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Chris Brookmyre

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Beschreibung

Dein Ende ist grausam, denn du hast es verdient Diana Jager ist eine erfolgreiche Chirurgin. Messerscharf ist nicht nur ihr Skalpell, sondern auch ihr Verstand. In ihrem Blog deckt sie Missstände im Medizinwesen auf. Das gefällt nicht allen. Peter Elphinstone ist ein lebenslustiger Informatiker. Er nimmt das Leben, wie es kommt. Ein halbes Jahr nach der Blitzhochzeit mit Diana verschwindet sein Auto in einem Fluss - und mit ihm Peter. Jack Parlabane überschreitet als Journalist gern die Grenzen des Erlaubten. Nun soll er den Beweis liefern, dass Diana eine eiskalte Mörderin ist. Dass sie Peters Ende war. Wird Jack nun ihr Ende sein? Der Spannungserfolg aus Schottland: Fesselnd, intelligent, schockierend.

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Chris Brookmyre

Dein Ende

Thriller

Aus dem Englischen von Andrea O’Brien

Über dieses Buch

Dein Ende ist grausam, denn du hast es verdient

 

Diana Jager ist eine erfolgreiche Chirurgin. Messerscharf ist nicht nur ihr Skalpell, sondern auch ihr Verstand. In ihrem Blog deckt sie Missstände im Medizinwesen auf. Das gefällt nicht allen.

 

Peter Elphinstone ist ein lebenslustiger Informatiker. Er nimmt das Leben, wie es kommt. Ein halbes Jahr nach der Blitzhochzeit mit Diana verschwindet sein Auto in einem Fluss – und mit ihm Peter.

 

Jack Parlabane überschreitet als Journalist gern die Grenzen des Erlaubten. Nun soll er den Beweis liefern, dass Diana eine eiskalte Mörderin ist. Dass sie Peters Ende war. Wird Jack nun ihr Ende sein?

 

Der Spannungserfolg aus Schottland: Fesselnd, intelligent, schockierend.

Vita

Chris Brookmyre, geboren 1968 in Barrhead bei Glasgow, arbeitete nach seinem Studium der Englischen Literaturwissenschaft und Theaterwissenschaften als Journalist in London, Los Angeles and Edinburgh. Der mehrfach preisgekrönte Autor lebt in Glasgow.

«Dein Ende» wurde 2016 mit dem Theakston Old Peculier Crime Novel of the Year und dem Bloody Scotland McIlvanney Prize for Crime Novel of the Year ausgezeichnet.

Insgesamt sind allein in Großbritannien mehr als 1 Million Exemplare von Jack-Parlabane-Romanen verkauft worden.

Für Marisa

Teil Eins

Stummgeschaltet

Die Anwesenden im Gerichtssaal warteten auf die Tonaufnahme, hörten aber nur leises Hintergrundrauschen. Jack Parlabane machte sich aufs Schlimmste gefasst, denn die Lautstärke war voll aufgedreht, und gleich würde es garantiert völlig verzerrt aus dem Lautsprecher dröhnen. Doch was dann kam, klang erstaunlich klar: die Antworten der Polizei, sogar das rauchheisere Atmen des Mannes von der Einsatzleitstelle und das Klackern der Tastatur im Hintergrund.

Wenn Tonaufnahmen vorgespielt werden, wissen die Leute oft nicht, wohin mit sich. Parlabane stellte fest, dass die meisten den Boden, die Wand oder irgendeinen Punkt im Raum fixierten, der kein Gesicht hatte. Einige nutzten allerdings die Gelegenheit, um die Angeklagte mit unverhohlenem Interesse anzugaffen.

Diana Jagers Blick war starr auf eine Zukunft gerichtet, die nur sie sehen konnte.

Die meisten der Geschworenen hielten den Kopf gesenkt, als säßen sie in der Kirche oder riskierten den Zorn des Richters, wenn sie dem Ganzen nicht ihre volle Aufmerksamkeit schenkten. Sie konzentrierten sich ausschließlich auf die Worte, die durch den Gerichtssaal hallten, damit ihnen ja nichts Wichtiges entging.

Und ahnten nicht, dass sie aufs Falsche achteten.

«Ich glaube, ich habe gerade einen Unfall gesehen.»

«Sind Sie verletzt?»

«Nein. Aber es sah aus, als wäre ein Auto über die Böschung gestürzt.»

«Würden Sie uns bitte Ihren Namen nennen?»

«Ja, klar. Sheena. Sheena Matheson.»

«Befinden Sie sich momentan in Ihrem Fahrzeug? Steht es auf dem Standstreifen?»

«Nein. Ja. Ich meine, ich sitze nicht drin. Das Auto ist geparkt. Ich versuch zu erkennen, wohin er verschwunden ist.»

«Wo genau sind Sie, Misses Matheson?»

«Bin mir nicht ganz sicher. Ein paar Meilen westlich von Ordskirk. Auf der Kingsburgh Road.»

«Und würden Sie mir bitte exakt beschreiben, was passiert ist? Ist jemand verletzt?»

«Keine Ahnung. Das Auto kam aus der Kurve direkt auf mich zu. Viel zu schnell. Ich glaube, es war ein BMW. Erst ist er auf meine Seite rübergekommen, wegen der Kurve, aber als ich dachte, jetzt saust er direkt in mich rein, hat er das Steuer rumgerissen. Vor lauter Schreck bin ich sofort in die Eisen. Im Rückspiegel hab ich dann gesehen, dass er Slalom fuhr, hatte den Wagen wohl immer noch nicht unter Kontrolle. Und dann war er einfach weg. Ich glaube, der ist glatt von der Straße runter.»

«Kingsburgh Road, sagten Sie?»

«Genau.»

«Ich werde so schnell wie möglich jemanden hinschicken. Sie haben Ihr Fahrzeug geparkt, das ist schon mal gut. Wenn Sie vielleicht daneben warten könnten. Daneben, nicht …»

«Nein, das ist ja gerade das Problem. Ich kann nicht hierbleiben. Meine zehnjährige Tochter ist allein, sie hat Fieber, und ich hatte kein Calpol mehr im Haus. Ich hab ihr gesagt, ich würde nur schnell welches holen fahren. Mein Mann hat Nachtschicht.»

«Okay. Könnten Sie mir dann wenigstens ein bisschen genauer beschreiben, wo Sie sind?»

«Ich versuch’s, aber ich muss Sie warnen, mein Akku ist fast leer.»

«Schießen Sie einfach los. Woran sind Sie vorbeigekommen? Dann wissen unsere Leute wenigstens, wonach sie Ausschau halten sollen.»

«Hier ist ein Schild. Aussichtspunkt Uidh Dubh steht drauf. Rastplatz in einer halben Meile. Der Wagen ist direkt hinter diesem Schild verschwunden. Ich geh mal eben über die Straße und seh nach, ob da irgendwas ist.»

«Seien Sie bitte vorsichtig, Misses Matheson.»

«Auf der Fahrbahn sind Bremsspuren und im Gras ist auch was. Reifenspuren, glaube ich. Danach geht’s bergab, aber es ist zu dunkel, um was zu erkennen.»

«Gehen Sie nicht weiter! Unsere Leute kümmern sich darum.»

«Ich kann keine Lichter erkennen. Oje, er ist doch nicht etwa in den Fluss …»

Ihr Tag vor Gericht (I)

Meine Verhandlung hat kaum begonnen, und es hat noch kein einziger Zeuge ausgesagt, aber ich weiß schon jetzt, dass ich in den Augen des Gerichts ein Monster bin.

Ein Blick in den Saal verrät mir, was die Leute von mir denken, und sofort fallen mir die schlimmen Dinge ein, die sie über mich geschrieben und gesagt haben. Früher hätte mich das zutiefst verletzt, aber mittlerweile habe ich ein dickes Fell. Außerdem geht es hier um Schlimmeres als um Worte.

In diesem Saal müssen sie respektvoll mit mir umgehen. Sie dürfen mich nicht anbrüllen oder ausbuhen wie vorhin, als der Transporter mit den verdunkelten Scheiben vor dem Eingang für die Gefängnisinsassen hielt und ein bildgeiler Fotograf einfach die Kamera hochriss und ins Innere blitzte, während er sich gefährlich dicht an den fahrenden Wagen drängte.

Irgendwann wird jemand einem dieser lebensmüden Idioten über die Latschen fahren. Das tonnenschwere Fahrzeug der G4S wird ihm über den Fußrücken rumpeln und ihm dabei die Haut wie einen Handschuh von den zersplitterten Knochen ziehen, und das nur, weil er unbedingt ein im besten Fall völlig unscharfes Foto von dem verängstigten, elenden Gefangenen im Transporter machen musste. Das wäre doch mal ein anschauliches Beispiel für eine ungünstige Kosten-Nutzen-Rechnung, die allen potenziellen Nachahmern einleuchten müsste.

Ihrer Meinung nach sollte ich mich gefälligst über das freuen, was mir das Leben beschert hat. Damit hätte ich zufrieden sein sollen, in ihren Augen war es mehr als genug. Als unverzeihlich, ja geradezu verwerflich gilt die Tatsache, dass ich meine Wünsche erfüllen, meine Umstände verbessern und mich aus einer unerträglichen Lage befreien wollte.

Die Gesellschaft urteilt erheblich härter über eine Frau, die alles daransetzt, ihre Ziele zu erreichen, als über einen Mann, der dasselbe tut. Eine Frau, die den allgemeinen Wertekanon in Frage stellt und überkommene Regeln verletzt. Es ist ein Verbrechen gegen die Gesellschaft, ein Verstoß gegen ungeschriebene Gesetze, die noch über den Paragraphen stehen.

Diese Gedanken gehen mir durch den Kopf, während ich mich im Saal umsehe, und zu meiner Überraschung empfinde ich eine fast schwesterliche Verbindung zu der Frau, die ich eigentlich als meine Widersacherin kennengelernt habe: die Person, die meine Taten ans Tageslicht und mich zur Strecke brachte. Denn auf ihre eigene Weise hat jede von uns stets nach bestem Wissen gehandelt. Ihre Gründe kann ich nachvollziehen. Alles andere ist mittlerweile nur noch Hintergrundrauschen.

Ich erwarte kein Mitleid. Brauche keine Vergebung von Leuten, denen das Leben niemals Prüfungen auferlegt hat. Mag sein, dass ich schuldig bin, möglicherweise wird man mich bestrafen, doch ich lasse mich nicht verurteilen, nicht von denjenigen, die keine Ahnung haben. Ohne die ganze Wahrheit zu kennen, hat hier niemand das Recht, ein Urteil über mich zu fällen.

Bis dahin sind ihre Meinungen nichts als wirkungslose Zornesäußerungen, von denen ich schon ach so viele ertragen musste, seit diese Sache herausgekommen ist. Man erinnere sich nur daran, wie sie alle in Aufruhr waren, als es hieß, dieses Biest hätte ihren Mann umgebracht.

Sie alle empfanden diese ungezügelte Wut, waren getrieben von einer einzigen Frage:

Wie konnte sie es wagen?

Wie konnte sie es wagen?

Nur mal am Rande: Wenn ein Mann seine Frau ermordet, fragt das niemand. In solchen Fällen ist die Berichterstattung eher pietätvoll, die Tonlage gedämpft, beinahe andächtig. Man könnte meinen, das Opfer wäre einer schlimmen Krankheit erlegen oder gar bei einem Unfall verunglückt. «Es ist ganz schrecklich, aber solche Dinge passieren nun mal. Die Arme. Wie tragisch.»

Und wie bei Krankheit oder Unfall fragt man sich schon bald danach, ob man es nicht hätte verhindern können. Welche Anzeichen wurden übersehen? Was können wir daraus lernen?

Wird aber der Mann gemeuchelt, sind die Medien herzlich wenig daran interessiert, auch nur die geringste Schuld beim Opfer zu suchen.

Man stelle sich das mal im umgekehrten Fall vor: «Warum hat er sie nicht verlassen? Er muss doch geahnt haben, wozu sie fähig war. Ich will das auf keinen Fall gutheißen, aber er hat doch sicher genau gewusst, wie leicht sie die Beherrschung verliert. Man kann das nicht entschuldigen, aber das Ganze wäre nie passiert, wenn er sie nicht provoziert hätte.»

Hat noch keiner gesagt. Nie im Leben.

Ja, genau das versetzt sie so in Rage. Ein Verbrechen aus Leidenschaft? Im Affekt gehandelt? Damit können sie gerade noch umgehen. Aber bei einer schlauen, berechnenden Frau mit einem komplexen betrügerischen Plan kommt den Leuten glatt die Galle hoch.

Ich betrachte die Journalisten auf den oberen Rängen, aufmerksam sitzen sie da, den Bleistift gespitzt. Wie musste es für sie wohl ausgesehen haben?

Sie sahen eine Frau, die zu einem späten Zeitpunkt die Liebe fand. Die ihr ganzes Leben der Karriere opferte und sich zunehmend fragte, ob es das wert war. Dann tauchte aus heiterem Himmel Mister Right auf, und auf einmal schien alles möglich. Plötzlich hatte sie alles. Zwei vordergründig völlig unpassende, aber in Wahrheit erstaunlich kompatible Persönlichkeiten trafen sich im rechten Moment und stürzten sich in eine leidenschaftliche Liebesbeziehung – der Stoff, aus dem romantische Komödien gemacht sind.

Alle waren ihr wohlgesinnt, und später bekam sie ganz viel Mitgefühl. Die romantische Komödie entpuppte sich als Schnulze, die richtig auf die Tränendrüsen drückte, denn die einsame Chirurgin, die spät im Leben die große Liebe gefunden hatte, verlor sie schon sechs Monate später bei einem tragischen Unfall, als der Wagen ihres Mannes von der eisglatten Fahrbahn abkam und in einen Fluss stürzte.

Ich sag Ihnen mal eins: Wenn die Leute Mitleid mit dir haben, setzt du besser alles daran, ihre Erwartungen zu erfüllen, denn der Fall vom Witwenpodest ist ein verdammt tiefer. Diese Frau aber hat die Zuschauer nicht nur um das Happy End betrogen, sondern ihnen nicht mal eine ergreifende Abschiedsszene geliefert. Sie hat ihre Kirche entweiht, und dafür wurde sie gerichtet.

Was wollten sie sonst noch sehen? Was konnten sie sehen?

Nur einer nahm mich genauer in Augenschein. Dieser Mann war mein Schicksal. Ja, ich bin nicht die Erste, die den Tag verflucht, an dem sie den Namen Jack Parlabane hörte, und sicher nicht die Letzte. Aber nicht nur das, was er mir angetan hat, erfüllt mich mit Bedauern, sondern auch das, was ich mit ihm gemacht habe. Mit ist klar, dass dieses Gericht mich als Ungeheuerlichkeit betrachtet, aber ich bin nicht das Monster, zu dem sie mich machen.

Ich mustere den Polizisten neben mir. Handschellen trage ich zwar keine mehr, doch das Gefühl von kaltem Stahl auf der Haut werde ich ebenso wenig vergessen wie die kränkende Demütigung, die damit einherging. Sie klebt an mir, jede Sekunde, die ich hier auf der Anklagebank sitze. In den schwarzen Pupillen der Zuschauer glimmt noch das Feuer der moralischen Entrüstung.

Im Laufe der Verhandlung wird das Gericht hören, dass eine getriebene Frau aus dem ältesten und aufrichtigsten Motiv der Welt handelte: Sie wollte mit dem Mann zusammen sein, für den sie bestimmt war. Mein Verbrechen und meine Taten werden Außenstehenden kaltherzig und ruchlos vorkommen, denn sie wissen nichts über meine Gefühle.

Ich denke darüber nach, wie viel Zorn und Hass ich seit meiner Festnahme schon über mich ergehen lassen musste. Es hat lange gedauert, bis ich verstand, dass ich mich mit meiner Tat aussöhnen muss. Es ist wichtig, dass ich dazu stehe. Und mir vergebe, denn nur meine eigene Vergebung zählt.

Egal wie das Urteil auch ausfallen mag: Ich weiß, dass es mir immer nur um Liebe ging.

Rollenmodelle

Ein attraktiver, liebender Gatte und mindestens zwei rotwangige Kinder – danach sollten alle kleinen Mädchen streben, hab ich recht? Dieses Rollenmodell wird uns schon im zarten Alter angepriesen, als spielerische Vorlage für unser Wunschziel: eine glückliche Zukunft.

Doch manchmal greift das Rollenmodell nicht so richtig. Oder die Vorlage ist ungeeignet. So war es bei mir, Diana Jager.

Als kleines Mädchen hatte ich eine Puppenstube. Ich glaube, sie stammte von einer Verwandten, weil sie alt war, aus Holz und handbemalt und nicht aus Plastik wie die Massenware aus dem dicken Versandhauskatalog. Außen war mit Ölfarbe Efeu aufgemalt worden, das bis zum Dach rankte. Die Puppenstube ähnelte keinem der Häuser aus meiner Nachbarschaft, sondern wirkte wie aus einer vergangenen, prunkvolleren Zeit, die eher zu meinen Eltern gehörte als zu mir und meiner Zukunft. Die Haustür hatte Scharniere und ließ sich öffnen. Es gab drei Etagen mit ebenfalls handbemalten Zimmerwänden. Möbel waren nicht dabei gewesen, aber meine Eltern kauften mir welche, die allerdings für die bereits erwähnten Plastikmodelle gedacht waren. Das störte mich.

Das eigentliche Problem lag jedoch woanders. Die Größenverhältnisse stimmten nicht. Keine meiner Puppen passte in die Zimmer, sie waren alle zu groß. Nicht dass die richtigen Puppen mich dazu bewegt hätten, zufrieden Vater, Mutter, Kind zu spielen, nein, es haperte an einer ganz einfachen Frage: Wer sollte die Vaterrolle übernehmen? Sämtliche meiner Puppen waren kleine Mädchen oder Babys, genau wie die meiner Freundinnen, besonders die Figuren, die zu den Plastikpuppenstuben gehörten.

Das entsprach allerdings den Verhältnissen bei uns zu Hause. Mami und die Kinder waren immer da. Daddy war unterwegs, Karriere machen – und welches kleine Mädchen braucht schon für diese Rolle eine Puppe?

Meine Puppenstube war nie ein Heim. Wozu auch? Ich brauchte kein Zuhause im Kleinformat, hatte ich doch bereits eines in Lebensgröße. Die kleinen Figuren, die zu den Plastikmöbeln gepasst hätten, bekam ich nie, und ich hatte auch nie darum gebeten. Stattdessen wollte ich das Krankenhaus-Set, und meine Puppenstube wurde meist zur Klinik umfunktioniert. Manchmal war sie auch eine Schule oder ein Museum, aber hauptsächlich diente sie mir als Krankenhaus. Ich hatte zehn Figuren: zwei Ärzte, sechs Schwestern, zwei Patienten.

Beide Ärzte waren männlich. Alle Pflegekräfte weiblich.

Aus Krepppapier bastelte ich einer der Krankenschwestern einen grünen Kittel, um aus ihr eine Ärztin zu machen, und zwar eine, die Patienten operierte wie mein Vater. Es sah bescheuert aus, riss und zerknitterte dauernd, deshalb beschloss ich kurzerhand, die weibliche Patientin zur Chirurgin zu machen und verfrachtete beide Ärzte ins Bett.

Ich weiß noch genau, wie ich meine Mutter eines Tages fragte, warum Frauen nicht auch Ärzte werden könnten. Ich war ungefähr sechs. Und da erfuhr ich, dass sie selbst Ärztin war.

Ich will Sie warnen, denn diese Erkenntnis entpuppte sich keineswegs als die große Offenbarung, die Sie vielleicht erwartet haben.

Meine Eltern lernten sich an der Universität während des Medizinstudiums kennen. Zu Beginn ihres letzten Jahres an der Uni beschlossen die beiden zu heiraten, und zwar ein paar Wochen vor dem Examen. Ziemlich romantisch, nicht wahr? Sich vor dem gemeinsamen Weg in die ehrgeizig erarbeitete berufliche Zukunft das Jawort zu geben. Aber langsam: Irgendwann während dieses Abschlussjahres kamen meine Eltern auf die Idee, dass mein Vater seine medizinische Karriere vorantreiben solle, während meine Mutter als Hausfrau Heim und Herd hüten würde.

Und übrigens war sie nicht schwanger. Das hätte ich nämlich noch verstanden. Ich kam erst ein paar Jahre später.

Meine Mutter hatte sich den für ein Medizinstudium erforderlichen Notendurchschnitt erarbeitet, fünf gnadenlose, harte Jahre an der Uni bewältigt, ihre Prüfungen bestanden, den Doktortitel erlangt – und nicht einen einzigen Tag als Ärztin gearbeitet.

Keinen einzigen Tag.

Das entzog sich wirklich meinem Verstand. Noch dazu frustrierte sie diese Existenz nicht einmal, auch Jahre später nicht. Ehrlich gesagt hätte ich mich besser in sie einfühlen können, wenn sie sich mit Ende dreißig dem Gin zugewandt hätte. Das war der Zeitpunkt in ihrem Leben, als wir sie nicht mehr so dringend brauchten, und wahrscheinlich auch der Moment, als sie sich fragte, wohin ihr Leben verschwunden war. Damit will ich nicht sagen, dass sie bis dahin ein besonders zufriedener Mensch gewesen wäre. Sie war eben einfach da. Lächelnd, aber nicht fröhlich, fürsorglich, aber nicht warmherzig, zuverlässig, aber nicht inspirierend.

Lange war mir das gar nicht bewusst gewesen, denn ich wuchs damit auf, aber irgendwann gegen Ende der Pubertät stellte ich fest, dass meine Mutter so gut wie keine Persönlichkeit besaß. Das ist nicht einfach zu akzeptieren. Später, im Erwachsenenalter, trieb mich vor allem die Frage um, inwieweit mein Vater sie zu der Entscheidung, zu Hause zu bleiben, genötigt hatte. Ob er eine kluge junge Frau zu einem gefügigen Roboter gemacht hatte oder in ihr möglicherweise nur diese Neigung zur devoten Gefügigkeit, diese unterentwickelte Persönlichkeit, erkannt und genau das als perfekte Eigenschaften für seine Lebenspartnerin identifiziert hatte. Ich fragte mich außerdem, ob es meine Mutter glücklich gemacht hatte, ihre Eigenständigkeit aufzugeben, annektiert zu werden wie eine Kolonie. Oder hatte ihr natürlicher Kleinmut sie besonders anfällig gemacht für die Manipulationen eines Menschen, der sich als dominanter entpuppte, als sie anfänglich geglaubt hatte?

Ich weiß nicht, welche Erklärung mir am liebsten wäre.

Es gab keinerlei Hinweise in dem, was ich von ihrer Beziehung mitbekam. Als Kind waren sie für mich das perfekte Ehepaar. Wenn mein Vater heimkam, stand meine Mutter am Herd, wo sie gleichmütig das Essen zubereitete. Er begrüßte sie mit einem Kuss auf die Wange und nannte sie «Mein Liebling» oder einfach nur «Liebes». Soweit ich es beurteilen konnte, gab es niemals Streit, keine erhobenen Stimmen, nichts Unausgesprochenes, keine latente Aggression. (Keine Leidenschaft, keine Begierde, kein Knistern.)

«Das Essen war lecker, mein Liebling. Danke.»

«Gern geschehen.»

Sogar als Kind kam mir irgendwas an diesem Geplänkel schief vor, obwohl ich zu jung war, um zu verstehen, was oder warum. Erst als ich älter wurde, erkannte ich, was daran nicht stimmte. Es klang wie eine inszenierte Aufführung, eine Imitation von Intimität, wie meine Eltern sie bei anderen gesehen hatten und die sie einhielten wie eine gesellschaftliche Norm.

Sogar als ich das verstanden hatte, glaubte ich immer noch, alle Ehepaare gingen so miteinander um: Mann und Frau begegnen einander mit unaufrichtiger Höflichkeit, unverbindlich freundlich, wie auch wir es in unzähligen anderen Lebensbereichen tun.

Mein Vater nannte mich «mein Augapfel». Ja, ich war sein Augapfel, es ging hier um Besitz.

«Wie geht es meinem Augapfel heute?»

Wenn er besonders gut drauf war, verwendete er die Kurzform «mein Apfel».

«Was ist los, mein Apfel? Hast du etwa keinen Hunger?»

Meine jüngeren Brüder nannte er stolz «Sohn Nummer eins» und «Sohn Nummer zwei», außer wenn sie etwas ausgefressen hatten. Ich wusste immer sofort, dass etwas in der Luft lag, wenn mein Vater die beiden mit Julian oder Piers anredete.

Als kleines Mädchen hielt ich meinen Vater deshalb für einen lockeren, lustigen Menschen, der uns witzige Kosenamen verpasste, um uns zu zeigen, wie lieb er uns hatte. Erst später ging mir auf, dass diese Sprache der vermeintlichen Nähe seine Art war, sich von uns zu distanzieren. Als Diana, Julian und Piers wären wir handlungsfähige, eigenständige Wesen mit menschlichen Schwächen, mit denen er sich hätte auseinandersetzen müssen. Wir besäßen Persönlichkeiten, die er hätte kennenlernen müssen. Als Apfel, Sohn Nummer eins und Sohn Nummer zwei aber waren seine Kinder nichts als Anhängsel, die sich nur über seine Wahrnehmung definierten.

Daher bestand unsere Hauptaufgabe darin, ihn gut aussehen zu lassen, und das gelang uns auch ganz prima, zumindest als wir noch klein waren. Später nicht mehr.

Eltern reden sich gern ein, ihre Kinder würden sich im Teenageralter plötzlich drastisch verändern und ihre Weigerung, mit ihnen auf die gewohnte Weise zu kommunizieren, sei eine Folge der Pubertät. Doch in Wahrheit haben diese Kinder nie ernsthaft mit ihnen kommuniziert. Wenn die Kinder noch ganz jung sind, keine eigene Meinung haben und keine eigenen Entscheidungen treffen, ist es eben leichter, ihnen die eigenen Idealvorstellungen aufzudrücken.

Jedenfalls entpuppten wir uns im Erwachsenenalter als handfeste Enttäuschung für meinen Vater, jeder von uns auf eigene Weise: die Jungen, weil sie nicht den von ihm vorgegebenen beruflichen Weg einschlugen, und ich, weil ich genau diesen Weg für mich wählte.

Ich war sein Augapfel, die Erstgeborene, seine einzige Tochter, aber seine Söhne sollten Chirurgen werden. Ich bin nicht sicher, was genau aus mir hätte werden sollen.

Jedes Mal wenn ein Freund Erfolg hat, stirbt ein kleiner Teil von dir. Der Spruch fiel mir beim Blick in die Gesichter meiner Kollegen ein, immer dann, wenn sie von den Errungenschaften anderer erfuhren, und vor allem beim Anblick der Miene meines Vaters, sobald ich ihm von meinen neuesten Fortschritten berichtete. Eine Zeitlang dachte ich, es wäre nur Einbildung, aber irgendwann wurde es so auffällig, dass ich es mir nicht mehr schönreden konnte. Ich sah es in seinen Augen, denn da war kein Funkeln, das zu seinem steifen Grinsen gepasst hätte.

Jede meiner Leistungen, jeder Schritt auf der Karriereleiter schmerzte ihn umso mehr, weil es nicht seine beiden Söhne waren, die diesen Erfolg hatten.

War diese leere Imitation von Ehe und Elternschaft also der ideale Nährboden für eine verschlagene Psychopathin? Das entscheiden Sie am besten selbst. Eines ist allerdings sicher: Darin lag der Grund für meinen Ehrgeiz, meine Erfüllung nicht in der Rolle als Mutter oder Ehefrau zu suchen.

Pflegeberufe

Als der junge Arzt vor Gericht seinen Namen angab, versagte ihm die Stimme, daher bat ihn der Justizbeamte, ihn zu wiederholen.

«Calum Weatherson», sagte er.

«Und wie lange arbeiten Sie schon mit Diana Jager zusammen?»

«Ein Jahr und … Nein, sechzehn … Ich glaube, sechzehn Monate, vielleicht einen Ticken weniger.»

Er brachte seinen eigenen Namen heraus, wenn auch erst beim zweiten Anlauf. Ein guter Anfang, denn das ist schwieriger, als es aussieht. Jetzt wo er das Ausmaß der ganzen Sache erkannte, ging dem Mann allerdings die Düse. Abgesehen von allem anderen, was hier schiefgehen könnte, musste er auch noch befürchten, wegen Falschaussage belangt zu werden, sollte er sich bei der Angabe seiner genauen Anstellungsdauer am Inverness Royal Infirmary um vierzehn Tage verschätzen.

Jack Parlabane empfand Mitgefühl. Er hatte schon unzähligen Gerichtsverhandlungen beigewohnt, sowohl als Journalist als auch als Angeklagter, wenn er seine journalistischen Befugnisse zu weit ausgelegt hatte. Offensichtlich befand sich der junge Mister Weatherson das erste Mal im Zeugenstand. Seine Stimme zitterte leicht, genau wie seine Hände, und sein Blick wich dem seines Gegenübers aus, als suchte er auf den oberen Rängen nach einem wohlwollenden Gesicht, das seine Aussage als richtig absegnete.

Parlabane selbst war oft ein solches wohlwollendes Gesicht in der gleichgültigen Menge gewesen, sozusagen als moralische Unterstützung, wenn seine Ehefrau Sarah als Expertin aufgetreten war. Man bestellte sie häufig als medizinische Gutachterin ein, und sie wurde in dieser Funktion oft angefeindet, etwa wenn sich der Verteidiger darauf kapriziert hatte, dass ein Mordopfer durch die Fahrlässigkeit des Anästhesisten gestorben war und nicht etwa als Folge der vierzehn Axthiebe, die ihm sein Mandant nur Stunden zuvor versetzt hatte. Solche taktischen Manöver waren allerdings nichts gegen das demütigende Kreuzverhör, dem man die Gutachter bei manchen Prozessen unterzog. In einem Fall – es ging um die Zeugen Jehovas – hatte Parlabanes Anwesenheit auf den oberen Rängen, eigentlich als Solidaritätsbekundung gedacht, Sarah bei ihrer Aussage stark beeinträchtigt, weil sie sich Auszüge aus der Zeitungskolumne des eigenen Ehemannes anhören musste, von der Verteidigung vorgetragen. In dem Artikel hatte er sich in seiner typischen unbeherrschten Manier über diese lästigen Hausierer und ihre unglaublich dämliche Ablehnung von Bluttransfusionen ausgelassen.

Es war nicht das erste Mal, dass Parlabanes professionelles Handeln seiner Ehe einen unvorhersehbaren Shitstorm beschert hatte, und auch nicht das letzte. Was ungefähr erklärte, warum er nicht mehr verheiratet war. Andererseits zeigte ihm der Fall Diana Jager, wie viel drastischer manche Ehen enden konnten.

«Schildern Sie dem Gericht bitte, welche Positionen Sie beide im Januar letzten Jahres bekleideten?»

«Ich hatte gerade erst als Assistenzarzt angefangen, ähm, ja, eigentlich war ich das schon vorher, na, jedenfalls war ich noch nicht lange dort. Vorher war ich nämlich Assistenzarzt in einem anderen Krankenhaus.»

Weatherson versagte erneut die Stimme. Sein Mund war bestimmt staubtrocken. Der Justizbeamte riet ihm, einen Schluck Wasser zu trinken. Irgendwann würde er schon in einen Erzählfluss kommen, das wusste Parlabane aus Erfahrung, doch die ersten Momente konnten einen schon verdammt einschüchtern, besonders wenn es um so viel ging wie hier. Parlabane wusste außerdem, und zwar zu seinem eigenen Leidwesen, dass die hinterlistigen Schweine gerne angriffen, wenn man sich zu sehr entspannte und ins Plaudern geriet.

Er hatte oft genug als Zeuge vor Gericht gestanden und, sehr zu seiner Schande, sogar einmal als Angeklagter. An das Gefühl der Isolation, Verletzlichkeit und Ohnmacht konnte er sich noch gut erinnern, und das hatte nicht nur daran gelegen, dass er in dem Fall tatsächlich schuldig gewesen war.

Obwohl der Prozess der Urteilsfindung eigentlich verständlich, offen und transparent sein sollte, konnte man im Verlauf einer solchen Verhandlung schon mal das Gefühl bekommen, das eigene Schicksal wäre zum Spielball der launischen Hohepriester eines obskuren Ordens geworden. Man kommt rein mit dem festen Glauben, dass die Beweislage eigentlich nur ein Urteil zulässt, aber dann steigen die Hohepriester ein: Bedeutungen werden formbar, Fallen schnappen zu, und die Wirklichkeit verschwimmt so sehr, dass sie in jede von ihnen gewünschte Form gegossen werden kann.

Angesichts dessen verspürte er fast so was wie Mitleid mit der Angeklagten. Aber dann fiel ihm wieder ein, was die Frau auf der Bank verbrochen hatte: mit was für einer soziopathischen Kaltschnäuzigkeit und brutalen Berechnung sie ihre Tat geplant und sogar Parlabane so manipuliert hatte, dass er zu einem wesentlichen Teil ihrer Strategie geworden war. Sie hatte allen etwas vorgemacht, und sie und ihr Helfer waren erschreckend knapp der Strafverfolgung entgangen.

Dieser letzte Aspekt dämpfte jegliches Mitgefühl für sie, jetzt da sie öffentlich vorgeführt wurde. Einfach ausgedrückt: Es war noch nicht vorbei. Auf einmal beschlich ihn die besorgniserregende Ahnung, dass die Verurteilung doch nicht so todsicher war, wie sie schien. Vor allem aber befürchtete er, dass diese Frau noch einen echten Killertrick aus dem Ärmel zaubern könnte.

«Mister Weatherson, würden Sie uns bitte sagen, wie es Ihnen ging, als Sie an Ihrem ersten Morgen mit Doctor Jager zusammenarbeiteten?»

Der Justizbeamte hatte einen ermunternden, beruhigenden Ton angeschlagen, der Parlabane sofort misstrauisch machte. Er hatte auf die harte Tour gelernt, die Fragen eines Staatsanwalts stets mit Vorsicht zu genießen, selbst wenn der sich nur nach der Uhrzeit erkundigte.

Weatherson blieb nervös, redete zu schnell und stolperte über seine Sätze.

«Besorgt war ich. Ich war noch nicht lange auf der Station. Assistenzarzt war ich schon sechs Monate gewesen, aber diese Stelle hatte ich erst ein paar Wochen, und wenn man mit einem neuen Oberarzt zusammenarbeitet … Also, ich meine, wenn man das erste Mal mit einem bestimmten Oberarzt arbeitet, dann will man einen besonders guten Eindruck machen, aber dann schraubt man die Erwartungen ein bisschen runter und hofft einfach, dass man keinen Mist baut, was überraschend schwierig sein kann. Oberärzte haben oft ganz eigene Vorstellungen davon, wie die Dinge erledigt werden sollen. Da muss man sich erst mal rantasten, rauskriegen, was sie mögen, was nicht, und vor allem, was sie ausrasten lässt.»

«Und war die Aussicht auf eine Zusammenarbeit mit Doctor Jager besonders besorgniserregend für Sie? Oder hätten Sie die Nervosität, die Sie gerade beschrieben, auch bei jedem anderen neuen Vorgesetzten empfunden?»

«Ehrlich gesagt war ich besorgt, weil ich mit ihr zusammenarbeiten sollte.»

«Um eine genauere Vorstellung davon zu bekommen, wie sich eine solche Besorgnis bei Ihnen äußert, möchte ich Sie fragen, ob Sie damals ähnlich nervös waren wie heute hier im Zeugenstand.»

Weatherson warf einen furchtsamen Blick auf die Person, um die es hier ging. Jager blickte ungerührt zurück, als wäre es ohnehin egal, was er sagte. Tu, was du nicht lassen kannst, schien sie zu denken.

«Wie ich schon sagte, Oberärzte haben ihre Eigenheiten, und besonders Chirurgen sind manchmal ein bisschen …» Er trank einen Schluck Wasser, um Zeit zu schinden, und wählte die folgenden Worte besonders sorgfältig. «Leicht entflammbar.»

«Sie meinen explosiv?»

«Ähm, ja, manchmal schon. Im Operationssaal ist die Atmosphäre oft angespannt, kein Wunder, wenn man bedenkt, was alles schiefgehen kann, und da kommt es schon mal vor, dass die Chirurgen ihrem Ärger Luft machen, wenn’s nicht so glatt läuft, wie sie’s gern hätten.»

Nett ausgedrückt, dachte Parlabane. Man könnte meinen, der Mann wollte so ein Verhalten auch noch rechtfertigen.

Eigentlich wollte Weatherson damit sagen, dass Chirurgen zu den arrogantesten Wichsern gehörten, die man sich vorstellen konnte. Parlabanes Exfrau war Anästhesistin und hatte ihm regelmäßig in haarsträubenden Anekdoten erzählt, wie ungezügelt diese Leute ihre kindische Tobsucht auslebten. Dass dieses Verhalten allgemein akzeptiert wurde, schockierte ihn dabei am meisten.

Sarah hatte mit angesehen, wie Chirurgen ihren Assistenten ganz dicht auf die Pelle gerückt waren, Schaum vor dem Mund, und wegen eines vermeintlichen Fehlgriffs so lange herumgebrüllt hatten, bis sie heiser waren. Laut ihrer Beschreibungen kam es schon mal vor, dass Chirurgen derart die Kontrolle verloren, dass sie wie keifende Berserker Instrumente mit voller Wucht an die Wand oder zu Boden schleuderten, Geräte zerschlugen und auf Angestellten herumhackten, bis diese in Tränen ausbrachen. Unter normalen Umständen würde man solchen Leuten eine Beruhigungsspritze verpassen, sie festnehmen oder sie zumindest ohne Essen ins Bett schicken.

Die landläufige Reaktion auf dieses Fehlverhalten hatte der Mann im Zeugenstand gerade eindrücklich demonstriert: Es konnte viel schiefgehen, und deshalb waren Wutausbrüche unvermeidlich, vor allem weil diese Genies bei ihrer Arbeit gezwungen waren, die Beschränktheit von Normalsterblichen zu ertragen. Weatherson war nur Assistenzarzt der Chirurgie, aber bereits so abgestumpft, dass er diese lächerlichen Trotzanfälle nicht einmal mehr ein kleines bisschen inakzeptabel fand.

Der Zeuge gab dem Gericht einige Beispiele für «leicht entflammbares» Verhalten, für das er auf keinen Fall hatte Anlässe liefern wollen. Ohne Bewertung erklärte er, dass er vor Inverness schon einige solcher Erfahrungen gemacht und auch bei seiner neuen Stelle diverse Male im Explosionsradius gestanden hatte. Angesichts dessen drängte sich die Frage auf, was Diana Jager weit furchterregender machte als alles, was der junge Assistenzarzt zuvor erlebt hatte.

«Und wie verlief Ihre erste Begegnung mit Doctor Jager?», fragte der Justizbeamte.

Weatherson räusperte sich.

«Es fing schon schlecht an, könnte man sagen. Ich war früh gekommen, um den ersten Patienten auf der OP-Liste schon mal vorzubereiten und mich bei der Anästhesistin zu erkundigen, ob sie irgendwelche Vorbehalte hatte. Es handelte sich um einen Fall aus der Bariatrie, der Patient sollte einen Schlauchmagen bekommen.»

«Was ist das genau?»

«Eine drastische Maßnahme zur Behandlung von schwerem Übergewicht. Bei extrem Übergewichtigen ist die Anästhesie oft nicht so einfach. Jedenfalls lernte ich Doctor Jager an diesem Morgen höchstpersönlich kennen. Sie war auf dem Weg zur Station, als ich gerade loswollte. Ich war ziemlich erleichtert, dass ich so früh da gewesen war, weil es sicher keinen guten Eindruck gemacht hätte, wenn ich nach ihr gekommen wäre.»

Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, durchlebte er die damalige Erleichterung gerade erneut. Jetzt wo er sich auf sicherem Terrain bewegte, wirkte er etwas entspannter.

«Wie würden Sie ihr Verhalten beschreiben?»

«Brodelnd. Ja, so würde ich es nennen. Es war erst acht Uhr am Morgen, aber sie sah aus, als wäre sie schon von zehn Leuten provoziert worden. Wehe dem elften, dachte ich nur.»

«Und gab es einen elften?»

«Leider ja, aber glücklicherweise nicht ich. Sie kam aus der chirurgischen Intensivüberwachung und stellte fest, dass es keine freien Betten mehr gab, obwohl man ihr am Vortag eins zugesichert hatte. Das hieß, dass die erste OP nicht stattfinden konnte. Zuerst dachte ich, dass ich die volle Ladung abbekommen würde, weil ich das nicht vorher abgeklärt hatte. Aber wenn ich ihr die schlechte Nachricht überbracht hätte, wär’s mir wahrscheinlich auch nicht besser ergangen.»

«Doch wie schon angedeutet, richtete sich Doctor Jagers Zorn dann doch nicht gegen Sie.»

«Nein. Sie war eigentlich nur auf die Station gekommen, um den Patienten zu informieren, dass die OP nicht stattfinden würde, was sie dann auch tat. Sehr höflich, muss ich sagen, aber sie entschuldigte sich nicht, denn es war nicht ihre Schuld.»

«Und wie reagierte der Patient?»

«Er forderte eine zweite Meinung. Sie versuchte ihm klarzumachen, dass die Entscheidung nichts mit ihrer medizinischen Meinung zu tun hatte, aber er war hartnäckig.»

Weatherson holte tief Luft, als würde er den unangenehmen Moment erneut durchleben.

«Er meinte, er wolle mit ihrem Chef sprechen, und sah mich dabei an.»

Auweia, dachte Parlabane.

«Das war mir natürlich unendlich peinlich, also habe ich versucht, ihn mit hektischem Fuchteln auf seine Fehlannahme hinzuweisen. Aber Doctor Jager mischte sich ein und machte ihm deutlich klar, wer das Sagen hatte. Er hat dann auch endlich kapiert, dass seine OP abgesagt war, und sich bitter und langatmig darüber beschwert. Mir war klar, dass Doctor Jager gern gegangen wäre, aber der Mann hatte sich in Rage geredet, was sich vor allem darauf bezog, dass er wegen des Eingriffs über Stunden nichts gegessen hatte. Seiner Meinung nach hatte er damit ein großes Opfer gebracht, das er eindeutig nicht zu wiederholen gedachte. An der Stelle schlug Doctor Jager ihm vor, die Sache doch positiver zu sehen.»

Wieder bereitete ihm die Erinnerung offenbar körperliches Unbehagen.

«Wie meinte sie das?»

«Sie sagte, er hätte jetzt schon den ersten Schritt gemacht, und wenn er noch zweitausend Tage nüchtern bleiben würde, bräuchte er gar keinen Eingriff mehr.»

Autsch!

«Verständlicherweise fand er das gar nicht witzig und reichte später eine offizielle Beschwerde gegen sie ein. Um fair zu sein, Doctor Jager bereute diese Worte sofort, das war deutlich zu spüren. Es war ganz klar, dass ihr der Geduldsfaden gerissen war und dass sie sich vor allem über sich selbst ärgerte. Mir war es immer noch peinlich, dass der Patient mich für ihren Chef gehalten hatte. Deshalb äußerte ich die Vermutung, dass das Missverständnis möglicherweise dem Bart geschuldet war, den ich damals noch trug. Keine Ahnung, wieso ich dachte, das würde die Situation entspannen.»

«Und wie reagierte Doctor Jager darauf?»

«Vorsichtig ausgedrückt, sah sie die Sache etwas anders. Sie meinte, mit dem Bart würde ich aussehen wie Jesus. Und nicht der Bart sei für das Missverständnis verantwortlich, sondern der Umstand, dass ich einen Schwanz habe.»

«War es das erste Mal, dass Sie eine solche Fehleinschätzung von Patienten erlebt hatten?»

«Nein, im Gegenteil. Patienten ab einem bestimmten Alter halten Frauen grundsätzlich für Krankenschwestern und Männer für Ärzte, auch wenn was anderes auf ihrem Namensschild steht. Sogar manche Ärzte halten die Oberärztinnen nicht für ihre Vorgesetzte, weil sie jünger aussehen.»

«Also handelt es sich um ein alltägliches, wenn auch bedauerliches Vorkommnis. Und trotzdem können wir Ihren Schilderungen großes Entsetzen entnehmen, dass der Patient ausgerechnet Doctor Jager für eine Assistenzärztin hielt. Man könnte Ihre Reaktion sogar für überzogen halten. Richtig?»

«Das wäre eine Untertreibung.»

«Aber Sie sagten uns doch, dass Sie noch nie zuvor mit Doctor Jager zusammengearbeitet hatten. Warum benahmen Sie sich dann, als würden Sie auf rohen Eiern gehen?»

«Ihr Ruf eilte ihr voraus. Ehrlich gesagt hatte ich bei meiner Bewerbung keine Ahnung, dass sie in Inverness tätig war, und als ich feststellte, dass sie sogar auf derselben Station arbeitete, war ich entsprechend … angespannt, genau.»

Parlabane nickte, als sich ihm die Absicht der Anklage langsam offenbarte. Wie eine Fahrt mit dem Linienbus: Auf erstaunlichen Umwegen kam man irgendwann ans Ziel.

«Wo waren Sie vorher tätig?»

«In Liverpool. Meine Frau …»

«Liverpool. Also ist es korrekt, wenn ich behaupte, dass Doctor Jager in medizinischen Kreisen weit über das Krankenhaus in Inverness hinaus bekannt war?»

«Ja, sehr weit. Berüchtigt war sie vor allem wegen einer Sache.»

«Und worum handelte es sich dabei, Mister Weatherson?»

Der junge Assistenzarzt sprach mit schüchterner Unsicherheit, wie ein Kind in der ersten Klasse, dem die Lehrerin erklärt, dass es das verbotene Schimpfwort zu Demonstrationszwecken laut wiederholen darf.

«Sie war Bladebitch.»

Mitleidsermüdung

Dieser Tag begann unauffällig, aber wie sagt man so schön: Unverhofft kommt oft. Allerdings stimmt das nicht ganz, denn viele Ereignisse, die wir im Nachhinein als einschneidend bezeichnen, kommen in Wirklichkeit gar nicht plötzlich – Meilensteine, gründlich vorbereitet und sehnlich erwartet: Geburten, Taufen, Prüfungen, Abschlussfeiern, Bewerbungsgespräche, der Start in die Karriere.

Hochzeiten.

Wir erkennen die wirklich wichtigen Momente – den Augenblick, als sich das Blatt tatsächlich wendete – erst hinterher. Das ist wahrscheinlich auch gut so, denn bekäme man schon vorher gesagt, welcher Mensch sich als die große Liebe entpuppen wird, würden wir die Sache vermutlich vor lauter Druck an die Wand fahren. Eine Spielart der Heisenberg’schen Unschärferelation, bei der allein der Akt der Beobachtung dazu führt, dass sich das Beobachtete verändert. Entscheidend für das Ergebnis ist nämlich auch der Gemütszustand während des schicksalhaften Augenblicks. Es klingt allerdings wenig romantisch, wenn ich rückblickend sage, dass ich die Liebe fand, als ich gerade ein erschöpftes, wütendes und überempfindliches Nervenbündel war. Fakt ist, dass die Liebe bei mir nur eine Chance hatte, weil meine Schutzschirme nicht hochgefahren waren und ich keinen Lebenspartner suchte.

Die Vorstellung, eines Tages den Richtigen zu finden, hatte ich zwar nicht komplett aufgegeben, mich aber recht gut im Singledasein eingerichtet. Nicht, dass ich damit zufrieden gewesen wäre. Aber ich hatte meine Erwartungen eben an meine Lebenssituation angepasst. Beziehungen hatte es immer wieder gegeben, die meisten hielten allerdings nicht länger als ein paar Monate, und die letzte lag damals bereits vier Jahre zurück. Obwohl, wenn man es genau nahm … Nein, ich werde nicht so weit gehen, One-Night-Stands als Beziehung zu bezeichnen. Dabei ging es nur um Sex, darum, jemanden dazu zu bringen, mir ein bestimmtes Gefühl zu vermitteln. Ich rede hier von einer ernsthaften emotionalen Bindung. Also: vier Jahre.

Genau dieser Umstand, nämlich dass meine letzte Beziehung schon eine verdammt lange Zeit zurücklag, ging mir an jenem Morgen durch den Kopf, und auch deshalb begann der Tag, an dem ich meinen zukünftigen Mann kennenlernte, wenig vielversprechend.

Während ich durch den Supermarkt schlurfte, entdeckte ich an der Fischtheke frische Hummer, ein seltener Anblick, der mich an mein erstes selbstgekochtes Essen für Dan erinnerte, ein Radiologe, den ich kurz nach meinem Umzug nach Inverness kennengelernt hatte.

Damals hegte ich große Hoffnungen für mich und Dan. Mit der Stelle am Inverness Royal Infirmary hatte man mich eigentlich aus der Welt der renommierten Lehrkrankenhäuser verbannen wollen, doch nach allem, was mir passiert war, betrachtete ich den Job als willkommene Chance für einen Neuanfang. Ich bin mir nicht sicher, ob unser Kennenlernen zu diesem Gefühl beitrug. Vielleicht war ich aber auch nur so optimistisch, weil alles andere so unerfreulich war. Wie es auch gewesen sein mochte, ich hatte jedenfalls große Hoffnungen.

Dann erfuhr er von Bladebitch – und das war der Anfang vom Ende.

Wie blöd. Und völlig unnötig. Ich war doch nicht plötzlich eine andere! Aber sein Blick auf mich hatte sich verändert. Was auch immer er vorher auf mich projiziert hatte, es funktionierte nicht mehr, und stattdessen lief ein neuer Film ab, der ihm nicht gefiel.

Kurz danach legte Dan sich eine neue, weniger komplexe Freundin zu, die willens war, seinen Idealvorstellungen von einer Frau und Lebenspartnerin zu entsprechen. Sie hieß Donna: eine quirlige, aber tumbe Oberschwester, die mit Push-up-BHs und hilflosem Kichern die Männer becircte.

Nur ein Jahr nach unserer Trennung waren Dan und Donna verheiratet und hatten bereits Nachwuchs. Deshalb erwischte mich die Erinnerung an der Fischtheke eiskalt: Mir wurde klar, wie lange diese letzte Beziehung schon zurücklag, wie sehr sich Dans Leben bereits weiterentwickelt hatte – und wie wenig mein eigenes. Vier Jahre war es her, seit ich einen Partner gehabt hatte, und in meiner damaligen Lebensphase gab es niemanden, der mir Freund, geschweige denn Partner sein konnte.

An besagtem Tag waren also meine Schutzschirme heruntergefahren. Wäre ich an jenem Tag bei klarem Verstand gewesen, wäre er nie auf meinem Radar erschienen. Doch an dem Tag war ich alles andere als klar.

So niedergeschlagen wie damals war ich lange nicht gewesen. Ist wahrscheinlich nur die Erschöpfung, redete ich mir ein. Am Tag zuvor hatte ich ein sehr anstrengendes und frustrierendes Operationspensum abgearbeitet, war aber trotz meiner großen Müdigkeit zu aufgedreht gewesen, um zu schlafen. Nachdem ich stundenlang wachgelegen hatte, stand ich schließlich um halb fünf auf. Kurze Zeit später schob ich meinen kleinen Einkaufswagen durch den 24-Stunden-Supermarkt und versuchte krampfhaft, das Ding einigermaßen voll zu kriegen.

Während ich durch die Gänge ging, kam ich mir vor wie in einem fiktiven OP-Vorbereitungsraum. Ich war umgeben von zukünftigen Patienten, die ihre Wagen genau mit den Waren vollpackten, die ihr Leiden garantiert verschlimmern würden.

Um diese Uhrzeit gab es zwar noch keinen Alkohol, aber die Folgen seines unkontrollierten Genusses hatten sich in vielen Gesichtern deutlich verewigt: gelbliche Haut, rotgeäderte Nasen. Wo ich auch hinsah, erblickte, vernahm und roch ich die Anzeichen und Auslöser von Krankheit und Verfall. Der Laden wimmelte nur so von übergewichtigen und auffallend ungesunden Menschen, die hier ihrer Fett-, Salz- und Zuckersucht frönten.

Irgendwann hatte ich offenbar aufgehört, Menschen zu sehen. Für mich gab es nur noch Krankheiten. Der Lebensstil dieser Leute regte mich auf, denn sie brockten sich mit voller Absicht die Suppe ein, die ich dann für sie auslöffeln musste.

Solche Gedanken gingen mir manchmal durch den Kopf. Und dann betrachtete ich mich von außen oder von oben und sah eine Person, die ich nicht mochte. Sie war grausam und kaltherzig, und ich hatte keinerlei Kontrolle über sie. Leider begegnete ich ihr in jener Phase meines Lebens immer häufiger.

Ich kann Ihnen sagen, dass es kaum etwas Bedauernswerteres gibt, als im Supermarkt um fünf Uhr morgens einen Moment der Erleuchtung zu erleben, die daraus resultierende Erkenntnis aber nicht wahrhaben zu wollen.

Ja, ich war müde. Aber den Grund dafür wollte ich nicht akzeptieren. Ich hatte schon so lange gegen die Ausgrenzung in meinem Berufszweig aufbegehrt, dass es mir gar nicht in den Sinn kam, mich zu fragen, warum ich so krampfhaft dazugehören wollte.

Als ich also vor der Fischtheke stand, in Gedanken bei Dan, ging mir auf, dass ich geschlagene zehn Minuten damit verbracht hatte, mich über Leute beim Einkaufen aufzuregen. Ein ziemlich deutliches Zeichen dafür, dass ich komplett am Ende war. Aber man ist selten so weit unten, dass es nicht noch tiefer ginge, was ich prompt beweisen sollte.

 

«Na, den ersten Schritt haben Sie doch schon gemacht. Wenn Sie das noch zweitausend Tage durchhalten, brauchen Sie keinen Eingriff mehr.»

Kaum war mir das rausgerutscht, sah ich mich wieder von oben. Und schämte mich in Grund und Boden.

Was war nur los mit mir? Was war aus mir geworden? Mein einziger Antrieb, der Grund, warum ich morgens aufstand, bestand darin, Patienten wie diesem zu helfen. Ich wusste ziemlich genau, wie das Leben dieses Mannes aussah, nämlich so wie das aller anderen Patienten der Bariatrie, die ich je operiert hatte. Die Ursache ihres Leidens lag in einer nicht therapierbaren, komplexen psychologischen Konstellation, ihr Leben war schrecklich und von Depressionen begleitet. Wenn sie bei mir landeten, waren alle anderen Heilungsversuche gescheitert. Ich war ihre letzte Hoffnung.

Meine eigenen Worte klangen fremd. Solche Gedanken kamen mir durchaus, aber hier im Krankenhaus würde ich sie nie aussprechen. Ich war es gewohnt, mir in so einer Situation auf die Zunge zu beißen, weil man dem Selbstbetrug dieser Patienten mit Verständnis begegnen muss. Das ist genauso wichtig wie die Operation selbst. Bei Fragen zur Ernährung reagieren sie wie Trinker, die man nach ihrem Alkoholkonsum befragt. Ich weiß genau, dass sie mich anlügen, aber es ist wichtiger, ihnen zu zeigen, dass sie sich selbst betrügen. Das erfordert Fingerspitzengefühl. Wenn sie mir weismachen wollen, ihre Ernährung sei maßvoll, erkläre ich ihnen, die von ihnen gewünschte Behandlung sei nicht zielführend. Sie sei nur für Menschen gedacht, die sich völlig maßlos ernährten. Danach bekennen sich die meisten schnell zu ein paar zusätzlichen Schokoriegeln.

Über respektlose Bemerkungen von Kollegen rege ich mich immer auf, selbst wenn sie sie nicht vor den Patienten äußern. Wie bei dem Anästhesisten, der völlig entgeistert tat, als er von einer Vegetarierin mit einem BMI von sechzig hörte. «Was frisst die denn?», fragte er. «Ganze Bäume?»

Den habe ich zur Schnecke gemacht. Wie unprofessionell und taktlos von ihm.

Und jetzt begegnete ich meinem eigenen Patienten mit dermaßen kränkenden Worten. Schlimmer noch: Ich war die Ärztin, die ihn operieren sollte. Da hätte ich ihn auch gleich Fresssack nennen können.

Das war unverzeihlich.

Mehrere Dinge kamen damals zusammen. Als ich mich an dem Morgen unausgeschlafen und leicht gereizt an meinen Computer gesetzt hatte, war mir der Zugang zum Intranet des Krankenhauses verweigert worden, was mich nicht gerade in Hochstimmung versetzt hatte. Es bedeutete, dass ich mich mit der grenzdebilen IT-Abteilung in Verbindung setzen musste, deren Mitarbeiter mich erst mal am Telefon bevormunden würde. Oder noch schlimmer: Möglicherweise würde das Problem einen Vor-Ort-Einsatz mit persönlicher Bevormundung durch Craig den Schleimer erfordern.

So sah es also um sieben Uhr fünfunddreißig aus, noch bevor ich zur Intensivpflege gegangen war und erfahren hatte, dass das mir zugesagte Bett für den ersten Patienten auf meiner Liste nicht mehr frei war.

Zugegeben, ich stand kurz vorm Wutausbruch und musste mich schwer beherrschen, nicht auf den Patienten loszugehen, weil dieser ernsthaft glaubte, ich wäre die Untergebene und der langhaarige Jesus hinter mir mein Chef – und das, obwohl ich mehrere Male in meiner Kapazität als Oberärztin mit ihm gesprochen hatte.

Jeder Mensch hat eine Grenze. Man kann eine Menge ertragen, aber irgendwann läuft das Fass über. Ich ärgerte mich allerdings doppelt über meine Entgleisung, denn in diesem Beruf werden Wutausbrüche bei Frauen sehr viel strenger beurteilt. Frauen gelten als emotional. Die werden leicht hysterisch. Wenn ein Kerl jemanden zur Sau macht, hat er eben was gegen dumme Menschen, und es wird ihm womöglich sogar als Stärke ausgelegt. Verfährt eine Frau auf dieselbe Weise, gilt es als Schwäche.

Also plagte ich mich den Rest des Tages mit Schuldgefühlen und durfte mich vor Feierabend auch noch auf einen Besuch vom IT-Techniker einstellen. Man könne das Problem nur vor Ort lösen, hatte es geheißen.

Sie können sich sicher vorstellen, dass die IT-Techniker des Krankenhauses in dem Moment nicht besonders hoch in meiner Gunst standen. Natürlich hatten die Leute am Inverness Royal Infirmary nichts ähnlich Abscheuliches verbrochen wie das, was ich in der Vergangenheit erleiden musste, aber sie trugen auch nichts zur Verbesserung des schlechten Rufs bei, den sich diese Berufsgruppe bei mir eingehandelt hatte.

Normalerweise tauchte Craig der Schleimer mindestens zwanzig Minuten später als vereinbart bei mir auf und führte mich dann durch eine Reihe von Schritten, aber nicht um das Problem zu lösen, sondern um meine Dummheit zu demonstrieren. Er ging grundsätzlich von meiner Unkenntnis aus. Sein Hirn akzeptierte keine Cookies, daher konnte er sich meinen Kenntnisstand nicht merken und fing jedes Mal wieder bei null an.

Das ist die wohlwollende Sichtweise. Alternativ erklärt sich seine Vorgehensweise damit, dass er sich dazu immer dicht über meine linke (immer die linke) Schulter beugen musste, was ihm einen ausgiebigen Blick in die kleine Lücke zwischen meinen Blusenknöpfen erlaubte.

Hatte Craig sich schließlich vergewissert, dass sich das Problem nicht einfach dadurch löste, dass ein Mann richtig mit dem Computer umging, zog er für gewöhnlich seinen Laptop aus der Tasche oder loggte sich von meinem Computer aus in die geschützten Bereiche des Systems ein. Nach einer weiteren Viertelstunde, während deren er mein Büro mit seinem Schweißgestank und Mundgeruch vernebelte, erklärte er das Problem entweder für gelöst oder seufzte ausgiebig und gab schließlich einer übergeordneten Instanz die Schuld.

Ich war schon früh mit der Patientenliste durch, weil eine weitere OP wegen mangelnder Betten ausgefallen war. Am liebsten hätte ich Feierabend gemacht, doch ich musste in meinem Büro warten, sonst wäre ich am folgenden Montag immer noch nicht ins System gekommen und hätte den Berg an Verwaltungskram nicht erledigen können.

Als es also an jenem Nachmittag um zehn nach fünf an der Tür klopfte, zuckte ich zusammen. Beim Blick auf meine Bluse wünschte ich, ich hätte eine Strickjacke drübergezogen. Leider vergaß ich die ständig, denn im Krankenhaus war es überall unerträglich heiß, außer auf der Wochenstation, wo ein Kader Hebammen in den Wechseljahren wie die Schießhunde darüber wachte, dass das Thermostat stets auf zwanzig Grad stand.

Zu dumm, dass ich meinen Chirurgenkittel schon ausgezogen hatte, dachte ich und bat Craig herein.

Die Tür öffnete sich einen Spaltbreit und jemand streckte schüchtern, ja geradezu entschuldigend, den Kopf ins Zimmer.

«Sie sind nicht Craig.»

«Nein, ich bin Peter.»

Mächtiger als das Skalpell

Bladebitch war der bösartige Name, den man der damals noch anonymen Verfasserin eines Blogs namens «Diagnose: Sexismus» verpasste. Schon zu Beginn ihrer Karriere hatte diese Bloggerin, die sich selbst Scalpelgirl nannte, mit ihren Artikeln unter den betroffenen Ärzten einige Kontroversen ausgelöst, aber erst fünf Jahre später entfesselte sie im Internet eine heftige Reaktion – einen Shitstorm, um es genau zu sagen.

Parlabane war zuerst durch seine Frau Sarah auf den Blog aufmerksam geworden, weil sie die Artikel regelmäßig mit empörtem Schnauben, kichernder Zustimmung oder ungläubigen Zischlauten kommentierte. Letzteres tat sie nicht wegen des Inhalts, sondern aus Anerkennung, im Sinne von: «Boah, die traut sich was!»

Scalpelgirl war eine Mischung aus Kummertante und polemischer Brandrednerin. Sie sammelte frauenfeindliche Anekdoten von Chirurginnen aus ganz Großbritannien und veröffentlichte diese schockierenden Erlebnisse zusammen mit nicht weniger schockierenden Schmähkommentaren.

Während sich der Blog einer zunehmenden Leserinnenschaft erfreute, verschoben sich die reinen Anekdoten immer weiter in die Kommentarspalten, und Scalpelgirl gab in ihren Artikeln eher einen Überblick, regte zur Diskussionen an oder widmete sich im Editorial einem aktuellen Thema.

Es gebe unzählige Beispiele für die abwertenden Sprüche, die sich Ärztinnen anhören müssten, schrieb Scalpelgirl und bezeichnete sie als «Hintergrundrauschen der latenten Belästigung am Arbeitsplatz», die gerade deshalb so ärgerlich seien, weil sich Frauen durch dieses ständige Herabwürdigen so sehr daran gewöhnten, dass sie gar nicht mehr merkten, wie grundverkehrt es sei.

Parlabane erinnerte sich noch daran, dass Sarah einen bestimmten Artikel zu diesem Thema begeistert mit ihren Freundinnen teilte. Der Titel lautete: «Sind Sie nicht zu attraktiv, um Chirurgin zu sein?» Schon in der Einleitung zitierte die Verfasserin eine Reihe von Sprüchen aus den Kommentarspalten. «Zu hübsch» oder «zu sexy», «zu mütterlich» oder «zu niedlich» auszusehen machte eine Karriere in der Chirurgie offenbar unmöglich, zumindest nach Einschätzung der männlichen Kollegen.

Aufgrund dieser vermeintlichen Erkenntnis fühlten sich die Männer bemüßigt, ihre Vorbehalte an bestimmten Körperteilen der weiblichen Kolleginnen aufzuhängen, so die Bloggerin. «Ich könnte Sie ja respektieren, wenn Sie nicht so große Titten hätten», hatte eine der Kommentatorinnen von einem Kollegen gesagt bekommen. Der Artikel zitierte noch eine Reihe ähnlicher Sprüche und reicherte diese mit widersprüchlichen Bemerkungen von anderen Kollegen an, die behaupteten, ein tiefer Ausschnitt oder große Brüste seien ein Karrierevorteil.

«Diese Erkenntnisse haben wichtige Implikationen für die gesamte Menschheit», befand Scalpelgirl. «Wir müssen uns fragen, welche Brustgröße bei einer Frau zum Erfolg in der Chirurgie beitragen kann. Warum gibt es eigentlich keinerlei Publikationen zu diesem Thema? Es handelt sich schließlich um eine der wichtigsten wissenschaftlichen Auseinandersetzungen unseres Zeitalters. Manche Quellen behaupten, wir bräuchten dicke Titten, um es zu etwas zu bringen, andere wiederum sehen in Riesenmöpsen einen Grund dafür, dass uns niemand ernst nimmt. Ein Idealmaß für Karrieretitten muss her, vom Royal College of Surgeons empirisch bestimmt und dokumentiert, damit die Brustchirurgen anhand dieser Vorgaben Verkleinerungen oder Vergrößerungen vornehmen können.»

Im Gegensatz zu Sarah hielt Parlabane den Artikel weder für besonders mutig noch für witzig, aber bei Medizinern herrschte offenbar so viel Anstand, dass die Messlatte für gewagte Äußerungen recht niedrig hing. Sarahs Begeisterung speiste sich allerdings aus einer anderen Quelle. Sie und ihre Freundinnen waren entzückt, weil hier eine Frau gegen ebenjene Etikette verstieß, die ihnen selbst den Mund verbot.

Vielleicht war Parlabane auch nur so kritisch, weil er ein kleines bisschen eifersüchtig war. Früher hatten Journalisten wie er das Privileg genossen, dass ihre markigen Kommentare zitiert und geteilt – oder eher quer durchs Büro gebrüllt – wurden. Heute, zu Zeiten des Internets, war jeder Journalist.

Der Blog behandelte auch andere Themen, etwa «Karriere und Familie». Einer der frühen Artikel, die dem Blog größere Aufmerksamkeit bescherten, trug den Titel: «Was trage ich zum Bewerbungsgespräch?» Als Aufmacher diente eine scheinbar arglose Diskussion über die Feststellung, dass Frauen mit der Beantwortung dieser Frage erheblich größere Probleme hätten als Männer, die eben einfach in Hemd und Krawatte erschienen. Im Kleid würde frau nicht ernst genommen, heiße es oft. Sogar ein Rock sei möglicherweise sexuell aufgeladen, betone dieser doch ausdrücklich das Geschlecht.

«Warum aber sollen Frauen beim Bewerbungsgespräch geschlechtsneutral auftreten?», fragte die Bloggerin. «Niemand würde Männern ernsthaft raten, mit der Kleidung ihr Geschlecht zu kaschieren.»

Dann widmete sich der Artikel der allgemeinen Frage, warum Frauen ihre Weiblichkeit ablegen müssten, wenn sie in der Chirurgie arbeiten wollten. Wieso galt Weiblichkeit als Schwäche, Männlichkeit als Stärke?

«Immer wird uns gesagt, wir müssten härter sein. Warum eigentlich? Narbengewebe ist hart, aber fast gefühllos. Bei der Arbeit mit Menschen ist Gefühllosigkeit kein Vorteil. Mitgefühl ist weiblich. Es ist doch pure Ironie, dass genau diese Überbetonung der männlichen Attribute so viele unserer Kollegen zu echten Arschgranaten macht.»

Ja, Parlabane musste zugeben, solche Aussagen erregten die Gemüter.

Er fand ihren Ton mitunter zu schnippisch und ätzend, doch Sarah und ihre Kolleginnen waren begeistert von Scalpelgirl, weil sie sich für ihre Belange einsetzte. Sie amüsierten sich, wenn sie die Kollegen abkanzelte, und bejubelten ihren Sarkasmus, weil es sich irgendwie gut anfühlte, eine derart streitbare Person zur Fürsprecherin zu haben. Für sie war Scalpelgirl eine Art Antiheldin.

Scalpelgirls angriffslustiger Ton und die von ihr angestoßenen Diskussionen machten den Blog zum Versammlungs- und Zufluchtsort für Whistleblowerinnen aus der Chirurgie. Bewerberinnen durften zwar nicht mehr nach ihren Kindern oder eventuellem Kinderwunsch befragt werden, doch es existierten subtile Methoden, diese Frage dennoch zu stellen, und der Blog entlarvte sie.

«Wie lauten Ihre Lebensziele?» zum Beispiel. Nicht etwa «Karriereziele», nein «Lebensziele», hob Scalpelgirl hervor.

Um beim Bewerbungsgespräch den richtigen Eindruck zu hinterlassen, empfahl sie Bewerberinnen, nicht nur auf die richtige Kleidung zu achten, sondern vor allem eines mitzubringen: «Eine Gebärmutter im Glas. Die anatomische Sammlung Ihrer Universität hat bestimmt eine, die können Sie sich für einen Tag ausleihen. Sie stellen das Glas einfach auf den Tisch und erklären Ihrem zukünftigen Arbeitgeber, Sie hätten sie sich entfernen lassen.»

Auf diese Tirade hagelte es Kommentare von Frauen, die genau diese subtile Fragerei selbst erlebt und als falsch empfunden hatten. Die Diskussion wiederum führte dazu, dass das Royal College of Surgeons in Fachpublikationen zur Verschärfung oder zumindest strikteren Anwendung der bereits existierenden Richtlinien aufgefordert wurde.

Doch obwohl die Frage nach dem Nachwuchs bei Bewerbungsgesprächen tabu war, wurde das Thema an anderer Stelle ausgiebig erörtert.

«Eine Frau kann eine gute Ehefrau und Mutter sein oder eine gute Chirurgin. Beides geht nicht», sei einer Kommentatorin von einem ausbildenden Kardiologen erklärt worden. «Wenn Sie Nachwuchs wollen, werden Sie am besten Haus- oder Hautärztin.»

Angeblich um Studenten im Grundstudium zu helfen, schickten sich erfahrenere Kollegen an, Fachgebiete aufgrund von ungünstigen Arbeitszeiten und anderen Belastungen als gut oder schlecht für Frauen mit Kinderwunsch zu beurteilen. Außer Acht gelassen wurde von diesen «hilfreichen Karriereberatern» allerdings die Frage, ob man das Arbeitsumfeld der Chirurgie oder anderer Fachbereiche besser an Familienbedürfnisse anpassen könnte. Und bloß nicht das Wort «verbessern» benutzen, das klingt nach Kritik!

Als Beleg für die «Blindheit des etablierten Privilegs», wie Scalpelgirl es ausdrückte, zitierte sie längere Passagen aus einer E-Mail, in der die Verfasserin die regelmäßigen und unverblümten Belehrungen eines Kollegen wiedergab.

«Man sollte meinen», habe besagter Kollege zum Besten gegeben, «dass gerade angehende Medizinerinnen etwas von Biologie verstünden. Die ist nun mal, wie sie ist. Wieso verleugnen sie sie dann? Sie jammern, es sei nicht fair, aber es ist nun mal Tatsache, dass die Frauen schwanger werden, wenn ein Paar Kinder will, und dass die Frauen diese Kinder stillen und aufziehen. Es handelt sich keineswegs um eine überkommene, sexistische Konvention, sondern um die nackte Tatsache. Natürlich hat das Auswirkungen auf ihre Karriere und lenkt sie von der Arbeit ab: schlaflose Nächte, Sorgen um das Wohl der Kinder, Organisation des Schultransports. Besser wäre es, dies zu akzeptieren und sich für eins entscheiden. Es ist nicht fair, beides zu wollen, weder für die Kinder oder die Ehemänner noch für die Kollegen oder die Patienten.»

Das Schlimmste an der Sache sei, schrieb Scalpelgirl, dass dieser Kollege selbst vier Kinder hat. Er habe beides. Niemand habe ihn je zu einer Entscheidung genötigt.

Scalpelgirl verriet ihre Quelle nicht, aber so viel ließ sie durchblicken: Der Mann werde von seinen Kollegen heimlich Leatherface genannt, weil «es nach seinen Operationen immer aussieht wie nach einem Kettensägenmassaker». Er tauchte fortan regelmäßig auf dem Blog auf, nicht nur wenn wieder neue E-Mails von ihm im Umlauf waren, sondern vor allem weil Scalpelgirl einen nach ihm benannten, monatlichen «Leatherface Award» an Familienväter mit der himmelschreiendsten Doppelmoral verlieh.

Es gab auch andere Auszeichnungen wie die «Goldene Schmeißfliege» für rüpelhaften Chauvinismus alter Schule und den umstrittenen Preis für Stutenbissigkeit, mit dem besonders hinterhältige Kolleginnen gekürt wurden.

Die erste Preisträgerin ging aus einer frühen Schimpftirade hervor, die dem Blog unzählige neue Abonnentinnen beschert hatte. Darin widmete sich Scalpelgirl stellvertretend für alle Chirurginnen «unseren schlimmsten Feindinnen». Im gleichnamigen Artikel illustrierte sie das Thema anhand eines zugesandten Beispiels von der wenig mitfühlenden Reaktion einer älteren Vorgesetzten auf die bevorstehende Mutterschaft der Einsenderin. Die junge Assistenzärztin war schon während der Schwangerschaft vermehrt für Nachtschichten eingeteilt worden, und nach ihrer Rückkehr aus der Elternzeit sechs Monate später ging es nahtlos so weiter. Die Zuteilung der Schichten waren das Werk einer Oberärztin, deren wenig verständnisvolle Haltung besonders enttäuschend war, da sie selbst zwei Kinder hatte. Doch ihre Einstellung zum Thema Karriere und Familie erwies sich als ziemlich erhellend. «Ich rate den Damen stets, sich das Jammern über sexuelle Diskriminierung abzugewöhnen. Das ist doch nur eine Ausrede für ihr berufliches Versagen. Zwei Wochen nach der Geburt meines ersten Kindes war ich wieder am Arbeitsplatz, bei meinem zweiten sogar schon nach zweiundsiebzig Stunden.»

Scalpelgirl vermutete, dass Superwoman ihr drittes vermutlich mit einem geplanten Kaiserschnitt am Morgen auf die Welt bringen würde, um am Nachmittag die OP-Liste abzuarbeiten.

«Superwoman ist unsere Feindin», verkündete Scalpelgirl. «Ich kritisiere sie nicht für ihre Entscheidungen – das tun die Männer schon für uns –, aber sie soll uns bitte nicht weismachen, dass das normal sei, und vor allem soll sie uns gefälligst nicht nötigen, ihrem Vorbild zu folgen. Superwoman räumt den Frauen in der Chirurgie keineswegs den Weg frei, im Gegenteil, sie legt uns Steine in den Weg. Sie ist eine Verräterin, die uns das Leben schwerer macht. Und solche wie sie gibt’s wie Sand am Meer.»

Auf medizinischen Internetforen löste der Artikel sehr kontroverse Debatten aus, die wiederum die Leserschaft des Blogs vergrößerten und unvermeidbare Spekulationen über die Identität der Verfasserin anheizten.

Scalpelgirl verfasste darüber hinaus einige von ihr vermutlich als weniger streitbar empfundene Artikel, die sich am anzüglichen Verhalten der IT-Techniker des Krankenhauses entzündeten, sich am Ende aber nur noch über deren Inkompetenz aufregten. Bei diesen Texten hatte sie sich nach Parlabanes Meinung nicht gerade mit Ruhm bekleckert, und für ihn war der Tiefpunkt erreicht, als sie die folgende Behauptung aufstellte: «Bei IT-Beratern gilt eine Abwandlung des alten Sprichworts ‹Wer nichts will und wer nichts kann, der wird IT-Fachmann›. Vor diesem Hintergrund ist es umso unverständlicher, warum dieser Job so unangemessen hoch dotiert ist, besonders heutzutage, wo alles andere den Kürzungen im Gesundheitswesen unterliegt.»

Bei den Leserinnen fand diese Aussage allerdings Anklang und trat sogar eine Lawine an Hasskommentaren von Leidensgenossinnen los. Dass die Kacke irgendwie am Dampfen war, sprach sich recht schnell bei den IT-Technikern verschiedener Kliniken herum und verbreitete sich von dort aus in einschlägigen Internetforen, wo genau die Sorte Sprücheklopfer rumhängt, deren Existenz sämtliche Artikel über Feminismus rechtfertigen.

Den größten Ärger bereiteten der IT-Gemeinde tatsächlich einige Meldungen aus den unmoderierten Kommentarspalten des Blogs, wo die Techniker als soziale Krüppel, Freaks, Jungfrauen, Nackenbärte und Kellerbewohner bezeichnet wurden: die komplette Bullshit-Bandbreite der IT-Stereotype eben. Weil aber Scalpelgirls Name über allem stand, wurden sämtliche Aussagen kurzerhand ihr zugeschrieben.

Plötzlich wurde Scalpelgirl zur Zielscheibe – obwohl Todesdrohungen und Vergewaltigungsphantasien zunächst ausblieben –, denn diese Typen brauchten einen Namen und ein Gesicht, um sich richtig auszutoben. Die frisch auf den bitterbösen Namen Bladebitch getaufte Bloggerin aber blieb fürs Erste anonym. Unglücklicherweise hatte sie sich mit ihren Artikeln aber genau mit der Berufsgruppe angelegt, die die Anonymität im Internet als Herausforderung begriff.

Insiderwissen

Laut Aufzeichnungen der Notrufzentrale ging Sheena Mathesons Anruf exakt um zwei Uhr einundvierzig ein. Schon kurz danach wies der Leiter dem Vorfall hohe Priorität zu und forderte ein Team zu dessen Untersuchung an.

PC Ali Kazmi, in einer Streife mit PC