schlinge geworden. So it shall be written. So it shall be done.
Ich rappelte mich auf, genoss noch einmal die imaginäre Gischt auf meinem Gesicht, das Ächzen des Kahns unter mir und das Knarzen der Gerechtigkeit.
Dann wandte ich mich ab, ließ mich von den Schatten verschlingen, denen ich entstiegen war, in der unumstößlichen Gewissheit, dass mein Tun Bedeutung hatte.
Dass ich Bedeutung hatte.
Wenn es stimmte, dass ein Mensch an seinen Taten gemessen wurde, so waren mir schon jetzt Ruhm und Anerkennung gewiss.
Denn das, was ich vollbracht hatte, würde niemand jemals leugnen können.
»Gallows didn’t just play rock music. He lived it. He breathed it.
And I mean, in every unhealthy way imaginable.
Cheers to you, John!«
Eric Peterson, TESTAMENT
Die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne durchfluteten die weitläufigen Wiesen und Felder Schleswig-Holsteins. Eine Farbenpracht in Hellorange und Grün verdrängte die vorangegangene Finsternis, zart und kraftvoll zugleich, umschmeichelte die niedrigen Häuser und Höfe.
Eine malerische Grundstimmung, wie im Intro von Metallicas »Fade to Black«: Nachdem eine E-Gitarre einen Achtelnotenaufgang über zwei Takte gespielt hatte, stimmte die akustische Gitarre das neue viertaktige Akkordschema an, das zur Hälfte aus Dur-Akkorden bestand.
Konterkariert wurde diese Harmonie von einer Vielzahl unterschiedlichster Schnarchgeräusche, die aus den Mobilbehausungen drangen, jedes seinem eigenen Rhythmus und seiner eigenen Intonation folgend.
Leises Staccato. Ein Crescendo, von pianissimo zu forte-fortissimo. Ein Glissando.
Diese Kakofonie aus musikalischen Artikulationsarten in Rhonchopathie-Instrumentierung wurde wiederum von Klängen untermalt, die aus Dutzenden Boomboxen schallten. Entweder waren sie in alkoholischer Beseeltheit vergessen worden abzudrehen, oder die Morgenoffensive des angebrochenen akustischen Gefechtstages war bereits mit vollem Karacho angerollt.
Grollendes Grindcore-Gegrowle von Napalm Death und Technical Death Metal von Chuck Schuldiners Death mischten sich mit herzerfrischend-fröhlichen Träller-Nummern Marke Bon Jovi und Co. zu einem sonderbaren Gesamtkunstwerk.
Je nachdem, in welche Richtung man den Kopf drehte, änderte sich jäh der Sound: »Ooh, she’s a little« – »Spirit Crusher!«.
Ansonsten herrschte jedoch andächtige Stille.
Nur wenn sich der Bewohner eines Zelts von einer Seite auf die andere wälzte, erzitterte zuweilen das Sommeriglu. Bei anderen Behausungen wurde die Plane des Eingangs einen Spalt aufgezippt, damit die frische Morgenluft das tun konnte, was sonst nur Duftbäume zu erreichen imstande waren – jegliche Bouquets gelebten Lasters der vorangegangenen Nacht zu verdrängen.
In zwei Zelten, gelegen zwischen den Fahnen von Motörhead und Iron Maiden, schien jedoch keinerlei Leben vorhanden zu sein …
Ein Knäuel aus Gedanken, in sich selbst verwoben und getränkt mit all den Alkoholika, deren Verzehr man in der Nacht zuvor noch als großartige Idee gepriesen hatte, begann sich langsam zu entwirren.
Lars schmerzte nicht nur der Kopf, seine ganze linke Körperhälfte tat ihm weh.
Wo war er?
Er rang sich ab, die Augen einen Spaltbreit zu öffnen, nur so lange, bis er verstand, wo er sich befand. Neben ihm lag eine Luftmatratze. Dahinter seine Sporttasche.
Er sah an sich herab: Sein knallbuntes Hawaiihemd stand ihm immer noch genauso gut wie am Vortag.
Hose und Boxershorts ruhten fein säuberlich zusammengefaltet auf dem Fußteil der Luftmatratze. Hatte er das getan? Sein Handy schlummerte fachgerecht an die Powerbank angeschlossen ebenfalls auf der Luftmatratze.
Lars schloss die Augen wieder, versuchte, den Ärger, den er über sich selbst empfand, hinunterzuschlucken. Kein Wunder, dass ihm alles wehtat. Im Gegensatz zu seinem Hab und Gut hatte er die Nacht auf dem harten Zeltboden verbracht.
Chapeau!
Er setzte sich auf, frisierte sich mit den Fingern die schwarzen Haare zu einem Seitenscheitel, bemüht, der Kurzatmigkeit entgegenzuwirken.
Nach einer gefühlten Ewigkeit, die jedoch genauso gut nur wenige Sekunden gedauert haben konnte, sah er auf seine Uhr.
Kurz vor halb acht.
Vor seinem Zelt vernahm er Schlurfgeräusche, die kamen und gingen.
Irgendwo wummerte aus einer Boombox oder Ähnlichem etwas, was Metal-Connaisseure vermutlich als saugeile Mucke abfeiern würden. Lars kam es im Augenblick jedoch so vor, als würde ein Wahnsinniger gänzlich sinnbefreit auf ein paar blecherne Mülltonnen eindreschen. Untermalt wurde das Gehämmer von gutturalen Lauten, die jemand von sich gab, dem man vermutlich den Kehlkopf amputiert hatte. Armer Kerl.
Aber zumindest waren all das Anzeichen von Leben, urteilte Lars, und zu den Lebenden wollte er wieder zurückkehren – den ganzen Tag in einem überhitzten Zelt dahinzuvegetieren war vermutlich noch elendiger, als sich nun aufzuraffen.
Wie ein Bär nach dem Winterschlaf kroch Lars auf allen vieren aus seinem Zelt. Nur dass der Bär vermutlich besser roch. Er streckte den Kopf an die frische Morgenluft und versuchte, sich zu orientieren.