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Hochaktuelle Bestsellerspannung aus Schottland! Kult-Ermittler Jack Parlabane und eine IT-Rebellin begeben sich in die Abgründe der Wirtschaftskriminalität, in denen ein Leben nichts wert ist. Tagsüber kümmert sich die Studentin Sam um die Schwester Lilly, die Trisomie 21 hat. Nachts wird Sam die begnadete "Buzzkill". Sie ist Mitglied der gegen Ausbeutung kämpfenden Hackergruppe "Uninvited". Die Hacker kennen sich nicht, aber trotzdem sind dort Sams wahre Freunde. Der letzte Coup war ein voller Erfolg. Genießen kann Buzzkill ihren Triumph nur kurze Zeit. Ein gewisser Zodiac erpresst sie. Er kennt ihre wahre Identität und weiß, was sie getan hat. Damit kann er sie erpressen. Sam hat keine Wahl, auch wegen Lilly: Sie muss für ihn einen illegalen Auftrag erfüllen - und dazu braucht sie einen alten Verbündeten: Parlabane.
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Seitenzahl: 652
Chris Brookmyre
Dunkle Freunde
Thriller
Aus dem Englischen von Karl-Heinz Ebnet
Kannst du deinen Freunden vertrauen?
Tagsüber kümmert sich die Studentin Sam um die kleine Schwester Lilly, die an Trisomie 21 leidet. Nachts wird Sam die begnadete «Buzzkill». Sie ist Mitglied der gegen Ausbeutung kämpfenden Hackergruppe «Uninvited». Die Hacker kennen sich nicht, aber trotzdem sind dort Sams wahre Freunde. Und der letzte Coup war ein voller Erfolg. Genießen kann Buzzkill ihren Triumph nur kurze Zeit. Ein gewisser Zodiac erpresst sie. Er kennt ihre wahre Identität und weiß, was sie getan hat. Damit kann er sie erpressen. Sam hat keine Wahl, auch wegen Lilly: Sie muss für ihn einen illegalen Auftrag erfüllen – und dazu braucht sie einen alten Verbündeten: Jack Parlabane.
Kult-Privatermittler Jack Parlabane und die junge IT-Rebellin Sam: «Einer der genialsten Thriller seit langem.» (Washington Post)
Chris Brookmyre, geboren 1968 in Barrhead bei Glasgow, arbeitete nach seinem Studium der Englischen Literaturwissenschaft und der Theaterwissenschaften als Journalist in London, Los Angeles und Edinburgh. Der mehrfach preisgekrönte Autor lebt in Glasgow. «Dein Ende» wurde 2017 mit dem «Theakston Old Peculier Crime Novel of the Year» und dem «Bloody Scotland McIlvanney Prize for Crime Novel of the Year» ausgezeichnet. Insgesamt sind allein in Großbritannien mehr als 1 Million Exemplare von Jack-Parlabane-Romanen verkauft worden.
Für Nick Witcher, Steve Finn und Kerry Fraser-Robinson
So eine Kälte hat er noch nie erlebt, so eine gnadenlose, alles durchdringende Kälte. Sie umschließt ihn vollkommen, wie ein Gespenst, das ihn in seiner Umklammerung zerdrücken möchte.
Seine Gliedmaßen sind nutzlos, immer noch zucken sie im zaghaften Nachhall der Krämpfe, die ihn außer Gefecht gesetzt haben. Er sieht seinen abgehackten Atem, der in winzigen Wölkchen seinen Mund verlässt. Dazu die pochenden Schmerzen, er spürt sie von den inneren Organen bis in die Arme und Beine. In seinen Ohren sirrt es, vor seinen Augen tanzen Miniexplosionen wie ein kleines Feuerwerk.
Die Luft ist beißend kalt, aber am schlimmsten ist der Boden. Er kommt ihm wie eine gewaltige Kältemaschine vor, die allem, was mit ihr in Berührung kommt, die Wärme entzieht. Da er auf dem Rücken liegt, betrifft es fast die Hälfte seiner Körperoberfläche.
Sein Angreifer steht über ihm und starrt ihn mit einer grinsenden Guy-Fawkes-Maske an.
Kurz glaubt er, im schwarzen Handschuh des Mannes ein Schimmern zu erkennen, dann ist es auch schon vorbei. Schwer zu sagen zwischen den Blitzen vor seinen Augen, den Nachwirkungen des Elektroschockers.
«Ich möchte, dass du weißt, warum das mit dir passiert, und ich möchte, dass du verstehst, warum es gerade jetzt passiert.»
So viel Zorn in dieser Stimme. Ein Zorn, der von jahrelangem Hass, von jahrelangem Warten zeugt.
Warum hat er den Verrat nicht vorhergesehen? Wie hat er so blind in die Falle laufen können?
«Du hast gedacht, du hättest dich neu erfunden. Deinen Ruf wieder aufpoliert. Ich wollte, dass du an dieser besseren Zukunft schnupperst. Dass du glaubst, du könntest wieder der sein, der du früher warst … bevor ich dir alles wegnehme.»
Hoch oben an der Wand sieht er die dunkle Linse einer Überwachungskamera, und als er versteht, was das bedeutet, fühlt es sich noch kälter an als der Boden. Zu spät wird ihm die Bedeutung der Maske klar, zu spät erkennt er, dass sie eher von praktischem, weniger von symbolischem Wert ist.
Die Maske ist Bestätigung, dass er tatsächlich kurz das Schimmern einer Klinge gesehen hat.
Die Maske sagt ihm, dass er sterben wird.
Ich habe immer Angst gehabt, ich würde am Ende dieser Geschichte im Gefängnis landen. Und ich sollte recht behalten.
Damit verrate ich doch nicht zu viel, oder? Den Teil kennen wir beide schon, im Grunde zählt also nur, wie ich dorthin gekommen bin.
Ich werde alles erzählen, ich werde nichts zurückhalten, weil ich möglicherweise anderen nicht zu nahe treten will. Ich muss absolut ehrlich sein, wenn ich im Gegenzug ebenfalls Ehrlichkeit erwarte. Aber ich muss Sie warnen. Was ich zu erzählen habe, ist harter Stoff, aber es gibt nun mal gewisse Dinge in meinem Leben, die sollten Sie verstehen. Sie werden mich nicht unbedingt mögen für das, was ich getan oder gesagt habe, und Sie selbst werden auch nicht immer sehr schmeichelhaft rüberkommen, aber es ist wichtig, dass Sie verstehen, wie sich das alles aus meiner Perspektive dargestellt hat.
Das heißt nicht unbedingt, dass ich es immer noch so sehe oder es für richtig halte, wie ich gehandelt habe. Es war nur eben so, kapiert?
Es gibt eine ganze Reihe von Punkten, mit denen ich anfangen könnte, aber ich muss da vorsichtig sein. Bei manchen könnte man meinen, ich würde mit dem Finger auf andere zeigen, aber das liegt mir fern. Ich weiß, wer an allem Schuld war. Es gibt keinen Grund, sich da irgendwas vorzumachen. Ich werde also nicht bis in die Kindheit zurückgehen oder bis zum Tod meines Dads oder zu der Razzia, bei der die Polizei einen Haufen Drogen und eine Waffe in unserer Wohnung fand. Darum geht es nämlich gar nicht, jedenfalls nicht wirklich. Für mich hat alles vor ein paar Wochen angefangen, als ich in einem Wartezimmer saß und eine lebende Zeitbombe vor Augen hatte.
Ich weiß, der Typ wird hochgehen, ich weiß es, mehrere Minuten bevor es passiert. Es ist nur eine Frage der Zeit.
Er sitzt im Wartezimmer mir gegenüber und rutscht unruhig auf der Plastikbank herum, ständig ist er in Bewegung: ruckelt, zuckt und zappelt einen Code zusammen, den ich nur allzu gut lesen kann. Die verfilzte Wolle auf seinem Schädel geht in einen Vollbart über, mit dem man eine ganze Busladung Hipster ausstatten könnte. Alle paar Sekunden sieht er zu mir herüber, was mir Angst einjagt und mich nervös macht, obwohl ich weiß, dass er es nicht auf mich speziell abgesehen hat. Sein Blick streicht unablässig durchs Zimmer und bleibt nie länger als eine Sekunde an etwas hängen, wie eine Fliege, die nirgends landen will, damit man sie nicht platt patscht.
Ich will keinen Augenkontakt mit ihm, deshalb richte ich den Blick auf die Wand über seinem Kopf, wo eine Plakatreihe mich anstiert. Die Plakate scheinen einschüchtern zu wollen, abgesehen von denen, die die Leute offen dazu auffordern, ihre Nachbarn zu verpfeifen. «Wir haben Sie im Auge» steht auf einem. «Sozialhilfebetrug: Uns entgeht nichts», warnt eine andere. «Sie wissen, dass Sie uns nicht entkommen?», fragt ein drittes Poster. Zu sehen sind Menschen, die von hoch oben aufgenommen wurden, sodass sie inmitten der konzentrischen Kreise, auf denen sie stehen, winzig und in die Ecke getrieben erscheinen. Und um die Botschaft ganz klarzumachen, ist auf einem anderen Plakat ein Pfeil zu sehen, der im Zentrum einer Zielscheibe steckt: «Sozialhilfebetrug – ins Visier genommen».
Ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen, trotzdem habe ich ein schlechtes Gewissen und komme mir wie eine Verbrecherin vor, nur weil ich hier bin. Ich habe geübt, was ich sagen möchte, ich bin vor dem Spiegel mehrmals meinen Text durchgegangen. Ich kenne meine Argumente und versuche vorherzusehen, wie die Sachbearbeiter reagieren werden. Als ich das Haus verließ, war ich vorbereitet, jetzt glaube ich, dass ich keine Chance habe. Ich verschwende meine Zeit. Am liebsten möchte ich weg, möchte fortlaufen, aber das geht nicht. Ich brauche das Geld. Unbedingt.
Ich sehe zum Schalter. Über der Frau an der Rezeption hängt ein Plakat. «Illegal im Land? Kehren Sie in Ihre Heimat zurück, bevor Sie verhaftet werden.» Der fettgedruckte Text verkündet stolz, dass «letzte Woche in dieser Gegend 86 Verhaftungen» vorgenommen wurden. Menschen sind auf diesem Plakat nicht zu sehen, aber wenn, dann wüsste ich, wie sie aussehen. Sie würden so aussehen wie ich.
Eine Nation, denke ich. Die liberale Big Society.
Ich weiß, welche Plakate sie eigentlich gern drucken würden. Darauf würde stehen: «Bist du weiß genug, um hier zu leben? Wenn nicht, verpiss dich in dein Bongo-Bongo-Land.»
Eine Frau verlässt eines der Antragszimmer und schlurft mit gesenktem Blick zum Ausgang. Es ist nicht gut für sie gelaufen, ich weiß es. Kurz darauf erscheint der zuständige Sachbearbeiter: ein grauhaariger Weißer.
Es gibt auch eine chinesische Sachbearbeiterin. Mein Termin war vor einer halben Stunde, und sowohl sie als auch der Grauhaarige sind seit meiner Ankunft zweimal aus ihren Zimmern gekommen. Ich beobachte sie aufmerksam.
Ich hoffe, dass ich zur Chinesin darf. Sie macht einen entspannten, vielleicht etwas müden Eindruck. Der Grauhaarige ist wie eine aufgezogene Feder.
Er ruft einen Namen, und der zuckende Typ erhebt sich. Er folgt dem Grauhaarigen, der ihn kaum angesehen hat, ins Zimmer. Einerseits freue ich mich, dass der Grauhaarige jetzt belegt ist, weil ich sicher als Nächstes an der Reihe bin, aber ich kann Menschen ziemlich gut lesen und weiß, dass gleich etwas Schlimmes geschehen wird.
Wieder kommt die Chinesin heraus, ich richte mich auf und will, dass mein Name aufgerufen wird. Er wird nicht aufgerufen.
Noch mehr Leute kommen und lassen sich auf den Bänken nieder. Gut zehn Menschen sind mittlerweile hier, und die Einzige, die redet, ist eine Frau in der Ecke, deren Kleinkind von ihr wegrennen will. Die Kakophonie im Raum nimmt für mich immer mehr zu, mein Unbehagen wächst. Keiner sagt etwas, aber ich spüre die Anspannung, die Wut, die Angst und die Verletztheit.
Ich habe immer schon einschätzen können, was den Menschen durch den Kopf geht, egal, was sie mit ihrer Mimik, mit ihren Worten zum Ausdruck bringen wollen. Ich kann ihren Gesichtsausdruck lesen, die kleinen Gesten, ihre Körpersprache, den Ton ihrer Stimme. Für mich ist das so selbstverständlich, dass ich ziemlich lange gebraucht habe, bis mir klarwurde, dass andere das alles nicht sehen.
Manchmal ist es von Vorteil, im Moment ist es eher so, als würden alle auf mich einbrüllen. Ich bin in einem Zimmer voller Verzweiflung, und alles sagt mir, dass meine Bemühungen zum Scheitern verurteilt sind.
Und dann höre ich sie, die lauter werdenden Männerstimmen, die von den dünnen Wänden kaum gedämpft werden. Eine klingt zunehmend wütend, die andere leiser, aber unnachgiebig, gebieterisch. Die eine aufrührerisch, die andere unbeugsam. Unaufhaltsame Kraft, unbewegter Gegenstand. Ich höre etwas klappern, etwas, das wie ein über den Boden schlitternder Stuhl klingt. Ein Alarm schrillt los, plötzlich tauchen aus den Nebenräumen Angestellte auf, die ich nie zuvor gesehen habe. Sie eilen zum Antragszimmer. Einer von ihnen gehört zum Sicherheitspersonal. Ich höre mehrere dumpfe Schläge, Tritte gegen Möbel, wütende Stimmen, befehlende, panische Stimmen. Jemand brüllt, dass der zuckende Typ sich beruhigen soll. Es ist, als wollte man ein Feuer mit Benzin löschen.
Ich habe schreckliche Angst. Tränen laufen mir über die Wangen. Ich will fort, weiß aber, wenn mein Name aufgerufen wird und ich nicht mehr hier bin, hab ich es versaut.
Die Schreie werden lauter, die zornigen Worte des zuckenden Mannes verwandeln sich in ein einziges Gebrüll, das von einem tiefen Stöhnen abgelöst wird, als sich seine Wut leergelaufen hat. Kurz darauf wird er nach draußen geführt. Er wirkt wie betäubt, als wüsste er nicht mehr, wo er sich befindet. Er weint.
Der Grauhaarige sieht ihm hinterher, gibt ein langes Seufzen von sich und hält sich mit einer Hand am Türrahmen fest. Jemand fragt ihn, ob er eine Pause möchte. Er schüttelt den Kopf. Er braucht ganz bestimmt keine Pause, aber ich weiß, was er braucht: Er möchte seinen Frust abladen, er möchte seine Macht ausüben. Er verschwindet im Antragszimmer, wenige Sekunden später kommt er zurück.
«Samantha Morpeth», bellt er.
Es dauert nur wenige Minuten; weniger, als nötig waren, um den Zuckenden zu überwältigen.
Ich nehme Platz, vom Grauhaarigen trennt mich ein Tisch, auf dessen einer Seite jetzt Spuren von Gummisohlen zu sehen sind. Ich bin ihm so nah, dass ich sein Namensschild lesen kann. So nah, dass ich seinen Schweiß rieche.
Er heißt Maurice Clark. Sein Gesicht gleicht einer gerade zugeschlagenen Tür. Auf dem Boden seines Büros liegen Papiere verstreut, das ganze Zimmer dreht sich noch von der Wut des zuckenden Mannes. Das Gleiche gilt wahrscheinlich für Maurice Clarks Kopf. Wenn ich ihn bitten würde, meinen Namen zu wiederholen, den er vor wenigen Sekunden aufgerufen hat, würde er sich vermutlich nicht mehr an ihn erinnern.
«Aufgrund der veränderten äußeren Umstände hat Ihre Mutter keinen Anspruch mehr auf Pflegebeihilfe. Deswegen wurden die Zahlungen eingestellt. Ganz einfach.»
Er drückt es taktvoll aus, aber ich spüre einen Anflug von Geringschätzung. Seine dezente Formulierung ist im Grunde nur seine Art, mir den Sachverhalt umso mehr hineinzureiben.
«Ja, aber jetzt sollte doch ich die Pflegebeihilfe bekommen, bislang ist sie aber nicht gezahlt worden.»
Mein ganzes Planen und Proben, alles umsonst. Meine Stimme hört sich an, als käme sie aus einem Brunnen: ängstlich und schwach, ohne jede Überzeugungskraft. So ist es immer, wenn ich mit Menschen wie ihm zu tun habe: mit autoritären, wütenden, aggressiven Leuten. Mit Konfrontation kann ich nicht umgehen. Ich werde immer kleiner und löse mich in Luft auf.
Maurice Clark dagegen wird immer lauter und größer und entschiedener.
«Es wurde nicht gezahlt, weil Sie ebenfalls keinen Anspruch haben.»
«Aber ich bin doch die, die …»
«Miss Morpeth, die Vorschriften sind eindeutig. Sie haben keinen Anspruch auf Beihilfe, wenn Sie Vollzeit arbeiten oder sich in einer Vollzeitausbildung befinden.»
«Voll… Aber ich hole doch nur die Oberstufe nach.»
Noch während ich mich leise, heiser verteidige, weiß ich, dass es sinnlos ist.
Clark sieht mich nur an, mit einem Blick, der mir zu verstehen gibt, dass ich sein Argument damit nur bestätige. Es ist ihm egal. Er ist verletzend. Er ist frustriert. Maurice Clark will im Moment nur nein sagen. Auch wenn er mir helfen könnte, würde er es nicht tun.
Alles, was ich sagen wollte, wird in meinem Kopf zu einem unleserlichen Gekritzel, das Papier, auf dem es geschrieben steht, ist verkokelt. Wieder kommen mir die Tränen. Ich bin ein hoffnungsloser Fall. Ich bin erbärmlich. Ein beschissenes Opfer.
Als Besiegte schleppe ich mich aus dem Sozialamt, genau wie die Frau, die ich vorher gesehen habe, als würde ich Maurice Clark auf meinen verdammten Schultern mit mir herumtragen. Draußen auf der Straße sagt mir der Blick aufs Handy, dass ich mich beeilen sollte, auch wenn ich jetzt absolut keine Lust dazu habe. Letztlich habe ich über eine Dreiviertelstunde auf ein zweiminütiges Gespräch gewartet, und jetzt bin ich zu spät dran. Bis zur Loxford School ist es eine gute halbe Stunde, und es ist bereits fünfundzwanzig Minuten vor vier.
Unwillkürlich überlege ich, wann der nächste Bus kommt, dann fällt mir ein, dass ich mir diesen Luxus nicht leisten kann.
Allmählich werden mir die Konsequenzen klar. Ich komme mir vor, als würde ein schweres Gewicht auf mir liegen, aber ich darf nicht langsamer werden oder gar trödeln. Der Grauhaarige hat es klipp und klar gesagt. Wenn ich Pflegebeihilfe will, muss ich die Schule sausenlassen. Kein Abschluss also, aber das spielt sowieso keine Rolle mehr, weil die Uni jetzt nicht mehr in Frage kommt.
Vielleicht täusche ich mich, aber ich habe das Gefühl, dass der Typ mir auch was anderes hätte sagen können. An einem anderen Tag hätte er es vielleicht getan. Vielleicht ist er aber immer ein Arsch.
Ich ziehe den Kopf ein, stöpsle die Ohrhörer ein und blende die Welt aus. Ich eile über den Bürgersteig, schiebe mich im Slalom zwischen Passanten und Kinderwagen und schnatternden Büroangestellten in ihren Rauchpausen hindurch. Ich blicke kaum auf, bis ich zur Kreuzung komme. Dort sehe ich sie: Keisha, Gabrielle und die anderen. Schlimmer noch, sie haben auch mich gesehen. Es hat keinen Sinn, die Straße zu überqueren, um ihnen zu entkommen. Sie würden sie ebenfalls überqueren, und wenn sie merken, dass ich abhauen will, wird alles noch schlimmer. Wenn du abhaust, müssen sie dir hinterher, so ist das. So sind die Regeln.
Wenn nur Lilly da wäre. Dann würden sie mich in Ruhe lassen. Mein Gott, wie jämmerlich. Mich hinter ihr zu verstecken. Aber es wäre nicht das erste Mal.
Ich sehe schon Keishas fieses Grinsen, sogar aus zwanzig Meter Entfernung. Heute ist mir das zu viel, nicht nach dem, was passiert ist, außerdem darf ich mich nicht aufhalten lassen. Ich darf nicht zu spät kommen.
Aber dann haben die Götter ein Einsehen. Ein Bus, der sich der roten Ampel an der Kreuzung nähert, bremst auf Schritttempo ab, und ohne zu zögern, springe ich auf. Als er wieder losfährt, blicken mir Keisha und Gabrielle mit gehässiger Genugtuung hinterher. Die beiden wissen genau, was sich gerade abgespielt hat.
Der Bus bringt mich zu Lillys Schule. Mir bleibt noch etwas Zeit. Während ich durch das Gitter spähe, rechne ich unweigerlich aus, was mich meine Flucht gekostet hat: was ich für den Fahrpreis, der von meiner Oyster-Card abgezogen wird, alles hätte kaufen können. Von jetzt an wird das Geld verdammt knapp sein. Was allerdings wirklich weh tut, sind nicht die Kosten für die Busfahrt, sondern die Tatsache, dass ich mich Keisha und ihren Furien nicht gestellt habe. Das war eine Ausgabe, die vermeidbar gewesen wäre. Eine Feigheitssteuer.
Die ersten Kids tauchen auf, ihre Rollstühle kommen durch die großen Doppeltüren auf die leicht geneigte Rampe. Die anderen werden aus einem anderen Eingang strömen, der durch einen Zaun vom Parkplatz getrennt ist. Jedes Mal fasziniert mich die Geduld aller Beteiligten, wenn mehrere Schüler in die Kleinbusse geladen werden, wenn die Hydraulikplattformen in Zeitlupe immer nur einen Rollstuhl auf einmal hochhieven können. Ich würde es nicht ertragen: so machtlos zu sein, jeden Tag Ewigkeiten warten zu müssen, während einem die Zeit davonläuft.
Einer der Busse fährt zum Nisha Leyton Centre, einer ganztägigen Betreuungseinrichtung mit Angeboten für Erwachsene mit Lernschwächen.
Das ist ein weiterer Punkt auf der langen Liste von Dingen, um die ich mich dringend kümmern muss. Ich muss einen Job auftun, und von denen gibt es nicht so viele, die es mir erlauben, gegen halb vier alles stehen und liegen zu lassen, damit ich am Tor der Loxford School pflichtbewusst meine jüngere Schwester abholen kann.
Für Lilly da sein, so könnte der Titel meiner kurzen und langweiligen Autobiographie lauten. So jedenfalls fühlt sich die Geschichte meines Lebens an.
Wir sind, als wir klein waren, oft umgezogen. Es war schon schwierig genug, sich überall neu einzuleben und Freunde zu finden, ich brauchte dazu nicht auch noch Lilly, die sich immer wie eine Klette an mich dranhängte. Die anderen Kids sahen mich nie allein: Als Erstes war da immer das kleine Down-Syndrom-Mädchen, und deren große Schwester war nur Teil des Gesamtpakets.
«Sie ist meine Halbschwester», sagte ich ihnen manchmal, weil ich das Bedürfnis hatte, mich zu distanzieren. Nachher habe ich mich immer dafür geschämt, und wenn ich jetzt davon erzähle, versetzt es mir einen Stich. Jedenfalls war es ziemlich dämlich. Die Hälfte der Kids, mit denen ich in die Schule ging, hatte Geschwister von unterschiedlichen Eltern.
Lilly taucht mit einer Mappe aus dem Kunstunterricht auf. Die Mappe wird vom Wind erfasst, und Lilly braucht etwas, um sie fest in den Griff zu bekommen. Mir gefällt, dass ich Lilly sehe, bevor sie mich sieht. So kann ich es genießen, wenn sie mich entdeckt. Sie strahlt dann übers ganze Gesicht, als hätte sie mich seit Tagen nicht gesehen, und kurz, für einen Augenblick nur, habe ich das Gefühl, als wäre ich das Wichtigste im Leben eines anderen Menschen.
Der Augenblick hält allerdings nur so lange an, bis mir einfällt, dass es wirklich so ist: Im Moment hat Lilly wirklich niemanden außer mir.
«Ich habe Batgirl gemalt. Wie sie gegen Harley Quinn kämpft.»
Lilly liebt Comics, besonders Superheldinnen.
Sie will ihre Mappe öffnen, aber ich scheuche sie zur Fußgängerampel.
«Zeig’s mir, wenn wir zu Hause sind. Es ist ein bisschen windig hier.»
«Es ist noch nicht fertig, ich mal es daheim zu Ende. Aber ich brauch neue Farbstifte. Können wir neue Farbstifte kaufen?»
Ich wünschte, ich könnte ja sagen.
«War Cassie heute wieder in der Schule? Sie hatte gestern doch Bauchweh.»
Ein Themenwechsel reicht meistens schon. Bis Lilly zu Hause ist, hat sie die Stifte vergessen und malt mit denen weiter, die sie hat, oder malt etwas ganz Neues.
«Ja. Es geht ihr wieder besser.»
Die nächsten hundert Meter schweigt Lilly, anscheinend ist sie in ihre Gedanken versunken. Ich denke schon, die Frage kommt nicht mehr. Aber dann stellt Lilly sie doch.
«Ist Mum schon zu Hause?»
Ich seufze und bemühe mich, sie meinen Frust nicht spüren zu lassen. Jeden Abend gehen wir das durch. Tut sie nur so, als würde sie es nicht verstehen? Ist es eine Art Protest? Dann fällt mir wieder ein, wie lang Lilly gebraucht hat, bis sie das mit ihrem Dad verstanden hatte.
«Nein, sie ist noch nicht zu Hause. Sie kommt noch ziemlich lange nicht nach Hause. Das hat sie dir doch erklärt, erinnerst du dich? Als wir sie besucht haben.»
«Aber warum ist sie dort? Warum kommt sie nicht nach Hause?»
«Weil man sie nicht rauslässt.»
«Warum lässt man sie nicht raus?»
Ich erlaube mir ein Seufzen. Ein Seufzen, damit ich nicht lauthals losschreie.
«Weil sie im Gefängnis ist, Lilly.»
«Guten Morgen, Personalabteilung, Don Corrigan am Apparat.»
Er klingt gut aufgelegt, wie jemand, für den an diesem Tag noch nichts schiefgegangen ist.
«Ach, hallo, Don», kommt die ebenso freundliche Erwiderung. «Hier ist Morgan Bell von der IT-Sicherheit in Holborn.»
«Oh. Was kann ich für Sie tun?»
Plötzlich ist Don verhalten, versucht es aber zu überspielen. Als würde er mit einem Polizisten reden: Er weiß, man kann ihm nichts vorwerfen, dennoch ist er leicht nervös.
«Nichts Schlimmes, keine Sorge. Wie ist es denn so in Canary Wharf? War schon lange nicht mehr im Gebäude. Ist dieses riesige digitale Thermometer in der Lobby endlich repariert?»
«Nein, es zeigt immer noch achtundzwanzig Grad an, Tag für Tag, auch im Januar.»
Er ist jetzt wieder entspannt, freundlich, und er klingt, als würde er einem helfen wollen. Vielleicht nicht gerade beim Start eines Wahnsinnshackerangriffs auf seinen Arbeitgeber, die RSGN Bank, aber er will sich doch kooperationsbereit zeigen.
«Hören Sie, tut mir leid, wenn das nicht in Ihren Aufgabenbereich fällt, aber ich jage einer Liste hinterher, die uns die Personalabteilung schon vor über einer Woche versprochen hat. Ich organisiere ein Seminar über IT-Sicherheit für neue Mitarbeiter. Man wollte mir die Namen aller Mitarbeiter zukommen lassen, die im letzten Vierteljahr neu angefangen haben.»
«Auch in Holborn oder nur hier in Canary Wharf?»
«Nur Canary Wharf. Die Liste von uns hab ich schon, aber auch nur weil ich persönlich zur Personalabteilung runtergestiefelt bin. Aber in dem Fall hatte ich kein Glück, und jetzt sitzt mir die Deadline im Nacken.»
«Wissen Sie zufällig, wer sie Ihnen zusammenstellen wollte?»
«Ich bin so oft an unterschiedliche Mitarbeiter verwiesen worden, dass ich den Namen vergessen habe. Können Sie nicht schnell eine Suche anstoßen? Könnte ja sein, dass in den letzten drei Monaten gar niemand eingestellt wurde und ich deshalb keine Liste bekommen habe.»
«Okay, einen Moment, ich muss nur ins richtige System.»
Das Klackern der Tastatur ist zu hören, Pause, ein ungeduldiges Seufzen.
«Tut mir leid», sagt Don, aber es ist ein gutes Tut-mir-leid. «Der Computer ist etwas langsam heute Morgen.»
Alles unter Kontrolle. Er wird liefern.
«Ah, hier haben wir sie ja. Gar nicht so wenige. Vierzehn Treffer.»
«Dann sollte ich mal in die Gänge kommen. Können Sie mir die Namen und Kontaktdaten mailen? Das wäre wirklich toll.»
«Klar. Ich schicke Ihnen die Liste sofort. Wie ist Ihre Mailadresse?»
«Morgan.bell@RSGN_blue.com», antworte ich. «Vielen Dank, das ist wirklich nett.»
«RSGN Blue? So eine Adresse ist mir noch nie untergekommen.»
«Die ist neu. Es wird gerade einiges umbenannt. Manche Abteilungen bekommen jetzt eine Farbe.»
«Sie sollten die Liste jetzt haben. Ist die Mail angekommen?»
«Grad aufgetaucht. Hervorragend. Danke.»
«Keine Ursache. Tut mir leid wegen der Verzögerung. Bekomme ich auch so eine neue Mailadresse?»
«Wenn, dann hätte man Ihnen schon Bescheid gegeben. Aber machen Sie sich mal keine Sorgen, es hat überhaupt keine Bedeutung. Und wahrscheinlich werden die Adressen auch gleich wieder geändert, sobald die neuen Visitenkarten gedruckt sind.»
Don lacht, und der Anruf wird von beiden Seiten höflich beendet.
«Customer Communication, guten Morgen.»
«Ja, guten Morgen. Ich würde gern mit Sonya Donovan sprechen.»
«Ja, das bin ich. Was kann ich für Sie tun?»
«Hier ist Morgan Bell von der IT-Sicherheit in Holborn. Keine Panik, wir lassen Sie nicht aus dem Gebäude abführen.»
«Na, da fällt mir aber ein Stein vom Herzen.»
Sonya klingt ein bisschen eingeschüchtert, aber fröhlich, sie will gefallen. Sie ist noch nicht lange im Job, weshalb sie auf der von Don so hilfreich zur Verfügung gestellten Liste ausgewählt wurde.
«Sie haben im November bei uns angefangen, nicht wahr? Wie gefällt es Ihnen bei RSGN? Sie haben sich eingelebt?»
«Ja, großartig.»
«Freut mich zu hören. Ich rufe an, weil nach unseren Unterlagen bei Ihnen noch keine IT-Sicherheitsüberprüfung durchgeführt wurde. Stimmt das?»
«Äh, nein, ich meine, ja, das stimmt, ich hatte so was noch nicht. Gleich am Anfang, da gab es so eine Unterweisung, aber …»
«Ja, ja, die übliche Einweisung. Die Überprüfung ist was anderes. Keine Sorge, es handelt sich nur um einen Test. Um sicherzugehen, dass Sie mit den Vorgängen vertraut sind. Es ist ganz schmerzlos und endet nur ganz selten damit, dass Sie aus dem Gebäude abgeführt werden.»
Sonya gluckst nervös, aber sie ist ganz bei der Sache. Laut Dons Liste ist sie einundvierzig. Sie klingt mütterlich: gut gelaunt, verantwortungsbewusst, kooperativ.
«Wir machen es jetzt gleich?», fragt sie.
«Sollte bloß zwei Minuten dauern, aber wenn Sie in die Mittagspause wollen, kann ich das auch für nach der Arbeit ansetzen. Ich habe ein Zeitfenster heute Abend um achtzehn Uhr fünfundvierzig, und mein Kollege Mazood könnte die Überprüfung auch morgen früh um acht Uhr durchführen.»
«Nein, nein, wenn es nicht lange dauert …»
«Wirklich nicht. Erste Frage: Waren Sie zufrieden mit der Einweisung in die Computersicherheit, die Sie nach Antritt Ihrer Stelle erhalten haben? Ist Ihnen alles klargeworden? Haben Sie alles verstanden?»
«Ja, total. Es war so ähnlich wie bei den anderen Stellen, wo ich bislang war.»
«Dann sind Ihnen die diversen Sicherheitsmaßnahmen in Fleisch und Blut übergegangen? Sie denken sich nie: Hoffentlich ist das, was ich da mache, okay?»
«Nein, nie. Ich hab hier sowieso nicht mit vertraulichen Dingen zu tun. Wir nennen uns zwar Kundenbetreuung, aber wir haben mit den Kundenkonten nichts am Hut. Wir sind Teil des Marketings.»
«Gut. Aber nebenbei bemerkt: Gehen Sie nie davon aus, dass irgendeine Information nicht vertraulich wäre.»
«Natürlich. Absolut nicht.»
«Hatten Sie jemals eine elektronische Kommunikation, die Ihnen verdächtig vorkam?»
«Sie meinen eine E-Mail? Ich weiß, dass ich keine Anhänge öffnen darf. Das wurde alles in der Einweisung angesprochen.»
«Gut. Und Ihnen wurden nie Speichermedien – eine CD, ein USB-Stick – gegeben, der nicht von RSGN direkt stammt?»
«Nein, nie. Auch das ist in der …»
«Ja, wunderbar. Aber nicht jeder erinnert sich im Alltagstrott unbedingt daran, was ihm in der Einweisung gesagt wurde, deshalb überprüfen wir das von Zeit zu Zeit.»
«Natürlich.»
«So, zur Bestätigung, Ihre E-Mail-Adresse lautet [email protected] und Ihr Log-in-Name ‹sonyadonovan›, alles in einem Wort?»
«Nein, nur ‹sdonovan›.»
«Mein Gott, und dabei waren Sie bis jetzt so gut.»
«Was ist?»
«Sie haben mir soeben Ihren Benutzernamen verraten. Dabei könnte ich doch irgendein x-beliebiger Anrufer sein.»
«O Gott, das tut mir leid.»
«Schon gut. Deshalb machen wir solche Überprüfungen. Ich würde sagen, so siebzig Prozent aller Angestellten fallen beim ersten Mal darauf herein. Jetzt zum Wichtigeren, Ihrem Passwort. Kann man es leicht erraten?»
«Nein. Na ja, ich weiß nicht. Jetzt bin ich mir nicht mehr sicher.»
«Dann teste ich Sie lieber mal. Wir haben eine Software, die berechnet, wie lange ein Programm braucht, um ein Passwort zu knacken. Wenn Ihr Passwort unter einer gewissen Schwelle liegt, müssen wir darauf bestehen, dass Sie es ändern. Also, wie lautet Ihres?»
Sonya holt tief Luft, dann lacht sie leise.
«Nein. Das ist wieder ein Test, richtig?»
«Na, Sie kapieren schnell. Regel Nummer eins und Regel Nummer zwei bis Nummer fünfzig besagen: Verraten Sie nie Ihr Passwort. Außerdem empfehlen wir, dass Sie es, eine weitere Vorsichtsmaßnahme, alle drei Monate ändern. Soll ich Sie kurz durchlotsen, damit Sie wissen, wie Sie das tun können?»
«Klar, ja, das wäre toll.»
«Es ist ganz einfach. Dann sind wir auch fertig, und wir können beide in die Mittagspause. Mir knurrt schon der Magen.»
«Ja, mir auch.»
Sonya hört aufmerksam zu und folgt den Anweisungen, bis sie die Seite erreicht, auf der sie das Passwort ändern kann.
«Gut, nur dieses eine Mal, weil Sie es zum ersten Mal machen, und nur für den Fall, dass etwas schiefgehen sollte, möchte ich Sie bitten, dass Sie das Passwort zu ‹testpass› ändern, alles klein geschrieben. Dann drücken Sie auf Speichern.»
«Testpass, verstanden. Okay, es ist durch.»
«So, jetzt melden Sie sich vom System ab, und wenn Sie sich wieder einloggen, gehen Sie wieder auf die Passwort-ändern-Seite und geben Ihr richtiges Passwort ein. Und achten Sie darauf, dass dabei niemand einen Blick auf Ihren Monitor werfen kann.»
«Verstanden. Ich melde mich jetzt wieder an. Nein, einen Moment. Hier steht ‹Benutzer ist bereits angemeldet›. Es lässt mich nicht rein.»
«Das ist schon okay, keine Panik. Manchmal braucht das System eine Weile, bis es sich updated. Wann kommen Sie vom Mittagessen zurück?»
«Um zwei.»
«Ah, keine Sorge, bis dahin hat sich das gegeben. Und falls nicht, meine Durchwahl ist … Moment, ich bin am Nachmittag nicht mehr im Büro, ich gebe Ihnen meine Mobilnummer.»
«Danke. Und das war es jetzt? Die Überprüfung?»
«Ja. Geschafft. Danke, Sonya. Ich habe jetzt alles, was ich brauche.»
So ist es. Denn zu diesem Zeitpunkt ist der als Buzzkill bekannte Hacker bereits im System, er hat sich noch in der Sekunde, in der sich Sonya abgemeldet hat, mit Benutzername «sdonovan», Passwort «testpass» in die RSGN Bank eingeloggt. Und Buzzkill hat jetzt eine ganze Stunde Zeit, um auf Erkundungstour zu gehen.
«Kaum ein Anblick ist beeindruckender als der eines gierigen Schotten», so J.M. Barrie, der, obwohl selbst Schotte, nicht unbedingt als eine objektive Quelle zu bezeichnen ist. Sein Landsmann Jack Parlabane würde Barries Worte ja nur allzu gern glauben, ist im Moment aber eher davon überzeugt, dass seine persönliche schottische Gier kein bisschen anders aussieht als bei jemandem von beliebig anderer Nationalität. Und «beeindruckend» erscheint ihm definitiv nicht als das angemessene Adjektiv. Es hat ja auch noch nie jemand daran gedacht, einem Duschgel den Markennamen «Desperat» zu verpassen.
Er befindet sich in einem Café in Shoreditch, ihm gegenüber sitzen Candace Montracon, die Gründerin von Broadwave, und Lee Williams, die Londoner Bürochefin des Unternehmens. Das Lokal, eine ehemalige Fastfood-Bude, hat die gesamte Bandbreite an Gentrifizierungsmaßnahmen durchlaufen, allerdings mit dem hipstermäßig «ironischen» Dreh, dass jetzt so ziemlich die gleichen Speisen serviert werden wie in seiner vorherigen Inkarnation. Die wichtigsten Unterschiede sind: Die Wände wurden auf die nackten Backsteine zurückgebaut, das Geschirr ist jetzt einheitlich schwarz und quadratisch, und die Braune Sauce kommt in einer Auflaufform aus Zinn. Ach ja, und das Brötchen mit Wurst kostet zehn Pfund.
Es gibt nicht viel, was Parlabane dazu verlocken könnte, ein solches Etablissement zu erdulden, die Aussicht auf eine Stelle bei Broadwave gehört aber dazu.
«Sie sind schon lange im Geschäft», stellt Candace fest. «Seit den frühen Neunzigern.»
Parlabane kann ihren Ton nicht ganz einordnen, aber die frühen Neunziger klingen bei ihr, als wären sie das viktorianische Zeitalter, weshalb er sich ziemlich sicher ist, dass sein hohes Dienstalter bei ihr nicht ausschließlich positiv besetzt ist. Der Ausdruck «Seniorreporter» ist bereits gefallen, was ihn auch nicht gerade mit Freude erfüllt. Da er allerdings äußerst vertraut ist mit Begriffen wie «in Ungnade gefallener Reporter» oder «ehemaliger Reporter», kann er seinen Frieden damit schließen.
«Ich hab sehr jung angefangen», erzählt er ihnen in der Hoffnung, damit ein paar Jährchen seines von ihnen wahrgenommenen Alters zu kappen. «Das war ganz gut, als ich damals in Glasgow über Betrugsfälle recherchiert habe. Für einen Bullen oder Journalisten hab ich nämlich viel zu unschuldig ausgesehen.»
«Und von dort wurden Sie abgeworben, um hier in London ein großes investigatives Team zu leiten, bevor Sie nach L.A. gegangen sind.»
«Ja», fällt Lee mit ein. Ihre überschwängliche Bewunderung steht in starkem Kontrast zu Candace’ distanzierter Coolness. «Sie haben dort verdeckt über Korruptionsfälle im LAPD recherchiert. Richtige Hardcore-Arbeit.»
«Woher wissen Sie das?», fragt Parlabane nach, auch um seine Freude darüber zu verbergen, wie angetan sie von ihm ist.
«Travin Coates, einer Ihrer damaligen Kollegen, leitet unser Westküstenbüro», sagt Candace. «Wir haben uns über die Geschichte der Schwarzen Witwe unterhalten, und da hat er erzählt, dass er früher für Sie gearbeitet hat. Er hat Ihnen ein gutes Zeugnis ausgestellt und gemeint, wir sollten Sie mal kontaktieren.»
Parlabane nickt. Wo, fragt er sich, stehen seine Aktien damit gerade? Er dachte, er wäre wegen seiner stattlichen Gesamtkarriere zumindest zu einem Bewerbungsgespräch eingeladen worden, wenn sie ihn schon nicht gleich anstellen wollen. Aber wenn der Diana-Jager-Scoop der einzige Grund ist, warum sie ihn sich ansehen, fühlt sich der Boden unter den Füßen gleich viel wackeliger an. Die Story hat ihn nach einigen schwierigen Jahren wieder etwas ins Rampenlicht gerückt, die Aufmerksamkeit aber war von Anfang an von flüchtiger Natur gewesen. Sehr wahrscheinlich ist Broadwave dadurch auf ihn aufmerksam geworden, jetzt aber, da sie ihn genauer in Augenschein nehmen können, merken sie vielleicht, dass er nicht der Reporter ist, den sie suchen.
Das wäre ein ziemlicher Tiefschlag, denn Broadwave wäre nun mal genau das, was sich Parlabane erhofft. Es gibt nicht mehr viele Stellen im traditionellen Printjournalismus, noch nicht einmal für diejenigen, die weit weniger Brücken hinter sich abgebrochen haben als er. Ihm läuft die Zeit davon, wenn er sich noch eine Zukunft zurechtzimmern will. Broadwave ist ein florierendes Crossmedia-Haus, das sich einer komplett neuen Perspektive auf News und Technologien verschrieben hat. Während andere Medienhäuser damit zu kämpfen haben, den Wandel weg von den alten analogen Plattformen zu vollziehen und oft unter dem Gewicht des eigenen Erbes kollabieren, war Broadwave von Anfang an ein Produkt des digitalen Zeitalters.
Broadwave wurde in San Francisco von Candace Montracon gegründet. Sie kommt ursprünglich aus der Tech-Start-up-Szene und nicht vom Journalismus oder Fernsehen, weshalb die Vorbilder und Paradigmen des Unternehmens auch aus dem Silicon Valley stammen und nicht aus der Fleet Street. Broadwave hat nie versucht, etwas zu sein, was längst überholt ist, weshalb es sich in dem engen, hyperkompetitiven Marktumfeld so schnell zu einer so starken Marke entwickelt konnte. Parlabane ist beeindruckt, weil es Broadwave im normalerweise von Clickbaits und aufgeblähten Schlagzeilen dominierten Web einzig und allein um Inhalte geht. Wenn eine große Story publik wird, geht man bei Broadwave durchaus in die Tiefe: Die Features sind umfangreich und ausführlich, die Interviews umfassend und lohnend.
Kritiker sprachen von «Broadfunnel», dem großen Trichter, weil Broadwave eine der ersten Sites war, an die Möchtegern-Reporter und gewöhnliche Leute ihre Blogs, Vlogs und Handy-Aufnahmen schickten und hofften, dafür Geld oder wenigstens eine Erwähnung zu bekommen. Candace nannte das «Crowdsourcing der News» und stellte eine ganze neue Redakteurskaste ein, deren Job es war, aus der täglich hereinströmenden Fülle an Material den Content herauszufiltern und zusammenzustellen. Das geschah nicht einfach willkürlich: Die neuen Redakteure benötigten ein untrügliches Gespür für Nachrichten und arbeiteten eng mit einem Stab erfahrener Reporter zusammen, die die Berichterstattung über die unterschiedlichen Medienkanäle an die Leser brachten. Das Ergebnis generierte nicht nur Klickzahlen. Broadwave-Features wurden regelmäßig von Zeitungen aufgegriffen, und das Broadwave-Logo oben in der Ecke von Videoaufnahmen wurde bald zu einem vertrauten Anblick in den Nachrichten der großen Sender.
Er hatte ihnen keine Bewerbungsunterlagen geschickt, es war auch keine freie Stelle ausgeschrieben. Sie hatten ihn angerufen, und am nächsten Morgen saß er im Flieger. Er traf sich mit ihnen in den Londoner Redaktionsräumen, in einem Kellergeschoss in der Kingsland Road.
An der Rezeption war er von einer stark tätowierten jungen Frau mit pink gefärbten kurzen Haaren und klobigen pinken DocMartens empfangen worden. In der linken Hand hielt sie ein iPhone, in der rechten hatte sie eine Ausgabe von Diva. Sie war höchstens fünfundzwanzig, und Parlabane vermutete, dass sie die Praktikantin war, mit der er gesprochen hatte, bis sie ihn in ihrem starken walisischen Akzent begrüßte. Erst da gerieten ein paar Zahnräder in seinem Gehirn in Bewegung. «Sie müssen Lee sein.»
Vielleicht bekam er dafür ein paar Fleißpünktchen, auf jeden Fall schien sie sich ehrlich zu freuen, dass er hier war.
Durch die Fenster der Rezeption hatte er nur einen kurzen Blick auf die Räumlichkeiten, denn Lee scheuchte ihn sofort wieder hinaus und meinte, sie würden sich gleich um die Ecke zum Brunch mit Candace treffen.
Und so sitzt Parlabane jetzt also in dieser postmodernen Fastfood-Bude, wo ihn die Ahnung beschleicht, dass er von Broadwave nicht mehr zu sehen bekommen wird als das, was er kurz durch die Fenster erhascht hat.
«Ich werde Sie nicht bitten, irgendwelchen Stuss zu erzählen. Dadurch erfahre ich nichts, was ich nicht sowieso schon weiß. Was ich wirklich von Ihnen hören möchte: Was läuft bei Broadwave Ihrer Meinung nach falsch?»
Candace stellt diese Frage. Parlabane überlegt, ob sie wirklich seine Meinung hören möchte oder nur seine Ehrlichkeit auf die Probe stellt. Candace Montracon ist eine große, beeindruckende, schwarz-hispanische Transsexuelle, deren Weg zu einem neunstelligen Vermögen weder durch Gefälligkeiten noch durch Privilegien oder Ivy-League-Verbindungen geschmiert wurde. Es gab kein «kleines Darlehen über eine Million Dollar». Ihr eigen ist eine einschüchternde Präsenz, die andere zwangsläufig zur Ehrlichkeit auffordert. Parlabane geht aber auch davon aus, dass ihre Toleranzschwelle und ihr Gespür dafür, wann sie verarscht wird, so kalibriert sind, dass die Wahrheit der einzig gangbare Weg ist. Außerdem vermutet er, dass Candace mit nicht mal dreißig Jahren nicht da wäre, wo sie ist, wenn sie nicht ein feines Sensorium dafür besäße, wann sie andere über den Tisch ziehen kann.
Es ist seine Chance zu zeigen, was er draufhat.
«Die Frage würden Sie nicht stellen, wenn Sie die Antwort nicht schon wüssten. Broadwaves Achillesferse besteht darin, dass Sie zwar eine große Reichweite haben und nachrichtentechnisch über schnelle Reflexe verfügen. Aber Sie reagieren mehr, Sie agieren nicht. Irgendwo passiert was, und Sie stürzen sich drauf und bringen dazu Analysen und decken den ganzen Nachklapp ab. Aber Scoops, Exklusivstorys? Damit sieht es schlecht aus. Sie berichten hervorragend, aber Sie ziehen keine eigenen Storys an Land.»
Candace zeigt kaum eine Reaktion, trotzdem glaubt Parlabane Zustimmung zu erkennen. Sie bewegt nicht den Kopf, nicht der Ansatz eines Nickens, aber es reicht aus, um ihm zu sagen: Erzählen Sie mir mehr.
«Sie dachten, diese ganze ‹Demokratisierung der Informationen› im Verbund mit Ihrem Crowdsourcing-Modell würde dafür sorgen, dass die Storys Ihnen nur so zufliegen. Sie sehen sich als die ideale, sichere Adresse für Whistleblower, für alle, die geleakte und vertrauliche Informationen loswerden wollen. Leute, die sich nicht an die Mainstream-Medien wenden, weil sie ihnen aus welchen Gründen auch immer nicht trauen. Aber das passiert nicht. Weil es so eben nicht läuft.
Neue Medien, alte Medien, gewisse Dinge ändern sich nicht, und eines davon sind die Kontakte. Sie sind das A und O. Ein nervöser Informant, der an die Öffentlichkeit will, wird sich an jemanden wenden, den er kennt, oder zumindest an jemanden, den er einschätzen kann. Menschen vertrauen Menschen, keinen Markennamen, egal, wie angesagt und sexy dieser Name gerade ist. Und auf der politischen Ebene gilt das umso mehr.»
Candace fixiert ihn mit ihrem durchdringenden Blick.
«Und ich gehe davon aus, dass Sie sich auf der politischen Ebene auskennen.»
Bevor Parlabane antworten kann, drängt sich Lee dazwischen, mit einem Eifer, der ihn überrascht.
«Er hat ein paar echt große Storys aufgedeckt.»
Lee sieht ihn mit großen Augen an. Sie entpuppt sich doch glatt als wahres Fangirl.
«Ich meine, wow, der NHS-Trust-Skandal in Midlothian, der Mord an Roland Voss, die erpresserische Verschwörung im schottischen Parlament. Da haben Sie den Laden ziemlich aufgemischt.»
Beim Verlassen der Broadwave-Büros hatte Lee ihm erzählt, dass in dem Gebäude früher mal eine Setzerei untergebracht war, und sie hatte ihn gefragt, ob er sich noch an den Klebeumbruch erinnern könne. Parlabane bejahte, was Lee anscheinend ziemlich freute, obwohl er sich wie ein Überbleibsel aus längst vergangenen Zeiten vorkam.
Dieses Gefühl zieht sich wie ein Leitmotiv durch das gesamte Bewerbungsgespräch.
«Und wie sieht Ihr Adressbuch heutzutage aus?», fragt Candace.
In Glasgow nennt man so was einen Doppelschlag. Nicht nur weist Candace mit der Frage auf das auffällige Fehlen von politischen Scoops in Parlabanes aktuelleren Karriere hin, sondern spricht auch geschickt das sensible Thema an, warum dem so ist.
Parlabane schluckt einen Bissen von seinem Wurstbrötchen und vertilgt damit wahrscheinlich den Gegenwert von einem Pfund.
«Sie fragen, ob ich so gut bin wie bei meinen größten Erfolgen oder so mies wie bei meinen größten Reinfällen.»
«‹Irgendwo dazwischen› müsste ich fairerweise antworten, aber wir wissen beide, dass es um Fairness nicht geht. Schon gar nicht hier. Im Nachrichtengeschäft geht es nur um die Marke. Die Hitler-Tagebücher – das war peinlich, weil es eines deutlich gemacht hat: Der Nachrichtenkonzern wollte, dass die Story wahr ist – und das war ihm wichtiger als die Frage, ob die Story auch stimmt. Wenn man die gottverdammte Sunday Times ist, kann man sich davon erholen. Aber wir haben nicht dieses Renommee, weil wir eben nicht schon seit ein oder zwei Jahrhunderten im Geschäft sind. Bei den neuen Medien bist du nur glaubwürdig, solange du cool bist, und du bist nur cool, solange du glaubwürdig bist. Deshalb möchte ich wissen: Gehen Ihre Kontakte noch ans Telefon, wenn Sie sie anrufen?»
Parlabane kommt sich aufgespießt vor, punktgenau in seiner eigenen Achillesferse durchbohrt. Bei der Leveson-Untersuchung waren seine moralisch fragwürdigen (und zuweilen schlicht illegalen) Methoden offengelegt worden, und danach war er verzweifelt darum bemüht gewesen, seinen Ruf wieder aufzupolieren. Und so war er schnurstracks in die von den Geheimdiensten aufgestellte Falle marschiert. Was er für eine Riesenstory über verdeckte Übersee-Operationen des Militärs gehalten hatte, stellte sich als Falschmeldung heraus, die die Geheimdienste absichtlich platziert hatten, um eine undichte Stelle in den eigenen Reihen aufzudecken. Er hatte gewollt, dass die Story wahr war; das war ihm wichtiger gewesen, als sich zu vergewissern, ob sie auch stimmte.
«Ich kann immer noch eine Story auftun, wo andere noch nicht einmal ahnen, dass es dort eine gibt», antwortet er. «Die Exklusivgeschichte über die Schwarze Witwe beweist das.»
Er windet sich innerlich. Jetzt fängt er sogar selbst mit der Schwarze-Witwen-Geschichte an. Hier wedelt nicht einer mit beiden Armen, um Aufmerksamkeit zu erregen, hier wedelt einer, weil er am Absaufen ist.
Candace gibt sich ungerührt, aber Parlabane nimmt dankbar zur Kenntnis, dass sie ihm keine mitleidigen Blicke zuwirft.
«Das war eine große Geschichte, ein toller Scoop», gesteht sie ihm zu. «Aber das lag nicht an Ihrem Adressbuch. Sie waren schlicht zur richtigen Zeit am richtigen Ort.»
Parlabane nimmt einen Schluck von seinem Tee. Mit diesem letzten Kommentar will Candace ihn aus der Reserve locken, vielleicht um zu sehen, wie er reagiert, vielleicht weil sie genug gesehen hat und die Sache jetzt zu Ende bringt.
Es bleibt ihm noch eine letzte Möglichkeit, vermutet er, bevor es vorbei ist.
«Sehen Sie sich Fußballspiele an, Candace?»
«Manchmal.»
«Ich hab sie zu West Ham gegen Swansea mitgenommen», sagt Lee. Ihr Grinsen und ihr Akzent lassen vermuten, dass die Punkte in den Westen gingen.
«Ich hab mal ein Interview mit einem Stürmer gehört, der das einzige Tor des Spiels erzielt hat, einen Abstauber aus fünf Meter Entfernung», sagt Parlabane. «Jemand hat danach zu ihm gesagt: ‹Das war heute leicht verdientes Geld.› Er hat nur gelacht, weil der andere keine Ahnung hatte, was es heißt, für einen Abstauber aus fünf Metern zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Das ist die wertvollste Eigenschaft eines Spielers. Und ein Stürmer, der sie hat, ist ein Vermögen wert.»
«Das stimmt», sagt Lee, aber dann verzieht sie die Nase. Daran erkennt er, dass es vorbei ist.
«Es war aber auch keine richtige Broadwave-Story», fährt Lee fort. «Ich meine, es war ein toller Scoop, schon klar, aber Affären, Betrug, zerstörte Ehen – das ist alles eher was für die Klatschpresse. Nicht ganz unser Ding.»
Immer noch lächelt sie, aber er bemerkt auch ihr Bedauern. Er hat sie enttäuscht. Sie wollte, dass er beweist, wie wichtig er immer noch ist, dass er immer noch der Typ ist, über den sie so viel gelesen hat. Im Grunde wollte sie den Reporter von damals, als er in ihrem Alter war.
Parlabane nimmt sich, was von seinem Brötchen übrig ist. Anscheinend ist ein überteuertes Frühstück alles, was ihm dieses Bewerbungsgespräch einbringen wird.
Er sieht zu den beiden Frauen ihm gegenüber am Tisch und denkt an manche Redakteure und Kollegen, mit denen er zusammengearbeitet hat. So viele Männer, mit denen er gearbeitet hat. Er sieht sie vor sich, wie sie reagieren würden, wenn Lee ihre neue Nachrichtenredakteurin werden sollte.
Mir doch egal, welche Position die hat. Ich höre nicht auf kleine Mädchen. Was kann die mir mit ihren fünfundzwanzig Jahren schon verklickern?
Parlabane hingegen würde ihr sehr genau zuhören, denn sie hat die Position, und sie ist erst fünfundzwanzig.
Er dachte immer, er würde sich die Medienbranche zurückwünschen, so wie sie früher gewesen war, aber das waren nur die tröstlichen Phantasien eines alternden Mannes. Stattdessen hat er jetzt eine flüchtige Ahnung davon, was aus dem Gewerbe werden könnte, wenn junge Einsteiger wie Candace und Lee das Sagen hätten und nicht alte Säcke wie Kelvin MacKenzie und Paul Dacre.
Candace signalisiert der Bedienung, dass sie die Rechnung möchte. Sie muss dazu kaum den Kopf bewegen, eine kaum wahrnehmbare, subtile Geste, aber effektiv, unmissverständlich. Und in dieser winzigen Bewegung sieht Parlabane die Zukunft, die ohne ihn anbricht.
<Buzzkill> Möchte einem edlen Herrn daran gelegen sein zu tun, was mit diesen Passwort-Hashes geboten ist?
<Cicatrix> Wer hat denn den kleinen Lord eingeladen?
<Buzzkill> Sorry, hab mich vergessen. War den ganzen Tag in der Reitschule bei der Dressur.
*Buzzkill stellt auf IRC-Jargon um.
<Buzzkill> Kann mir mal einer einen Gefallen tun?
<Stonefish>NYPA.
<Cicatrix> Genau, gehts noch? Was willst du überhaupt von der Bank?
<Buzzkill> Das Patriarchat ficken. Und wegen den lulz.
<Stonefish> Fick dich selbst. Klingt ja so, als würdest du zum SJW mutieren.
<Buzzkill> Get rekt, Blödmann.
<Juice> Hey, ein bisschen mehr Respekt hier.
<Cicatrix> Was ist denn in dich gefahren?
<Juice> Blayze, mein Kleiner, ist heut gestorben.
<Cicatrix> Scheiße. Tut mir leid, Mann.
<Stonefish> Ja, Scheiße, Kumpel. Er war dir nah? Familie?
<Juice> Kannst du aber laut sagen. Lag heute Morgen tot auf der Couch. Muss schon die ganze Nacht da gelegen haben.
<Buzzkill> Schlimm. Alles okay?
<Juice> Tut schon weh.
<Stonefish> Ihr seid euch nahegestanden?
<Juice> Ja. Ich hab den Wellensittich scheiße gern gehabt.
<Stonefish> lol.
<Cicatrix> Fick dich, Anfänger.
<Juice> Rekt.
<Stonefish> Rest in kill, armer Blayze.
*Buzzkill zündet eine Kerze an.
*Buzzkill trauert um den Wellensittich.
*K-zag tritt dem Channel #Uninvited_specops bei.
<K-zag> Was los? Irgendwas verpasst?
<Stonefish> Juice’ Wellensittich ist abgekratzt, und Buzzkill will eine Bank ausschalten.
<K-zag> Aus Rache?
<Buzzkill> Nein. Die üblichen Gründe.
Die üblichen Gründe. Buzzkill lächelt dabei.
Wenn man so weit drin ist, erinnert man sich kaum noch an den Auslöser, der einen zu einem Hack getrieben hat. In Buzzkills Fall war es eine Reportage im Fernsehen über die Royal Scottish Great Northern Bank, die superfette Bonusse an ihre Bosse verteilt hatte. Als hätten die Säcke so einen warmen Geldregen nötig. Kurz zuvor war aufgedeckt worden, dass die RSGN illegal die Libor-Zinssätze manipuliert und ihren reichsten Kunden dabei geholfen hatte, auch noch die paar Steuern zu umgehen, die fällig gewesen wären, nachdem sie den Rest ihres Geldes sowieso schon in Panama oder auf den Virgin Islands geparkt hatten.
Stonefish hat Buzzkill aufgezogen mit seinem SJW. Das Kürzel steht für social justice warrior, was Buzzkill, zugegeben, schon manchmal sein kann. Nichts ist den Uninvited heilig, und deshalb ist es nicht klug, die anderen wissen zu lassen, was einem wirklich wichtig ist. Nichts wird ernst genommen, alles, was du sagst, kann gegen dich verwendet werden. Man muss also nicht den Socialist Worker vor der Euston Station verkaufen, um auf die Idee zu kommen, dass die beschissenen RSGN-Zocker einen verarschen.
Der Fernsehreporter hatte aufgezeigt, was die Bank getrieben hatte. Die schamlose Pressesprecherin der RSGN warf dann mit irgendwelchen Zitaten um sich und verteidigte das Vorgehen der Bank à la L’Oréal: Weil wir es uns wert sind. Buzzkills Antwort darauf: Fickt diese Arschclowns.
Buzzkill hat schon vielen dieses «Fickt diese Arschclowns» entgegengeschleudert, ohne gleich zu beschließen, sich an ihnen mit einem veritablen Hack-fu abzureagieren. Und nach der Reportage im Fernsehen hatte er auch nur laut überlegt: «Hmmm. Könnte man nicht … könnte man nicht …»
Also, es geht in Wahrheit nicht um soziale Gerechtigkeit, ebenso wenig machen die anderen aus der Uninvited-Crew bloß wegen der lulz mit – egal, was sie behaupten. Sie machen es aus den üblichen Gründen: weil sie es können; oder einfach weil sie herausfinden wollen, ob sie es können.
Eine Bank ist normalerweise ein No-Go (Mann, es ist eine Bank), aber ganz zum Schluss des Beitrags erwähnte der Reporter noch, dass RSGN mitten in einem Umfirmierungsprozess steckt. Das übliche Anzugdenken: Sie wollen ihr Image aufhübschen, indem sie sich ein neues Logo verpassen und einen neuen Slogan entwickeln. Aber nicht jeder vergisst deswegen gleich, dass sie ihre Vorstände mit siebenstelligen Bonuszahlungen beglückt haben, während die Allgemeinheit immer noch für ihren zehnstelligen Bail-out aufkommen darf. Aber einem geschickten Hacker bietet sich durch so eine Namensänderung eine Gelegenheit.
Eine Fahrt runter zur Canary Wharf wurde angesetzt, zum Superschurken-Headquarter aus Glas und Chrom, vor dem die Fernsehreporter so gern berichten, wenn die RSGN mal wieder bei einer Manipulation erwischt wird. Buzzkill machte einen kleinen Spaziergang, sah sich um, notierte sich dieses und jenes: etwa die Tatsache, dass mitten in der Halle ein riesiges Digitalthermometer hängt, das permanent die falsche Temperatur anzeigt. Es war in knapp fünfzehn Meter Höhe angebracht und anscheinend verteufelt schwer zu erreichen. Wahrscheinlich war es deshalb seit einer ganzen Weile nicht repariert worden, weil es draußen seit Monaten keine achtundzwanzig Grad mehr gehabt hatte.
Um die Mittagszeit war offenbar ein hochpreisiges Restaurant voller Anzugträger der angesagte Treffpunkt. Buzzkill saß dort lange, nuckelte an einer Wasserflasche und wurde einfach nicht wahrgenommen, verschmolz mit der Umgebung. Für eine Bande von reichen Bankern war der Hacker praktisch unsichtbar.
Buzzkill hockte dort und tippte auf dem Laptop herum, an dem seitlich mit einer Klammer eine modifizierte Webcam angebracht war. Sie sah so aus, als würde sie auf den User zeigen, aber die winzige hochauflösende Kamera war die ganze Zeit auf den Bildschirm der Geräte gerichtet, die auf dem Nebentisch in Betrieb waren. So konnte der gewiefte Hacker die Adresse der Website sehen, auf der seine Tischnachbarn sich einloggten, wenn sie auch noch während ihrer Mittagspause für ihren Chef arbeiteten: engagiert, professionell, pflichtbewusst.
Sklaven. Kriecher. Loser.
Danach bedurfte es natürlich eines Benutzernamens und eines Passworts.
Sonyas Log-in reichte aus, um sich mal gründlich umzusehen, um eine Tonne E-Mails herunterzuladen und sich auf eine Akquisetour durchs lokale Netzwerk der Abteilung für Customer Communication zu begeben. Sonyas eingeschränkte Benutzerrechte gewährten keinen Zugang zu den wirklich leckeren Dingen, aber man hatte einen Fuß in der Tür: genug, um an Namen, Titel, Kontaktdaten zu kommen und daraus ein Bild der Abteilung zu erstellen, ihrer internen Struktur, der von ihr verwendeten Terminologie und, ganz wichtig, des Codenamens für die geplante Umfirmierung: Raureif.
Hacken funktioniert inkrementell: Ist man erst mal drin, und sei es im Erdgeschoss, stößt man so gut wie immer auf etwas, was einem hilft, die nächste Ebene zu erreichen. Und manchmal hat man einfach Glück. In diesem Fall war es die Entdeckung, dass in den Büros der Customer Communication Hotdesking betrieben wird: Die Mitarbeiter suchen sich bei ihrer Ankunft einen gerade freien Arbeitsplatz und loggen sich auf unterschiedlichen Computern ein. Das heißt, jeder Rechner hat eine Liste mit den Passwörtern aller Benutzerkonten gespeichert, die sich potenziell anmelden können. Diese Listen sind verschlüsselt, trotzdem sind sie so etwas wie der Expressfahrstuhl hoch ins Penthouse. Buzzkill brauchte nur noch die entsprechenden Zugangsdaten der Führungsriege, um ihn in Bewegung zu setzen.
Darum geht es nun bei Buzzkills IRC-Anfrage bezüglich der Hashes, und deshalb stöhnen die Jungs so fröhlich-leidvoll vor sich hin. Man braucht schon eine enorme Bandbreite an Talent, um so was hinzukriegen. Und obwohl jeder gern mit seinen Fähigkeiten protzt, lassen sie einen Freund, der einen Gefallen braucht, auch schon mal ein wenig zappeln. Machtspielchen eben.
Man muss sie nicht nur höflich bitten, man muss clever darum bitten. Auf keinen Fall darf es so klingen, als hinge für dich besonders viel davon ab. Auf keinen Fall darf es so klingen, als wärst du auf einem Kreuzzug.
Deshalb Stonefishs NYPA-Kommentar. Not Your Personal Army. Wir sind nicht deine Privatarmee. Klar, das war nicht ernst gemeint. Er weiß genau, dass sich Buzzkill nicht auf einem Kreuzzug befindet. Und keiner, das wissen sie beide, wird es sich entgehen lassen, bei dieser großen Sache mitzumischen. Wenn es klappt, wird Uninvited weltweit Schlagzeilen machen. Mein Gott, noch nicht mal LulzSec und Anonymous haben jemals eine Bank angegriffen.
«Hallo, ich würde gern mit Jonathan Rockwood sprechen.»
«Wer ist da?»
«Les Dillon. Ich bin von …»
«Les, das ist kein guter Zeitpunkt. Ich bin gerade auf dem Golfplatz, also …»
«Verstehe, es tut mir auch sehr leid, dass ich Sie an einem Sonntagmorgen störe, Sir, aber ich bin von der IT und muss Sie über einige Serverausfälle in Kenntnis setzen, nur für den Fall, dass Sie davon betroffen sind.»
«Einen Moment, Serverausfall?»
«Ja, Sir. Angeblich gibt es eine Sicherheitslücke, möglicherweise wurde Malware eingeschleust. Wir gehen dem gerade nach. Im Moment sieht es so aus, als wäre der Schaden begrenzt. Wir wissen nur noch nicht, wie weit es sich schon ausgebreitet hat.»
«Was erzählen Sie mir denn da?»
«Na ja, normalerweise behelligen wir in so einem Fall nicht die Führungsebene, aber wegen Raureif haben wir die Anweisung, sicherheitstechnisch alles eine Stufe höher zu hängen. Wir werden die potenziell betroffenen Server plattmachen und ein Backup aufspielen.»
«Ich hab einen sehr engen Terminplan für dieses Projekt. Verzögerungen kann ich mir nicht erlauben.»
«Ich weiß, Sir. Mir ist klar, dass Sie im Bereich der Customer Communication verantwortlich sind für den Inhalt der umfirmierten Website, deshalb wurde ich angewiesen, Sie umgehend darüber zu informieren und Sie zu fragen, welche Server Sie für das Projekt Raureif verwenden.»
«Sierra Neun und Sierra Elf.»
«Das hatte ich befürchtet.»
«Scheiße. Und wie lang wird das dauern?»
«Wir holen sie einen nach dem anderen wieder hoch, aber einige werden wohl für mehrere Tage down sein.»
«Mehrere Tage? Das geht nicht. Absolut nicht. Es muss eine schnellere Lösung geben.»
«Bei allem Respekt, Sir, hier wird nicht einfach Windows neu installiert. Wir müssen ganze Datenbanken neu aufsetzen, dazu das Kompilieren …»
«Der Technikkram interessiert mich nicht. Unsere Arbeit ist entscheidend für Raureif, verstehen Sie? Verdammte Scheiße, es muss schneller gehen.»
«Ich kann nichts dafür, Sir. Mir ist durchaus klar, dass Sie aufgebracht sind, aber Sie sind nicht der Erste, mit dem ich dieses Gespräch führe. Jeder will, dass seine Server wieder als Erstes laufen.»
«Entschuldigen Sie, ich will nicht den Überbringer der Botschaft erschießen. Aber Sie müssen sich meine Situation vergegenwärtigen. Raureif soll in nicht mal vierzehn Tagen online gehen.»
«Ich verstehe, Sir. Na ja, vielleicht gibt es … Nein.»
«Was?»
Der Anflug von verzweifelter Hoffnung in seiner Stimme ist Musik in den Ohren eines Hackers.
«Na ja, mir fällt nur eins ein … Aber wenn das auffliegt, kriege ich ganz massiven Ärger.»
«Ich bürge für Sie. Was meinen Sie?»
«Ich könnte auf dem Server eine neue Partition einrichten und Ihre Projektdaten dort zwischenlagern, solange alles andere gelöscht wird. Das Problem ist nur, wenn Ihre Sachen von der Malware betroffen sind, sind wir wieder da, wo wir angefangen haben, und wir müssen die ganze Prozedur noch einmal durchziehen. Und das mache ich nicht mehr, sondern mein Nachfolger, nachdem ich gefeuert wurde.»
«Ich übernehme die volle Verantwortung. Das können Sie auch schriftlich haben, wenn Sie wollen.»
«Nicht nötig, Mr. Rockwood. Ich vertraue Ihnen. Gut, ich brauche von Ihnen die Liste der Dateiverzeichnisse, in denen das Material gespeichert ist, das nicht gelöscht werden soll.»
«Kein Problem, kein Problem. Ich kann Ihnen das sogar von hier aus mailen.»
«Und ich brauche Ihren Benutzernamen und Ihr Passwort.»
Rockwood holt Luft und will schon antworten. Dann hält er inne. Kurze Pause.
«Einen Moment. Wer, haben Sie gesagt, sind Sie?»
Keine Panik. Buzzkill ist auf so etwas vorbereitet. Schließlich ist das hier keine exakte Wissenschaft. Nie läuft alles glatt und wie geplant. Es geht nicht darum, genau die Informationen zu bekommen, auf die man es beim Phishing abgesehen hat. Es geht immer darum, wie man mit dem, was man bekommt, improvisieren kann.
Der Grund für diesen Anruf bei Rockwood war ja, dass Plan A gefloppt ist. Aber das ist okay. Ohne dieses kurze Gespräch hätte Buzzkill nicht herausgefunden, auf welchen Servern Rockwood die Bonbons aufbewahrt. Besser noch, er weiß jetzt sogar, in welchen spezifischen Verzeichnissen die Raureif-Daten liegen.
Plan A sah vor, dass Stonefish Rockwoods Passwort-Hash entschlüsselt. Buzzkill hätte sich dann einfach eingeloggt und geschaut, wie weit er mit der entsprechenden Zugangsberechtigung gekommen wäre. Passwort-Hashes sind lange Kauderwelsch-Reihen aus Buchstaben und Ziffern und stellen die verschlüsselten Versionen der Log-in-Daten dar. Damit muss der Computer oder die Website nicht das eigentliche Passwort speichern, und damit wird verhindert, dass sich neugierige und unternehmungslustige Individuen ihrer bemächtigen können. Aber Hashes können entschlüsselt werden. Typen wie Stonefish leben dafür. Für sie ist das wie eine religiöse Meditation: Man taucht ein in einen tranceartigen Flow-Zustand, in dem Stunden vergehen können, ohne dass man irgendwas sonst wahrnimmt. Einmal, erzählte er, habe er sich sogar ein wenig in die Hose gemacht, denn als er bemerkte, dass er pinkeln musste, war es schon so dringend, dass er es nicht mehr schnell genug aufs Klo geschafft hatte.
Stonefish hatte geliefert. Das war nicht das Problem.
<Buzzkill> Hast du mich mit diesem Passwort für Rockwood getrollt?
<Stonefish> Willst du mir sagen, es stimmt nicht?
<Buzzkill> Ich sage, es funktioniert nicht.
<Stonefish> Du hast es richtig eingegeben? jacknicklaus78, alles Kleinbuchstaben.
<Buzzkill> Ich habs mit copy & paste übertragen.
<Stonefish> Mist. Ich schwöre, jacknicklaus78 war definitiv das, was aus dem Hash rausgekommen ist.
<Buzzkill> Ich sag ja nicht, dass es nicht stimmt. Wollte nur nachfragen, ich kann mir nicht zu viele Falscheingaben leisten, sonst gibts eine Meldung.
<Stonefish> Ich hab dich echt nicht verarscht, Mann.
Vielleicht war es ein älteres Dokument. Vielleicht hat sich Rockwood schon vor einer ganzen Weile an diesem Rechner eingeloggt und seitdem sein Passwort geändert, vielleicht ändert er es auch regelmäßig. Buzzkill hasst Leute, die so was machen.
Aber es gibt Möglichkeiten, um mit dem älteren Passwort ans aktuelle zu kommen.
«Les Dillon», sagt Buzzkill ihm. «Von der IT.»
«Wo ist Ihr Büro?»
«Meistens bin ich im Radogan House drüben in Holborn.»
Buzzkill benutzt den Eigennamen des Gebäudes, nicht nur den geographischen Standort.
«Wer ist Ihr Chef?»
Man kann davon ausgehen, dass er so gut wie nichts über das IT-Personal bei RSGN weiß, und Buzzkill könnte es darauf ankommen lassen, einfach einen Namen zu erfinden. Aber solchen Kleinkram überlässt man nicht dem Zufall. Les Dillon ist wirklich der, der in der IT heute Dienst hat. Buzzkill weiß das mit hundertprozentiger Sicherheit, er hat dort angerufen und es persönlich überprüft.
«Tallat Kumar. Wollen Sie lieber mit ihm reden? Aber sagen Sie ihm bitte nichts von dem Angebot, das ich Ihnen gerade gemacht habe.»
«Nein, schon okay. Aber es gefällt mir nicht, meine Anmeldedaten übers Telefon durchzugeben. Sie könnten ja sonst wer sein.»
«Verstehe. Um ehrlich zu sein, es gefällt mir auch nicht, meinen Job zu riskieren, wenn ich Ihre Dateien beim Neuaufsetzen des Servers übergehe. Vielleicht sollten wir es daher am besten lassen.»
Buzzkill lässt Rockwood Zeit, um darüber nachzudenken, damit er sich wieder daran erinnert, dass Les seine ein zige Chance ist, wenn er ein schnelles Ergebnis haben möchte.
«Nein, nein. Was, wenn ich jetzt zu Ihnen reinkomme und mich selbst einlogge?»
«Ich stehe hier etwas unter Zeitdruck. Es geht wirklich nur jetzt gleich oder gar nicht.»
Ein Angebot, das nur für eine begrenzte Zeit gilt!
«Ich könnte in einer Dreiviertelstunde da sein.»
«So lange kann ich nicht warten, wirklich nicht. Aber Folgendes: Ich kann Ihre Daten aufrufen und Ihnen das Passwort nennen, das Sie hatten, als wir zum ersten Mal Ihr Benutzerkonto eingerichtet haben.»
«Wie haben Sie darauf Zugriff?»
«Auch etwas, für das ich gefeuert werden könnte. Wir speichern die ursprünglichen Passwörter der Mitarbeiter, für den Fall, dass sie die Erstanmeldung verbocken. Deshalb empfehlen wir, regelmäßig das Passwort zu ändern. Sagen Sie bitte niemandem, dass ich Ihnen das erzählt habe.»
«Nein, keine Sorge.»