Dein Job ist gut genug! - Simone Stolzoff - E-Book

Dein Job ist gut genug! E-Book

Simone Stolzoff

0,0
15,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Arbeit ist nur das halbe Leben! Viele suchen die Erfüllung in ihrer Arbeit und machen diese zum Mittelpunkt des Lebens. Dabei verschwimmen oft die Grenzen zwischen Arbeit und Privatleben – mit Folgen wie Burnout, Arbeitssucht und Unzufriedenheit. Doch ist das wirklich der Sinn des Lebens, oder überhaupt der Arbeit? Was nötig ist, damit wir Arbeit wieder als einen wichtigen, aber nicht ausschließlichen Teil des Lebens begreifen und lernen, klare Grenzen zu ziehen, zeigt Simone Stolzoff. Er räumt mit einigen weit verbreiteten Mythen der modernen Arbeitskultur auf, wie etwa, dass mehr Arbeitsstunden zu besseren Ergebnissen führen müssen. Auf Basis von vielen Interviews mit Sterneköchen, Wallstreet-Bankern, Lehrern u.v.m. erzählt er die Geschichten von Menschen, die erfolgreich gelernt haben, ihren Job zu schätzen, aber auch loszulassen und sich anderen Dingen zu widmen, die ihnen wichtig sind. Ein Plädoyer dafür, zu überdenken, was uns wirklich glücklich macht – und eine Erinnerung daran, dass wir arbeiten sollten, um zu leben, und nicht leben, um zu arbeiten.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 282

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Simone Stolzoff

Dein Job ist gut genug!

Was wir gewinnen, wenn die Arbeit nicht an erster Stelle steht

The Good Enough Job!

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen:

[email protected]

Wichtiger Hinweis

Ausschließlich zum Zweck der besseren Lesbarkeit wurde auf eine genderspezifische Schreibweise sowie eine Mehrfachbezeichnung verzichtet. Alle personenbezogenen Bezeichnungen sind somit geschlechtsneutral zu verstehen.

1. Auflage 2024

© 2024 by Redline Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Türkenstraße 89

80799 München

Tel.: 089 651285-0

© 2023 by Simone Stolzoff. All rights reserved including the right of reproduction in whole or in part in any form. This edition published by arrangement with Portfolio, an imprint of Penguin Publishing Group, a division of Penguin Random House LLC

Die 1. Originalausgabe erschien 2023 bei Portfolio unter dem Titel The Good Enough Job.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.

Übersetzung: Philipp Seedorf

Redaktion: Anne Horsten

Umschlaggestaltung: Pamela Machleidt

Umschlagabbildung und Illustrationen: Katy Hill

Satz: Zerosoft, Timisoara

eBook: ePUBoo.com

ISBN Print 978-3-86881-961-8

ISBN E-Book (PDF) 978-3-96267-579-0

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96267-580-6

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.redline-verlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de

Inhalt

Einleitung

Wie die Arbeit mehr sein kann als nur ein Job

Kapitel 1

Wenn Sie mich fragen

Über den Mythos, dass wir sind, was wir tun

Kapitel 2

Die Religion des Workism

Über den Mythos, dass Ihre Arbeit Ihr Gott sein kann

Kapitel 3

Die Liebe zur Arbeit

Über den Mythos des Traumjobs

Kapitel 4

Sich selbst verlieren

Über den Mythos, dass man so viel wert ist wie die eigene Arbeit

Kapitel 5

Arbeitsbeziehungen

Über den Mythos, ein Arbeitsplatz könne Familie sein

Kapitel 6

Überstunden

Über den Mythos, dass mehr Arbeitsstunden immer zu besserer Arbeit führen

Kapitel 7

Arbeite hart, gehe nach Hause

Über den Mythos der gemütlichen Büroarbeit

Kapitel 8

Das Statusspiel

Über den Mythos, Status sei mit Erfolg gleichzusetzen

Kapitel 9

Eine Welt mit weniger Arbeit

Über den Mythos der persönlichen Grenzen

Epilog

Über den Autor

Danksagungen

Anmerkungen

Reich ist, wer weiß, dass er genug hat.

– Laotse1

Einleitung

Wie die Arbeit mehr sein kann als nur ein Job

Ein Geschäftsmann sitzt am Strand eines kleinen Fischerdorfs, als er einen Fischer sieht, der sich mit seinem täglichen Fang der Küste nähert. Beeindruckt von der Qualität des Fisches fragt der Geschäftsmann den Fischer, wie lang es dauert, diesen Fang zu machen.

»Oh, nicht lang«, erwidert der Fischer.

»Wieso bleiben Sie nicht länger draußen und fangen mehr Fische?«, fragt der Geschäftsmann.

»Weil ich nicht mehr brauche.«

»Aber was machen Sie dann mit Ihrer Zeit?«

»Ich schlafe lang, fange ein paar Fische, spiele mit meinen Kindern, mache ein Mittagsschläfchen mit meiner Frau und gehe dann mit meinen Freunden in die Stadt, um etwas zu trinken und Gitarre zu spielen«, antwortet der Fischer.

Der Geschäftsmann ist schockiert. Er erklärt, er verfüge über einen Master in BWL, und wenn der Fischer seinem Rat folge, könne er ihm helfen, sein Geschäft zu vergrößern. »Sie könnten ein größeres Boot kaufen«, erklärt der Geschäftsmann und sagt: »Und dann könnten Sie die Gewinne nutzen, um Ihre eigene Konservenfabrik zu kaufen.«

»Und dann?«, fragt der Fischer.

»Dann könnten Sie in die Stadt ziehen, um einen Großhandel zu eröffnen.«

»Und dann?«

»Dann könnten Sie Ihr Geschäft international aufstellen und letztlich an die Börse gehen«, meint der Geschäftsmann. »Und wenn der richtige Moment gekommen ist, können Sie Ihre Anteile verkaufen und sehr reich werden!«

»Und was dann?«

»Nun, dann können Sie sich zur Ruhe setzen, in ein kleines Fischerdorf ziehen, ausschlafen, ein paar Fische fangen, mit den Kindern spielen, Nickerchen mit Ihrer Frau machen und abends mit Ihren Freunden in die Stadt gehen, Wein trinken und Gitarre spielen.«

Der Fischer lächelt und setzt seinen Weg den Strand entlang fort.

Ich liebe diese kleine Parabel. Sie ist eine Adaption einer deutschen Kurzgeschichte von 1963 und wurde seither übersetzt sowie weitläufig verbreitet.2 Wobei die Weltsicht des Geschäftsmanns, die sich hauptsächlich auf die Arbeit konzentriert, typisch amerikanisch ist. Das Mantra der Vereinigten Staaten könnte auch lauten: »Ich produziere, also bin ich.«

Amerikaner fragen oft als Erstes, wenn sie jemanden treffen, den sie noch nicht kennen: »Was machst du so?« Ich erinnere mich, wie ich einmal einen chilenischen Mann in einem Hostel fragte, was er mache. »Du meinst, welche Arbeit?«, erwiderte er, als hätte ich ihn nach seinem Kontostand gefragt. Natürlich tun wir alles Mögliche. Aber in den Vereinigten Staaten beschreibt unser Gelderwerb auch kurz gesagt, wer wir sind. Unser Lebensunterhalt ist zu unserem Leben geworden.

Als Analytiker des Pew Research Center3 eine Studie unter Amerikaner durchführten, was in ihrem Leben Sinn stiftet,4 nannten die Befragten zweimal so häufig ihren Beruf wie ihren Partner. Die Arbeit war eine wichtigere Quelle für ein bedeutungsvolles Leben als ihr Glaube oder ihre Freunde. Eine weitere Studie ermittelte, dass 95 Prozent amerikanischer Teenager – Teenager! – es als »extrem wichtig oder sehr wichtig für sie als Erwachsene« ansahen, eine zufriedenstellende Karriere oder Arbeit zu haben.5 Eine erfüllende Karriere bewerteten sie höher als alle anderen Prioritäten, inklusive Geld zu verdienen und Menschen in Not zu helfen.

Doch Arbeit als Fetisch beschränkt sich nicht auf die Vereinigten Staaten. In einer zunehmend globalisierten Welt kennt die Geschäftigkeit keine Grenzen. Amerikanische Arbeitskultur und Managementsysteme sind genauso kulturelles Exportgut wie Big Macs und Levi’s Jeans.6 Diejenigen, die dieses Buch außerhalb der USA lesen, wissen, dass viele der Trends und Beispiele der amerikanischen Beziehung der Menschen zur Arbeit auch der Erfahrung von Arbeitern und Angestellten in anderen Ländern entsprechen – besonders unter den Höchstverdienenden.

Für Berufstätige im Büro hat sich der Job zu einer Art religiösen Identität entwickelt: Über den Gehaltsscheck liefert er einen Lebenssinn, Gemeinschaft mit anderen und das Gefühl, etwas zu bewirken. Der Journalist Derek Thompson nannte dieses neue Phänomen »Workism«*.7 Ein Workist findet Sinn in seiner Arbeit, ähnlich wie eine religiöse Person Sinn in ihrem Glauben findet. Laut Thompson hat sich die Arbeit im Laufe des 20. Jahrhunderts von einer lästigen Pflicht zum Statussymbol und Mittel der Selbstaktualisierung gewandelt. Wenn ich einen Blick auf meine eigene Familiengeschichte werfe, scheint sich diese Theorie zu bestätigen.

Meine italienische Großmutter sah in ihrer Arbeit nicht die Reflexion ihrer Identität. Nachdem mein Großvater gestorben war, tat sie, was nötig war, um für ihre fünf Kinder zu sorgen. Sie eröffnete ein Café in einer Kleinstadt am »Absatz« des italienischen Stiefels und arbeitete dort 30 Jahre lang. Bis zu ihrem Tod hatte sie auf einer Seite einen enormen Bizeps, weil sie so häufig den Hebel der Espressomaschine betätigt hatte. Ihre Identität war geradlinig. Sie war vor allem eine gläubige Frau, dann Mutter, Großmutter, Schwester, und sie bereitete gerne frische Pasta zu. Sie genoss die Arbeit im Café, liebte sie sogar, aber diese definierte sie nicht.

Meine Mutter wuchs in derselben italienischen Stadt auf, in der all ihre Geschwister bis heute leben. Wäre sie dem vorbestimmten Pfad gefolgt, hätte sie die örtliche Universität besucht, ein Haus nur einen kleinen Fußmarsch, von dem ihrer Kindheit entfernt gekauft und hätte sich mit dem Rest der Familie jeden Tag gegen 13 Uhr getroffen, um Orecchiette zu essen. (In ihrer Heimatstadt schließen die Geschäfte und Büros nachmittags für riposo – einige Stunden, die den Arbeitern Zeit für außerberufliche Prioritäten gewähren, wie die Familie, Essen und sich auszuruhen.)

Meine Mutter erhielt jedoch ein Stipendium, um in Rom zu studieren, traf einen attraktiven Amerikaner bei einer Urlaubsparty in der Schweiz und zog nach San Francisco. Sie studierte, um einen Abschluss in Psychologie zu machen, einerseits, weil sie sich wirtschaftlich absichern wollte, und andererseits aufgrund ihres persönlichen Interesses. Auch sie liebt ihre Arbeit, betrachtet sie jedoch als Mittel zum Zweck. Sie arbeitet, damit sie teure Tomaten auf dem Wochenmarkt kaufen, jeden Sommer nach Italien fliegen und in die Bildung ihres Sohns investieren kann.

Mein Dad ist ebenfalls Psychologe und vermutlich aus meiner Familie noch am ehesten ein »Workist«. Ich erinnere mich, wie ich ihn einmal über das philanthropische Anliegen befragte, das ihm am meisten am Herzen liege. »Ich sehe meine Arbeit als eine Art Philanthropie«, erzählte er mir über seine psychologische Praxis. »Meine Arbeit ist meine Art, etwas zurückzugeben.« Mein Dad will so lange arbeiten, wie er sich noch an die Namen seiner Patienten erinnern kann. Selbst während der Lockdowns in der Pandemie kehrte er, wann immer möglich, in seine Praxis zurück.

Meine Familiengeschichte verweist auf einige der zentralen Themen in diesem Buch: dass der Workism etwas spezifisch Amerikanisches ist, wobei er sicherlich auch an anderen Orten existiert; dass Workism besonders unter den Privilegierten verbreitet ist, auch wenn er in weniger privilegierten Schichten vorkommt; und schließlich, dass Workism ein relativ junges Phänomen ist, häufiger verbreitet in meiner Generation als in der meiner Großeltern. Der modernen Ideologie des Workism zufolge fallen zwei unterschiedliche Ziele – Geld und innere Erfüllung – zusammen. Diese liegen nicht immer auf einer Linie, und doch streben wir zunehmend danach, dass unsere Jobs beides abdecken.8

Aber größtenteils habe ich ein wenig von meiner Familiengeschichte erzählt, damit Sie einen Eindruck davon erhalten, wer ich bin. Mein Name ist Simone, und ich bin ein Workist. Oder zumindest ein Workist auf Entzug. Mein ganzes Leben lang wollte ich Journalist, Designer, Anwalt, Diplomat, Dichter und Shortstop bei den San Francisco Giants sein. Ich habe meine Karriere damit verbracht, eine Seelenpartnerin zu finden, welche die gleiche Berufung nach einem Job verspürt, der nicht nur die Rechnungen bezahlt, sondern auf einzigartige Weise reflektiert, wer ich bin.

Aber dieses Buch stellt nicht meine Memoiren dar. Auch, wenn mir das Thema sehr am Herzen liegt, wollte ich genauer unter die Lupe nehmen, wieso die Arbeit nicht nur für meine eigene, sondern für die Identität so vieler Menschen zentral geworden ist. Ich habe mehr als hundert Arbeiter und Angestellte befragt – von Unternehmensanwälten in Manhattan bis hin zu Fremdenführern, die mit Touristen Kajaktouren in Alaska unternehmen; von Eltern aus Kopenhagen, die zu Hause bleiben, um die Kinder zu erziehen, bis hin zu Leuten, die für Fastfood-Restaurants in Kalifornien arbeiten –, um die neun Menschen auszuwählen, deren Profile ich in den kommenden Kapiteln aufzeige. Ich beschloss aus zwei Gründen, mich hauptsächlich (aber nicht ausschließlich) auf die Geschichten von Büroangestellten in den Vereinigten Staaten zu konzentrieren.

Erstens befinden sich die USA mitten in einem landesweiten Trend, der sowohl Geschichte als auch Logik widerspricht. Im Verlauf der Geschichte korrelierte der Wohlstand der Menschen hauptsächlich damit, wie wenige Stunden sie arbeiteten. Je mehr Reichtum man besitzt, desto weniger arbeitet man, einfach weil man es sich eben leisten kann, nicht beruflich aktiv zu sein. Aber im Verlauf des letzten halben Jahrhunderts waren einige der Höchstverdiener für den größten Zuwachs an Arbeitszeit verantwortlich.9 Dies bedeutet, die gleichen Amerikaner, die es sich leisten könnten, beruflich am wenigsten zu leisten, tun dies mehr als je zuvor.

Zweitens konzentrierte ich mich hauptsächlich auf Angestellte mit Bürojobs, weil sie am ehesten danach streben, in der Arbeit Lebenssinn und Identität zu finden. Dieses Phänomen gilt für Gutverdiener auf der ganzen Welt. Von Schweden bis Südkorea nennen wohlhabendere und gebildetere Erwachsene zweimal so häufig wie Niedrigverdiener oder Menschen ohne Hochschulabschluss ihre Arbeit als eine Quelle ihres Lebenssinns.10 Neben anderen Gründen haben Gutverdiener seltener einen anderen Ursprung von Sinn in ihrem Leben, wie etwa einer organisierten Religion anzuhängen.

Aber auch wenn die Arbeitskultur die Berufstätigkeit als zentrale Achse betrachtet, um die der Rest des Lebens kreist, arbeiten die meisten Menschen auf der Welt nicht aus Gründen der Selbstaktualisierung, sondern um zu überleben. »Die Menschen, die lieben, was sie tun, können sich glücklich schätzen, Mann«, erzählte mir Hamza Taskeem, ein Koch, der seit 18 Jahren im selben pakistanischen Restaurant arbeitet. »Ich arbeite nur, um über die Runden zu kommen.«

Dennoch sind wenige Amerikaner immun gegen die Kultur des Workism in diesem Land. Unabhängig von der Gesellschaftsschicht kommentierte fast jeder von mir befragte Arbeiter den damit verbundenen Druck, wenn man in einem Land arbeitet, in dem Selbstwert und Arbeit so eng verbunden sind. Kapitalismus ist hier nicht nur ein Wirtschaftssystem, sondern auch eine Sozialphilosophie, derzufolge eine Person so wertvoll ist wie ihre Leistung. In den Vereinigten Staaten ist Produktivität mehr als ein Messwert, sie ist ein moralisches Gut.

Um den Workism in den USA heute zu verstehen, sollte man sich ansehen, wie wir dorthin gelangt sind. Vor 200 Jahren verfolgte fast niemand eine Karriere – zumindest nicht in der Form, wie wir heute Karrieren als Geschichte von Fortschritt und Wandel verstehen. Die meisten Amerikaner waren Farmer, so wie ihre Eltern und Großeltern. Die Arbeitsstunden eines Farmers bestimmt die Sonne, nicht ein Chef oder Algorithmus, der uns die Arbeitszeit vorgibt. Wie intensiv man tätig ist, hängt vom Zyklus der Jahreszeiten ab: Es ist anstrengend während der Ernte, man hat aber weniger zu tun im Winter. Aber die industrielle Revolution katapultierte uns in ein Zeitalter, in dem nicht mehr die Jahreszeiten und das Tageslicht die Produktivität definierten. Mitte des 19. Jahrhunderts schufteten Fabrikarbeiter regelmäßig Zehn- oder Zwölfstundenschichten, und das sechs oder sieben Tage die Woche.

Auch wenn heute »nine-to-five« ein Synonym für den Arbeitstag ist, waren die aktuellen Standards wie ein Achtstundentag, die Vierzigstundenwoche und das zweitägige Wochenende nicht immer die Norm. Die Arbeiterbewegung kämpfte hart, um all dies für die Beschäftigten zu erreichen. »Acht Stunden Arbeit, acht Stunden Schlaf, acht Stunden, wofür wir wollen«, stand auf den Schildern bei den Eröffnungsprotesten am 1. Mai 1886 in Chicago. Obwohl die Konventionen, wie, wann und warum wir arbeiten, seitdem zum Standard geworden sind, sind sie weder natürlich noch in Stein gemeißelt. Sie waren früher schon Gegenstand von Verhandlungen und können es wieder werden.

Eine weniger auf die Arbeit zentrierte Gesellschaft ist ein wiederkehrendes Element des amerikanischen Traums. In seinem Essay »Die ökonomischen Möglichkeiten unserer Enkelkinder« aus dem Jahr 1930 äußerte der Wirtschaftswissenschaftler John Maynard Keynes die berühmte Prognose, wir würden im Jahr 2030 nur noch 15 Stunden pro Woche arbeiten.11 Keynes glaubte, eine der drängendsten Fragen des 21. Jahrhunderts würde lauten, wie wir unsere Freizeit verbringen. Und noch im Jahr 1965 führte der Kongress eine lange Anhörung durch, um über die Zwanzigstundenwoche zu diskutieren, die sicher unmittelbar vor der Tür stand.12 Gewählte Politiker sorgten sich, die Amerikaner würden bis zum Jahr 2000 so viele Urlaubstage nehmen, dass wir unsere nationale Infrastruktur umstrukturieren müssten, um auf den Anstieg an Urlaubsreisen vorbereitet zu sein. Aber ach, die Fantasien von den Fünftagewochenenden und den Unmengen an Freizeit müssen sich leider erst noch verwirklichen.

Den Großteil des 20. Jahrhunderts sorgte der Druck durch die Gewerkschaften und der Anstieg an Produktivität durch technologischen Fortschritt tatsächlich dafür, dass sich die Arbeitsstunden des Durchschnittsamerikaners verringerten. Aber während andere Länder der industrialisierten Welt ihre Arbeitszeit weiter minderten, arbeiteten manche US-Bürger Ende des Jahrhunderts mehr als je zuvor. 1975 waren Amerikaner und Deutsche durchschnittlich dieselbe Zahl an Stunden beruflich tätig.13 2021 arbeiteten Amerikaner über 30 Prozent mehr.14

Es gibt viele mögliche Antworten auf die Frage, wieso die US-Bürger so verdammt viel arbeiten. Zum Teil sind wirtschaftliche Faktoren dafür verantwortlich. Stagnierende Löhne haben viele Arbeiter und Angestellte dazu gezwungen, mehr zu leisten, um denselben Laib Brot zu kaufen. Hinzu kommen politische Faktoren. In den 1950er-Jahren war einer von drei arbeitenden Amerikanern Mitglied in einer Gewerkschaft.15 2021 war diese Zahl auf einen von zehn gesunken, und viele Arbeiter gehören keiner Organisation mehr an, die bessere Bedingungen verlangen kann. Zudem gibt es ideologische Faktoren. Kapitalismus und die protestantische Arbeitsethik waren schließlich die zwei Stränge, die sich verbanden, um die DNA unseres Landes zu bilden.

Aber in den letzten Jahrzehnten haben die Vereinigten Staaten sich auch tiefgreifend kulturell verändert, was jeden dieser obigen Faktoren verstärkt. Zunehmend wird erwartet, dass die Arbeit ein Quell der persönlichen Erfüllung und des Lebenssinns sein sollte.16 Nennen wir es die neue amerikanische Arbeitsethik.

Diese neue Ethik beeinflusste die Beziehung von Millionen von Menschen zur Arbeit. Statt ihren Beruf als Anstrengung zu begreifen, um solidarisch mit anderen in verschiedenen Rollen, Industrien und Gesellschaftsschichten zusammenzuarbeiten, sahen viele Büroangestellte ihre Tätigkeit zunehmend als eine Reflexion ihrer individuellen Leidenschaften und Identitäten. Wie der Soziologe Jamie K. McCallum in seinem Buch, Worked Over: How Round-the-Clock Work Is Killing the American Dream, schreibt: »Als Arbeit schmutzig war, war weniger mehr; jetzt, wo sie Bedeutung hat, ist mehr besser.«17

Der Buchtitel Dein Job ist gut genug! ist eine Anspielung an Kindererziehung nach dem Prinzip des »gut genug«, einer Theorie, die der britische Psychoanalytiker und Kinderarzt Donald Woods Winnicott in den 1950er-Jahren entwickelte. Er beobachtete, dass die Elternschaft zunehmend idealisiert wurde. Der perfekte Elternteil tat alles in seiner Macht Stehende, um jeglichen Schmerz vom Baby fernzuhalten. Und wenn ihr Baby irgendetwas Negatives ausdrückte, nahmen Mutter oder Vater dies persönlich.

Winnicott glaubte, Eltern und Kind würden von einem Ansatz profitieren, bei dem sie sich ausreichend bemühten, aber nicht nach Perfektion strebten. Der Elternteil, der »gut genug« ist, bietet im Vergleich zum perfekten Elternteil seine Unterstützung, aber auch genug Raum, in dem das Baby sich selbst beruhigen kann. Auf diese Weise entwickelt das Baby Resilienz, und die Eltern verlieren sich nicht selbst im Gemütszustand des Babys.

Eine ähnliche Idealisierung vollzieht sich am Arbeitsplatz. Verdammt, ich schreibe diesen Satz an einem »WeWork«-Arbeitsplatz, an dem »Tu immer, was du liebst« auf meiner Kaffeetasse steht. Angesichts dessen, wie viel wir arbeiten, ist unsere Auswahl dessen, was wir tun sollen – zumindest für uns, die wir über das Privileg verfügen, es uns aussuchen zu können –, eine unserer folgenschwersten Entscheidungen. Wieso nicht eine Karriere mit der gleichen Einstellung angehen, mit der wir nach unserem Lebenspartner suchen?

Kurz gesagt lautet die Antwort, dass es zu Leid führen kann, wenn man erwartet, die Arbeit solle immer erfüllend sein. Studien zufolge führt eine »leidenschaftliche Besessenheit« für den Beruf zu häufigeren Burn-outs und mehr Arbeitsstress.18 Forscher fanden auch heraus, dass ein arbeitszentrierter Lebensstil in Ländern wie Japan ein Schlüsselfaktor für rekordverdächtig niedrige Geburtenraten ist.19 Und bezüglich junger Menschen in den Vereinigten Staaten erklären die aufgeblähten Erwartungen an den beruflichen Erfolg die extrem hohen Raten an Depression und Angstzuständen.20 Weltweit sterben mehr Personen jedes Jahr an Symptomen von Überarbeitung als an Malaria.21

Abgesehen von der Forschung wissen wir auch intuitiv, dass zu hohe Erwartungen garantiert zu Enttäuschungen führen. Wenn wir damit rechnen, dass uns die Arbeit zu Selbstaktualisierung verhilft – uns also konstant motiviert und erfüllt –, kann es sich wie Versagen anfühlen, wenn wir uns mit weniger zufriedengeben. Ein Job lässt sich genau wie ein Baby nicht immer kontrollieren. Sein Selbstwertgefühl an die Karriere zu ketten, ist ein gefährliches Spiel.

Es gibt aber keine einfache Lösung, etwa in Form von Desinteresse am eigenen Job. Im Durchschnitt verbringt man ein Drittel des Lebens – ungefähr 80.000 Stunden – mit Arbeit. Wie wir diese Zeit ausfüllen, ist von Bedeutung. Die Frage ist daher, wie wir das Streben nach einer sinnvollen Arbeit mit dem Risiko ausbalancieren, vom eigenen Job bestimmt zu werden.

Dafür können wir uns erneut der Weisheit Dr. Winnicotts bedienen. Verglichen mit Perfektion ist »gut genug« ein weit weniger rigides Ideal. Es romantisiert nicht, was ein Job bieten kann, und nimmt auch nicht hin, dass dieser nur eine ewige Quälerei sein muss. Gut genug ist eine Einladung, sich zu entscheiden, was angemessen bedeutet – die eigene Beziehung zur Arbeit zu definieren, ohne sich davon selbst definieren zu lassen.

In meinem letzten Jahr am College erhielt ich die Chance, meinen Lieblingsschriftsteller zu interviewen, einen Dichter namens Anis Mojgani. Damals war Mojgani auf dem Höhepunkt seines Schaffens und hatte gerade zwei Jahre in Folge den National Poetry Slam gewonnen. Mojgani war der erste Mensch, den ich je traf, der mit dem Schreiben und seinen Auftritten seinen Lebensunterhalt verdienen konnte. Er reiste um die Welt, um in Universitäten Vorträge zu halten und im Vorprogramm bei Konzerten aufzutreten. Ein echter Rockstar der Reime und mein berufliches Idol. Ich war ein 22-jähriger Poesiestudent, der sich gerade auf die Reise in eine unbekannte Zukunft begeben hatte. Ich war überzeugt, Mojgani würde mir den »Folge-deiner-Leidenschaft«-Motivationsvortrag halten, den ich meiner Meinung nach brauchte. Doch das tat er nicht.

Als ich Mojgani fragte, ob er an das Mantra des »Liebe, was du tust, und kein Tag deines Lebens wird Arbeit sein« glaubte, sagte er etwas, das ich nie vergessen werde: »Arbeit bleibt Arbeit. Einige Leute tun in der Arbeit, was sie lieben. Andere Menschen arbeiten, damit sie in der Freizeit tun können, was sie lieben. Keines von beiden ist edler.«

Der letzte Satz erschütterte mich. Bis zu diesem Tag hatte ich geglaubt, herauszufinden, was ich arbeiten wollte, sei die wichtigste Mission des Lebens. Ich hatte Annie Dillards berühmte Worte – »Wie wir unsere Tage verbringen, ist natürlich, wie wir unser Leben verbringen« – so interpretiert, dass mein gewählter Job nicht nur bestimmen würde, was ich tat, sondern wer ich sei. Aber hier war mein vergöttertes berufliches Idol nichts weniger als ein Berufsdichter, der mir sagte, es sei völlig in Ordnung, einer normalen Arbeit nachzugehen.

Ich erfuhr kürzlich, dass Dillards oft zitierter Satz nie zum Mantra für Workaholics oder eine Rechtfertigung für die endlose Jagd nach dem eigenen Traumjob werden sollte. Wenn man den Rest der Passage liest, aus der dieser Auszug stammt, will Dillard genau das Gegenteil sagen. »Was wir mit dieser und jener Stunde anfangen, ist, was wir tun«, schreibt sie.22 »Das Leben des Geistes erfordert immer weniger; Zeit gibt es im Überfluss, und ihr Verstreichen ist süß.« Ihre Worte sind ein Aufruf, präsent zu sein, nicht nach der nächsten Beförderung zu schielen.

Ein von der Arbeit völlig eingenommenes Leben verdrängt andere Aspekte unseres Selbst. Mit den Worten der Psychotherapeutin Esther Perel, nehmen wir das Beste von uns mit in den Job und kommen mit den Resten wieder nach Hause.23 Wenn wir all unsere Energie für unser Berufsleben aufwenden, lassen wir die anderen Identitäten verkümmern, die in jedem von uns existieren – Ehepartner, Elternteil, Schwester, Nachbar, Freund, Bürger, Künstler, Reisende.

Ähnlich wie ein Investor davon profitiert, seine Kapitalanlagen zu diversifizieren, profitieren wir ebenfalls davon, die Quellen unserer Identität und unseres Lebenssinns zu diversifizieren. Sinn ist nichts, das uns einfach verliehen wird. Wir erschaffen ihn. Und wie bei vielen Schöpfungsakten erfordert dies Zeit und Energie – die Zeit, die man in Aktivitäten außerhalb der Arbeit investiert, und die Energie, um diese tatsächlich durchzuführen.

Dieses Buch ist folgendermaßen aufgebaut: In jedem Kapitel werden Sie jemanden aus einem anderen Wirtschaftsbereich kennenlernen – einen Koch mit einem Michelin-Stern, einen Wall-Street-Banker, einen Softwareingenieur, der in einem Bus auf einem Parkplatz vor dem Google-Firmensitz wohnt, um nur einige zu nennen. In jeder ihrer Geschichten werden wir einen genauen Blick auf einen verbreiteten Mythos werfen, der die moderne Arbeitskultur durchdringt. Von »Dieses Unternehmen ist wie eine Familie« bis zu »Tu, was du liebst, und kein Tag deines Lebens wird Arbeit sein« werden viele der Axiome der Arbeitswelt unscharf und farblos, wenn man sie näher unter die Lupe nimmt.

Dieses Buch unterscheidet sich insofern von anderen Karriereratgebern und Businessbüchern, die Sie vielleicht gelesen haben, als dass die verschiedenen Kapitel vor allem die Geschichten von Menschen erzählen. Sie werden keine Seiten finden, auf denen drei einfache Schritte stehen, wie Sie Ihren Selbstwert von der Arbeit abkoppeln oder zehn schnelle Tipps, wie Sie vermeiden, die ganze Nacht wach zu liegen, weil Sie über Ihren nächsten Leistungsbericht grübeln. Mein Ziel ist, dass Sie dieses Buch weniger wie eine Anleitung und mehr wie einen Spiegel behandeln. Daher hoffe ich, es regt Sie genauso an, wie es mich inspiriert hat, als ich es schrieb, um Ihre Beziehung zu Ihrem Job neu zu überdenken. Der Werdegang jeder einzelnen Person forderte meine eigenen Vorannahmen heraus und half mir, besser zu definieren, welche Rolle die Arbeit in meinem Leben spielen soll. Ich hoffe, das Gleiche trifft auch für Sie zu.

Die folgenden Geschichten leben im Spannungsfeld, die Arbeit als Mittel zum Zweck oder als ein Ziel für sich selbst zu sehen – wie es der Historiker Studs Terkel ausdrückte, die Suche nach »dem täglichen Sinn und dem täglichen Brot«.24 Unsere Beziehung zur Arbeit zu definieren, ist ein anhaltender Prozess – etwas, mit dem wir jedes Mal ringen, wenn wir beschließen, eine weitere Stunde im Büro zu verbringen oder am Sonntag unsere E-Mails zu checken. Dieses Buch will Sie weder davon abhalten, Erfüllung in der Arbeit zu finden, noch Sie davon überzeugen, dass Ihr Job nur ein notwendiges Übel ist. Es ist eine Anleitung, um eine gesündere Beziehung zum Beruf zu entwickeln, indem man die Geschichten der Menschen liest, die sich um dieses Verhältnis bemüht haben.

Eine gesündere Beziehung zur Arbeit herzustellen, bedeutet nicht, einfach nur zu kündigen oder mit dem Stricken anzufangen. Nicht jeder hat die Möglichkeit, seine Arbeitsstunden selbst festzulegen oder einfach einen anderen Beruf zu wählen. Was wir jedoch kontrollieren können, sind unsere Erwartungen an den Job. Wir können beschließen, die Arbeit dem Leben unterzuordnen und nicht andersherum. Das fängt damit an, dass wir einfach Folgendes akzeptieren: Wir sind nicht, was wir tun.

Kapitel 1

Wenn Sie mich fragen*

Über den Mythos, dass wir sind, was wir tun

Genügsamkeit ist nicht zwei Schritte über der Armut oder einen Schritt unterhalb des Überflusses. Es ist kein Maßstab im Sinne von gerade genug zu haben oder mehr als genug zu haben. Genügsamkeit ist überhaupt kein Geldbetrag. Sie ist eine Erfahrung, ein Kontext, den wir erschaffen, eine Erklärung, das Wissen, dass genug vorhanden ist, und dass wir genug sind.25

– Brené Brown

Divya Singh saß in ihrem Schlafraum im College, als der Freund ihrer Mitbewohnerin etwas sagte, dass ihr Leben verändern sollte: »Du würdest keine Praktikantenstelle bei The Restaurant bekommen, selbst, wenn du es versuchen würdest.« Divya war 19 Jahre alt, stammte aus Indien und studierte an einer amerikanischen Kochschule. Sie hatte einen fransigen Pony und ein Grübchen auf der linken Wange. Das Studium hatte sie begonnen, um Ernährungsberaterin zu werden. Ihr Traum war es, Rezepte für ein Hochglanzmagazin wie Bon Appétit oder Saveur zu entwerfen, aber dieser Kommentar änderte alles. Cody, der Freund ihrer Mitbewohnerin, war ein hochgewachsener, selbstbewusster junger Mann aus dem Mittleren Westen, der auf bestem Weg zum Spitzenkoch war. Selbst als Student wirkte er prahlerisch, eine verbreitete Eigenschaft unter männlichen Köchen. Er konnte ja nicht ahnen, dass man Divya besser nicht sagte, was sie nicht erreichen konnte.

Jedes Jahr erhielt ein Student oder eine Studentin der Kochschule, die Divya und Cody besuchten, eine Praktikumsstelle bei The Restaurant, das damals als eines der besten in Amerika galt. Es hatte gerade drei Michelin-Sterne erhalten, eine weitere Auszeichnung für den berühmten Koch, Stephen Fischer, der direkt neben der Küche von The Restaurant wohnte.

Die Praktikumsstelle vergab Randy Garcia, ein Fakultätsmitglied an Divyas Kochschule, der bei The Restaurant gearbeitet hatte. Garcia bewertete, wie gut die Studierenden mit dem Messer umgehen konnten, sah sich ihre Referenzen von früheren Arbeitsstellen an und führte Interviews mit jedem Bewerber durch. Divya hatte noch nie in einem Nobelrestaurant gearbeitet. Aber nachdem sie sich auf The Restaurant festgelegt hatte, verbrachte sie die restlichen Abende und Wochenenden des Schuljahrs damit, in Speiselokalen der gehobenen Küche zu arbeiten.

Am Ende des Jahres bewarben sich Divya und Cody um die Praktikumsstelle bei The Restaurant. Divya erhielt die Stelle. Garcia erzählte mir, sie war die am besten vorbereitete Studentin, die er je für diese Stelle empfohlen hatte. Selbst nachdem sie den Job erhalten hatte, ging Divya weiter in Garcias Kurse, um zu üben, wie man Zwiebeln, Karotten und Sellerie schneidet, und sich auf den kommenden Sommer vorzubereiten.

The Restaurant ist der Inbegriff kulinarischen Könnens. Das malerische Ziegelgebäude war zur Jahrhundertwende ein Saloon, bevor es in den 1970er-Jahren ein Restaurant wurde. Als Fischer die Küche umbauen ließ, sagte er den Architekten, The Restaurant solle aussehen wie der Louvre – eine Mischung aus historischen und zeitgenössischen Elementen. Jedes Detail – von der himmelblauen Eingangstür bis zum »Sense-of-Urgency«-Schild, das über der Vacheron-Constantin-Wanduhr in der Küche hängt – trägt Fischers Handschrift. Das »Prix-Fixe«-Neun-Gänge-Menü kostet 350 Dollar pro Person.

Die meisten Küchen in Nobelrestaurants sind im sogenannten Brigadesystem organisiert, das ein französischer Koch im 19. Jahrhundert populär machte, der es wiederum der Hierarchie europäischer Militärküchen nachempfunden hatte. Der Chefkoch bellt die Befehle, die der Rest der Küchenbelegschaft pflichtgemäß erfüllt. Fischer, dessen Vater ein Marine war, implementierte das Brigadesystem in all seinen Restaurants. Als Assistenzköchin oder Jungköchin stand Divya am unteren Ende der Pyramide. Im ersten halben Jahr hieß es nur: »Ja, Chefkoch« oder »Nein, Chefkoch.«

Divyas Tage verstrichen in einem endlosen Reigen aus gehackten Estragonblättern und zerkleinerten Pfifferlingen. Die Köche untersuchten regelmäßig, wie symmetrisch die Jungköchin die Zutaten schnitt, und wenn es nicht ihren Standards genügte, wurde das Essen weggeworfen. Als Koch im The Restaurant zu arbeiten, war wie als Animator bei Pixar oder als Cellistin bei den Wiener Philharmonikern tätig zu sein – man gehörte zu den Besten der Besten, und das wirkte berauschend. Aber die Arbeit war anstrengend. »Die Zeit hier ist wie Hundejahre«, sagte mir ein ehemaliger Betriebsleiter. »Für jedes Jahr, das man hier arbeitet, verliert man sieben Lebensjahre.«

Am Ende des Praktikums bot man Divya an, weiter dort zu arbeiten, aber sie war nicht begeistert von der Monotonie, »im Akkord« zu kochen, und wollte ihren Schulabschluss machen. Also kehrte sie an die Schule zurück, um ihr Studium zu beenden, und plante, zu ihren eigenen Bedingungen ins The Restaurant zurückzukehren.

Mitte der Nullerjahre war die Molekulargastronomie der letzte Schrei. Divya hatte von europäischen Restaurants gelesen, die in ihren Küchen forschten und entwickelten, indem man dort Lebensmittelwissenschaft und Chemie einsetzte, um neue Kochtechniken zu kreieren. Weil The Restaurant jeden Tag die Speisekarte änderte, hatten die Köche oft keine Zeit, um mit den neuesten Techniken zu experimentieren. In ihrem Abschlussjahr an der Kochschule schrieb Divya also ihre eigene Stellenbeschreibung und wurde mit 21 als erste »Research-and-Development«-Köchin bei The Restaurant eingestellt. Einige Monate nach dem Abschluss war sie wieder in The Restaurant und experimentierte damit, Meerwasser-Sorbet herzustellen oder Béchamelsoße in Schaum zu verwandeln.

Als R&D-Köchin lag es unter anderem in Divyas Verantwortung, Speisen auf der Karte für Menschen mit Unverträglichkeiten zu entwickeln. Sie verbrachte Monate damit, milchfreie Alternativen für den bekannten Tapiokapudding und das Lauchsoufflé auf der Speisekarte von The Restaurant zu entwickeln. Die R&D-Küche befand sich in einem eigenen Gebäude, getrennt vom Hauptspeisesaal, aber gelegentlich wollten die Gäste von The Restaurant die Magierin hinter den milchfreien Köstlichkeiten kennenlernen. Einmal brach eine Frau, die seit sieben Jahren nichts mehr mit Milch gegessen hatte, in Tränen aus, als sie Divya beschrieb, was für ein Gefühl es gewesen war, in ihren milchfreien Brie zu beißen. Divya wusste, sie war auf der richtigen Spur.

Sie sah eine Geschäftsgelegenheit darin, das in der R&D-Küche bei The Restaurant Erlernte auch Menschen weiterzugeben, die zu Hause kochten. Die meisten milchfreien Alternativen nötigen Leute, die zu Hause ihr Essen zubereiten, dazu, ihre liebsten Familienrezepte substanziell zu ändern. Divyas Idee besagte, eine Reihe milchfreier Produkte herauszubringen, die man zu Hause in fast jedes Rezept integrieren konnte. Sie beschloss, die Produktlinie Prameer zu nennen – ein Wortspiel aus Paneer, was in Hindi Käse bedeutete.

Da Divya immer noch in The Restaurant angestellt war, wollte sie vermeiden, dass ihr Projekt einen Interessenkonflikt hervorrief. Sie vereinbarte ein Treffen mit Chefkoch Fischer, um seine Erlaubnis einzuholen, Prameer als unabhängiges Unternehmen zu starten.

Am Tag des Meetings trug Divya ihre gestärkte weiße Kochjacke, das Haar zu einem festen Pferdeschwanz gebunden. Divya und Fischer hatten sich noch nie persönlich getroffen. Ihr Herz raste, als sie sich vor seinem Büro auf die Picknickbank setzte und darauf wartete, dass er herauskam. Divya war 24, hatte vor nicht allzu langer Zeit die Kochschule abgeschlossen und würde sich gleich mit einem der weltweit angesehensten Köche treffen. Wer bin ich schon, dass Stephen Fischer sich überhaupt für mich interessieren sollte?, dachte sie.

Genau wie sie es für ihr Praktikum getan hatte, war Divya extrem gut vorbereitet. Sie hatte Forschungsergebnisse über die Trends beim milchfreien Backen dabei und Tabellen, auf denen sie die Konkurrenz analysiert hatte. Aber als der breitschultrige Fischer ins Freie trat und auf sie zukam, begrüßte er sie mit dem entwaffnenden Charme eines Collegeprofessors. »Kein Grund, nervös zu sein«, sagte er und lächelte. »Ich bin es nur.«

Nachdem sie ihm ihre Idee unterbreitet hatte, gab Fischer Divya nicht nur grünes Licht – er ging noch weiter. »Was, wenn ich Ihnen helfe?«, fragte er. Divya war schockiert. Sie war schon dankbar gewesen, dass er ihr nur eine halbe Stunde seiner Zeit geopfert hatte, aber jetzt wollte Stephen Fischer ihr helfen. »Für mich ist alles okay, aber ich würde Ihnen gerne helfen, denn Sie wirken wie eine engagierte, ehrgeizige Frau«, sagte er. »Wieso werden wir nicht Partner?« Divya war mit einer Idee in das Meeting gegangen und verließ es mit einem Geschäftspartner. Sie einigten sich auf eine Fifty-fifty-Partnerschaft.

In den nächsten paar Jahren nahm Fischer Divya unter die Fittiche. Obwohl er sehr beschäftigt war und mehrere mit Michelin-Sternen ausgezeichnete Restaurants betrieb, tat er alles, um für Divya zur Verfügung zu stehen. Sie trafen sich regelmäßig, um sich über die Zukunft des Business zu unterhalten. Sie erschienen gemeinsam in den Hochglanzmagazinen, in denen Divya einst in ihren Träumen hatte arbeiten wollen. Divya leitete die Alltagsgeschäfte von Prameer, aber Fischer, der keine eigenen Kinder hatte, bot ihr Rat und Leitung. »Das war das erste Mal, dass ich einen Mentor hatte«, erzählte mir Divya. »Wie eine Vaterfigur.«