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Der schottische Bestsellerautor mit einer fesselnden Short Story über Wahrheitsliebe, Rache und Geheimnisse, für die man mit dem Tod bezahlen könnte. Eine junge Frau wird in der Londoner U-Bahn von mehreren Männern bedrängt. Der Journalist Jack Parlabane macht ihnen klar, dass das nicht in Ordnung ist. Für ihn ist es ein selbstverständlicher Gefallen. Einer, der sich jedoch als äußerst gefährlicher herausstellt. Denn Kendra arbeitet beim Verteidigungsministerium und besitzt Informationen über eine Sicherheitslücke, die sie anonym an die Öffentlichkeit bringen will. Koste es, was es wolle. Wer könnte ihr besser helfen als ein Journalist? Und noch dazu einer, der es satt hat, immer nur die gleichen inhaltsleeren Stories zu schreiben statt harte investigative Stücke? Jack ist angefixt und beginnt, mit der Whistleblowerin zusammenzuarbeiten. Für eine sensationelle Geschichte, für die Sicherheit des Landes.
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Seitenzahl: 165
Chris Brookmyre
Der Gefallen
Eine Jack Parlabane-Story
Aus dem Englischen von Claudia Wuttke
Der schottische Bestsellerautor mit einer fesselnden Short Story über Wahrheitsliebe, Rache und Geheimnisse, für die man mit dem Tod bezahlen könnte.
Eine junge Frau wird in der Londoner U-Bahn von mehreren Männern bedrängt. Der Journalist Jack Parlabane macht ihnen klar, dass das nicht in Ordnung ist. Für ihn ist es ein selbstverständlicher Gefallen. Einer, der sich jedoch als äußerst gefährlicher herausstellt. Denn Kendra arbeitet beim Verteidigungsministerium und besitzt Informationen über eine Sicherheitslücke, die sie anonym an die Öffentlichkeit bringen will. Koste es, was es wolle. Wer könnte ihr besser helfen als ein Journalist? Und noch dazu einer, der es satt hat, immer nur die gleichen inhaltsleeren Stories zu schreiben statt harte investigative Stücke? Jack ist angefixt und beginnt, mit der Whistleblowerin zusammenzuarbeiten. Für eine sensationelle Geschichte, für die Sicherheit des Landes.
Brookmyre ist einzigartig. (Mark Billingham)
Ein treffsicherer und humorvoller Erzähler. (Carl Hiaasen)
Chris Brookmyre, geboren 1968 in Barrhead bei Glasgow, arbeitete nach seinem Studium der Englischen Literaturwissenschaft und Theaterwissenschaften als Journalist in London, Los Angeles and Edinburgh. Der mehrfach preisgekrönte Autor lebt in Glasgow. «Dein Ende» wurde 2017 mit dem Theakston Old Peculier Crime Novel of the Year und dem Bloody Scotland McIlvanney Prize for Crime Novel of the Year ausgezeichnet. Insgesamt sind allein in Großbritannien mehr als 1 Million Exemplare von Jack-Parlabane-Romanen verkauft worden. Bei rororo erscheinen unter anderem «Dein Ende» und «Dunkle Freunde».
Kendra spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss, nachdem Stafford sie wie ein Schulmädchen zurechtgewiesen und aus dem Raum geschickt hatte. Wut, Scham und das Gefühl der Erniedrigung brannten unter ihrer Haut, während das Blut in ihren Ohren rauschte und die Hintergrundgeräusche des Büros meilenweit entfernt schienen. Um nicht aufzufallen, ging sie bewusst langsam in Richtung der Damen-WCs, den Kopf abgewandt, sodass niemand ihr Gesicht sehen konnte.
Alle Toiletten waren frei, und es stand auch niemand an den Waschbecken: ein Segen! Sie schlüpfte in die hinterste Kabine und verschloss die Tür von innen.
Kendra hatte sich geschworen, nicht zu weinen, und das war beides gewesen: ein Vorsatz und ein Gelübde. Ihre Mission und stillschweigende Parole. Seit sie hier angefangen hatte, ermahnte sie sich unablässig, nicht die Ruhe zu verlieren und professionell zu bleiben, egal, was ihr widerfuhr.
Als Frau durfte sie keine Schwäche zeigen, die man als Beweis für die typisch weibliche Empfindlichkeit anführen könnte; und als schwarze Frau durfte sie erst recht niemandem einen Grund geben, sie als weniger gut als die anderen abzustempeln.
Das war es, was wirklich in ihrem Inneren brannte, während sie auf dem Klodeckel saß und versuchte, die Fassung zurückzugewinnen. Sie hatte Maurice Stafford einen Anlass gegeben, sie zurechtzustutzen und vorzuführen. Sie hatte ihm eine Gelegenheit geboten, sie auf den Platz zu verweisen, der ihr seiner Meinung nach so eindeutig zustand.
Kendra verließ die Kabine, wusch ihre Hände, kühlte das Gesicht mit etwas Wasser und frischte ihr Make-up auf. Sie war in der Lage, ihre Gefühle hinter einer Maske zu verbergen. Das musste sie auch in diesem Job, wenn sie von Nutzen sein sollte.
In der Mittagspause ging sie in ein kleines Café mit anständigem WLAN und checkte Webseiten, die sie sich an den Netzwerkcomputern des Büros nicht aufzurufen traute. Kendra fühlte sich wie die letzte Idiotin. Wenn sie vorher mal auf diese Idee gekommen wäre, hätte sie erkannt, wie sinnlos ihr Vorhaben war, und sich eine Menge Kopfzerbrechen erspart. Beide Männer, der, den sie verpfeifen wollte, und der, dem sie von ihrem Verdacht erzählt hatte, waren auf dieselbe Schule gegangen, und es war nicht die Saint Ordinary’s Comprehensive in Gateshead.
Kendra hatte einmal gehört, wie ein Parlamentsabgeordneter erklärte, dass der überproportional hohe Anteil an Regierungsbeamten, die allesamt eine gewisse Universität besucht hatten, auf deren enge Beziehung zum öffentlichen Dienst zurückzuführen sei. Das war eine unbeabsichtigt entlarvende Bemerkung gewesen. Für jeden normalsterblichen Studierenden hätte das geheißen, an der Schule zu arbeiten oder sich im staatlichen Gesundheitswesen abzuquälen. Für die Eton-Absolventen aber meinte es, sich der lästigen Bürde zu stellen, das Land zu regieren.
Diese Leute hatten das alles fein eingefädelt. Sie konnten die Regeln ändern, wie es ihnen gefiel, und wenn man ihnen auf die Schliche kam, hatten sie den Rückhalt der anderen. Kendra hätte am liebsten laut aufgeschrien, aber das würde sie nicht tun. Den Gefallen würde sie ihnen nicht tun, und ihretwegen würde sie auch nicht weinen. Manchmal ist die eigene Würde das Einzige, woran man sich noch klammern kann.
Jeder, der behauptet, die Würde sei das Einzige, woran man sich noch klammern könne, hat sicher noch nie an einem vereisten Fenstersims im fünften Stock gebaumelt, während zwanzig Meter unter einem der Verkehr der Rushhour unbeirrt toste.
Positiver ausgedrückt: Niemand in London hatte wohl in diesem Moment einen besseren Ausblick auf die funkelnde Weihnachtsbeleuchtung auf der Knightsbridge als ich: Farben und Formen so prächtig, um unvergessliche Erinnerungen in den Köpfen kleiner Kinder zu verankern und bei den Erwachsenen nie vergessene Sehnsüchte neu heraufzubeschwören. Nicht mal die Touristen im London Eye kamen in den Genuss dieses Anblicks, über den Glanz und das Funkeln erhoben und gleichzeitig nah genug, um die einzelnen Birnen der Lichterkette zu erkennen. In dieser Hinsicht war ich wahrlich vom Glück verwöhnt. In der, dass ich nur einen Fingerbreit vom Sturz in den sicheren Tod entfernt war, nicht so sehr.
Es wäre nicht anmaßend oder unbegründet von Ihnen zu fragen, was ich da tat. Die sichere Antwort darauf wäre: Das ist kompliziert, aber die kurze lautet: Journalismus.
Was versteht man unter diesem Begriff?
Laut dem Chambers Dictionary ist es «der Beruf des Sammelns, Schreibens, Redigierens und Herausgebens von nachrichtlichen Berichten oder anderen Artikeln für Zeitungen, Zeitschriften, das Fernsehen, Radio und andere verwandte Medien». Ich denke, technisch betrachtet stimmt das immer noch, jedoch weicht der Zusatz «andere Artikel» die Definition hinreichend auf, um die hirnlosen Farce zu umfassen, die das traurige Los des modernen «Nurnalisten» geworden ist.
Für den durchschnittlichen Schreiberling von heute ist «Journalismus» der Prozess, offizielle Pressemitteilungen abzuschreiben und so weit zusammenzustreichen, dass sie in den vorherbestimmten Platz auf der Seite passen; Tickermeldungen über eine Gesichtscreme und die neuesten Trendprodukte zusammenzurühren und sie als hippe Eigenkreation zu verkaufen. Das hat zur Folge, dass die «Nurnalisten» härter und länger schuften als ihre Vorgänger, zwanzigmal so viele Storys ausspucken, und das alles, ohne einmal den Hörer in die Hand zu nehmen, um jemandem eine Frage zu stellen. Nichts von all dem hat irgendeinen Newswert, der nicht von konzerngesteuerten PR-Gurus oder Regierungspressesprechern durchgewinkt worden wäre, aber es füllt die Spalten, und es ist kosteneffektiv: um noch mehr Geld in die Kassen der Medienkonzerne zu spülen, das sie dann wiederum einer der großen Wirtschaftskanzleien bezahlen, damit die die Profite schön auf Offshorekonten verstecken, damit ja keine Steuern dafür abgedrückt werden müssen.
Was für eine naive Vorstellung, bei einem Journalisten an jemanden zu denken, der – Schuhsohlen auf Asphalt – nach Hinweisen sucht oder über Jahre geduldig seine Kontakte pflegt, weil sie ihm eines Tages nützlich sein könnten. Haben Sie eine Vorstellung davon, wie viele locker-flockige Stücke man über die neuesten Frisurentrends beim Intimhaar oder die coolsten Haustier-Pool-Partys in der gleichen Zeit ausspucken kann, die ein Reporter bräuchte, um sechs Stationen mit der U-Bahn zu fahren?
Es gibt sie noch, diejenigen unter uns, die sich sehr wohl an die Zeit erinnern, als Journalismus etwas anderes bedeutete, etwas wie: der Macht die Wahrheit ins Gesicht zu sagen oder mit unnachgiebiger Zähigkeit nach Fakten zu graben, bei denen so mancher ein begründetes Interesse daran hatte, dass sie nie ans Licht kamen. Aber lasst uns nicht den guten alten Zeiten nachtrauern. Auch zu meiner Zeit hieß Journalismus schon zum größten Teil, irgendwelchen Celebrity-Schlüpfern nachzuschnüffeln oder sich als Moralapostel im Namen der Öffentlichkeit genüsslich über die korrupten Machenschaften anderer Leute zu empören.
Ich erwähne das nur, weil ich nicht ganz sicher bin, auf welche Seite dieser edlen Trennlinie mein gegenwärtiges Bemühen gehört. Normalerweise neige ich nicht zu solchen tiefschürfenden Grübeleien, aber wenn man plötzlich fünf Stockwerke über den Weihnachtsbummlern hängt, weil man den Laptop eines gehobenen Regierungsbeamten aus Whitehall klauen wollte, während der nur wenige Meter weiter weg so lautstarken Sex mit einer Industrie-Lobbyistin hat, dass sich einem der Magen umdreht, dann fragt man sich doch schon mal, ob man karrieremäßig da ist, wo man sich einst hingeträumt hatte.
Ich sollte vermutlich ein bisschen was über den Kontext erzählen, der zu dieser Situation geführt hat.
Es ist ein paar Wochen her. Ich wartete nach der Arbeit am Bahnhof Blackfriars auf den Zug, der mich nach Hause bringen sollte; ich kam von der Schicht bei einer der nationalen Zeitungen, bei der ich wenig mehr tat, als die Agenturmeldungen für die Nachrichtenseite umzuformulieren. Nach dem, was ich in meinem Beruf schon erreicht hatte, ist es ein wenig demütigend, sich wieder so weit unten auf der Leiter abzurackern, wenn man aber andererseits bedenkt, wie mir während der Leveson-Untersuchung der Arsch aufgerissen wurde, hätte ich vielleicht schon dankbar sein müssen, beim Cardboard Manufacturer Monthly die Klos putzen zu dürfen.
Nun, hier muss ich wohl auch noch etwas weiter ausholen.
Zunächst einmal ist es wichtig zu wissen, dass ich keinen sehr guten Tag hatte. Allgemeiner formuliert, hielt die schlechte Phase nun schon über drei Jahre an, aber an manchen Tagen macht einem das mehr aus als an anderen. Anders formuliert: Du weißt, dass du gerade keinen Höhenflug hast, wenn selbst der Versuch, auf dem Weg zur Arbeit ein Schinkenbrötchen zu erstehen, in einem Desaster endet.
Die Schicht fing früh an, was hieß, dass ich kaum wach genug war, um Hunger zu haben, als ich aus meiner Wohnung in das morgendliche Dunkel trat, ich aber fast umkam vor Magenknurren, als mein Zug nach mehreren Stopps mitten auf der Strecke endlich widerwillig in Central London einrumpelte. Ich machte einen Umweg über eine kleine Seitenstraße der Queen Victoria Street, um bei meiner Lieblingsimbissbude vorbeizugehen. Der Laden hieß einfach Der Schuppen, und damit zeigte er sich auch völlig immun gegen jüngste Ernährungstrends, Marketingstrategien, Einrichtungs-Must-haves und wahrscheinlich auch gegen die neuesten Hygienevorschriften.
An diesem speziellen Dezembermorgen hatte ich gerade einem jener Freiluftbürger unserer Weltklassestadt™ ein paar Münzen in den Becher geworfen und war noch etwa drei Meter von der verwitterten Eingangstür des Schuppen entfernt, als mich das plötzliche Aufjaulen eines in der Gasse vor- und zurücksetzenden Fahrzeugs aufschreckte. Das demonstrativ herausgebollerte Motorgedröhne kam von einem roten Lamborghini, der von drei BMW X6s verfolgt wurde, die wie übergroße metallene Kakerlaken hinter ihm her schlingerten. Ihre tiefschwarze Farbe hob sich gegen die helle Schneeluft noch schärfer ab. Der Lamborghini hielt direkt vor dem Schuppen, und als dann auch noch eine Horde schwarzer Anzugträger auf dem schmalen Stück Straße wild durcheinanderlief, wurde die eben noch verlassene Gasse zu einer dichtbevölkerten Bühne, die mir den Weg zu meinem Frühstück versperrte. Einer der Anzugträger öffnete die Fahrertür des Lamborghini, und heraus trat Joleon Culper-Huistra, trotz des Wetters mit einer Sonnenbrille im Haar und in einem extrem marktschreierischen Outfit, das von seinem PR-Team bestimmt Fokusgruppen getestet war. Joleon, ein eindeutig heller hummeldummer Influenzer-Star, war der Sprössling des milliardenschweren Immobilien-Tycoons Lance Culper-Huistra und Schwarm der Hochglanz-Schundmagazine, seit irgendein Scripted-Reality-Produzent herausgefunden hatte, dass seine absolute Unausstehlichkeit sich blendend verkauft und er ihn und sein Verrückt nach Mayfair ins Zentrum einer Lifestyle-Pornoshow gerückt hatte.
Joleon war das, was man früher einen Playboy genannt hätte, aber das klang nicht mehr richtig. Diesem Begriff haftete noch etwas fast Unschuldiges an, verglichen mit der Brutalität, mit der die neue Kleptokratie ihre Privilegien zur Schau stellte. Den Playboy umgab noch die Aura eines fast beiläufigen, sorglosen Lebensstils, von schnittigen Cabriolets und natürlichem Glamour. Heute hatten die Sportwagen drei Vans im Schlepptau, die wie überdimensionierte Edelsärge aussahen und hinter deren abgedunkelten Scheiben eine ganze Entourage an Sicherheitsberatern, persönlichen Assistenten, PR-Hanseln und Anwälten saß.
Mein Weg wurde mir von einem Typen mit Ohrstöpsel und kaltem höflichem Lächeln versperrt. Früher wäre er einen halben Kopf größer und 25 Kilo schwerer gewesen, hätte ein paar Tattoos und die ein oder andere Narbe zur territorialen Abgrenzung gehabt. Aber Joleon konnte sich bei seinem Sicherheitspersonal den Unterschied zwischen einem Exelitesoldaten und einem Extürsteher leisten.
«Es tut mir leid, aber das Café ist heute Morgen geschlossen», sagte er zu mir in nicht unfreundlichem, aber bestimmtem Ton.
«Ich möchte nur ein Schinkenbrötchen. Das dauert höchstens zwei Minuten.»
Mit einem beinahe entschuldigenden Lächeln schüttelte er den Kopf, während hinter ihm in der Wärme des Ladens Joleon von Arthur, dem buckligen und asthmatischen Eigentümer, begrüßt wurde.
Ich zog mein Handy aus der Tasche, damit ich wenigstens ein Foto dieser absurden Szene machen und es später der Promi-Redaktion anbieten könnte. Ebenso gut aber hätte ich auch nach einer Waffe greifen können, so schnell hatte der Kerl von der Sicherheit mein Handgelenk umfasst. Sein Griff war nicht sehr fest, gerade stark genug, um meine Hand zurückzuhalten und die Sinnlosigkeit jeglichen Widerstands zu verdeutlichen.
«Tut mir leid, Sir. Das ist privat.»
Sein Ton war ruhig, als erwartete er mein Verständnis dafür, dass weder er noch ich etwas daran ändern konnte.
Früher hätten diese Typen dich direkt verprügelt und deine Kamera zertrümmert, erst recht in so einer menschenleeren Sackgasse wie dieser. Heute waren sie schrecklich höflich, darauf trainiert, dich so zu behandeln, dass es sich nicht mal wie eine Konfrontation anfühlte. In vielerlei Hinsicht aber war diese Art bedeutend erniedrigender, betonte sie doch nicht nur, wie absolut machtlos man war, sondern zudem noch, dass man es nicht mal wert war, eingeschüchtert zu werden.
Himmel. Wenn ich wirklich der Meinung war, dass ein Tritt in die Eier von einem Aufpasser mir ein besseres Gefühl der Gleichberechtigung gab, dann war ich echt alt geworden.
Arthur hat mir später während meiner Mittagspause alles brühwarm erzählt – streng vertraulich, versteht sich. Joleon hatte eine Charme-Offensive gestartet: Unter dem Oberbegriff «Niedrigsteuersatz» kursierten jede Menge Gerüchte, nach denen die Superreichen dank des konsequenten Wegschauens der Regierung jährlich einen geringeren Prozentsatz an Steuern an das Finanzamt zahlten als ein durchschnittlicher Lehrer, eine Krankenschwester oder ein Polizist. In Joleons Fall war es aber nicht einfach eine Frage der Prozente oder des Verhältnisses: Ein Aufmacher im Mirror enthüllte, dass Joleon im vergangenen Jahr weniger Steuern gezahlt hatte als die Juniorärzte, deren Alltag man in einer Reality-Doku beiwohnen durfte, die von derselben Produktionsfirma gemacht wurde wie Verrückt nach Mayfair.
Joleons PR-Team war sein Geld schnell wert. Im Telegraph erschien ein Kommentar von einem ehemaligen Redenschreiber BoJos, in dem er erklärte, wie viel Geld Joleons Großtaten in anderer Weise in die britische Wirtschaft gepumpt hätten. In Phase zwei nun sollte es darum gehen, ihm Punkte auf der Salz-der-Erde- oder Mann-des-Volkes-Skala einzubringen. Joleon wurde an Orten interviewt und fotografiert, die seine andere Seite zeigen sollten, seine geheimen Lieblingsplätze jenseits des Glamour-Images. Er erzählte den dressierten Journalisten alles über seine Liebe zu diesem Café und wie er sich dort schon immer mit dem «echten London» verbunden gefühlt hatte.
Arthurs Version war ein wenig anders.
«Der Mistkerl hat nie ’nen Fuß über die Schwelle gesetzt, aber seine Leute haben mir drei Riesen hingeworfen, wenn mich also jemand fragt: Er ist ’n scheißnormaler Typ.»
Also: So fing mein Tag an, und als ich im Büro war, wurde er auch nicht besser. Das wurde er in der permanent unterbesetzten Nachrichtenredaktion von Clarion nie. Jede Schicht war nicht nur die zermürbende Erinnerung daran, wie sehr die ganze Branche auf den Hund gekommen, sondern besonders wie tief ich selbst gefallen war.
Dem Printsektor ging schon vor dem Telefonhacking-Skandal der Arsch auf Grundeis, aber als dann überall die Jobs drastisch gestrichen wurden, half es mir auch nicht wirklich, so etwas wie das Aushängeschild für all das zu sein, was die Leute an meiner Zunft falsch fanden.
Angesichts des wachsenden öffentlichen Drucks gegen die neugierigen Schnüffeleien der Presse kam es mehreren meiner früheren Arbeitgeber ganz gelegen, mich als das Exemplar einer Spezies zu stilisieren, von der man sich künftig unbedingt distanzieren wollte. Wie die Protokolle später zeigten, war von der Freude, die Früchte meiner Arbeit zu ernten, ohne die für beide Seiten unangenehmen Fragen nach der Herkunft meines Materials zu stellen, keine Rede mehr. Und es wurde auch kaum erwähnt, dass meine speziellen Talente in den dunklen Künsten nicht beim Abhören von Promis oder beim morbiden Ausschlachten von minderjährigen Mordopfern zum Einsatz kamen, sondern bei dem Versuch, die Machenschaften ansonsten sehr gut geschützter Individuen, Institutionen und Vereinigungen aufzudecken. Das wiederum machte mich noch weniger vermittelbar. Heute war sauberer investigativer Journalismus nicht nur ein Luxus, der unter Rentabilitätsgesichtspunkten nicht mehr tragbar war: Er war den Eigentümern und Verlegern, die keinerlei Lust verspürten, eine Kultur der Neugier, des Nachhakens, des Gegencheckens und der Analyse zu fördern, regelrecht verhasst.
Mein Name war Gift, zumindest wenn er als Verfasser eines Artikels auftauchte. Ein paar Freunde waren mir noch geblieben, die mir ab und zu einen Knochen hinwarfen, aber ich begann zu akzeptieren, dass meine Tage als investigativer Reporter vorbei waren. Ich schrieb schon unter Pseudonym, aber wenn dein Gesicht mal durch alle Medien gegangen ist, und dann auch noch unter diesen Umständen, ist es schwer, das Vertrauen einer neuen Quelle zu gewinnen, geschweige denn undercover zu arbeiten.
Deswegen musste ich für diese todlangweiligen Schichten dankbar sein, bei denen ich Agenturmeldungen «analysierte» und Meldungen daraus «generierte», anstatt ein paar Quellen anzurufen und eine wirklich eigene Geschichte zu schreiben. Früher oder später würde ich mir ohnehin Ärger einhandeln, und weil der Tag schon so bescheuert begonnen hatte, beschloss ich ausgesprochen leichtfertig, dass es heute so weit war.
Irgendwann musste der stellvertretende Chefredakteur bemerken, dass ich seit fast einer Stunde nichts geliefert hatte, und kam an meinen Schreibtisch geschlendert, um herauszufinden, warum.
«Wo hakt’s?», fragte er. «Es ist fast zwölf, und ich warte noch immer auf den Aufmacher für die 18 und die Kurzmeldung unten auf der 12. Hinter beiden steht dein Kürzel. Spielt das System verrückt, weil die Versionen nicht zusammenpassen?»
Er fragte das so, weil es in seinem Kosmos für diese Verspätung tatsächlich nur ein technisches Problem geben konnte. Er hieß Rowan, so ein zottelhaariger Kiwi, der jeden seiner Vokale so behandelte wie Super Mario seinen Wachstumspilz. Er kam mehr aus dem Marketing als aus dem Journalismus, was hieß, dass er eine andere Vorstellung von dem Nachrichtenwert einer Meldung hatte als ich, wodurch das eine oder andere Missverständnis vorprogrammiert war. Zudem kann festgestellt werden, dass sein Auftreten in der Mitarbeiterführung deutlich davon profitieren würde, wenn man ihm draußen vor der Tür mal so richtig eine reinhauen würde.
«Nein», antwortete ich. «Ich warte darauf, noch ein Kontrollinterview machen zu können. Bei dem Aufmacher für die 18 ist was faul.»
«Ein Kontrollinterview?», fragte er und sah dabei aus, als wäre ihm eine Schmeißfliege direkt von einem Hundehaufen in seinen Mund geflogen. Ich war mir nicht sicher, ob er fragte, weil er nicht wusste, was der Begriff bedeutete, oder ob er schlicht nicht glauben konnte, dass jemand tatsächlich so etwas tat.
«Ja. Die Tickermeldung über die Frau, die eine Versicherung gegen Gewichtszunahme abgeschlossen hat: Ich hab das mal überprüft. Es stellte sich heraus, dass dieselbe Frau seit 2008 alle zwei Jahre so eine Versicherung abgeschlossen hat, nämlich immer dann, wenn Nu-Earth Health Publishing eine Neuauflage eines bestimmten Diätbuches herausgibt. Die Pressearbeit für Nu-Earth Health Publishing wird von Flashlight PR gemacht, die zufälligerweise auch Rest EZ Versicherungen vertritt, mit denen diese Frau die Verträge hat. Und wenn man ein bisschen im Archiv wühlt, findet man heraus, dass sie auch eine Versicherung dagegen abgeschlossen hat, wieder mit dem Rauchen anzufangen, nachdem sie bei einem Versandgeschäft ein Nikotinpflaster-Abo erstanden hatte, und sich auch abgesichert hat, wieder single zu sein, nachdem sie sich bei einer Internet-Dating-Agentur registriert hatte. Und jetzt rate mal, wer die PR für Patch Power und Love Bytes macht?»
Rowan sah mich halb erwartungsvoll, halb ungläubig an, so als wartete er darauf, dass ich endlich zum Punkt käme.
«Die Meldung ist reine PR», erklärte ich geduldig. «Ein Publicity-Stunt.»