Dein letzter Atemzug - Marnie Riches - E-Book

Dein letzter Atemzug E-Book

Marnie Riches

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Beschreibung

Bev ist am absoluten Tiefpunkt angekommen: Nach einer schmutzigen Scheidung hat sie ihren Job, all ihren Besitz und ihren guten Ruf verloren. Doch sie will kämpfen. Also zieht sie in die feuchte Kellerwohnung von ihrer besten Freundin Sophie und deren Mann und macht sich als Privatdetektivin selbständig.

Als Bev den Fall von Sophies Freundin Angela übernehmen soll, die von ihrem Mann brutal misshandelt wird, zögert sie zunächst. Schließlich ist Angelas Ehemann Jerry Fitzwilliam ein mächtiger Politiker. Um seine perfiden Machenschaften zu entlarven, muss sie sich auf ein gefährliches Spiel einlassen. Doch jemand kennt ihre Schwächen und will sie ausschalten. Wird ihre dunkle Vergangenheit sie einholen, bevor sie Angela helfen und sich selbst retten kann?

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Das Buch

Bev Saunders ist am absoluten Tiefpunkt angekommen: Nach einer schmutzigen Scheidung hat sie ihren Job, all ihren Besitz und ihren guten Ruf verloren. Doch sie will kämpfen. Also zieht sie in die feuchte Kellerwohnung von ihrer besten Freundin Sophie und macht sich als Privatdetektivin selbstständig. Als Bev den Fall von Sophies Freundin Angela übernehmen soll, die von ihrem Mann brutal misshandelt wird, zögert sie zunächst. Schließlich ist Angelas Ehemann Jerry Fitzwilliam ein mächtiger Politiker. Um seine perfiden Machenschaften zu entlarven, muss sie sich auf ein gefährliches Spiel einlassen. Doch jemand kennt ihre Schwächen und will sie ausschalten. Wird ihre Vergangenheit sie einholen, bevor sie Angela helfen und sich selbst retten kann?

Die Autorin

Marnie Riches wuchs auf einem Landsitz im Norden von Manchester in der Nähe eines Gefängnisses auf. An der University of Cambridge studierte sie Germanistik und Niederlandistik. Bevor sie das Schreiben für sich entdeckte, war Marnie Riches ein Punk, ein angehender Rockstar, eine verkappte Künstlerin und professionelle Spendensammlerin. Wenn sie nicht gerade einen ihrer preisgekrönten düsteren Thriller schreibt, kommentiert sie im Radio für die BBC Social-Media-Trends und spricht über die Welt der Kriminalliteratur. Dein letzter Atemzug ist ihr erster Thriller bei Heyne.

MARNIE RICHES

DEIN LETZTER ATEMZUG

Thriller

Aus dem Englischen von Frank Dabrock und Irene Eisenhut

WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN

Die Originalausgabe Tightrope erschien erstmals 2019 bei Trapeze, London.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstausgabe 10/2021

Copyright © 2019 by Marnie Riches

Copyright © 2021 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Uta Dahnke

Umschlaggestaltung: Sandra Taufer Grafikdesign

unter Verwendung von Trevillion Images / Stephen Carrol; Shutterstock.com (rubiphoto, Bokeh Blur Background, Ensuper, PixDeluxe, Photo Boutique, Yuriy Zhuravov, faestock)

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-25789-7V001

www.heyne.de

Für meine süße Natalie und meinen süßen Adam, die Lieben meines Lebens. Ich entschuldige mich für euren erblich bedingten Hang zu unflätiger Sprache und zum Fluchen. Tut mir leid, aber auch wiederum nicht leid.

PROLOGDer Wolf

Das Mädchen liegt eingezwängt unter ihm auf der ledernen Chaiselongue und starrt in den gähnenden Schlund seiner Wolfsmaske aus Latex. Trotz des ihr verabreichten Alkohols und des Drogencocktails, der sie entspannt und gefügig machen sollte, ist die Angst in ihren Augen deutlich zu erkennen.

»Du weißt, was jetzt passiert?«, fragt er, und seine Stimme klingt dumpf und hohl, wie aus einer anderen Welt. Ihr zu sagen, was er für sie vorgesehen hat, die Rolle des Erzählers in ihrer persönlichen Geschichte des Grauens zu übernehmen, die nunmehr ihren Höhepunkt erreicht hat, erregt ihn. Immerhin wird alles gefilmt. »Ich werde zudrücken, das Leben aus dir herausquetschen, denn das ist es, was eine wie du verdient.«

Sie erstarrt einen kurzen Augenblick. Vielleicht versucht sie die ihr unbekannte Sprache zu verstehen. Blanke Verzweiflung breitet sich plötzlich auf ihrem Gesicht aus. Sie schüttelt den Kopf. »Nein! Mag nicht!«, stammelt sie. »Stan? Wo sein? Muss sprechen.« Sie lallt durch den Wodka, was ihrem russischen Akzent eine schmalzige Note verleiht. Tränen rollen ihr über die Wangen, als sie sich in der Hoffnung auf eine Reaktion dem Kameramann zuwendet. »Bitte, aufhören!« Sie sagt etwas in ihrer Muttersprache. Ihr schrilles Wimmern lässt sie wie das kleine Mädchen klingen, das sie unter dem starken Make-up eigentlich noch ist.

Doch den Wolf kümmern ihre Bedürfnisse nicht, und die Kamera läuft weiter. Er setzt seine Knie auf ihre zarten Lenden und drückt ihre Arme über dem Kopf herab, sodass sie nicht mehr strampeln oder um sich schlagen kann. Er ruft den anderen zu, sie sollen sie festhalten, und sie gehorchen ihm, genau wie das Mädchen.

»Nein! Nein!«, schreit sie und windet sich, aber ihre Gegenwehr ist zwecklos. »Das tun weh! Wo Dimitri? Hol Stan! Stan! Hilfe!«

»Stan ist nicht hier«, zischt er ihr ins Ohr. »Und Dimitri ist beschäftigt. Genau wie wir.«

Sie schreit so laut, dass der Klang auf der Tonspur verzerrt wird.

Der Wolf blickt zu den anderen Männern. Sie sind insgesamt zu fünft, alle nackt, bis auf ihre Masken. Der erste trägt die Maske eines Schweins, der zweite die einer Bulldogge, der dritte die eines Pferds und der vierte die eines Hahns. Er selbst spielt die Hauptrolle in der Maske des Wolfs. Die momentane Stimmung der anderen Männer ist schwer auszumachen, aber sie sind auf jeden Fall alle noch immer sichtbar erregt und stehen an, um sich ein zweites Mal mit diesem Früchtchen zu vergnügen.

Im Augenblick ist jedoch der Wolf an der Reihe.

Er greift nach dem auf dem Couchtisch liegenden Ballknebel, den er dem Mädchen mit geübter Hand um den Kopf schnallt, obwohl sie sich heftig windet. Ihren Protest kann sie jetzt nur noch in Form eines gurgelnden, würgenden Geräuschs von sich geben, da sie sich an ihrer eigenen Spucke verschluckt.

»Das ist besser! Du redest zu viel!«

Er legt eine Hand um den Hals des nackten Mädchens und drückt zu, während er sie reitet. Unerbittlich. Der Herr über ihr Schicksal. Genau wie sein Vater damals, als er ihn vor vielen Jahren dabei beobachtete, wie er den Babysitter, die Tochter der Putzfrau und seine jüngere Schwester souverän kontrollierte. Das Mädchen – mittlerweile verstummt und mit rotem Gesicht, weil sie um ihr Leben kämpft – windet sich unter ihm, um sich zu befreien. Ihre weit aufgerissenen Augen schauen flehentlich, und die Adern auf ihrer Stirn treten hervor. Sie scheint mit den Lippen ein Wort bilden zu wollen, dessen Klang jedoch durch ihre zusammengedrückte Gurgel nicht hervordringen kann.

Die anderen Männer schreien ihn mittlerweile an, übertönen sich gegenseitig, sodass es schwierig ist, zu sagen, ob sie ihn anstacheln oder protestieren. Aber das interessiert den Wolf ohnehin nicht, denn er hat den Geruch frischen Fleischs in der Nase.

Als das Mädchen schließlich bewegungslos daliegt und ihr Kopf zur Seite fällt, ergreift die Bulldogge das Wort.

»O Gott! Sie ist ganz schlaff. Ist sie etwa tot?« Er streckt den Arm aus, presst zwei Finger auf ihren Hals. »Ich kann keinen Puls mehr spüren. Drücke ich an der richtigen Stelle?« Er schnallt den Knebel los, nimmt den roten Plastikball aus ihrem Mund, beugt sich herunter und hält sein Ohr dicht an ihre Lippen. »Ich kann sie auch nicht mehr atmen hören.«

»Versuch’s am Handgelenk«, sagt das Pferd. Er greift danach, tastet an der Innenseite nach einer pulsierenden Ader. »Nichts.« Er hebt die Augenlider des Mädchens und winkt, ohne dass eine Reaktion erfolgt, mit einer Hand vor ihren glasigen Augen. »Verdammt noch mal, du hast sie umgebracht, oder?«, sagt er zu dem Wolf. »Du Idiot. Jetzt sind wir geliefert.« Seine Stimme zittert. Er weicht von der Chaiselongue zurück und verdeckt seine schwindende Erektion mit beiden Händen, als würde er am Ende doch noch Scham empfinden.

Derartige Schuldgefühle plagen den Wolf jedoch nicht. Befriedigt steigt er von der jugendlichen Prostituierten herunter. Sie ist für ihn nicht mehr als ein verbrauchtes Pferd nach einem langen, harten Ritt. Seine Arbeit ist getan.

Das ist der Grund, warum er der Star in diesem kleinen Amateurfilm ist, den Stans verschwitzter, vollgekokster Kameramann noch immer diskret dreht.

Die Gliedmaßen des Mädchens hängen in einem seltsamen Winkel herab, wie die Zeiger einer kaputten Uhr. Irgendwie passend, denn Zeit spielt für sie jetzt keine Rolle mehr.

Das Schwein zerrt an seiner Maske, als wolle er sie abnehmen. Doch dann scheint er sich eines Besseren zu besinnen. »Warum zum Teufel hast du sie erwürgt? Du Trottel. Das wird auf uns alle zurückfallen. Meine Frau wird von der Sache erfahren, und wir werden wegen Beihilfe zum Mord im Knast landen. Du bist ein brutaler Mistkerl, Himmel noch mal! Wir sind alle erledigt.« In seiner Stimme schwingen hörbar Wut und Angst mit.

»Kannst du mal aufhören, in Panik zu geraten?«, fährt der Hahn das Schwein an. Er wendet sich dem Wolf zu. »Wir können sie hier nicht einfach liegen lassen, oder? Wir sollten versuchen herauszufinden, wer sie ist.« Er greift nach der Handtasche des Mädchens, stellt sie auf seiner fetten Wampe ab und beginnt darin herumzuwühlen. Sichtlich aufgeregt, leert er ihren Inhalt schließlich auf dem Couchtisch der exklusiven Wohnung aus und geht ihn rasch durch. Schmerztabletten. Handy. Lippenstift. Gleitmittel. Kondome. Ein Tampon. Portemonnaie.

Der Wolf nimmt etwas in die Hand, das wie ein Personalausweis aussieht, sich aber nur als Fahrausweis der Londoner Verkehrsbetriebe entpuppt. »Gefälscht«, sagt er. Er hält die Karte mit dem Lichtbild hoch und vergleicht das lächelnde Mädchen auf dem Foto mit dem schmerzverzerrten Totenantlitz der minderjährigen Prostituierten. »Emma Davies? Ganz bestimmt nicht! Die blöde kleine Schlampe kommt aus Russland. Sie ist eine von Dimitris Nutten, die er hierhergeschafft hat. Seien wir ehrlich, Jungs! Keiner wird sie vermissen.«

»Du hast sie umgebracht«, sagt das Pferd zu dem Wolf. Seine Stimme klingt nasal durch die Form seiner Maske. »Das ist dein Problem.« Er hebt die Hände und macht einen Schritt zurück. Schüttelt den Kopf. »Ich bin weg. Damit habe ich nichts zu tun. Wir wollten ein bisschen Spaß haben. Dampf ablassen. Aber das …? Da bist du auf dich allein gestellt. Ich habe Familie. Einen Ruf …«

Die Bulldogge zieht die Vorhaut wieder über sein erschlaffendes Glied und legt den Kopf schief, während er das Mädchen betrachtet. Seine Fassungslosigkeit ist an dem hohen Ton in seiner Stimme hörbar. »Die einzige Möglichkeit, die Sache aus der Welt zu schaffen, ist, sie aus der Welt zu schaffen. Du musst sie loswerden. Was wirst du mit der Leiche machen?«

Der Wolf wendet sich ihm zu. »Was ich damit machen werde? Du meinst wohl eher, was wir damit machen werden, oder? Denn wir stecken hier alle mit drin, schon vergessen?«

Während sich die anderen Männer von der Leiche und der Kamera zurückziehen und sich mit Kissen und Kleidungsstücken bedecken, die sie erst vor wenigen Minuten fröhlich abgelegt hatten, stiehlt sich der Wolf in die Küche. Mit einem Messerblock und einer Rolle schwarzer Mülltüten kehrt er zurück, setzt den Block auf dem Couchtisch ab und schiebt die Habseligkeiten des Mädchens weg, sodass sie auf den Boden fallen. Er zieht ein Fleischerbeil und ein Brotmesser heraus und starrt durch die Augenschlitze seiner Wolfsmaske auf die schimmernden Klingen, seine Erektion ist noch immer beträchtlich.

»Ich weiß ganz genau, wie ich dieses kleine Problem loswerde.«

Der Film endet.

Der Reiz, ihn in der ungestörten Atmosphäre seines Arbeitszimmers immer und immer wieder zu sehen, lässt nie nach, obwohl er weiß, dass der Film jetzt im Darknet ist und sämtliche Toms, Dicks und Harrys dieser Welt sich auch daran aufgeilen können. Vorausgesetzt, sie schaffen es, hinter die Paywall zu kommen. Während er sich langsam selbst befriedigt und mit der freien Hand nach der Tischplatte seines Schreibtischs aus Palisander greift, geht ihm durch den Kopf, dass dieser Film ihn zu einer Art Berühmtheit macht. Auf jeden Fall fühlt er sich immer wie ein Star, wenn der Film über den Bildschirm seines Notebooks flimmert. Er ist der Wolf. Alle anderen in diesem Drama sind Nebenfiguren. Er ist der König in dieser perfekten Welt in einem Penthouse in West London.

Das Filmmaterial endet mit einem Standbild, das eine hochgehaltene Hand in Nahaufnahme zeigt. Seine Hand. Er hatte sich Stans Kameramann zugewandt und ihm erklärt, dass er das Gerät ausschalten und den Film vernichten solle. Was der geldgeile Schwachkopf aber nicht gemacht hatte. Stattdessen hatte er das Material auf Stans Vorschlag hin hochgeladen und ins Netz gestellt, um Geld in die Kasse zu bringen. Stan wollte auf diese Weise den durch den Tod seiner Hure bedingten Einkommensentfall ausgleichen. Zuerst hatte der Wolf das Gefühl gehabt, als würde der Himmel gleich über ihm zusammenbrechen. Aber er ist nicht über ihm zusammengebrochen. Er hat von den Behörden und diesem Dreckskerl, Stan, nichts zu befürchten. Mittlerweile ist etwas Zeit vergangen, und noch immer weiß niemand, wer hinter dem Tod dieses mysteriösen Mädchens steckte, das, zusammen mit vergammeltem Fleisch, im Abfallbehälter eines Metzgers aufgetaucht war, in Stücke zerlegt und in Müllbeutel verpackt. Eine kaputte russische Puppe.

Er säubert sich und bereitet sich auf einen weiteren Tag als Mann mit untadeligem Ruf vor. Er ist ein ehrenwertes, vertrauenswürdiges und beliebtes Mitglied der Gesellschaft, so wie sein Vater es war. Keiner weiß von seiner Hauptrolle als der Wolf. Dieses Wissen wird ein Geheimnis bleiben, das alle Beteiligten mit ins Grab nehmen werden. Da ist er sich sicher. Er wird in den auf Film festgehaltenen flüchtigen Minuten für immer und ewig ein Abgesandter Gottes auf Erden sein, der nach Lust und Laune Urteile fällt und über Tod oder Leben entscheidet.

Er macht den Hosenschlitz zu, wäscht sich die Hände und prüft sein Spiegelbild. Alles ist still, bis auf seine Schritte und die beharrliche Stimme in seinem Kopf, die nicht einmal der Film übertönen kann:

»Nein, danke. Du bist nicht das, wonach ich suche.«

In einer ohrenbetäubenden Schleifeertönt ihre Stimme. Sie hat ihn damals in aller Öffentlichkeit abgewiesen und gedemütigt. Aber das ist nichts im Vergleich zu der ungeheuerlichen Lüge, die sie seit mehr als zehn Jahren erzählt. Die Frau, die er vor seinem geistigen Auge sieht, hat einen ungeheuerlichen Verrat begangen. Sie hat ihm etwas gestohlen, auf die schlimmste vorstellbare Weise. Doch seine Rache wird kommen.

Der Wolf beobachtet sie. Er ist hungrig. Und wartet.

KAPITEL 1Bev

»Zur Hölle mit Doctor Mo und seinem dämlichen Gruppentherapiegewäsch«, sagte sie und genoss den Anblick des Objekts ihrer Begierde. Endorphine schossen durch ihr Blut. Der Rausch einer Eroberung war immer eine Droge, die ihr schlechtes Gewissen betäubte, das ihr beharrlich zu verstehen gab, dass sie dabei war, ihren Schnellzug zurück in eine lebenswerte Zukunft zum Entgleisen zu bringen. Sie sah kurz auf die mit edwardianischen Reihenhäusern gesäumte Straße und fuhr über eine Bodenschwelle, sodass der Wagen schwankte und ihre Zähne aufeinanderschlugen. Okay, vielleicht war sie etwas zu schnell unterwegs. Ihr Blick wanderte zurück zu ihrer Beute. »O Mama. Ich kann es kaum erwarten, dich zu Hause auszupack …«

Als das Allradfahrzeug in sie hineinkrachte, schlingerte Beverley Saunders’ kleiner VW Polo so weit nach rechts, dass er den Audi, der auf der gegenüberliegenden Straßenseite parkte, nur um wenige Zentimeter verfehlte. Ihr Airbag öffnete sich.

»Herrgof pft.« Ein erstickter Aufschrei war alles, was sie herausbringen konnte, ehe das Aufprallkissen wieder in sich zusammenfiel. Ihre zitternden Hände umklammerten das Lenkrad derart fest, dass die Knöchel weiß hervortraten. Fassungslos starrte sie den Airbag an, der mittlerweile wie ein übergroßes gebrauchtes Kondom aussah. »Welcher Volltrottel …?«

Adrenalin rauschte durch ihren Körper. Sie zog die Handbremse an, schaltete das Warnblinklicht ein und stieg aus dem Wagen. Aus einem Range Rover blickte eine Frau auf sie herab. Mit offenem Mund starrte sie auf Bev, als könnte sie nicht so recht glauben, was gerade geschehen war.

Bev begutachtete den Schaden, den ihr geliebter kleiner VW durch die unnachgiebige Masse des aufgemotzten Hausfrauenschlittens in dieser überteuerten Ecke von Cheshire davongetragen hatte. Wütend marschierte sie zur Fahrerseite des Allradfahrzeugs und erwartete, auf eine abgehalfterte, in Seifenopern spielende Schauspielerin oder auf die Frau eines Fußballers zu treffen.

»Steigen Sie aus Ihrer verdammten Karre aus!«, schrie Bev.

Die Hand der Fahrerin schnellte zum Mund, doch sie rührte sich sonst nicht.

Sie schien kein Promi zu sein, aber Bev kannte den Typ Frau sehr gut. Hoch angesetzter blonder Pferdeschwanz. Perlenohrringe. Eine teuer aussehende Pelzweste, die die spindeldürren Arme der Trägerin zur Geltung brachte, und ein grässlicher braungrauer Seidenschal, der perfekt mit den Farben harmonierte, in denen die Türen und Fensterrahmen der umliegenden Häuser gestrichen waren. An den knochigen Fingern steckten Ringe mit fetten Steinen, die den Haushalt eines Entwicklungslands hätten finanzieren können. So viel konnte Bev durch die Scheibe erkennen.

»Ich rede mit Ihnen, Sie blöde Kuh!«

Bev betrachtete die eingedrückte Fahrerseite ihres Autos und bemerkte, dass der Reifen in einem Winkel nach innen zeigte, der nichts Gutes verhieß. Ihr schlechtes Gewissen meldete sich, denn dieser karmische Unfall schien die Bestrafung dafür zu sein, dass sie schwach geworden war. Trotzdem entschuldigte dies nicht das Verhalten dieser dummen Ziege. Bev klopfte auf die Motorhaube des Range Rovers.

»Sie haben meinen Wagen zu Schrott gefahren!«

Zu beiden Seiten der Straße wurden Fensterläden aufgerissen. Putzfrauen und Kindermädchen spähten hinaus und fällten zweifellos ihr moralisches Urteil, während Bev fluchte und die Blondine schließlich ausstieg. Sie nestelte nervös an den Bändern ihrer Weste herum.

»Das tut mir schrecklich leid. Mein Fuß ist vom Pedal abgerutscht und das Auto einfach nach vorne geschossen.« Die Blondine blickte bedauernd hinter sich auf das Vorfahrtzeichen in der Straße.

»Sie sind nicht verletzt, nehme ich an«, sagte Bev und beäugte den blütenweißen Overfinch Range Rover, der keine einzige Delle aufwies. Klar. Nur der Polo sah aus, als hätte er mit Godzilla gekämpft. »Ihre Kontaktdaten!«, blaffte sie die Frau an. Mit wild pochendem Herzen hielt sie ihr einen braunen Umschlag hin, in dem sie vor Kurzem ein grässliches Schreiben der Steuerbehörde erhalten hatte, und einen Bleistift, den sie von IKEA hatte mitgehen lassen. »Wir werden die Polizei rufen müssen, um eine Schadensnummer zu bekommen, denke ich, aber zuerst tauschen wir die Kontaktdaten aus.«

»Ja. Natürlich.« Aufgeregt suchte die Frau nach etwas, worauf sie sich aufstützen konnte. Sie entschied sich für die Motorhaube ihres Wagens. »Angela Fitzwilliam«, schrieb sie mit zitternder Hand.

Der Unfall drohte Bev endgültig in einen Abgrund zu reißen, an dessen Rand sie sich kaum noch hatte festhalten können, geschweige denn, ihn erklimmen. Sie wollte gerade eine weitere Tirade von Kraftausdrücken auf die Frau niedergehen lassen, als ihr schlechtes Gewissen wieder aufflackerte, heller und andauernder dieses Mal, wie ein Suchscheinwerfer, der ihre Unzulänglichkeiten beleuchtete. Insgeheim gestand sie sich ein, dass sie eigentlich auch nicht richtig aufgepasst hatte, weil sie zu sehr damit beschäftigt gewesen war, auf das äußerst seltene, funkelnagelneue Origami-Set zu starren, das sie dem alten Kerl in Rusholme abgekauft hatte. In einem Augenblick von eBay-Wahnsinn hatte sie genau dem Zwang nachgegeben, dem zu widerstehen sie geschworen hatte. Dr. Mo würde sie daran erinnern, dass sie auf ihrem persönlichen Schlangen-und-Leitern-Spiel des Lebens vier Schritte zurück gemacht hätte und eine weitere verdammte Schlange zurückgleiten würde, wo sie doch schon gehofft hatte, die nächste Leiter zu erklimmen. Aber das müsste der selbsternannte Retter der Zwangsneurotiker und gewohnheitsmäßig Gestörten erst einmal herausfinden.

Möglich, dass ihr auch Unaufmerksamkeit vorzuwerfen war. Doch diese Frau sah stinkreich aus. Sie konnte es sich bestimmt leisten, ihren Schadenfreiheitsrabatt zu verlieren und den Selbstbehalt zu bezahlen. Anders als Bev, auf die ein Stapel ungeöffneter Rechnungen in ihrer Bruchbude wartete. Von dem Steuerbescheid ganz zu schweigen. Was soll’s.

»Also geben Sie zu, dass Sie an dem Unfall schuld sind?«

Die Frau schloss ihre großen, tief liegenden Augen und hielt ihre wunderschön manikürten Hände hoch. »O ja, natürlich.«

Ein repariertes Auto, ein oder zwei Monate wunderbare Physiotherapie, in der ein Muskelprotz sie mit warmen Ölen durchknetete – anders würde Bev an keine Massage herankommen, jetzt, da sie ständig pleite war. Ein paar Tausender als Schadenersatz würden einige dieser Schulden begleichen. Auf einmal. Bev rieb sich in Gedanken die Hände und dankte Gott für den Silberstreifen am Horizont.

Den Polo zurück zur Wohnung zu fahren stellte eine Herausforderung dar. Mit einer Geschwindigkeit von fünf Meilen pro Stunde kroch Bev die Straße entlang und studierte die Worte ein, mit denen sie ihrer Versicherungsgesellschaft den Unfall am Telefon erklären wollte: Die andere Autofahrerin hat nicht aufgepasst, wo sie hinfuhr. Mein Wagen ist hinüber. Wird die Versicherung der Unfallgegnerin mir einen Leihwagen bezahlen? Kann ich einen Alfa Romeo bekommen?

Sie schaffte es gerade noch, auf Sophies gekieste Einfahrt einzubiegen, ehe ihr Auto sein Leben aushauchte. Als sie den Range Rover erblickte, der bereits vor dem frei stehenden viktorianischen Herrenhaus parkte, zuckte sie zusammen. Ein weißer Overfinch mit schwarzen Alufelgen. Der Gedanke, sich in ihre schimmelige Souterrainwohnung zurückzuziehen, um sich mit dem seltenen verbotenen Origami-Stück zu trösten, war längst aus ihrem Kopf verschwunden.

»Das ist ja wohl nicht wahr. Was zum Teufel …?«

Die Buntglashaustür wurde aufgerissen, und Sophie tauchte im Eingang auf, ein Zahnpastalächeln auf den Lippen. Mütterlich legte sie einen Arm um die Schulter ihres weiblichen Gasts. Die Frau, die eine Pelzweste trug, tippelte auf Beinen, die so dünn waren wie die eines Rehs, scheu ein Stück weiter vor. »Bev, das ist meine Freundin, Angela Fitzwilliam. Sie ist mit einem früheren Kollegen von Tim verheiratet. Angie, das ist Beverley Saunders, meine älteste Freundin aus der Studentenzeit und eine außergewöhnliche Privatdetektivin.«

Angie Fitzwilliam schaute Bev an, als würde sie einen Geist erblicken. »Sie?«

»Wir hatten bereits das Vergnügen miteinander«, sagte Bev und verzog demonstrativ das Gesicht in Richtung ihres demolierten Wagens. »Was willst du, Sophie? Ich habe keinen fahrbaren Untersatz, dank ihr. Wie soll ich ohne eine verdammte Karre fremdgehende Mistkerle observieren? Möglicherweise habe ich nächste Woche einen Auftrag in Warrington.«

»Komm schon, Bev! Das ist kein Grund, derart unfreundlich zu sein«, erwiderte Sophie.

»O doch, ist es!«

Lernen Sie, Stresssituationen aus dem Weg zu gehen, wenn diese Sie zu überfordern drohen, hatte Dr. Mo zu ihr gesagt. Greifen Sie nicht auf schlechte Angewohnheiten zurück, um wieder die Kontrolle zu bekommen. Vergessen Sie nicht, was auf dem Spiel steht!

Sie musste weg von hier.

Bev drängte sich an den beiden Frauen vorbei und bahnte sich einen Weg durch die Kinderwagen, Kindersitze und das übrige Kinderzubehör, das in Sophies ansonsten makelloser, geräumiger viktorianischer Diele herumstand, und ging die schmale Steintreppe hinunter zu ihrer winzigen Wohnung im Keller. Sophie hatte sich dazu herabgelassen, sie ihr günstiger zu vermieten, wobei der Rabatt verschwindend gering war dafür, dass sie miteinander befreundet waren. Bev konnte den Schlüssel gar nicht schnell genug ins Schloss bekommen. Sie schlug die Tür hinter sich zu und betete, dass selbst ein Mensch, der so unbeirrbar war wie ihre älteste Freundin, begreifen würde, warum sie nicht in der Stimmung war, mit der rücksichtlosen Kuh zu plaudern, die ihren Tag ruiniert hatte.

Bev warf sich auf das Sofa, unterdrückte ein Schluchzen und begutachtete das Origami-Set. Sobald das zarte Objekt fertiggestellt wäre, käme es selbstverständlich in das Regal, in dem bereits unzählige Kraniche, Blumen und Drachen verstaubten. Das Verlangen würde zwar befriedigt sein, aber sie würde wieder einmal unter der Last der eigenen Enttäuschung in sich zusammenbrechen. Mittlerweile war sie dreißig, und die Null in dieser Zahl stand stellvertretend für die Leere in ihrem Dasein. Einem Dasein, in dem sie souverän gescheitert war und das sich in der Blüte ihres Lebens ausgesprochen zweitklassig anfühlte.

Entschlossen begann sie an dem Zellophan zu reißen.

In dem Augenblick klopfte es an der Tür, sodass sie in der Bewegung verharrte. Sophie rief von der anderen Seite der Tür etwas. Ihre Stimme klang blechern in dem Klaustrophobie auslösenden unterirdischen Raum am Ende der Treppe, der eine Art Vorraum bildete.

»Alles in Ordnung mit dir, Süße? Können wir hereinkommen?«

Bev versteckte ihre neue Errungenschaft zwischen all dem Zeug, das auf dem Couchtisch lag, und öffnete die Tür. Beide Frauen standen da und sahen aus wie ein perfektes Bild aus Harper’s Bazar.

»Was willst du?«, fragte Bev und kam sich mit einem Mal billig und gammelig vor in ihrer Jeans aus dem Supermarkt, die an den Knien durchgescheuert war, und dem am Bauch fleckigen Ruder-T-Shirt aus der Collegezeit. »Ich habe ihr bereits meine Kontaktdaten gegeben.« Sie lehnte sich gegen den Türrahmen, die Arme verschränkt, die Beine über Kreuz. »Außerdem bin ich beschäftigt.«

»Oh, hab dich nicht so! Lass uns herein!«, sagte Sophie mit einem Augenzwinkern und schob sich an Bev vorbei, als würde ihr das Haus gehören, wie es ja auch der Fall war. »Angie muss mit dir sprechen.«

»Nein, nein! Schon in Ordnung«, entgegnete Angie, verschränkte die Arme und drehte sich um, um zu gehen. »Vergessen wir’s.«

»Unsinn«, widersprach Sophie und zerrte ihre Freundin herein.

Die dunkle Zweizimmerwohnung fühlte sich mit drei Personen überfüllt an. Bev wartete darauf, dass das Wasser kochte, und beobachtete Angie durch die Ritze in der Tür ihrer Miniküche. Die beiden Frauen deuteten auf Bevs Origami-Sammlung, nickten und bestaunten die filigranen Kreationen. Doch Bev bekam mit, wie sie sich einen vielsagenden Blick zuwarfen und die Nasen rümpften. Sie war sich sicher, dass eine das Wort »staubig« gesagt hatte.

»Hier drinnen stinkt’s, oder?«, sagte sie und trat aus der Küche mit einem Tablett, auf dem ein Kaffeebereiter und drei Tassen standen. Sie hatte auch eine Packung Kekse mitgebracht, wobei sie wusste, dass nur sie davon essen würde. Denn Angie schien magersüchtig zu sein, nach den verräterisch dichten Härchen auf ihren Unterarmen zu urteilen, die ein typisches Anzeichen dafür waren, und Sophie nahm grundsätzlich keine Kohlenhydrate zu sich. »Das liegt daran, dass ich nicht nur Origami sammle, sondern auch schwarzen Schimmel. Tim ist nicht bereit, etwas gegen die Feuchtigkeit im Keller zu unternehmen. Du bist mit einem Mann verheiratet, der Elendsquartiere vermietet, Soph. Ha, ha.«

Dr. Mo hatte ihr gesagt, dass sie versuchen sollte, ihre Bitterkeit abzulegen, um mehr positive Energie freizusetzen, durch die sich ihr Leben verbessern würde. Aber Mo war auch nicht von ihrem Ex-Mann, Rob, verschaukelt worden, dieser Ausgeburt an Widerlichkeit. Er musste nicht darum kämpfen, über die Runden zu kommen. Er stand nicht unter Beobachtung des Jugendamts.

Ohne auf die spitze Bemerkung einzugehen, gab Sophie ihrer Freundin Angie mit einer hoheitsvollen Geste zu verstehen, sie möge auf dem Sofa Platz nehmen. Beide saßen vorsichtig auf der Kante, wie glänzende Vasen von Lalique, umgeben von Ramsch in einem Secondhandladen auf der Haupteinkaufsstraße.

Sophie wartete und nippte an ihrem schwarzen Kaffee, bis alle Augenpaare auf sie gerichtet waren. Erst dann offenbarte sie den Grund ihres Besuchs. »Angie braucht deine Hilfe. Stimmt doch, oder?«

Bev war überrascht, Tränen aus den perfekt geschminkten Augen der Fremden kullern zu sehen. Früher hätte sie sich wie eine Glucke um sie gekümmert und instinktiv gewusst, wie sie mit diesem Gefühlsausbruch umzugehen hatte. Doch ihr früheres Ich hätte sich auch nie wie eine Außenseiterin in der eigenen Wohnung gefühlt. Wer zum Teufel war diese Frau mit ihren beigen Gucci-Tretern und dem kunstvoll drapierten Seidenschal? Sie sah aus, als hätte sie gerade eine Yogastunde in einem winzigen Aschram über einem Biofleischer oder einer Vollkornbäckerei gehabt.

Bev zog ihr neues Origami-Set unter ihrer Tasse hervor, ersetzte es durch eine ungeöffnete, überfällige Gasrechnung und bot ihrer Besucherin das letzte Taschentuch aus einer Schachtel an.

»Tut mir leid«, sagte Angie. »Du kennst mich nicht einmal, und …« Sie schüttelte den Kopf.

»Jerry ist ein Tyrann«, sagte Sophie. »Angies Mann. Er wacht mit Argusaugen über das gemeinsame Bankkonto, nicht wahr, Angie? Und Angie ist sich sicher, dass er fremdgeht, wenn er in London ist. Möglicherweise auch hier.« Sophie wandte sich Bev zu, als Klatschbase so in ihrem Element, dass ihre Porzellanwangen vor Eifer glühten. Sie tätschelte Angelas Bein, als wäre sie ein Kind, das nichts weiter brauchte als den guten Rat eines Erwachsenen, der es am besten wusste. »Er ist ein Hund, und sie muss ihn einschläfern lassen.«

Angie spielte an ihren Ringen herum. »Moment mal, Soph. Das würde ich so nicht sagen …«

Doch Sophie hörte ihr nicht zu. »Jerry und Tim haben früher zusammen an der Börse gearbeitet, bei Lieberman Brothers. Die Jungs waren so eng miteinander befreundet, dass sie sich sogar eine Zweitwohnung in London geteilt haben, nicht wahr, Angie?« Sophies Augen wirkten derart glasig, als hätte sie sich gerade eine Line reingezogen, obwohl sie Drogen schon immer abgelehnt hatte. Aber diesen Gesichtsausdruck hatte sie stets drauf, wenn sie auf einer Mission war. Bereits in ihrer Studentenzeit, als sie sich eingesetzt hatte für Save the Children. Für Oxfam. Und für Antonia im Erdgeschoss, deren Vater ein mieses Schwein gewesen war. Sophie, der Gutmensch mit ihren Wohltätigkeitsveranstaltungen, ihrer Kumbaya-Positivität und ihren Flugblattaktionen, kam stets anderen zu Hilfe. Ein Tee, ein Plausch und eine feuchte Kellerwohnung. »Die beiden waren erstklassige Hochschulabsolventen, die Überflieger schlechthin, haben eine Karriere im Turbogang eingelegt und wurden die Herrscher des Universums. Sie waren ein echtes Dream-Team. Ehe dann alles …« Sie zog ihre sorgfältig gezupften Augenbrauen zusammen, als könnte sie nicht glauben, dass sich der berufliche Aufstieg dieser beiden Idioten selbst nach dem Bankencrash von 2008 noch sensationell fortgesetzt hatte. »Jerry war schon immer ein derartiges Alphatier. Ich bin nicht überrascht, dass Angie einen Schnitt machen will.«

»Was willst du, Angela?«, fragte Bev und sah, wie der Rücken ihrer Besucherin sich wie ein Zweig in einer steifen Brise bog. »Die Scheidung?«

Der Blick dieser wunderschön geschminkten Augen schoss von Sophie zu dem iPhone, das sie zwischen all den Kram auf Bevs Couchtisch gelegt hatte. Angelas Stimme war zaghaft, als sie sprach. »Ähm, ja.« Ein fleckiger Ausschlag wurde über ihrem Seidenschal sichtbar und breitete sich bis zu ihrem Kinn aus. Sie kratzte mit ihrem Daumennagel über die Kuppe ihres Zeigefingers. Kratzte und kratzte.

»Angie braucht unwiderlegbare Beweise für eine Scheidung. Du musst irgendetwas Schmutziges über Jerry ausgraben.« Sophie stieß ihre Freundin an. »Zeig ihr das Bild!«

Angie drückte Bev das Foto in die Hand. Bev starrte in das Gesicht von Jerry Fitzwilliam. Sie erkannte ihn sofort. »Der verdammte Schattenminister für Wissenschaft? Wollt ihr mich auf den Arm nehmen?« Sie begann, zu lachen. »Ich habe ihn heute Morgen im Frühstücksfernsehen gesehen. Der Star des Parlaments und die große Hoffnung von Labour? Ist er nicht auch der Abgeordnete unseres Wahlkreises?« Sie schüttelte energisch den Kopf und stellte sich vor, wie ein Furcht einflößender Schlägertyp des MI5 oder MI6 – welche Sicherheitsbehörde auch immer dafür zuständig war – ihr beim Beobachten hinterherspionierte. »Ich werde mein Teleobjektiv nicht einmal annähernd in die Richtung dieses Kerls halten. Das ist eine Nummer zu groß für mich. Ernsthaft, Angela. Ich fühle mich geschmeichelt, dass du geglaubt hast, ich könnte dir helfen. Auch Sophie, danke für dein Vertrauen. Aber ich bin eine Schmalspurexpertin für Marketing, die in letzter Zeit ein paar Aufträge als Privatdetektivin angenommen hat, weil … na ja, sagen wir mal, weil die Umstände es erforderlich gemacht haben. Eine lange Geschichte. Im Ernst, hol dir einen Profi mit einem Spesenkonto und einer Fünf-Sterne-Bewertung auf Trustpilot. Oder nimm dir einfach einen Scheidungsanwalt, wie alle anderen Menschen auch, und bring die Sache hinter dich.«

Angie griff nach ihrem Handy und sah Bev kaum an. »Ich hätte nie herkommen sollen, zumal ich dich nicht einmal bezahlen kann. Tut mir leid.«

»Was? Du kannst nicht zahlen?« Bev war mittlerweile aufgesprungen. Wen hatte Sophie da nur angeschleppt? Eine Frau mit hervorstehenden Hüftknochen, wie es gerade in Mode war, und einem prominenten Mann, die nicht genügend Grips besaß, um auf ihren eigenen pedikürten Füßen zu stehen.

Sie führte die beiden zur Wohnungstür. »Tu mir einen Gefallen, Soph! Bring mir keine potenziellen Klienten her, die auf ein Gratisgeschenk hoffen. Ich kann meine Rechnungen nicht mit Gefälligkeiten bezahlen.«

»Sie kann zahlen, Bev!« Sophie wollte sich offenbar noch nicht geschlagen geben und polterte los wie eine Sprecherin des britischen Frauenverbands. »Hör auf, so gemein zu sein! Du musst ihr helfen. Die Auswirkungen, die das auf Angies Kinder haben wird, sind einfach …«

»Würdest du bitte damit aufhören, über mich zu sprechen, als wäre ich nicht dabei?«, fiel ihr Angie ins Wort. Ein säuerlicher Ton lag plötzlich in ihrer Stimme, der die Atmosphäre im Raum zu verändern schien. »Das ist genau das, was auch Jerry immer macht. Ich bin durchaus in der Lage, deiner Freundin das alles selbst zu erklären.«

Bev spürte, wie das bei dem Unfall erlittene Schleudertrauma allmählich ihre Schultermuskeln erfasste. Sie wollte einfach nur noch allein sein. Sich zwei Schmerztabletten einwerfen und ein Nickerchen machen, ehe Molly Peters, eine zahlende Klientin, um 14 Uhr aufkreuzen und sich die Fotos ansehen würde, die Bev von ihrem Dreckskerl von Ehemann gemacht hatte. Mit seiner kessen Arbeitskollegin, Händchen haltend in Blackpool, im Starbucks-Café. Vielleicht würde der Abschleppwagen zwischendurch auftauchen, um ihr kaputtes Auto abzuholen. Mehr stand nicht auf dem Programm.

Sie hielt die Wohnungstür auf. »Hör mal, Angela! Ich mache fröhliche Schnappschüsse von knutschenden Bauarbeitern und IT-Fuzzis, die in Hotels fremdvögeln. Aber Schmutziges über eine Person auszugraben, die im Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit steht? Ganz umsonst? Da bist du auf dich allein gestellt. Tut mir leid.«

KAPITEL 2 Angie

Die durch die Fensterläden scheinende warme Sonne bedeutete, dass es ein guter Tag war, um nach einer Scheidung zu fragen. Oder? Draußen warteten die Paparazzi. Natürlich. Poppys Hautauschlag war wieder schlimmer geworden, wie nicht anders zu erwarten gewesen war. Benjy schleuderte gerade seinen angeknabberten Toast durch die Küche wie einen kaputten Bumerang und brüllte, als er ihn nicht zurückbekam. Angie hatte Wochen auf den richtigen Moment gewartet, bis Sophie ihr den Floh ins Ohr gesetzt hatte, dass sie »Argumente liefern« müsste. Heute war der erste Tag, an dem es endlich nicht mehr regnete. Das war ein Zeichen. Der Zeitpunkt war gekommen, es zu tun. Sie brauchte keine Beverley Saunders.

»Will keinen Toast!«, schrie Benjy und schlug mit der geballten Faust auf den Tisch. »Benjy will Schoki. Gib mir Schoki, Mummy!«

Verzagt betrachtete Angie das gerötete Gesicht ihres fünfjährigen Sohns. Er hatte ihre Augen. Ihre langen Gliedmaßen. Ihr platinblondes Haar. Und das Wesen seines Vaters.

»Nein, mein Schatz!« Sie hob den feuchten, zerkauten Toast vom Boden auf und hoffte, dass Jerry nicht wieder meckern würde, dass Fettflecken in das Holz eingedrungen waren. Aufgearbeitetes Parkett aus einem französischen Schloss bräuchte einen respektvollen Umgang, hatte er gesagt. Warum zum Teufel konnte sie nicht einfach eine Matte unter die Stühle der Kinder legen, wenn sie aßen? Sie hatte eingeräumt, dass sein Einwand berechtigt war, und sich entschuldigt. Jetzt steckte sie erneut in der Klemme, denn der wütende Benjy hasste die Matte, weil er sich dadurch wie ein Baby vorkam. Und der höhnische Jerry konnte nicht begreifen, warum sie es verdammt noch mal nicht schaffte, ihre Kinder richtig zu erziehen.

Sie seufzte, wusch den Lappen aus und fluchte leise, als sie feststellte, dass der Lack von ihren Nägeln abgeblättert war.

Es klingelte an der Haustür. Reporter schrien, dass sie endlich mit der Pressekonferenz beginnen wollten. Jerry ließ sie warten. Fröhlich pfeifend, trat er aus dem Bad, während er sich auf das Scheinwerferlicht und die blitzenden Kameras vorbereitete. Wenn sie jetzt schnell fragen würde, wäre er vielleicht derart beschäftigt, dass er erst am Abend über ihren Wunsch nachdenken würde. Dann hätte er genügend Zeit, ihr ruhig und in einer wohlüberlegten Weise zu antworten. Ich will die Scheidung, würde sie sagen. Es liegt nicht an dir. Es liegt an mir. Lass uns die Sache wie zwei zivilisierte, erwachsene Menschen regeln.

»Schoki! Benjy will Schoki!« Ihr Sohn warf ihr seinen Teller an den Kopf. »Bring Benjy Schoki, Schlampe!«

Poppy lachte schallend über ihren Bruder und kratzte sich immer und immer wieder die geröteten schorfigen Stellen in ihren Armbeugen. »Du bist ganz schön frech!«

Angie griff nach der Hand ihrer Tochter und dachte still darüber nach, wie Benjy sie gerade genannt hatte. »Nicht, mein Schatz!«, sagte sie zu Poppy. »Wenn du kratzt, blutet der Schorf nur. Ich werde dir nach dem Frühstück etwas Creme auftragen.«

»Das soll Gretchen machen«, erwiderte Poppy. Sie zog ihren Arm weg und begann sofort wieder, zu kratzen. »Wo ist sie?«

»Sie hat Urlaub und ist zu ihrer Familie nach Österreich gefahren. Ich werde dir die Creme auftragen.«

Schlampe. Ein gehässiges Wort, bei dem Angies Magen sich unwillkürlich zusammenzog. Benjy hatte mitbekommen, wie sein Vater es benutzt hatte. Möglicherweise hatte sie Jerry dazu getrieben, sie so zu nennen. Das war jedenfalls seine Entschuldigung gewesen. Keifende Schlampe. Frigide Schlampe. Vielleicht war sie schuld an der Situation und sollte besser dankbar für dieses wunderbare Leben sein, das er so großzügig finanzierte, und für die Kinder, die er ihr geschenkt hatte. Vielleicht sollte sie ihre Pläne, noch einmal von vorn zu beginnen, auf unbestimmte Zeit verschieben und an die Kinder denken. Sie brauchten Stabilität.

Nein.

Sie schüttelte den Kopf und erinnerte sich an Sophies ermunternde Worte: Du schaffst das, Angie! Niemand sollte hinnehmen, ein Leben lang unglücklich zu sein. Wenn du die Hoffnung auf Liebe aufgegeben hast, dann hast du sie einfach nur an der falschen Stelle gesucht. Rede mit ihm, wenn er abgelenkt und das Kindermädchen nicht da ist. Das wird schon werden. Jerry ist ein vernünftiger Kerl.

Sophie hatte recht. Denn sie hatte schließlich immer recht. Vor allem nach ein paar Gin Tonic. Und strahlte die Sonne außerdem nicht derart fröhlich durch die Fensterläden der Küche, als hätte Gott angeordnet, dass ihr neues Leben heute beginnen sollte?

»Schlampe! Schlampe! Schoki, Schlampe, Schlampe!«

»Du sollst dieses entsetzliche Wort nicht benutzen, Benjamin!«, ermahnte sie ihn und säuberte die Hände des Jungen mit einem Feuchttuch. »So etwas sagt man nicht zu einer Frau, und schon gar nicht zu Mummy, die dich sehr lieb hat. Trink bitte deine Milch!«

»Nein! Will nicht!«

Sie war sich nicht sicher, was schmerzlicher war: die Tatsache, dass ihr Sohn sie gerade geschlagen oder dass er ihre noch immer schmerzende geprellte Rippe getroffen hatte. »Oh, das ist aber gar nicht nett, Benjamin Fitzwilliam.«

»Was ist nicht nett?«

Jerry stand in der Küchentür und nestelte noch immer an seiner Krawatte herum. Er lächelte, aber seine Augenbraue war hochgezogen. Er erwartete eine Antwort.

»Ach, Schatz, Benjy ist nur albern. Ich habe dir einen Kaffee gemacht.«

Sie strich sich das Haar hinter das Ohr und trottete zur Theke.

»Angela, du gehst wieder wie ein Bauarbeiter.« Ihr Mann trat zu ihr und gab ihr einen Klaps auf den in einer Kaschmirleggings steckenden Hintern. »Ein schweres Stutenfohlen wie du sollte traben, nicht schlurfen.« Er lachte über seinen eigenen Witz. »Denk daran, dass du Poppy mit gutem Beispiel vorangehen musst.«

Schweres Stutenfohlen. Ihr Magen knurrte. Angie griff nach dem Bund ihrer Leggings der Größe 30 und stellte stillschweigend fest, dass dieser seit Kurzem enger saß. Sie würde heute nur abgekochtes Wasser mit Zitrone trinken und ins Fitnessstudio gehen, sobald die Kinder im Kindergarten waren. Selbst wenn Jerry einer Scheidung zustimmen würde, müsste sie weiterhin in Form bleiben. Sie hatte die Sticheleien ihrer alten Schulfreundinnen nicht vergessen. Damals, als Teenager, war sie tatsächlich pummelig gewesen. Angie Fettarsch hatte man sie gerufen. Oder Dickbackengesicht Bedford. Sie hatte abgenommen und die gemeinen Schulfreundinnen gegen einen Ehemann eingetauscht, der sie Fatty Fitzwilliam nannte. Doch er schwor all seinen Freunden gegenüber Stein und Bein, dass er das nur »ironisch« meinte.

Die Kinder freuten sich, ihren Vater zu sehen. Ihnen war natürlich nicht klar, dass seine spitzen Bemerkungen wie Nadelstiche in ihre sorgfältig eingecremte Haut waren. Sie streckten ihm die kleinen Arme entgegen, um hochgehoben und durch die Luft gewirbelt zu werden. Doch Daddy bereitete sich heute Morgen auf die Kameras vor und küsste sie daher nur auf die Stirn und strich ihnen durchs Haar.

»Wie findet ihr Daddys Krawatte, Kinder? Wird sie gut aussehen im Fernsehen, wenn ich über meinen neuen Vorschlag zu erneuerbaren Energien spreche?«

»Oh, Jerry, die Kinder wissen nicht, was erneuerbare Energien sind.« Ihre Chance war da. Sie wandte sich Poppy und Benjy zu und schenkte ihnen ihr wunderschönstes Lächeln, damit sie keinen Verdacht schöpften. Es war wichtig, dass sie so wenig wie möglich von den elterlichen Problemen und Konflikten wussten. Hatte sie nicht dafür gesorgt, dass sie eine traumhafte Kindheit hatten? Biokost, Designerkleidung, Musikstunden; das beste österreichische Kindermädchen, das mit Geld zu bekommen war; ein Freizeitprogramm voll aufregender und lehrreicher Aktivitäten. Der Wandel musste so behutsam wie möglich vonstattengehen. Das war das Mindeste, was sie ihnen schuldete. »Geht ein bisschen spielen, Schätzchen. Ich muss mit Daddy über ein paar langweilige Erwachsenensachen reden.«

Poppy nahm Benjy an die Hand, und sie liefen von ihrem kleinen Kindertisch ins Spielzimmer, ohne zu ahnen, was gleich passieren würde.

Angies Herz klopfte wild gegen die hervorstehenden Knochen ihres Brustkorbs. Sie tastete nach ihrer Perlenkette und versuchte, ruhig zu wirken und ihre Stimme nicht zittrig klingen zu lassen.

Jerry hatte sich an den Frühstückstisch gesetzt und ging die Nachrichten auf seinem Handy durch. Geruhsam schlürfte er seinen Kaffee, als würde die Weltpresse nicht gerade vor seiner Haustür stehen und auf ihren Lieblingsminister des Schattenkabinetts warten, der im Begriff stand, die neue Parteilinie der Opposition zu erneuerbaren Energien zu verkünden. Er hatte keine Ahnung, oder?

Sie waren endlich allein. Angie holte tief Luft und hielt den Atem an, um sich zu wappnen und das zu sagen, was sie immer und immer wieder eingeübt hatte. Zwei Jahre lang hatte sie sich verzweifelt nach diesem Augenblick gesehnt. Ihr war schwummrig vor Angst und Adrenalin. Begleitet wurde dieser giftige Cocktail allerdings auch von einem Hauch von Euphorie.

Sie stellte sich vor ihren Mann und stieß schnell die einleitenden Worte aus. »Jerry. Ich bin unglücklich.«

Er wischte weiter mit dem Daumen über das Display des verdammten iPhones. Hatte er sie überhaupt wahrgenommen?

»Hast du gehört? Ich habe gesagt, dass ich unglücklich bin.« Sie setzte sich ihm gegenüber an den Tisch, spreizte die spindeldürren Finger auf der Glasplatte und spürte, wie ihr Puls in die Höhe schnellte.

»Ja, habe ich«, erwiderte er und vermied es geflissentlich, sie anzusehen.

Sollte sie mit dem Rest herausplatzen oder auf eine Antwort warten?

Schließlich legte er sein Handy weg und stand auf. »Ich weiß, wie schwierig es für dich sein muss, mein Schatz, wenn Gretchen nicht da ist.« Seine Wangen hatten sich zwar gerötet, aber es gab noch immer kein eindeutiges Anzeichen dafür, dass er ihre Gedanken und Absichten durchschaut hatte. Jerry griff in seine Hosentasche und zog eine Rolle Zwanzigpfundscheine heraus, die von einer silbernen Klammer des Edel-Juweliers Asprey zusammengehalten wurde. Er nahm die Hälfte davon und schob ihr das Geld mit einem Augenzwinkern zu. »Hier! Gönn dir was! Geh zum Friseur, und lass dir Extensions machen. Ich mag die an dir. Oder lass dich massieren. Was immer dich aufheitert, mach es!« Er legte noch einmal ein paar Hundert Pfund obendrauf. »Ach, und deine Zähne müssten geweißt werden. Die Kronen fangen schon wieder an, sich zu verfärben.« Er rümpfte die Nase, als würde von ihrem Innern ein schlechter Geruch ausgehen. »Bewahr die Belege für mich auf!«

»Es geht nicht um Geld, Jerry. Du bist immer großzügig.« Das waren die Worte, die kleinlaut über ihre Lippen kamen. Eigentlich hatte sie ihm an den Kopf werfen wollen, dass er ein unsensibler, sie fortwährend beleidigender Mistkerl war und dass sie es satt hatte, ihn nach Geld zu fragen. Denn er war selten großzügig. Und wenn, war es stets an die Bedingung geknüpft, dass sie das Geld, das er ihr gnädigerweise gab, für ihr Erscheinungsbild ausgab. Sie war noch immer wütend darüber, dass er vor Jahren darauf bestanden hatte, das gemeinsame Konto aufzulösen, um ein neues einzurichten, nur in seinem Namen, weil sie ihm nicht hatte erklären können, warum sie beim wöchentlichen Einkauf im Supermarkt an der Kasse Geld abgehoben hatte. Ihr stank es gewaltig, dass sie in dem gemeinsamen Haushalt nichts besaß. Keines der Fahrzeuge war auf sie zugelassen, und das Haus gehörte offiziell ihm, und nur ihm. Sprich es endlich aus, verdammt noch mal. Sie holte tief Luft. »Mir ist klar geworden, dass …« Sie hatte gerade erst mit ihrer Rede begonnen, als er hinter ihren Stuhl trat und ihre Schultern derart fest massierte, dass sie den Rücken vor Unbehagen krümmte. »Oh«, sagte sie und legte ihre Hand auf seine. Am liebsten hätte sie seine Pranke weggeschoben, aber sie spürte instinktiv, dass sie das besser nicht tun sollte.

Seine klobigen Hände umfassten plötzlich ihren Hals. Seine Daumen gruben sich in ihren Nacken, während die restlichen Finger ihre Luftröhre abdrückten. Panikartig begann sie, zu strampeln, aber sie konnte nicht weglaufen. Sie spürte die Wärme seiner Wange, nahm seinen morgendlichen Atem wahr – eine Mischung aus Kaffee und Zahnpasta mit Minzgeschmack. Sein Rasierwasser verströmte einen penetranten Geruch. Er sprach mit leiser, bedrohlicher Stimme.

»Ich hoffe, dass du nicht gerade dazu ansetzen wolltest, irgendeinen Unsinn von dir zu geben, wie unglücklich du in unserer Ehe bist, Angela.« Er küsste ihr Ohr, während sie verzweifelt nach Luft rang. »Davon werde ich dich abhalten, bevor du überhaupt begonnen hast, meine Liebe. Denn diese Unterhaltung haben wir schon gehabt, nicht wahr?«

Obwohl sie langsam die Besinnung verlor, zwang sie sich zu nicken. Sie begriff, dass sie weder körperlich noch emotional stark genug war, um gegen ihn zu kämpfen, und sie betete, dass die Kinder nicht in diese albtraumhafte Szene hereinplatzten.

»Ich erkläre dir gern noch einmal, was passieren wird, wenn du je auf die Idee kommen solltest, mich zu verlassen …«

Er presste sich gegen die Rückenlehne des Stuhls. Sie wusste, dass sein Glied steif werden würde. Das dicke Bugholz bewahrte sie aber zumindest davor, dass er ihr seine Erektion in das Schulterblatt stieß. Er würde es nicht wagen, mit all den Reportern und Fotografen auf der anderen Seite der halb geöffneten Fensterläden seine übliche Nummer durchzuziehen.

Seine Hände umklammerten noch immer ihren Hals, als er, halb flüsternd, weitersprach, unangenehm nah an ihrem Ohr.

»Solltest du versuchen, mich zu verlassen, und behaupten, ich sei ein schlechter Ehemann, werde ich dafür sorgen, dass dir niemand ein Wort glaubt. Denn du bist nichts weiter als eine dumme verlogene Fotze, während ich ein demokratisch gewählter Abgeordneter des Parlaments und ein geschätztes Mitglied des Schattenkabinetts bin. Solltest du versuchen, dich von mir scheiden zu lassen, werde ich sämtliche Gründe, die du anführen wirst, widerlegen. Du wirst für immer und ewig erledigt sein und keinen müden Penny bekommen. Das ganze Geld, das in diesem Haus steckt, ist meins, und es wird meins bleiben. Ich werde dich aus dem Leben der Kinder verbannen, denn du bist nur eine fette, faule Schlampe, die auf ein Kindermädchen angewiesen ist, um ihre Blagen großzuziehen. Und der ganze Gin, den du dir am Nachmittag mit deinen nichtsnutzigen und aufgeblasenen Freundinnen reinschüttest, also, das wird für dich nicht gut aussehen, wenn ich mit meinem Anwalt darüber rede. Ganz und gar nicht!«

Der Stuhl scharrte über den Holzboden, als er ihn mit Leichtigkeit umdrehte, sodass ihr Gesicht und sein Schritt auf gleicher Höhe waren. Angie schnappte nach Luft, jetzt, da Jerry endlich ihren Hals losgelassen hatte. Sie wollte unbedingt nachschauen, ob die Kinder nichts mitbekamen, aber sie konnte ihren Blick nicht von seinen Fingern abwenden, die an dem Reißverschluss seiner Anzugshose zerrten. Sie wusste genau, was als Nächstes kam. Sein Paradestück. Die vorm Haus versammelte Presse schien überhaupt keine mäßigende Wirkung auf sein Ego zu haben.

»Nicht, Jerry! Die Kinder …«

»Mach deinen Mund auf!«

Er packte ihren Kopf mit einer Hand, während er mit der anderen sein steifes Glied aus der Hose hervorholte.

Während Angela Fitzwilliam tat, wie geheißen, zog die Sonne sich zurück. Ein düsterer Schatten breitete sich in der Küche aus, und alle Hoffnung auf einen Neubeginn war ausgelöscht.

Als Beverley Saunders wenige Stunden später in Sophies Haus an die Tür ging, konnte Angela kaum sprechen, sondern nur erstickt schluchzen.

»O mein Gott, Angie. Was ist los? Sophie ist leider nicht da.«

»Ich bin he … hergekommen, um dich zu sehen«, erwiderte sie und war kaum in der Lage, die Worte herauszubekommen.

Bev runzelte die Stirn. »Du brauchst mich nicht. Ich habe dir bereits erklärt, dass ich nicht …«

Angie unterbrach sie, indem sie ihren Seidenschal herunternahm und die neuen Blutergüsse an ihrem Hals offenbarte. Vier klar umrissene Fingerabdrücke zeichneten sich auf beiden Seiten ab.

»Ich bin dir gegenüber nicht ganz ehrlich gewesen, Bev«, sagte sie stockend und zitterte vor Kummer. »Und Sophie gegenüber auch nicht. Die Dinge stehen schlecht. Sehr schlecht. Ich habe derart Angst, dass ich es nicht mehr aushalte. Bitte, sag, dass du mir hilfst!«

KAPITEL 3 Bev

Laut der schmerzhaft hellen digitalen Anzeige, auf die Bev blinzelnd schaute, war es 11:23 Uhr. Ihr verkatertes Hirn sagte ihr jedoch, dass der Wecker ein Lügner und Betrüger sein musste. Wie konnte es nur schon so spät sein? In dem abgedunkelten Zimmer drehte sich immer noch alles leicht. Doch dann drang der schale Geruch aus dem auf dem Nachttisch stehenden Weinglas in ihre Nase, und Bev erblickte die leere Flasche Chardonnay auf der Frisierkommode, die ebenfalls als ihr Schreibtisch fungierte. Beides waren Überreste einer Nacht, in der sie nicht nur versucht hatte, den durch das Schleudertrauma verursachten stechenden Schmerz zu betäuben, sondern in der sie sich auch den Kopf darüber zerbrochen hatte, ob ihre Entscheidung richtig gewesen war, Angela Fitzwilliam zu helfen.

»Ein Minister des Kabinetts!«, hatte sie immer wieder gesagt, während Angie weinend ein Taschentuch nach dem anderen aus der Schachtel auf ihrem zugemüllten Couchtisch herausgezogen hatte. »Meine Leiche wird zerstückelt in einer dieser typischen Sporttaschen aufgefunden werden. So wie die des Spions in London.«

Angie hatte ihren Kopf geschüttelt und die Tränen weggeblinzelt. »Nein, nein, nein! Bitte, sag das nicht! Dir wird nichts passieren. Jerry ist kein Krimineller. Außerdem ist er nur im Schattenkabinett …«

Ihr zerschundener elfenhafter Körper, der auf Bevs Sofa zusammengerollt gewesen war wie ein Fötus im Mutterleib, sprach eher für das Gegenteil. Jerry Fitzwilliam war ein zu häuslicher Gewalt neigender Ehemann und ein Lügner. Wenn nicht gar Schlimmeres. Bev hatte die Gefahr in sich gespürt wie eine Grippe, die plötzlich ausbrach.

»Eins sage ich dir, Angela. Wenn er dahinterkommt, dass ich ihm auf den Fersen bin oder dass ich eine Bedrohung für ihn darstelle, wird er mir einen durchgedrehten Typen vom MI6 auf den Hals hetzen. Glaubst du etwa, Geheimagenten steigen in keine Züge ein?«

»Bitte! Ich muss von ihm weg, bevor …« Sie fasste nach ihrem mit Blutergüssen übersäten Hals. »Meine Kinder. Was ist, wenn …«

Bev hatte die Verzweiflung in Angies blutunterlaufenen Augen gesehen und dann die Angst, dass Bev es sich doch noch einmal anders überlegen könnte und sämtliche Hoffnung mit ihr verschwinden würde. Aber Angie hatte Glück, denn Bevs Geschäft als Privatdetektivin lief nicht so gut wie erwartet. Da war die vage Aussicht auf einen Verdienst besser als überhaupt kein Verdienst. »Wisch die Tränen weg!«, hatte sie gesagt. »Leg dein Make-up wieder auf! Er darf keinen Verdacht schöpfen, dass die Spielregeln sich geändert haben. Verhalte dich normal!«

»Aber ich habe ihm mehr oder weniger schon gesagt, dass ich mich scheiden lassen will.«

»Dann erklär ihm, dass du es dir anders überlegt hast!«

Angie erschrak daraufhin, und wieder stiegen ihr Tränen in die Augen.

Bev erkannte, dass sie zu schroff gewesen war, und bemühte sich um einen sanfteren Ton. »Hör zu! Ich verstehe, wie schwierig das alles für dich sein muss, aber versuch einfach, nett zu sein. Entschuldige dich, als würde dein Leben davon abhängen«, hatte sie zu Angie gesagt und ihren Arm beruhigend getätschelt. Doch ihre nervöse neue Klientin war bei der Berührung derartig zusammengezuckt, dass sie ihre Hand rasch wieder zurückgezogen hatte. »Den Rest überlass mir!«

Jetzt war Bev verkatert und starrte auf die Ausbeute des emotionalen Kampfs von gestern Abend, als sie begonnen hatte, Jerry Fitzwilliam zu googeln und ihr dabei klargeworden war, worauf sie sich da eingelassen hatte. Die Überschriften in den Zeitungen sprachen für sich:

Wunderwaffe Wasserstoff – Schattenminister für Wissenschaft verspricht saubere Autos für alle innerhalb der nächsten fünf Jahre

Schattenminister für Wissenschaft spricht sich für Förderung der medizinischen Forschung im Vereinigten Königreich aus

Fitzwilliam schenkt den Chinesen nichts im globalen Biotech-Wettrennen

Selbst die Boulevardzeitungen schienen ihn zu bewundern:

Jerry, der Unbeugsame – Schattenminister kämpft gegen die Drohung der Tories, den Wissenschaftsetat einzufrieren

Jerry Fitzwilliam konnte in den Augen der Presse anscheinend nichts falsch machen. Ob rechtes oder linkes Blatt – völlig egal. Alle standen auf diesen augenscheinlichen Mann des Volkes, der nichts weiter war als ein charmanter Redner mit der Gabe, dem Land das zu versprechen, was es am dringendsten brauchte. Eine einfache Aufgabe in einer Zeit, in der seine politische Gegnerin – die rücksichtslose, Druck ausübende Tory-Premierministerin Maddie Chandler – regelmäßig an den Pranger gestellt wurde wegen irgendeines Schlamassels mit den Chinesen und einer fehlgeschlagenen milliardenschweren Investition in eine neue bahnbrechende Technologie.

Gekleidet in Unterwäsche und einen Kimono, den Rob ihr zu einer Zeit geschenkt hatte, als er sich in ihrer zum Scheitern verurteilten Ehe noch Mühe gegeben hatte, setzte Bev sich mit einem Kaffeebecher in der Hand an ihren Frisiertisch. Sie vermied es, ihr Spiegelbild zu betrachten, weil sie nur sehen würde, dass sie zugenommen und dunkle Ringe unter den Augen hatte.

»Ich muss völlig verrückt sein«, sagte sie zu sich selbst und schaltete ihr Notebook ein. »Ich rutsche immer tiefer in dieses verdammte Loch hinein, aus dem ich eigentlich herauskommen muss.« Vor Bevs geistigem Auge tauchte das versteinerte Gesicht des Richters auf, der auf seiner Bank gethront und auf sie hinabgeblickt hatte. Mit nüchterner, kalter Stimme hatte er ihr die Bedingungen des Gerichts erläutert: erstens ein Gutachten, das ihr einen einwandfreien geistigen Gesundheitszustand bescheinigte, zweitens ein stabiles häusliches Umfeld und drittens finanzielle Eigenständigkeit. Beverley Saunders musste den Beweis erbringen, dass alle diese Voraussetzungen erfüllt waren, um das wiederzubekommen, was für sie das Kostbarste im Leben war und ihre Welt wieder in Ordnung bringen würde. Aber wurde Angela Fitzwilliam nicht gerade auf ähnliche Weise zerstört? War es richtig, eine andere Frau leiden und womöglich von ihrem Mann totschlagen zu lassen, wenn es in Bevs Macht lag, ihr zu helfen?

Sie ging auf Facebook. Nur wenige Klicks waren nötig, um Jerry Fitzwilliam zu finden, eine mühelose Angelegenheit dank seiner Freundschaft mit Sophies Mann, Tim.

»Volltreffer!«

Jerry Fitzwilliam, der sich tatsächlich als »Sprachrohr der Massen, Sozialunternehmer und Computerfreak« bezeichnete, hatte mehr als dreitausend Freunde. Sein Profilbild war weder eins dieser professionell gemachten Porträts, die Bev in den Zeitungen gesehen hatte – mit steifem Lächeln und klitzekleinen Geheimratsecken –, noch eins dieser Paparazzi-Fotos, geschossen beim Verlassen eines hochrangigen Treffens im Parlament, während er mit einer jungen Assistentin sprach, die einen eng anliegenden Rock und hochhackige Schuhe trug. Nein. Das Profilbild gehörte zu jener Art von Fotos, die Bev schon unzählige Male auf Dating-Webseiten gesehen hatte: ein übergewichtiger mittelalter Typ, der mit gespreizten Beinen, einem Drink in der Hand und einer Sonnenbrille auf der Nase an einem tropischen Strand saß, hinter sich die untergehende Sonne. Ein großspuriger Mistkerl, der versuchte, sehr viel cooler und jünger auszusehen, als er war. Keinerlei Hinweise auf Frau oder Kinder.

»Okay, Mister Ego. Dann schauen wir doch mal, wie einfach man in deine Welt hineinkommt.«

Bev erstellte ein neues Profil für sich, da sie ihr eigenes Facebook-Konto nicht benutzen konnte. Sie hatte es nach der Trennung von Rob, dem Flop, aufgegeben. Die gemeinsamen Schönwetterfreunde hatten sie aufs Abstellgleis geschoben und so die gesellschaftliche Eiszeit ausgelöst. Wie sollte sie sich nennen, als männermordender Vamp? Cat? Ja, das war gut. Cat … Sie entdeckte auf dem Regal, neben einigen vergilbenden Origami-Fröschen, ein Bild ihrer Großmutter mütterlicherseits. Nana Thomson. Okay, Cat Thomson. Das passte.

Sie wählte ein altes Foto von sich von der Festplatte ihres Notebooks und starrte wehmütig auf die herausfordernd blickende, jüngere, kaum wiederzuerkennende mondäne Bev. Genau der Typ Frau, auf den Jerry Fitzwilliam vielleicht abfuhr.

Bev schickte Freundschaftsanfragen an Hunderte von Menschen, die bereits mit dem Minister des Schattenkabinetts in Verbindung standen. Denn sie ging davon aus, dass die meisten davon eitel oder einfältig genug waren, ihre Anfrage zu akzeptieren, solange sie offensichtlich auch Kontakt zu dem übrigen Bekanntenkreis pflegte. Auf diese Weise gewann Cat Thomson innerhalb weniger Minuten genügend Freunde, um ihr Profil seriös aussehen zu lassen. Schließlich schickte Bev auch noch eine Freundschaftsanfrage an Fitzwilliam selbst und versuchte dann als Cat Thomson, Marketingleiterin bei Belfry Automotive Engineers Ltd., sich mit ihm auf LinkedIn zu verbinden. Jetzt hieß es nur noch warten.

Das rumpelnde Geräusch eines Lastwagens verkündete die Ankunft von Bevs Ersatzauto. Sie stand gerade in der Einfahrt und kratzte sich den Kopf beim Anblick der Urinflecken auf dem Fahrersitz des kackbraunen Ford Fiesta, als Sophie den Kinderwagen durch das Tor schob, Finn angeschnallt auf dem Sitz, Beatrice auf dem Mitfahrbrett.

»Tante Bev!«, schrien sie aufgeregt.

Sie kamen vom Kinderwagen los und fassten mit ihren klebrigen Händen nach ihr. Ihren verschmierten Gesichtern nach zu urteilen, waren sie völlig high von Blaubeermuffins. Bev wirbelte sie in die Luft, pustete ihnen in den Nacken, bis sie vor Vergnügen quietschten, und genoss den engen Kontakt mit diesen kleinen, bedingungslos liebenden Geschöpfen.

»Neues Auto! Neues Auto!«, rief Beatrice.

Noch ehe Bev protestieren konnte, hatte die Vorschülerin die nicht abgeschlossene hintere Autotür geöffnet. In Windeseile kletterte sie in ihren Lelli-Kelly-Schuhen über die Rückbank und auf der anderen Seite wieder hinaus, ihr kleiner Bruder, Finn, ihr dicht auf den Fersen.

»Ah, Sophie. Da bist du ja. Ich habe dich gesucht.«

Sophie riss die Augen verzückt auf und gab sich absolut begeistert. »Angie hat mir die wunderbare Neuigkeit erzählt. Gut gemacht, Bev! Du bist echt klasse!« Sie musterte den Ford Fiesta. »Dein Ersatzauto? Toll. Achtest du darauf, dass du hinter den Rhododendronbüschen parkst, Süße? Du weißt doch, wie Tim …«

Sie vollendete ihren Satz nicht, da das nicht nötig war. Ein schäbiger Mietwagen am Straßenrand würde nicht dazu beitragen, das schicke Erscheinungsbild des Hauses zu unterstreichen. Anders als sein BMW 6er und ihr Lexus, ein Hybridmodell. Bev wusste, dass Tim ihr nur deshalb die Souterrainwohnung vermietete, weil Sophie ihm in den Ohren gelegen hatte, ihrer Loser-Freundin ein Dach über dem Kopf anzubieten, das keine Kaution und keine Monatsmiete im Voraus verlangte.

Bev fuhr das Auto vom Straßenrand in die Einfahrt, außer Sichtweite der Nachbarn. Sie wusste, dass Widerspruch zwecklos war. Seufzend stieg sie aus, um mit ihrer Vermieterin über eine ernste Angelegenheit zu sprechen.

»Kannst du uns ein paar Hunderter leihen?«, fragte sie und schleppte den Kinderwagen und mehrere Einkaufstüten die steile Treppe hinauf.

Doch Sophie war damit beschäftigt, eine sich sträubende Vorschülerin und ein Kleinkind von einem Eichhörnchen wegzuzerren, das sie gerade erblickt hatten. Das Tier kletterte die Libanonzeder hinauf, deren Krone sich fächerförmig wie ein dunkelgrünes Vordach über dem viktorianischen Herrenhaus ausbreitete. »Bitte, Beatrice! Es ist Zeit fürs Mittagessen. Lass das Eichhörnchen in Ruhe und komm herein! Finn! Hör auf, Tante Bevs neues Auto mit Steinen zu bewerfen!«

Bev stellte den sperrigen Kinderwagen in der Diele ab und schleppte den Einkauf in Sophies maßgefertigte prachtvolle Einbauküche. Sie kam sich plötzlich vor wie ein unbezahltes Dienstmädchen. Für Sophies Großzügigkeit musste man immer einen Preis zahlen. Jedenfalls jetzt. Denn Bev brauchte einen Vorschuss in Form von Bargeld.

»Nur so lange, bis Angies erste Zahlung eingegangen ist«, sagte sie.

»Wie bitte?« Sophie wirkte durcheinander. Sie füllte eine frische Tüte Quinoa in eine Tupperware-Dose und räumte Mandelmilch in den Sub-Zero-Kühlschrank ein. Äußerst betriebsam, wirbelte sie herum, sodass sich eine perfekt goldene Haarsträhne aus ihrem Knoten löste und auf ihre hervorstehenden Wangenknochen herabfiel.

»Zweihundert Pfund. Ich habe Angies Fall übernommen, aber ich habe kein Geld, um mit dem Auftrag loszulegen. Komm schon, Soph! Das war deine Idee.«

Sophie strahlte sie an und richtete sich auf. Ihre katzenhafte Gestalt steckte in einer weit geschnittenen Seidenhose und einem winzigen Oberteil mit Spaghettiträgern. Sie wirkte wie aus der Lebensmittelabteilung von Selfridges, während Bev sich fühlte wie ein Sack Kartoffeln von Lidl. »Tut mir leid, meine Liebe. Ich habe keinen müden Penny mehr in der Tasche. Du musst Tim erst die Miete zahlen. Er hat mir vorhin eine SMS geschickt, um mich daran zu erinnern, dass du zwei Monate im Rückstand bist. Das ist doch kein Problem, oder?«, sagte sie und schnipste dann mit den Fingern. »Setz doch den Wasserkessel auf, ja? Ich habe einen tollen Kaffee gekauft. Mit Amarettogeschmack.«

Kaffee mit Amarettogeschmack. Das Paket kostete mindestens sechs Pfund, und Sophie hatte trotzdem keinen einzigen Penny mehr. Oh, das arme Lämmchen! Bev war indes tatsächlich pleite und versuchte, sich von ihrem absoluten Tiefpunkt nach oben zu kämpfen. Und die einzige Antwort, die sie erhielt, war eine Aufforderung, ihre Miete zu zahlen. Es war zum Kotzen. Bev kaute auf der Innenseite ihrer Wange herum und dachte über ihren neuen Job nach. Aussicht, bezahlt zu werden – niedrig. Aussicht, zerstückelt in einer Sporttasche zu enden – mittel. Aussicht, von einem rachsüchtigen Abgeordneten zu Brei geschlagen zu werden – hoch. Sie hatte kein gutes Gefühl bei dem Fall und machte sich im Geiste eine Notiz, in der nächsten Therapiesitzung darüber zu sprechen, ihren Instinkten zu vertrauen. Mal sehen, was Mo dazu sagte, dass ihre Dienste für eine Selbstverständlichkeit gehalten wurden.

Sie stapfte zurück in die düstere verschimmelte Bruchbude, die sie ihr Zuhause nannte, und wollte sich gerade schon einen schönen Nachmittag mit ein paar Filmen auf Pornhub machen, als sie sich doch noch dafür entschied, auf Facebook nachzusehen, wie ihr Alter Ego, Cat Thomson, vorangekommen war. Die Freundschaftsanfrage war noch nicht angenommen worden. War es auf LinkedIn vielleicht besser gelaufen? Sie öffnete einen neuen Tab und lud die Seite hoch.

Die Mitteilung leuchtete auf ihrem Bildschirm.

Du bist jetzt mit Jerry Fitzwilliam verbunden.

Sie war drinnen! Eine Nachricht von ihm wartete in ihrem Posteingang, und sie konnte kaum glauben, was er geschrieben hatte.