Defekte Debatten - Julia Reuschenbach - E-Book

Defekte Debatten E-Book

Julia Reuschenbach

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Beschreibung

Ein wissenschaftlich fundierter, praxiserfahrener Debattenbeitrag über den Zustand der Debatte, ein Buch das Alarm schlägt, das die Feinde und Gefahren für Demokratie, Meinungsbildung und Zusammenleben benennt und konkrete Verbesserungsvorschläge unterbreitet, damit wir endlich wieder besser streiten.

Zu laut, zu viel, zu dumm, niemand hört mehr zu, niemand ist mehr beweglich oder offen oder im Geringsten wohlwollend. Gebäudeenergiegesetz, deutsche Staatsräson, Agrardiesel, Einwanderung – bei vielen Themen finden sich Beispiele für den dysfunktionalen Status Quo politischer Kommunikation, für die Unmöglichkeit, ergebnisoffener öffentlicher Meinungsbildung. Das ist gemeinhin der Befund: Die Debattenkultur in Deutschland ist in einem desolaten Zustand.

Aus beteiligter Expertensicht analysieren die Politikwissenschaftlerin Julia Reuschenbach und der Radiojournalist Korbinian Frenzel unsere Debattenfähigkeit. Sie ordnen das breite Tableau beteiligter Akteure, sie untersuchen, wer welchen Illusionen zum Opfer fällt. An welchen Defekten das Diskurssystem krankt, welche neuartigen Herausforderungen sich stellen. Um schließlich einen Ausweg aus der Misere zu skizzieren, um Ideen, Lösungen, konkrete Handlungsvorschläge einzubringen.

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Seitenzahl: 407

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Cover

Titel

Julia Reuschenbach Korbinian Frenzel

Defekte Debatten

Warum wir als Gesellschaft besser streiten müssen

Suhrkamp

Impressum

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2024

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage des suhrkamp taschenbuchs 5438.

Originalausgabe© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2024

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung: Brian Barth, Berlin, unter Verwendung zweier Motive von Shutterstock

eISBN 978-3-518-78086-2

www.suhrkamp.de

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

1 Demokratie in der Depression

Erschöpfung

»Dagegen-Debatten«

Wenn die Wohlmeinenden nicht mehr wohlmeinend sind

Immer ist irgendwas

Ernsthaftigkeit

Der innere Stammtisch: Elite by day, Volk by night

Elitenversagen in der Politik

Immer diese Selbstverständlichkeiten

Vom Fehlen der Fehlerkultur

Unübersichtlichkeit

Demokratisierungsgrad

»Too many players«?!

Öffentlichkeit vs. Öffentlichkeiten

Individualisierungsbedürfnisse

Apathie

Politische Selbstwirksamkeit

Money, Money, Money

Von der Entpolitisierung zur Repolitisierung

2 Kaputte Kommunikation

Polarisierung

Banalisierungen des politischen Diskurses

Empörung, Erregung, Aufmerksamkeit

Das schleichende Gift

Populismus und Medien

Widerstände und Widersprüche

Tonalitäten

Sprachlosigkeit

Bekenntnisbedürfnisse

Absolutheitsansprüche

Sprachdefekte

Tücken des Grundsätzlichen

Gewissheiten und Zweifel

Fakten! Fakten! Fakten?

(Un)Follow the science

Am Kern vorbei

Diskurshoheit als Ersatz für Veränderung

Arenen

Journalismus unter seinen Möglichkeiten

Urteilskraft und Umfragen

»Monster« oder Möglichkeiten

Nebenbühnen der Politik

3 Besser Streiten

Ambivalenzen

Mut zu Mehrdeutigkeit

Im Zweifel für den Zweifel

Räume für Irrationales

Grenzen ziehen – Grenzen weiten

Eine Neubelebung der Streit-Idee

Verantwortung

Elitenverhalten und Eigenverantwortung

Diskretion als Stärke

Anschauliche Sprache

Und immer wieder: Politische Bildung

Aushandlungsorte

Lagerfeuer oder Shoppingmall?

Journalismus

Sortierung im Digitalen

Wissenschaft und wir

Debatten zurück in die Parlamente

10 Vorschläge zum Kopfnicken und Kopfschütteln

Dank

Anmerkungen

1 Demokratie in der Depression

Erschöpfung

Ernsthaftigkeit

Unübersichtlichkeit

Apathie

2 Kaputte Kommunikation

Polarisierung

Tonalitäten

Gewissheiten und Zweifel

Arenen

3 Besser Streiten

Ambivalenzen

Verantwortung

Aushandlungsorte

Vorschläge zum Kopfnicken und Kopfschütteln

Fußnoten

Informationen zum Buch

1 Demokratie in der Depression

Was ist nur los? Warum dieses Unbehagen? Warum lassen sich, wie es Wolfgang Schäuble in seinem letzten Lebensjahr sagte, wahrscheinlich ganze Regalmeter1*  füllen mit Analysen und Kommentaren, die das Bild eines politischen Systems im Verfall zeichnen? Haben wir ein ernstes Problem? Oder haben wir mittlerweile zu sehr Gefallen daran gefunden, die Krise herbeizuschreiben und herbeizureden – eine Art Beschäftigungstherapie im Ennui etablierter Gesellschaften? Ist die Substanz unserer demokratischen Gesellschaften im Grunde gut – und das Gemecker einfach unverhältnismäßig laut?

Ein klassisches Henne-Ei-Dilemma: War erst die Krise und dann das Reden darüber? Oder schaffen wir durch die permanente Krisenbeschreibung das Problem in dieser Dimension nicht erst selbst? Ohne Frage gibt es eine Wechselwirkung. Die Omnipräsenz der besorgten Analysen, warnenden Kommentare und mahnenden Zwischenrufe hat mittlerweile – wie Schäuble zu Recht kritisch anmerkte – eine Eigendynamik, um nicht zu sagen eine eigene Krisendiskursökonomie geschaffen.

Es schadet nicht, diesen Gedanken als kritischen Prüfauftrag mitzunehmen: Wo dient die Krisendiagnostik dem Ziel der Erklärung und idealerweise dem Aufzeigen von Auswegen? Wo steckt darin möglicherweise eher ein Nachplappern eingeübter Diskursschleifen? Im harmloseren Fall mag Denkfaulheit dahinterstecken. Im weniger harmlosen Fall ist es das bewusste Heraufbeschwören von Problemlagen, um daraus politisch Kapital zu schlagen. Es wäre verlockend, aber leider zu einfach, die aufgeregten Debatten unserer Zeit nur als ein Phänomen allgemeiner Aufregung zu begreifen. Als eine Art Bühnenshow (manchmal vielleicht eher ein Schmierentheater), während im Hintergrund alles seinen gewohnten Gang geht. Krise? Welche Krise?

Laute und aufgeregt geführte Debatten müssen nicht per se darauf hindeuten, dass wir es mit tiefgreifenden Herausforderungen oder Krisen zu tun haben. Auch frühere Zeiten waren geprägt durch zum Teil heftige Debatten und politische Polarisierungen, von der Frage der Wiederbewaffnung, über 68 und die aufgewühlten und gleichzeitig bleiernen 1970er Jahre, vom Bonner Hofgarten bis weit in die 1990er reichenden Großkonflikten, von Schocks wie dem Mauerbau, dem Terror der RAF oder der Katastrophe von Tschernobyl: Unsere Demokratie hatte schon immer mit Krisen zu kämpfen. Sie war beileibe nicht harmonisch und zimperlich im Umgang. Und doch ist heute etwas anders.

Neu ist die geballte Ladung, durch die die Politik und zunehmend auch wir alle mit verschiedensten Konflikten und Herausforderungen konfrontiert sind. »Polykrise2« ist der Begriff, den Wirtschaftshistoriker Adam Tooze etabliert hat, um diese Überlagerung zu beschreiben. Krisen lösen sich nicht ab, sie gehen gleichsam nahtlos ineinander über, finden parallel zueinander statt, verstärken sich dabei mitunter gegenseitig. Von innen zerrt der Populismus an den Nerven einer demokratischen Gesellschaft, von außen gibt es wieder Feinde in einem ganz klassischen Sinne, als wäre das 20. Jahrhundert mit all seinem Schrecken und seinem noch größeren Schreckenspotential zurückgekehrt. Währenddessen erhitzt sich der Planet in einem Tempo, das den Klimawandel, lange die große abstrakte Gefahr, sehr konkret macht.

Die Gegenwart der Krisen ist das »neue Normal«. Diese Erkenntnis hat sich als Binsenweisheit etabliert. Aber sie kann nur schlecht darüber hinwegtäuschen, dass wir für dieses »neue Normal« noch keinen zufriedenstellenden Umgang gefunden haben: Wie verhandeln wir gesellschaftliche und politische Fragen, wenn permanent Ausnahmezustand herrscht? Wie funktioniert gesellschaftlicher Diskurs, wenn die Hauptaufgabe der Politik Krisenmanagement ist, also eben häufig Ad-hoc-Politik, die eigentlich keine langwierigen Debatten und das vorsichtige Wiegen von Für und Wider zulassen kann?

Haben wir denn überhaupt noch die nötigen Verschnaufpausen zwischen den Krisen, um diese Fragen ernsthaft zu diskutieren, geschweige denn sie zu beantworten? Offensichtlich nicht. Die Polykrise führt so unweigerlich zu einer Krise der Debattenkultur. Zu defekten Debatten.

Ein gehöriger Anteil der Krisenwahrnehmung unserer Zeit dürfte allein darin begründet liegen, dass wir dauernd gefordert sind. Es gibt seit geraumer Zeit keine Phasen mehr, die so etwas wie einen gesellschaftlichen Normalbetrieb darstellen. Was wir bräuchten, wäre eine Resilienz, eine Widerstandsfähigkeit gegenüber den Widrigkeiten der permanenten Krise. Was wir dagegen konstatieren, ist eine für die demokratische Kultur gefährliche Entwicklung: Aus der Erschöpfung wird oftmals Frust. Man könnte meinen, das Problem wächst vor allem an den politischen Rändern. Menschen, die abgehängt sind oder sich so fühlen. Die die Politik als unfähig oder zumindest untätig empfinden. Die in einer immer komplexeren Welt auf der Suche nach einfachen Antworten sind, die ihnen die Populisten nur allzu gerne geben. Doch der Frust hat nicht nur die politischen Ränder erfasst, sondern sich bis in den Kreis der an sich Wohlmeinenden in der politischen Mitte hineingefressen.

Zunächst wird es darum gehen, die Phänomene zu beschreiben, die dazu führen, dass unsere Debatten Schaden genommen haben. Neben dem Frust, der aus der Erschöpfung erwächst, schauen wir genauer auf die Reaktionsmuster – in der Politik, aber auch bei uns allen. Mangelt es an Ernsthaftigkeit, mit dieser ernsten Situation umzugehen? Wir finden dafür leider viele Belege. Dazu kommen neue Unübersichtlichkeiten: Immer mehr Komplexität, immer mehr Player auf dem Debattenspielfeld und immer mehr »Ich« statt »Wir«.

Erschöpfung

Noch nie – seit 1949! – sahen die Menschen so wenig hoffnungsvoll auf die nächsten 12 Monate wie zu Beginn des Krieges Russlands3 gegen die Ukraine.

Das ist angesichts der Dramatik der Nachrichten, dieser für fast alle neuen Begegnung mit der in Europa überwunden geglaubten Idee, Krieg sei ein Mittel der Politik, nachvollziehbar. Und es beschreibt auch die Grenzen der Macht demokratischer und ziviler Politik des eigenen Landes, wenn andere die Mittel des Krieges und der Gewalt wählen. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass auch den in der ersten Linie politisch Verantwortlichen ein Moment der Ohnmacht anzumerken war. In einem positiven Sinne kann das sogar demokratieverstärkend sein, in gewisser Weise war die politische Elite mit der Bevölkerung in dem Gefühl der Überforderung und Erschöpfung vereint. Gleichzeitig verstärkt es natürlich das Problem: Wenn die Entscheidungsträger nicht mehr in der Lage sind zu reagieren, selbst also kaum den Eindruck vermitteln, den Lauf der Geschichte verändern zu können, wie soll jeder Einzelne den Glauben daran aufrechterhalten?

»Dagegen-Debatten«

Wir sind erschöpft angesichts einer Vielzahl von Krisen und vor uns liegenden Herausforderungen. Erschöpfung macht dünnhäutig. Wer erschöpft ist, wird schneller laut, hat weniger Ressourcen, um zuzuhören, mitzudenken, sich aktiv einzubringen oder sich auf Neues vorzubereiten und einzulassen. Das bleibt nicht ohne Auswirkungen auf das Debattenklima: Es ist im Verlauf der letzten (Krisen-)Jahre rauer und destruktiver geworden.

Viele Menschen haben subjektiv den Eindruck, dass die Politik ihre Probleme nicht kennt, nicht lösen will oder sie nicht als wichtig genug erachtet. Und wenn sie es doch tut, dann sind die Lösungen zu langsam, zu wenig oder zu spät. Die Teilnahme an Debatten beschränkt sich dann häufig auf ein »Dagegen-Sein«, auf die Artikulation von Frust, Wut, Unmut und zunehmend auf Hass und Hetze. »Wir sind das Volk4, und der Staat kann uns mal« fasst es der Historiker Andreas Wirsching pointiert zusammen. Wir erleben also bei einer wachsenden Anzahl von Bürgerinnen und Bürgern die grundsätzliche Verweigerung des Diskurses in der Sache – aus Überforderung, aber eben auch aus dem Gefühl heraus, in der eigenen Perspektive ohnehin keine Anerkennung zu finden. Die stattdessen an den Tag gelegte Diskurshaltung lässt sich am besten mit dem ausgestreckten Mittelfinger beschreiben: eine grundsätzliche Skepsis gegenüber den politischen und medialen Eliten, ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber dem, was als das »Richtige, das Gebotene, das Unabdingbare« identifiziert wird. Ein Phänomen, das in der Euro-Krise in aller Deutlichkeit sichtbar war. Während es in der Bevölkerung breite Mehrheiten gegen den als alternativlos dargestellten Euro-Rettungskurs gab, fand sich diese Skepsis kaum repräsentiert in den Parlamenten oder in der medialen Öffentlichkeit. (Man sollte in diesem Zusammenhang nicht vergessen: das – und nicht ausschließlich Migrationsfragen – war der Geburtshelfer eines erfolgreichen politischen Populismus in Deutschland.) In jüngerer Zeit sehen wir die Dagegen-Haltungen in Folge der Corona-Pandemie, sicherlich nicht als breites gesellschaftliches Phänomen, doch dafür umso lauter und teils radikaler. Die Skepsis und Ablehnung von Impfungen stehen dafür exemplarisch, die Aluhüte symbolisch.

Es scheint ein wiederkehrendes Muster zu sein: Politik, die über ihre schiere Notwendigkeit und Dringlichkeit begründet wird, wird allein deshalb zum Angriffspunkt. Das, was eben noch »common sense« war, etwa ein entschlossenes und schnelles Handeln, um die Pandemie zu stoppen, wird so polarisiert und emotionalisiert. Möglicherweise rutscht die Klimapolitik gerade in dieses Muster der Alternativlosigkeit und ruft allein dadurch Widerstände hervor.

Die Krisen der jüngeren Zeit haben gezeigt, dass es bei diesem »Dagegen« kein kohärentes Bild entlang politischer Denkrichtungen gibt. Skepsis gegenüber der Euro-Rettung konnte mit einer Spur Antikapitalismus gut von links begründet sein, ebenso wie nationalistisch-rechts. In der Corona-Krise machte der Begriff der »Querdenker« deutlich, welches ideologische Sammelsurium die Proteste nährte.

Es wäre verkürzt, das wachsende »Dagegen-Sein« nur an den Rändern zu diagnostizieren. In gewisser Weise war es dort – als Ausdruck einer grundsätzlichen Skepsis gegenüber dem »System« – schon immer zu Hause. Verweigerungshaltungen sind aber auch zunehmend weiter in den Debattenraum vorgedrungen. Ohne die jeweilige Legitimität der Forderungen hier diskutieren zu wollen: Die radikalen Klimaprotestler haben mit ihren Blockade-Aktionen für eher sachlich moderate Forderungen wie die Einführung eines Tempolimits radikale Protestformen gewählt, die zunächst nicht wie eine Einladung zum Dialog wirken. Ähnliches zeigt sich bei Protesten von Landwirten, Handwerkerinnen oder Spediteuren, bei denen man fast den Eindruck haben könnte, sie haben sich, während sie im von der »Letzten Generation« verursachten Stau standen, die Protestformen der Klimaaktivisten sehr genau abgeschaut.

Interessanterweise – die letzten Auseinandersetzungen haben es erneut gezeigt – »funktioniert« der Verweigerungsansatz, ebenjene »Dagegen-Debatten«, um im politischen Diskurs Beachtung zu finden, für manche Positionen und Perspektiven weitaus besser als die gesittete Teilnahme an den Sachdebatten.

Es wird lauter auf den Straßen. Aber auch in den Parlamenten. Studien zeigen, dass der Einzug der AfD in den Bundestag und in die Landesparlamente die Verrohung im politischen Diskurs verstärkt hat. Die Zahl von Beleidigungen5, parlamentarischen Provokationen und Enthemmungsversuchen hat erheblich zugenommen. Die Zahl der Ordnungsrufe6 ist so hoch wie nie seit der Wiedervereinigung. Spitzenreiter: die AfD, während das Parlament um sie herum weitestgehend hart in der Sache, aber doch verbindlich im Ton miteinander debattiert. Der Trend setzt sich fort. Allein im Jahr 20227 gab es so viele Ordnungsrufe wie in der gesamten vorherigen Legislaturperiode von 2017 bis 2021. Auch früher wurde im Bundestag intensiv gestritten. Doch vom Spitzenwert in der Legislaturperiode zwischen 1983 und 1987, in der es insgesamt 156 Ordnungsrufe hagelte, hatte sich das Parlament weit entfernt. Klar, Ordnungsrufe sind nicht alles. Doch wie Politiker miteinander verhandeln und umgehen, wie sie debattieren, nimmt Einfluss auf die politische Kultur. Damals war es kein zufälliger Rekord gewesen, denn 1983 zogen die Grünen neu ein in den Bundestag – und mit ihnen unkonventionelle Töne: Joschka Fischer, der den Bundestagspräsidenten mit den Worten »Mit Verlaub, Herr Präsident, Sie sind ein Arschloch!« beschimpfte und der noch zuvor dem Bundestag attestiert hatte, eine »unglaubliche Alkoholikerversammlung8« zu sein, die »teilweise ganz ordinär nach Schnaps stinkt«.

Generell stellt sich die Frage: War die Debattenkultur denn überhaupt jemals wirklich besser? Es fällt nicht schwer, in der Vergangenheit Beispiele dafür zu finden, dass man sich in der Politik gegenseitig hart, wenig konstruktiv und oft unter der Gürtellinie anging. Herbert Wehner, der den Parlamentarischen Geschäftsführer der Union, Philipp Jenninger, beispielsweise als »Geschwätzführer« verunglimpfte. Oder Franz-Josef Strauß mit legendären Aussprüchen wie »Wenn's schon kein Hirn9 haben, dann halten Sie's Maul wenigstens«. Durch die Parlamentsbank beliebt waren auch historische Analogien10: »roter Faschist«, »Mini-Goebbels« oder »Obernazi«. In den 2010er Jahren knüpfte CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt an die lange Tradition der derben Sprache an, als er den Koalitionspartner FDP als »Gurkentruppe11« bezeichnete.

Und heute? Auch in der gegenwärtigen politischen Mitte begegnen sich einzelne Gruppen und Akteure – nicht nur im Parlament – konfrontativ. Wir sind oft weit entfernt von den, nennen wir sie mal »Gütekriterien« einer zivilisierten und konstruktiven Debatte. Wechselseitige Schuldzuweisungen und Vorwürfe an eine vermeintlich durch Ideologie getriebene Politik der jeweils anderen Seite sind nur zwei Spielarten, die sich bei Industriebossen, über Bauernverbände, in Parteien, am Stammtisch, in aktivistischen Gruppierungen von links der Mitte bis rechts der Mitte finden lassen und die am Ende jenen Auftrieb und Bestätigung geben, die die Demokratie und ihre Institutionen ohnehin verachten und infrage stellen.

Also alles nichts Neues? Vielleicht doch. Im Unterschied zu den Debatten vor 30 oder 40 Jahren ist unsere Gesellschaft heute dem beschriebenen toxischen Mix aus Krisenerfahrungen, Vertrauensverlust und Zukunftsunsicherheit ausgesetzt. Wir befinden uns nicht länger im Kokon der zwar nicht krisenfreien, aber doch ökonomisch wie politisch-gesellschaftlich stabilen Strukturen der alten Bundesrepublik. In vielen Fragen der aktuellen Transformationen ist offen, wer Gewinner und wer Verlierer sein wird.

Und wir sind angesichts dessen tatsächlich sensibler und dünnhäutiger geworden. Das schlägt sich nicht unbedingt beim Blick auf die eigenen Lebensumstände nieder, wie es Umfragen immer wieder zeigen. Wohl aber beim Blick auf die Gesamtgesellschaft, die wirtschaftliche Lage des Landes und dessen Zukunftsaussichten. Es bleibt paradox.

Konstant zeigen demoskopische Daten, dass die Menschen in Deutschland ihre eigene wirtschaftliche Situation auch in Krisenzeiten in weiten Teilen als stabil oder gut bewerten, während sie das Land insgesamt im Abwärtstrend verorten und sorgenvoll betrachten. Schon seit Längerem zeigt sich dabei besonders auffällig, dass sich unter jenen, die skeptisch in die Zukunft schauen, besonders viele AfD-Anhänger finden. Sie sind damit klar die größte Gruppe, während die Anhängerschaften anderer Parteien (mit Ausnahme des BSW) deutlich kleinere Teile dieser Gruppe12 ausmachen.

Die verstärkte Krisenwahrnehmung kommt nicht von ungefähr. Denn heute gibt es vermehrt politische Kräfte, die bewusst Verschärfung betreiben. Die Soziologen Steffen Mau, Linus Westheuser und Thomas Lux nennen sie »Polarisierungsunternehmer13«. Aus destruktivem Streit, Angst und Unsicherheiten versuchen diese gezielt Kapital zu schlagen. Das bleibt nicht ohne Folge für den Diskurs: Wie bei einem Erdbeben schlägt der Debatten-Seismograf inzwischen täglich aus. Unsere Debatten sind nicht nur lauter, sondern rauer und aggressiver geworden.

Politiker, die auf Demonstrationsplakaten in Sträflingskleidung gezeigt werden, scheinen dabei noch die harmlose Variante, wenn im Unterschied dazu auf Plakaten bei Demonstrationen gegen die Waffenlieferungen an die Ukraine zu lesen ist: »Grüne an die Ostfront14« oder im bayerischen Wahlkampf 2023 »Jagt diese Grünen Volksverräter aus unserem Land«. Wenn andere Akteure diesen Polarisierungsunternehmern wiederum mit Polarisierung begegnen, verstärkt sich der Effekt nochmals.

Vor diesem Hintergrund beobachten wir derzeit leider wenig überraschend eine starke Zunahme von Gewalt gegen Politikerinnen und Politiker. Der SPD-Europapolitiker Matthias Ecke wurde in Leipzig beim Plakatekleben krankenhausreif geschlagen. Bundestagsvizepräsidentin Kathrin Göring-Eckardt konnte den brandenburgischen Oderbruch nach einer Bürgerveranstaltung nur nach Anforderung zusätzlichen Polizeischutzes verlassen. Ähnlich erging es dem aus dem Urlaub zurückkehrenden Robert Habeck im Hafen von Schlüttsiel oder Ricarda Lang, der Grünen-Co-Chefin, die beim Politischen Aschermittwoch 2024 in Biberach bedroht wurde. Es trifft zuallererst die Grünen15, direkt dahinter sind es aber Politiker der AfD, die angegriffen werden, und insgesamt vor allem viele Kommunalpolitikerinnen und -politiker.

Woher viele dieser Verschärfungen kommen, ist klar zu benennen: von den politischen Extremen. Sie haben Populismus und teils offen vorgetragenen Rassismus in Teilen der Politik etabliert. Auch hier muss man natürlich fragen: War das früher anders? Nein, nicht grundsätzlich. Erinnerungen an Äußerungen früherer Bundestagsabgeordneter16 wie Alfred Dregger (CDU) (»Die Türken … sind nicht zu assimilieren … sie sind auch nur schwer zu integrieren.«), an SPD-Kanzlerkandidat Oskar Lafontaine, der im Wahlkampf 1990 gegen »Scheinasylanten« wetterte, oder an die sogenannte »Stahlhelm-Fraktion« innerhalb der CDU machen das deutlich.

Im Unterschied zu heute standen rechtspopulistische und rechtsextreme Parteien damals jedoch nahezu mit leeren Händen da. Sie positionierten sich als sogenannte »Single-Issue-Parties«, also als Ein-Thema-Parteien mit einem klaren Fokus auf Asyl- und Migrationspolitik. Keine Partei konnte sich dauerhaft als parlamentarische Kraft etablieren. Viele der heute sagbaren Positionen wurden damals, wenn überhaupt, hinter vorgehaltener Hand geäußert. Heute kann man in »Sammys Shirt Store« über Amazon ein T-Shirt mit der Aufschrift »Nun bin ich halt gesichert rechtsextrem17. Na und?« kaufen. Willy Brandts in der Vergangenheit vielzitierte lakonische Reaktion auf solche Vorfälle – »Wir waren schon mal weiter« – hat angesichts des erstarkten Rechtspopulismus und Rechtsextremismus heute einmal mehr einen ernsten Unterton. Der AfD ist es gelungen, nicht länger nur als Ein-Themen-Partei18 wahrgenommen zu werden. Sie positioniert sich in vielen Politikfeldern, bündelt Protestpotenziale und mobilisiert in den Kernthemen rechtspopulistischer Parteien: Migration und Innere Sicherheit.

Mit den »Dagegen-Debatten« unserer Zeit hat sich die AfD als »Dagegen-Partei« etabliert. Sie steht symptomatisch für viele Verhärtungen und Zuspitzungen, die unsere Debatten polarisieren. Aber es wäre zu viel der Ehre, all diese Phänomene dem geschickten Agieren einer neuen Partei zuzuschreiben. Denn: Politik ist damals wie heute ein Spiegel der Gesellschaft. Ist etwas politisch sagbar und vertretbar, muss es auch innerhalb der Bevölkerung dafür einen gewissen Resonanzraum geben. Wahrscheinlich ist heute vieles sichtbarer, was früher wenig offensiv öffentlich diskutiert, sicherlich aber nicht minder gedacht wurde. Unzweifelhaft hat die Verbreitung sogenannter sozialer Netzwerke einen Anteil daran, dass heute jede und jeder mit wenig Mühe und häufig ohne den eigenen Namen zu nennen Hass, Wut und Ressentiments in die Welt kommentieren und tippen kann. Ungefiltert alles mitkriegen, sofort kommentieren. Es sind Verstärkereffekte und Herausforderungen für unsere Erregungsdemokratie.

Die Übernahme spalterischer Sprache und populistischer Forderungen, insbesondere – aber nicht nur – durch konservative Parteien und Akteure, hat in den letzten Jahren dazu geführt, dass rechtspopulistische und in Teilen rechtextremistische Positionen ein »Mainstreaming19« erfahren haben. Es hat einerseits erheblich zum Erfolg dieser Parteien beigetragen und andererseits unsere Debattenkultur massiv in Mitleidenschaft gezogen. Doch das allein ist es nicht. Es ist vielmehr die Kombination aus dieser Normalisierung und einem andauernden »politischen Aschermittwoch« zwischen den Akteuren der politischen Mitte. Es ist eben nicht mehr die Ausnahme, dass, wie bei den traditionellen Veranstaltungen in Passau, Vilshofen, Biberach üblich, derbe und populistische, teils indiskutable Äußerungen über den politischen Gegner fallen. Sondern inzwischen ist »jeden Tag Aschermittwoch«20.

Wie konnte das passieren? Was hat unsere Debattenkultur bloß so ruiniert? Es ist interessant, dass diese Entwicklung vielfach so wahrgenommen wird, als liege in ihr fast so etwas wie eine Zwangsläufigkeit. Mit Blick auf andere Länder, etwa die USA, Frankreich oder Großbritannien, könnte man zu dem Schluss kommen, die liberalen und demokratischen Gesellschaften seien geradezu dazu verdammt, sich selbst immer stärker zu polarisieren. Aber die um sich greifenden »Dagegen-Debatten« entstehen nicht automatisch. Sie speisen sich aus der gesellschaftlichen Mitte, genährt vom Frust über die Funktionsdefizite von Politik.

Wenn die Wohlmeinenden nicht mehr wohlmeinend sind

Seitdem es die Demokratie als Staatsform gibt, sind Extreme und Radikale ihre größten Feinde. Gruppen und Akteure, die die Demokratie ablehnen, die sie aktiv bekämpfen und dazu selbst vor dem Einsatz von Gewalt nicht zurückschrecken. Solche Feinde der Demokratie hatte auch die Bundesrepublik in ihrer Geschichte schon immer. Mit zahlreichen Maßnahmen ist die Demokratie diesen Extremisten aktiv begegnet. Rechtlich mit der Definition der freiheitlich-demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes, in den 1970er Jahren mit dem hoch umstrittenen Radikalenerlass oder mit der – zu Recht mit hohen Hürden verbundenen – Möglichkeit von Parteiverbotsverfahren. Gegenwärtig diskutieren wir angesichts des erstarkenden und in den Reihen der AfD immer offener zutage tretenden Rechtsradikalismus einmal mehr über die Chancen und Risiken solcher Verbotsverfahren, die es im Übrigen in zahlreichen anderen Ländern21 gar nicht gibt. Die vielbeschworene wehrhafte Demokratie muss sich wehren können. Aber sie braucht dafür nicht nur rechtliche oder politische Instrumente, sondern sie braucht vor allem ihre Freunde. Verteidiger der Demokratie, die zum Beispiel an Demonstrationen teilnehmen, Demokratieförderprojekte unterstützen oder sich zivilgesellschaftlich in Vereinen, Gewerkschaften oder Parteien für sie einsetzen und engagieren. Die frühere Bundesverfassungsrichterin Gertrude Lübbe-Wolff hat zu Recht darauf hingewiesen, dass die besten Instrumente des Staates im Werkzeugkoffer der »wehrhaften Demokratie« nicht ausreichen, wenn die Demokratie nicht von kundigen Demokraten22 verteidigt wird.

Wenn wir auf die Debatten und die politische Kultur des Landes schauen, geht es inzwischen nicht mehr nur um die schon überzeugten Anhänger einer in weiten Teilen rechtsextremen Partei und all jene, die mit dieser sympathisieren. Vielmehr hat sich in den letzten Jahren schleichend ein weiteres Problem entwickelt. Es besteht darin, dass die Demokratiekrise, die wir gegenwärtig inmitten der großen »Polykrise« ausmachen, maßgeblich durch Erosionen in der Mitte unserer Gesellschaft gekennzeichnet ist.

Menschen, die wir bislang zu den »Wohlmeinenden« gezählt hätten. Menschen, gar nicht zwingend politisch aktiv, aber doch interessiert, die sich selbst vermutlich als überzeugte Demokratinnen bezeichnen würden, bekommen Zweifel. Ein diffuser und unterschwelliger Frust wächst. Damit ist nicht gesagt, dass sie antidemokratische Einstellungen vertreten oder die Demokratie ablehnen. Im Gegenteil. Aber diese Mitte, so beschreibt es Andreas Wirsching, sei angesichts von Statusunsicherheiten23 und Zukunftsängsten besonders anfällig für rechtspopulistische und rechtsextreme Versprechen. Es geht eben nicht nur darum, dass man diese Menschen an rechtspopulistische und rechtsextreme Kräfte verlieren könnte, sondern vielmehr darum, dass sie auch für eine gute Debattenkultur als aktive Verteidiger der Demokratie gebraucht werden. Der Historiker Christopher Clark hat es im Deutschlandfunk Kultur vor Kurzem treffend beschrieben: Die Demokratie droht, fernab ihrer Feinde, ihre Freunde zu verlieren24. Nur mit diesen Freunden lösen wir Defekte in unseren Debatten und kommen zu einer besseren Streitkultur.

Es geht also um uns alle. Alle, die punktuell oder auch schon darüber hinausgehend das Vertrauen in das Funktionieren, in die Prinzipien und die Institutionen der Demokratie verlieren oder zu verlieren drohen. Menschen, die also im Grunde Vertrauen haben, aber langsam den Glauben verlieren. Es geht dabei nicht um die Demokratie als Staatsform, sondern vor allem um ihr Funktionieren25. Es sinkt das Vertrauen darin, dass Politik in der Lage ist, Probleme (trotz guten Willens und ernster Absichtserklärungen) wirklich zu lösen. Dass Politik in der Lage ist, über Legislaturperioden hinweg vorausschauend im Sinne aller Generationen zu agieren, Wohlstand zu sichern, sozialen Ungleichheiten zu begegnen und Politik sozialverträglich zu gestalten.

Spricht man über diesen Vertrauensverlust, hagelt es Beispiele: die Bahn, die Bürokratie, die Digitalisierung. Letztere ist vielleicht das bedrückendste Beispiel in dieser Hinsicht. Eine Herausforderung auf so vielen staatlichen Ebenen, die zu meistern sich im Grunde alle relevanten politischen Kräfte dieses Landes verschrieben haben – und zwar seit mindestens einer Dekade. Es gibt im Grunde keinen Streit um dieses Thema (wie bei so vielen weiteren Themen), es herrscht weitgehend Konsens in der Problemanalyse, dass Deutschland in diesem Feld im europäischen und internationalen Vergleich weit hinterherhinkt.

Hinzu kommt, dass sich der Staat auf nahezu allen Ebenen intensiv mit dem Thema beschäftigt und handeln will. Teils massive Etats wurden aufgestellt, etwa allein für die Digitalisierung der Schulen fünf Milliarden Euro aus Bundesmitteln26. Und dennoch sind viel zu wenige Ergebnisse sichtbar. Einfache staatliche Dienstleistungen erfordern nach wie vor fast immer die physische Präsenz in einem Bürgeramt. Schulen haben heute vielleicht häufiger digitale Whiteboards statt Kreide und Tafel, aber sind in der Breite weit davon entfernt, digitale Lernorte27 zu sein.

Politik liefert nicht. Und zwar nicht gemessen an zu hohen Erwartungen der Öffentlichkeit. Sondern sie scheitert häufig gemessen an ihren eigenen Zielen und Versprechungen. Der geschulte Bürger wie auch die fleißige Zeitungsleserin ahnen im Zweifel sogar, warum: Kompetenzgerangel zwischen Bund, Ländern und Kommunen, gepaart mit fehlenden Plänen, die aus Etats tatsächlich politische Konzepte machen. Plus Fachkräftemangel, plus parteipolitische Befindlichkeiten. Im Ergebnis bleibt ein ungutes Gefühl und die bangen Fragen: Wir haben so viel geschafft, warum schaffen wir das nicht? Und: Wie lange können wir uns das so noch leisten?

Das Problem verstärkt sich dadurch, dass diese Zweifel an der staatlichen Leistungsfähigkeit und der Problemlösungsfähigkeit von Politik vorgedrungen sind in die Institutionen samt ihren Protagonisten: Beamte, die vor den nicht zu bewältigenden Aufgaben kapitulieren, Lehrerinnen, die gegenüber Eltern offen bekennen, unter den Bedingungen, die sie vorfinden, keine gute Bildungsarbeit leisten zu können. Polizisten, die – wie es in einer Studie der Hochschule der Polizei heißt – frustriert sind durch »Vergeblichkeitserfahrungen28 durch Unzufriedenheit mit dem Justizsystem«. Man darf getrost übersetzen: oft genug sehen, dass ihre Ermittlungsarbeit folgenlos bleibt.

Es ist einerseits eine große Errungenschaft freier und offener Gesellschaften, dass von denen, die den Staat repräsentieren, keine falsche Loyalität eingefordert wird.

Aber wie sollen Bürger andererseits in die Handlungsfähigkeit eines Staates vertrauen, wenn die, die ihn repräsentieren, kaum noch Vertrauen in ihre eigene Handlungsfähigkeit haben?

Die Erosion des Vertrauens in der Mitte wird durch weitere Faktoren verstärkt: Etwa dadurch, dass gerade die Informierten erkennen, wenn in der Politik statt echter und leider eben komplexer Problemlösung Politiksimulation betrieben wird. Hochstilisierte Konflikte um Gendersternchen in der Sprache erzielen auf dem Meinungs- und Aufmerksamkeitsmarkt kurzfristig möglicherweise bessere Renditen als Konzepte zum Wohnungsbau. Langfristig hinterlassen sie bei Vielen das schale Gefühl, dass viel gestritten und wenig erreicht wurde. Wir alle kennen das beschriebene Gefühl aus dem Privaten. Schleichend stellt sich die Erkenntnis ein, dass ein über lange Zeit verlässlicher Freund irgendwie abhandenkommt. Man beginnt seine Verlässlichkeit in Frage zu stellen, Misstrauen nimmt zu. Schon im Jahr 2010 sagten 76 Prozent der Befragten29 in repräsentativen Umfragen, dass sie die Fähigkeit der Politik, die aktuellen Probleme der Menschen zu lösen, als »eher niedrig« oder »sehr niedrig« einschätzen. Auf die Frage, welcher Partei die Befragten derzeit am ehesten zutrauen, die wichtigsten politischen Probleme zu lösen, antworteten im Februar 2024 im Rahmen einer Forsa-Umfrage 59 Prozent der Befragten mit »keiner Partei«. Platz eins belegte unter den Parteien die CDU mit 17 Prozent Kompetenzzuschreibung30, während SPD, Grüne und AfD jeweils 7 Prozent erreichen, die FDP 1 Prozent.

Wenn die Wohlmeinenden zweifeln und hadern, woher soll dann die Kraft kommen, sich im Sinne der Sache konstruktiv zu streiten oder gegen Antidemokraten aktiv Position zu beziehen?

Nur wer das Gefühl hat, mit seinen Problemen und Anliegen gehört zu werden, ernst genommen zu werden, hat Interesse an einer konstruktiven Debatte. Aussichtslosigkeit, Frust und Ratlosigkeit sind Gift für den Wunsch nach produktivem Streit und nach demokratischem Engagement. Gehört zu werden meint nicht, keinen Widerspruch zu erfahren. Auch so ein Phänomen unserer Zeit. Meinungsfreiheit ist keine Widerspruchsfreiheit. Gleichwohl ist »Gehörtwerden« eine Voraussetzung dafür, um einer voranschreitenden Normalisierung von populistischen und extremistischen Positionen in der politischen Mitte vorzubeugen.

Immer ist irgendwas

Wahrscheinlich ist König Charles mit dem ihm bei seiner Krönung zugeschriebenen Satz »Immer ist irgendetwas« die lebensnahste Übersetzung der »Polykrise« gelungen.

Immer ist irgendwas. Und diese Ereignisse, Krisen und Kriege führen dazu, dass Antworten nicht klarer, Lösungen nicht einfacher und die Weltsortierung nicht weniger komplex wird.

Diese Aussage allein ist natürlich schon ein sehr grober Versuch der Komplexitätsreduzierung, um nicht zu sagen eine Binsenweisheit. Gerade in der Politik hat der Verweis auf die Komplexität eine gewisse Konjunktur, liegt darin so etwas wie eine Generalabsolution, eine Art Entlastung sowohl in faktischer als auch rhetorischer Hinsicht: Angesichts der allgemeinen Komplexität ist es nahezu unmöglich, sowohl kohärente Lösungen zu finden als auch Erreichtes zu vermitteln. Der Verweis auf die Komplexität ist in diesem Sinne die dankbarste Vereinfachung.

Und doch trifft es ja zu. Es gibt eine faktische Zunahme der Komplexität, das zeigt sich nicht nur durch die Permanenz von Krisen und den damit aufkommenden neuen Fragen. Es zeigt sich auch dort, wo Politik gemacht wird, wo also Antworten auf die Herausforderungen gefunden werden müssen. Unübersichtlichkeit entsteht beispielsweise schon bei der Frage, auf welchem Wege politische Entscheidungen zustande kommen. Beginnend bei der Unklarheit, welche politische Ebene (EU, Bund, Land, Kommune) überhaupt zuständig ist (oder sein sollte und es aber de facto nicht ist), gefolgt von der Zunahme des »technokratischen Momentums« von Politik, also der notwendigen Detailtiefe politischer Entscheidungen, bis hin zur Frage, ob »die Politik« überhaupt noch steuerungsfähig ist.

Komplexität kann jeden noch so guten Willen schnell zunichtemachen. Unsere Aufmerksamkeitsspannen31 nehmen in Folge medialer und technologischer Entwicklungen ab, während sie gerade für politische Themen zunehmen müssten, damit wir die geballte Komplexität zwischen Wärmepumpen, Klimawandel, Geopolitik, Künstlicher Intelligenz, neuen Lebensmodellen und Transformationserfordernissen verstehen.

Und die Komplexität macht auch vor der Politik nicht Halt. Die Abgeordneten im Deutschen Bundestag haben vermutlich kaum genügend Zeit und personelle Ressourcen, um alle Gesetzesentwürfe, Anträge, Gutachten, Stellungnahmen und dergleichen mit der angemessenen Ruhe und Detailtiefe durchzuarbeiten. Auch für sie kommen ständig neue Themen dazu, auch wenn sie sich auf die Zuarbeit aus Fachressorts verlassen können und schon immer verlassen mussten. Doch wenn das nicht stattfindet, nicht mehr stattfinden kann, wer soll dann in öffentlichen Debatten in der Lage sein, den Inhalt der Gesetze zu erklären? Hinzu kommt, dass zumindest seit Amtsantritt der Ampelkoalition vielfach Unmut darüber laut wurde, dass die Abgeordneten für das Studium von Gesetzesvorlagen der Regierung viel zu wenig Zeit erhielten. Dabei trifft die Komplexitätszunahme die Regierung selbst32 nicht weniger. Handwerkliche Fehler33 – man denke nur an die Gesetzesentwürfe zum Gebäudeenergiegesetz oder den Plan zur Einführung einer Gasumlage – sind die Folge.

Unter diesen Entwicklungen leidet auch das Interesse an Politik und das Informationsverhalten der Menschen. Nicht wenige sind auf diesem Weg schon anders abgebogen. »News Avoidance34« ist hier das Stichwort. Laut »Digital News Report« des Reuters Institute for the Study of Journalism wollen immer mehr Menschen keine Nachrichten mehr konsumieren. Die Zahl der Vermeider, also der Menschen, die versuchen, Nachrichtenkonsum aktiv zu umgehen, ist stark angestiegen. Unter den Befragten bis Mitte dreißig bezeichnet sich weniger als ein Drittel als »äußerst oder sehr« an den täglichen Nachrichten interessiert. Bei den Ü-55-Jährigen sind es immerhin noch rund drei Viertel.

Ernsthaftigkeit

Komplexe Zeiten erfordern eigentlich ein hohes Maß an Ernsthaftigkeit und Verantwortungsgefühl. Ein umsichtiges, vorsichtiges Prüfen, wie und wo man selbst konstruktiv eine Rolle einnehmen müsste. Eine Phase, in der gerade auch den politisch Verantwortlichen die Aufgabe zukommt, Gräben nicht noch zu vertiefen, Konflikte nicht hochzupeitschen, sondern ihrer Verantwortung als Führungselite gerecht zu werden. Wir bräuchten angesichts der sich häufig schnell ändernden Problemlagen eine Kultur, die offen ist für die Korrektur eingeschlagener Pfade.

Leider sind wir davon weit entfernt. Zu unserer Erschöpfung tritt die Verweigerung von Ernsthaftigkeit. Das manifestiert sich im Fehlen einer Fehlerkultur, mit massiven Auswirkungen auf die Debattenfähigkeit.

Der innere Stammtisch: Elite by day, Volk by night

Vielleicht gibt es in unserem Land bei all den Verwerfungen und Grabenkämpfen eine Gemeinsamkeit über viele politische und lebensweltliche Grenzen hinweg. Etwas, das mehr ein Raunen ist, ein kollektives Kopfschütteln, ein Gefühl: dass »die« es irgendwie nicht hinkriegen. Wer über den Gartenzaun ein Gespräch führen will und ahnt, es könnte politisch schwierig werden, würde sich im Zweifel auf diesen gemeinsamen Nenner zurückziehen: die Unzufriedenheit mit der politischen Klasse, das Naserümpfen über sinnlose Rituale und das Klein-Klein im Streit bei gleichzeitiger offensichtlicher Erfolglosigkeit.

Es gibt dieses Schimpfen in jeder politischen Couleur und auch intellektuell durchaus abgestuft. Das plumpe »Die da oben«, die man möglicherweise sogar für korrupt, in jedem Falle für unfähig hält, befindet sich am extremen Ende der Skala. Befeuert von Populisten, publizistisch sekundiert durch Teile der Presse, vor allem in den Echokammern sozialer Medien. Am wohlmeinenden, anderen Ende der Skala stehen die Leitartikler und Feuilletonistinnen, die manchmal nicht sehr gut verbergen können, dass sie es im Zweifel besser machten als die Politiker, in jedem Fall aber genau wissen, warum es so, wie es ist, nicht gut ist. Linksliberale bashen die FDP. Die Grünen stehen dem besitzstandsbesorgten Bürgertum fürs Schimpfen zur Verfügung. Die Christdemokraten müssen erleben, wenig trennscharf unter dem Wort »rechts« subsummiert zu werden. Im Zweifel einigt man sich darauf, dass Scholz viel sagt, zu wenig sagt, das Falsche sagt – im Zweifel ohne etwas zu sagen. Genau: Diese Politik.

Dieser Geist erfasst uns alle irgendwann einmal: diese eingespielte Praxis in modernen freien Gesellschaften, umso kritischer zu sein, je mächtiger (und dabei gleichzeitig vermeintlich unfähig) das Gegenüber erscheint. Es ist unser demokratisches Grundrecht, zu meckern. Und darin liegt eine sehr begrüßenswerte Emanzipation: Diejenigen, die politisch steuern und entscheiden, sind »Gewählte, keine Erwählten35«. Ehrfurcht und Ergebenheit gegenüber der Obrigkeit sind lange passé.

Nur, ist dabei möglicherweise auch der Respekt verloren gegangen? Oder in einem Maße verrutscht, dass viele von uns den Ton nicht mehr richtig treffen, wenn wir über Politik – und vor allem über Politiker – reden? Es scheint ein schleichender Respektverlust aus der Mitte heraus zu sein, aus dem Kreise derjenigen, die selbst sehr häufig aus eigenen Verantwortungsbereichen wissen, wie komplex die Dinge sind, die sich aber offenbar mit dem Schimpfen und Kopfschütteln über Politik ein handlungsentlastendes Ausgleichsventil geschaffen haben. Eigentlich sind wir doch viel klüger. Eigentlich ist unsere Gesellschaft zu viel besseren öffentlichen Debatten in der Lage, als wir sie de facto weitgehend erleben.

Woher nehmen wir diese Zuversicht? Weil so viele es täglich im beruflichen, familiären und sozialen Umfeld zeigen. Unser tägliches Leben ist für die Allermeisten hochkomplex. Was früher möglicherweise »einfache Berufe« waren, Tätigkeiten mit schnell erlernten Abläufen und Routinen, ist heute einer Facharbeiter-Logik gewichen. Wer heute Autos repariert, ist nicht mehr nur Mechaniker, sondern fast schon Informatiker. Wer heute eine Schule leitet, ist mindestens so sehr Manager wie Pädagoge. Was fürs Arbeitsleben gilt, gilt auch im Sozialen. Feste soziale Regeln sind einer großen Flexibilität gewichen, wie wir leben (können).

Was macht das mit uns? Manche mag diese Freiheit und Verantwortung stressen. Viele bewegen sich aber mit Bravour durch diese Welt. Mit Interesse. Mit Neugierde. Und mit einem hohen Verantwortungsgefühl in ihrem direkten Umfeld: Die Lehrerin tut ihr Bestes für die Schüler entgegen allen Widrigkeiten. Der Bahnmitarbeiter repariert die Weiche, bis die Züge wieder fahren können, auch wenn er vielleicht weiß, dass ganz andere Stellschrauben gedreht werden müssten.

Heute finden sich so viel mehr Menschen in solchen Verantwortungspositionen. Sie treffen Entscheidungen und wissen daher auch um die Notwendigkeiten (fauler) Kompromisse und Widrigkeiten. Jeder, der in seinem Arbeitsbereich Veränderungen voranbringen wollte, weiß um die Behäbigkeit von Systemen und deren selten allzu große Veränderungsbereitschaft. Jede, die Personalverantwortung hat, weiß, dass ein Team immer auch schwächere Kollegen kennt. Wer sich um die Finanzen kümmert, sei es im Betrieb oder auch ehrenamtlich im Verein, kennt das Phänomen unerwarteter Ausgaben oder ausbleibender Einnahmen. Nicht wenige Menschen dürften bei Elternabenden die Erfahrung gemacht haben, dass Mitbestimmung langwierig und ermüdend sein kann – und nahmen dennoch die Wahl zum Elternsprecher an.

Aber leider verharren viele in Bezug auf die Politik in einer Haltung, die man als »Elite by day, Volk by night« bezeichnen könnte. In den Worten des Literaturkritikers Ijoma Mangold: Es ist der »innere Stammtisch36«, der allzu oft hochkommt. Es scheint ein existenzielles Bedürfnis zu sein, mit einfachen Maßstäben auf die Welt zu schauen und sich selbst von »denen da oben« abzugrenzen. Selbst wenn man eigentlich irgendwie zu »denen da oben« gehört. Für die Debattenkultur ist das eine große Bürde. Denn in der Konsequenz führen wir Debatten unterkomplex und unter Niveau.

Vielleicht steckt in alldem ebenfalls der Ausdruck einer latenten Überforderung: Haben wir noch genug Kraft, neben den Verantwortlichkeiten des eigenen Lebens Energie aufzubringen für die Diskurse und Debatten der Gesellschaft? Gibt es den Moment, in dem man einfach mal nicht engagiert sein und sich der Komplexität entledigen möchte? Für unsere Debattenfähigkeit wäre es wichtig, dass gerade Eliten diese Fragen reflektieren. Und zugeben, wie entlastend es sein kann, auf diese Weise Komplexität zu reduzieren.

Gleichwohl geht es uns nicht darum, ein »Zuviel« an Kritik anzuprangern. Es ist immer notwendig und legitim, politische Fehlentwicklungen, Missmanagement oder das Nichterreichen von Zielen zu thematisieren. Dass eine Stimmung gegen »die da oben« in dieser Massivität aufkommen kann, liegt natürlich auch an ganz konkreten Unzulänglichkeiten.

Problematisch wird es dann, wenn die Grundhaltung verrutscht. Wenn ein grundsätzliches Unvermögen konstatiert, eine Unfähigkeit unterstellt wird. Und daraus im schlimmsten Falle eine sehr tiefgehende Skepsis gegenüber den handelnden Personen und dem politischen System insgesamt erwächst. Darauf zu zielen, ist zentraler Bestandteil der Definition von Populismus37. Die Sprache ist bei alledem das erste Einfallstor. Wir bewerten Politik oftmals in einer Tonlage, die uns in ihrer Schärfe im sozialen Leben, in der Familie oder bei der Arbeit selten in den Sinn kommen würde. Man stelle sich eine Konferenz vor, bei der ein Unternehmensvertreter einer konkurrierenden Firma unterstellen würde, ihre Produkte seien schädlich oder gar eine Bedrohung für das Land. Was, wenn Teilnehmer eines wissenschaftlichen Kongresses einander wechselseitig nur noch höhnisch auslachten? Würde in einer Schulkonferenz der Elternvertreter der Schulleiterin zurufen: »Sie können es nicht!«?

Leider liefert der politische Betrieb selbst genau solche Vorlagen. Wir kennen die Reden, die ohne Worte wie »Offenbarungseid«, »Kapitulation« oder »Gefahr«, ohne ein Set aus dramatischen Warnungen niemals auskämen. Wenn Politiker sich selbst gegenseitig unterstellen, der jeweils andere setze die Zukunft des Landes aufs Spiel, darf man sich eigentlich nicht wundern, dass die Öffentlichkeit nicht konzilianter auf ihr politisches Personal schaut.

Elitenversagen in der Politik

In gewisser Weise geht die Einladung zur Respektlosigkeit gegenüber der Politik also aus ihr selbst hervor. Das gilt vor allem für die erstarkenden populistischen Kräfte, deren Kerngeschäft genau darin besteht: das rhetorische Sturmreif-Schießen der Demokratie. Es liegt aber auch am Politikstil innerhalb der etablierten, an sich konstruktiven Kräfte, die den Debattenstil mit Theaterdonner geprägt haben.

Auch hier stellt sich einmal mehr die Frage: Ist uns das einfach so »passiert«? Ist die spürbare Schärfe und Polarisierung in der Politik schlicht ein Spiegel gesellschaftlicher Veränderungen? Verschieben sich die Grenzen des Sagbaren, weil sie sich in der Gesellschaft verschoben haben? Haben wir hier einen demokratischen Bottom-up-Prozess, also eine Übertragung von Stimmungslagen in der Bevölkerung auf die Politik?

Wäre es so, ginge die Polarisierung der Debatte vom Volk aus. Aber könnte es nicht möglicherweise auch andersherum sein? Es gibt verschiedene Untersuchungen der jüngeren Zeit, die nahelegen, dass Polarisierungsprozesse eher top-down stattfinden. Parteien sind – das ist wichtig – keine reine Wähler-Membran. Sie gestalten Politik, sie setzen Themen und die Tonalität, in der über sie gesprochen wird.

Das Soziologen-Trio Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser untermauert mit Daten, dass in wichtigen Grundfragen keine tiefen Trennlinien in der Bevölkerung verlaufen, beziehungsweise zwangsläufig verlaufen müssten. Die Rede von der weitreichenden Spaltung der Gesellschaft trifft in diesem Ausmaß nicht zu. Konflikte sind kein sozialer Fakt, der einfach nur gegeben ist. Sie werden entfacht, getriggert und angespitzt. Und zwar von jenen, die dieses Geschäft bewusst oder zumindest unbewusst betreiben: die erwähnten Polarisierungsunternehmer. Zugleich hat die Einigkeit innerhalb der Bevölkerung laut der Autoren auch ihre Grenzen. Immer dann, wenn »gelernte Gleichheitsnormen38« umgewertet werden, wenn es also zu einer Umwertung gesellschaftlicher Verhältnisse kommt – womöglich mit juristischen Folgen oder einer Politisierung des Themas verbunden –, gehen Menschen auf die Bremse.

Der US-amerikanische Politikwissenschaftler Larry M. Bartels kommt bei einer breiten Untersuchung politischer Stimmung in Europa nach der Euro- und Corona-Krise zu einem ähnlichen Ergebnis: Die Bürger zeigten sich demnach nicht signifikant empfänglicher für Rechtspopulismus als vor den Krisen. Der Schlüssel liegt der Untersuchung zufolge vielmehr bei den politischen Eliten. Sie sind der Ausgangspunkt für Diskursverschiebungen und wie in Ungarn oder Polen auch für substantielle Transformationen in Richtung illiberaler Demokratien39.

In vielen anderen Ländern ließen sich weniger gravierende, doch von der Stoßrichtung ähnliche Entwicklungen ausmachen, gerade in (einstmals) konservativen Parteien der Mitte. In Großbritannien haben sich die Tories nicht erst seit dem Brexit-Votum in Programmatik und Rhetorik radikalisiert. Ähnliches gilt in Frankreich für die Republikaner, ganz zu schweigen von den Erben der italienischen Christdemokratie, vor allem in der Forza Italia. In vielen europäischen Ländern haben sich Kräfte der Mitte40 entschieden, rechtspopulistische Parteien über Tolerierungsmodelle indirekt oder durch Koalitionen direkt an der Regierungsmacht zu beteiligen. Damit einher und oft voran geht eine Veränderung des Diskurses hin zu mehr Schärfe und Polarisierungen einerseits und eine Normalisierung und Aufwertung rechtspopulistischer Kräfte und Positionen andererseits.

Vor dieser Kulisse erscheinen die deutschen Verhältnisse geradezu wie eine Zeitreise in eine frühere, stabilere Epoche. In Deutschland sind die klassischen konservativen Kräfte der Mitte, namentlich CDU und CSU, noch deutlich entfernt von diesem massiven Wandel nach rechts. Aber natürlich sind längst hier und dort erste Versuche und Verlockungen zu erkennen. Wenn der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz von »Sozialtourismus« spricht oder die Bevorzugung von Asylbewerbern beim Zahnarzt beklagt, ohne diesen Aussagen programmatische Ideen folgen zu lassen, handelt es sich möglicherweise nicht nur um unbedachte Äußerungen, sondern um politische Testballons. Noch weitreichender ist das »Blinken nach rechts«, wenn in einzelnen Landesverbänden offene Sympathiebekundungen41 für die AfD oder in Parlamenten Abstimmungen mit ihr stattfinden.

Wenn auch zweifellos konservativen Parteien in der Einhegung des Rechtspopulismus eine größere Aufgabe und Verantwortung zufällt, wäre es allerdings verkürzt, diese Kritik nur auf Politik rechts der Mitte zu beschränken. Die Verlockungen der Zuspitzung und Polarisierungen finden auch mitte-links statt. Zur europäischen Einkreisung dieser These sei auf die Entwicklung der Labour Party unter Jeremy Corbin verwiesen, eine ähnliche Verschiebung weg aus der Mitte (und in die Bedeutungslosigkeit) gingen die französischen Sozialisten nach der Präsidentschaft François Hollandes. Hier wie auch in Griechenland wurden die alten, klassischen sozialdemokratischen Parteien letztlich abgelöst durch die radikaleren linken Kräfte um Jean-Luc Mélenchon und Alexis Tsipras. Rechts wie links der Mitte gilt, dass die Strategie einer »Accomodation«42 gegenüber rechtspopulistischen Parteien keine Erfolgsstrategie darstellt. Europäisch-vergleichend angelegte Studien zeigen klar, dass es sich für die Parteien nicht auszahlt. Sie stärken zumeist das Original und verlieren im Worst case (»loose loose«) in der politischen Mitte selbst einstige Wähler, die den Kurs nach rechts nicht unterstützen.

Dazu gibt es ein weiteres Phänomen: mitte-links-Kräfte, die43 sich rechtspopulistische Erzählungen und Politiken aneignen, wie etwa die dänischen Sozialdemokraten. In Deutschland ist auch hier das Bild noch nicht klar zwischen einer SPD, die in ihrer Innen-, Asyl- und Migrationspolitik dänische Züge annehmen könnte, einer klassischen »Linken« und der neuen Partei um Sahra Wagenknecht, deren populistisches Momentum größer ist als im etablierten Parteienspektrum.

Die Migrationspolitik ist unzweifelhaft die Mutter aller populistischen Verlockungen und sie ist eine große Bühne für Scheindebatten und politisch fahrlässige rhetorische Spielereien. Unrühmliches Beispiel: der Spiegel-Titel mit Bundeskanzler Scholz unter der weitbekannten Überschrift »Wir müssen endlich im großen Stil abschieben«. Suggeriert wird, dass Abschiebungen der Befreiungsschlag für die zuvor diskutierte Überlastung von Kommunen sind und so endlich eine Lösung für das »Migrationsthema« bieten. Auch in der CDU finden wir Beispiele dieser Art, wenn etwa der Vize-Fraktionsvorsitzende Jens Spahn in einem Post bei »X«44 fordert, die Bundesregierung müsse angesichts anhaltender Migrationsbewegungen die Grenzen schließen. Solche Scheindebatten sind in großem Umfang geeignet, Vertrauensverlust und Frust nochmals zu verstärken. Denn die Wahrheit ist: Es gibt keine einfache, allumfassende »Lösung« für das Thema. Im Gegenteil. Es ist kleinteilig, komplex, mühsam und langwierig.

Dass der politische Wille da ist, um dem Thema mehr Aufmerksamkeit zu geben, rückt auf diese Weise in den Hintergrund. Für die Debattenkultur ist aber entscheidend, wie dieses »Mehr« an Thematisierung aussieht. Ist es geprägt von solchen Scheindebatten? Von der Übernahme populistischer Positionen? Oder findet eine inhaltliche Auseinandersetzung mit konkreten, faktenbasierten Vorschlägen und Argumenten statt – hart in der Sache, aber verbindlich im Ton? Letzteres sind zwei zentrale Gelingensbedingungen einer guten Debatte.

Europa hat mit dem Brexit ein Paradebeispiel dafür erlebt, wie mangelnde Ernsthaftigkeit und politische Spielereien massive und dauerhafte Auswirkungen haben können. Problematisch war dabei weniger das Verhalten seit Jahrzehnten hör- und sichtbarer Brexiteers, sondern vielmehr das jener unentschlossenen Konservativen, die möglicherweise nur in Hinblick auf eigene politische Aufstiegschancen mit dem Feuer gespielt haben. David Cameron, als er aus innerparteilichem Kalkül ein Referendum über den Austritt Großbritanniens versprach, und noch mehr Boris Johnson, der an die Spitze des Leave-Lagers wechselte, um Premierminister zu werden. Man muss befürchten, dass beiden die Tragweite ihrer politischen Launen nicht hinreichend bewusst war.

Jenseits der Bewertung einzelner Positionen geht es uns an dieser Stelle vor allem um folgende Beobachtung: Es gibt ein hohes Maß an Verantwortung in der Politik dafür, wie Debatten geführt werden. Politikerinnen sind nicht nur Getriebene, sie sind auch Treiber dieses Prozesses. Entscheidend ist dabei die Frage: Wie lauter sind die Motive hinter den politischen Zuspitzungen? Steckt dahinter das große Aufbäumen gegen die »Postpolitik45« der 1990er und 2000er Jahre, die Phase also, die Colin Crouch als ein Zeitalter der Alternativlosigkeit markiert hat? Geht es also in einem guten Sinne darum, politische Alternativen wieder sichtbarer zu machen?

Der Lackmustest liegt in der Frage, inwieweit faktenbasierte politische Konzeptionen und umsetzbare Angebote die Rhetorik untermauern. Wie kohärent ein politisches Auftreten ist.

Wie langfristig Aussagen ihre Gültigkeit behalten oder doch nach Stimmungslagen schwanken: der schmale Grat zwischen einem politischen Kompass ohne Dogmatismus und einem allzu sehr opportunistischen Politikstil. Ein anderer wichtiger Gradmesser liegt in der Auswahl der Themen. Setzen Politiker selbst auf Themen, die jenseits von Relevanzaspekten vor allem das eigene Lager mobilisieren?

Die Mechanismen sind bekannt: Mit einer flammenden Rede gegen Gendersternchen oder Veggie-Days lassen sich Bierzelte schneller warm reden als mit Ausführungen über die Gesundheitspolitik. Andersherum funktioniert der Hinweis auf den Privatjet eines Friedrich Merz oder Christian Lindners Jagdschein oder seine Hochzeit auf Sylt, um im »juste milieu« den Applaus anzufachen.

Ja, auch diese Mechanismen gehören seit jeher zur Politik. Und doch bleibt ein schales Gefühl. Sind die Zeiten nicht zu ernst für diese »Spielchen«? Kommen die Krisen nicht zu geballt? Vergiften damit nicht diejenigen, die am Ende am meisten darauf angewiesen sind, ein konstruktives Debattenklima in diesem Land für schnöde kurzfristige Geländegewinne im Klein-Klein der Aufmerksamkeitsökonomie?

Immer diese Selbstverständlichkeiten

Wir zehren vom Speck. Noch. Vom Speck der guten Jahre der Nachkriegszeit. Dass in nur wenigen Jahrzehnten der Wohlstand im rasanten Tempo wachsen konnte, sozialer Aufstieg für viele möglich wurde und dazu gesellschaftliche Liberalisierungen, die das enge Korsett bürgerlicher Lebensbeschränkungen sprengte. In Belgien erinnert man sich an diese Zeit mit dem Ausspruch »the sky is the limit«, in Frankreich spricht man noch heute von den trente glorieuses, den glorreichen 30 Jahren nach dem Krieg, als alles nur aufwärtszugehen schien. Wunderbarerweise verband sich all das mit der in Westdeutschland wiedergewonnenen Demokratie. »Wirtschaftswunderjahre« – der Brückenschlag des politischen Systems und seiner wirtschaftlichen Grundordnung mit der sozialen Marktwirtschaft.

Wir haben uns in der Demokratie behaglich eingerichtet und Jahrzehnte voller vermeintlicher Selbstverständlichkeiten erlebt: Frieden in Europa, wirtschaftliche Stabilität, sogar Prosperität. Zumindest für den größeren Teil des Landes.

Aber auch im wiedervereinigten Deutschland gab es trotz Dämpfern und Enttäuschungen Stabilitätsmerkmale: Ein weiterhin recht überschaubares Parteiensystem, Deutschland als Spätzünder beim Aufwärtstrend rechtspopulistischer Parteien und deren Erfolgsgeschichten. Verlässlichkeit in den langen Kanzlerschaften Helmut Kohls und Angela Merkels, ebenso während der Amtszeit Gerhard Schröders trotz der Sozialreformen – in der Breite herrschte das Gefühl, »es läuft doch weitestgehend46«.

Heute findet der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, drastische Worte: »Es kann durchaus sein, dass sich unsere westliche Demokratie47 nur als eine kurze Phase in der Geschichte der Menschheit erweist.« Einer der führenden Verfassungsjuristen des Landes hält es für möglich, dass »danach wieder die dunkle Zeit des Totalitarismus zurückkehrt«. Was ist passiert, dass wir und so viele andere aus der Zeit der Selbstverständlichkeiten in eine Phase so großer Ungewissheiten eingetreten sind?

Im Rückblick gilt: Natürlich, hier und da hakte es, es gab nicht wenige Krisen – gerade in den jüngeren Jahren. Aber – so möchten wir konstatieren – nach der Wiedervereinigung und bis weit in die 2000er Jahre hinein hatten wir wenig Anlass und Notwendigkeit, die Essentials unserer Demokratie verteidigen zu müssen.