Dein letzter Tag - A. J. Rich - E-Book

Dein letzter Tag E-Book

A. J. Rich

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Beschreibung

Du denkst, du kennst deine Liebsten. Aber erst der Tod deckt alle Geheimnisse auf ...

Als Morgan ihre Wohnung betritt, merkt sie sofort, dass etwas nicht stimmt: Die Tür ist unverschlossen, der Fußboden mit roten Spuren bedeckt. Im Schlafzimmer liegt – grausam zugerichtet – die Leiche ihres Verlobten, daneben sitzen ihre Hunde, sie sind mit Blut verschmiert. Verzweifelt versucht Morgan, Bennetts Eltern ausfindig zu machen. Doch nichts, was Bennett ihr je über seine Familie, seine Arbeit, sein Leben erzählt hat, scheint zu stimmen. Stattdessen findet sie heraus, dass er zahlreiche »Verlobte« hatte, die plötzlich eine nach der anderen auf unnatürliche Weise ums Leben kommen … Ist bald auch Morgan an der Reihe?

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Seitenzahl: 390

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A. J. RICH

Dein letzter Tag

Buch

Morgan Prager studiert am College of Criminal Justice in Manhattan und schreibt an ihrer Abschlussarbeit über Opferpsychologie. Sie ist frisch verlobt, alles scheint bestens zu laufen. Bis sie eines Tages von der Uni nach Hause kommt und die grausam zugerichtete Leiche ihres Verlobten Bennett in ihrem Schlafzimmer findet – ihre Hunde sitzen blutbeschmiert neben der Leiche.

Nach Bennetts grausamem Tod stellt Morgan schockiert fest, dass ihr Verlobter nicht der Mann war, der er zu sein schien. Alles, was er ihr je über sich erzählte – über seine Familie, wo er wohnt, wo er arbeitet –, waren Lügen. Außerdem hatte Bennett zahlreiche Verlobte, die alle eine nach der anderen unter verdächtigen Umständen ums Leben kamen. Morgan muss Bennetts wahre Identität lüften, um seinem Mörder auf die Spur zu kommen, wenn sie nicht die Nächste sein will …

Autor

A.J. Rich ist das Pseudonym der beiden gefeierten US-Autorinnen Amy Hempel und Jill Cement, die für ihre schriftstellerischen Arbeiten mit zahlreichen Auszeichnungen geehrt wurden. Amy Hempel unterrichtet Kreatives Schreiben am Bennington College und an der University of Florida, sie lebt in Gainsville, Florida, und in New York. Jill Cement ist Professorin an der University of Florida und lebt ebenso wie Amy Hempel in Gainsville und New York.

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A. J. Rich

Psychothriller

Deutsch von Bernd Stratthaus

Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel »The Hand that Feeds You« bei Scribner, New York.Die Passagen aus Choderlos de Laclos’ »Gefähr­liche Liebschaften« stammen aus der von Franz Blei erstellten Übersetzung, Hyperion Verlag, München, 1909Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte dieses E-Book Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung dieses E-Books verweisen.

1. Auflage

Copyright der Originalausgabe © 2015 by Amy Hempel and Jill Ciment

All Rights reserved.

Published by arrangement with the original publisher, Scribner, a division of Simon & Schuster, Inc.

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2016 by Blanvalet in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Susann Rehlein

Umschlaggestaltung: © Johannes Wiebel | purchdesign, unter Verwendung von Motiven von Photocase.de und Shutterstock.com

WR · Herstellung: sam

Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München

ISBN 978-3-641-17000-4V001www.blanvalet-verlag.de

Im Gedenken an Katherine Russell Rich

Wer zittert nicht bei dem Gedanken an all das Unglück, das ein einziges gefähr­liches Verhältnis hervorbringen kann!

Choderlos de Laclos, Gefähr­liche Liebschaften

Stimme zu oder stimme nicht zu:

Ich möchte, dass alle glücklich sind.Ich weiß, was Leute wollen, ohne dass sie mich darum bitten müssen.Ich habe schon Blut gespendet.Ich würde eine Niere spenden, um das Leben eines engen Freundes / einer engen Freundin zu retten.Ich würde eine Niere spenden, um das Leben eines / einer Fremden zu retten.Ich wirke im Großen und Ganzen aufrichtig.Ich gebe mehr, als ich nehme.Ich werde oft ausgenutzt.Man sollte Menschen grundsätzlich vergeben.

Keine einzige dieser Fragen würde ich heute noch so beantworten, wie ich es vor einem Jahr getan habe. Dabei bin ich diejenige, die den Fragebogen entworfen hat. Indem ich herausfand, was Opfer kennzeichnet, wollte ich den Begriff des Sexualstraftäters grundlegend verändern. Der Fragebogen war Teil meiner Masterarbeit in forensischer Psychologie am John Jay College für Strafrechtspflege. Irgendeine Geistesgröße hat mal gesagt: »Die Schwelle ist der Platz der Erwartung.« Ich stand an der Schwelle all dessen, was ich mir jemals gewünscht hatte.

Nun folgt die Frage, die ich heute stellen würde:

Kann ich mir selbst vergeben?

Es begann mit einer Vorlesung zum Thema Opferkunde. Verfügen Täter und Missbrauchsopfer über charakter­liche Eigenheiten, die sich ergänzen? Als Beispiel nannte der Professor ein Syndrom, das misshandelte Frauen häufig aufweisen. Obwohl es im Diagnostischen und Statistischen Manual psychischer Störungen (DSM-5) nirgends auftaucht, findet es im Strafrecht jedoch sehr wohl Berücksichtigung. Warum ist das so? Ich glaubte, die Antwort zu kennen.

Die Erkenntnisse aus der Vorlesung hatten mich elektrisiert. Ich konnte es nicht erwarten, zurück an den Schreibtisch zu kommen. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich meine Wohnung wieder für mich alleine haben wollte, also legte ich einen Zwischenstopp bei Fortunato Brothers ein und kaufte Bennett eine Tüte Pignoli.

Meine Wohnung befand sich in der oberen Etage eines schindelgedeckten Reihenhauses in Williamsburg, Brooklyn. Ich wohnte nicht da, wo die Hipster wohnen, meine Gegend war noch ganz ursprünglich. Italienische Frauen fegten ununterbrochen die Gehwege, und pensionierte Mafiosi spielten bei Fortunato Schach. In einem Geschäft für Grabsteine eine Straße weiter konnte man auch Backwaren kaufen. Bennett nannte den Laden deshalb Backstein. Es hieß, der Mann, der das Geschäft betrieb, habe früher für einen der wichtigen Gangsterclans gearbeitet. Seine Mitarbeiter – keiner von ihnen war unter achtzig – saßen vor dem Laden auf Plastikstühlen und rauchten Zigarren. Wenn der Eismann in seinem Wagen vorbeifuhr, spielte er den Titelsong aus Der Pate. Wir pflegten zu sagen: »Das hier läuft nicht auf HBO, es ist unsere Hood.«

Eine Treppe mit achtundsechzig Stufen wand sich zu meiner Wohnungstür empor. Während ich sie erklomm, roch ich das multikulturelle Potpourri: brutzelnder Knoblauch auf der ersten Etage, gekochter Kohl auf der zweiten, dann gebratene Chorizo und schließlich meine Etage, auf der niemals irgendetwas gekocht wurde.

Die Tür stand offen. Bennett war wohl ausgegangen und hatte vergessen, das kaputte Türschloss zurechtzurütteln, worum ich ihn eigentlich gebeten hatte. Die Hunde hätten entwischen können. Ich hatte drei davon: Cloud, einen Pyrenäenberghund, den ich die Große Weiße Leinwand nannte, sowie Chester und George, zwei tapsige und an­häng­­liche Pitbullmischlinge, die ich bei mir aufgenommen hatte. Die Hunde waren der einzige Streitpunkt zwischen Bennett und mir. Er wollte, dass ich aufhörte, meine Arbeit zu vernachlässigen, indem ich alle mög­lichen Streuner rettete, doch ich vermutete, dass er nur wegen der Hundehaare auf seinen Pullovern motzte. Bennett fror ständig, selbst im Sommer. Er behauptete, am Raynaudsyndrom zu leiden. Bei dieser Krankheit ziehen sich die Venen in den Gliedmaßen so sehr zusammen, dass die Betroffenen immer kalte Hände und Füße haben. Bennett fürchtete sich vor der verschärften Form, bei der Finger und Zehen tatsächlich absterben konnten. Seine Hände fühlten sich jedoch auf meiner Haut niemals eisig an. Ganz im Gegensatz zu ihm war mir stets zu warm. Ich war die Erste, die im Frühling Sandalen anzog, ich trug niemals einen Schal, ich holte mir niemals eine Erkältung von der Klimaanlage. Und das lag nicht etwa daran, dass ich irgendwie übergewichtig gewesen wäre.

Als ich die Wohnungstür mit der Schulter aufdrückte, fielen mir die Rosenblätter auf, die auf dem Läufer im Flur verstreut waren. War das Bennett gewesen? Das kam mir so kitschig und klischeehaft vor. Schließlich sah und begriff Bennett mich auf eine Weise, wie ich es niemals zuvor erlebt hatte. Nicht nur merkte er sich alles, was ich ihm erzählte. Es schien geradezu, als wüsste er, was ich wollte, bevor ich es selbst herausgefunden hatte, sei es in Bezug auf Essen, Filme oder Musik. Natürlich erstreckte sich dieses Wissen auch bis ins Schlafzimmer.

Ich beugte mich hinab, um einige der Blütenblätter auf­zu­heben, und bemerkte, dass es nur Pfotenabdrücke waren. Also doch keine ausgelutschte romantische Geste. Was wie ein abstraktes Blumenmuster auf dem Parkettboden wirkte, führte bis ins Schlafzimmer. Waren meine Tierheimhunde, Chester und George, etwa an den Müll gelangt? Doch Hunde, die übrig gebliebene Puttanescasoße über die gesamte Wohnung verteilen, waren ein weiteres Klischee, an das ich mich zu glauben weigerte. Chester und George waren Gentlemen, auch wenn sich Bennett immer über die halb zerkauten Knochen ärgerte, die sie überall in der Wohnung hinterließen. Auch weil er ständig über Knochen und quietschendes Spielzeug stolperte, drängte er mich, für sie ein neues Zuhause zu finden oder sie eben ins Tierheim von East Harlem zurückzubringen, aus dem sie kamen. Anscheinend war nach einer Spende für eine regionale Tierrechts­organisation mein Name auf einem E-Mail-Verteiler gelandet. Seither erreichten mich fast täglich Fotos und Beschreibungen von Hunden, die nur noch wenige Stunden zu leben hatten, wenn ich mich nicht aufraffte, sie zu retten.

Auch die Pitbulls Chester und George hatten bereits auf ihre Todesspritze gewartet. Auf dem beigefügten Foto hatten sie sich aneinandergeschmiegt, und jeder der beiden hatte zum Gruß eine Pfote gehoben. Das war zu viel für mich. Ein Angestellter bestätigte mir, dass sie wirklich sanfteste Charaktere hätten. Sie hatten niemals irgendwem etwas anderes als Zuneigung entgegengebracht und wollten im Gegenzug auch nichts sonst. Ich füllte die Formulare aus, zahlte zweimal die Adoptionsgebühr, wobei ich nur vorhatte, sie in Pflege zu nehmen, und am nächsten Tag holten Cloud und ich sie mit einem Leihwagen ab.

Bennett konnte das ständige Chaos, das drei große Hunde in der kleinen Wohnung veranstalteten, kaum ertragen. Und vielleicht hatte er ja recht, und die Hunde fraßen mein gesamtes Leben auf. Waren diese Hundebefreiungen nur eine Art krankhafter Altruismus? Dies war schließlich auch der Kern meiner Forschungsarbeit: Ich wollte einen Test entwerfen, um Opfer zu identifizieren, deren Selbstlosigkeit und übertriebenes Mitgefühl so ausgeprägt waren, dass sie damit Täter anzogen.

Bennett brauchte für sein Leben Ordnung, während ich ein unaufgeräumtes, kuscheliges Durcheinander bevorzugte. Wenn er aus Montreal zu Besuch kam, hängte er seine Oxfordhemden und -hosen auf einen Bügel, während ich meine Leggings, meine vegane Lederjacke und mehrere Schichten Tops und Shirts zerknüllt auf dem Bett herumliegen ließ. Er räumte die Spülmaschine aus, die er vorher bereits eingeräumt und angeschaltet hatte, während ich mein schmutziges Geschirr einfach im Spülbecken stehen ließ. Am schwierigsten war jedoch, dass er es nicht mochte, wenn die Hunde bei uns im Bett schliefen. Er mochte die Hunde überhaupt nicht, und das spürten sie. Hunde können das. Sie gehorchten ihm, doch Bennett bellte seine Kommandos in einem Ton, der harscher als nötig war. Ich hatte ihm das mehr als einmal gesagt. Wie sollte es nur werden, wenn wir alle zusammenzogen?

Jetzt kam Cloud als Erste bei mir an. Sie nutzte ihre massige Statur, um die Jungs zur Seite zu drücken. Doch heute unterließ sie es, mich auf die überbordende Art zu begrüßen, wie sie es normalerweise tat, nämlich indem sie mir ihre Riesenpranken auf die Schultern legte. Offensichtlich war sie außer sich und ganz verängstigt. Ihre Ohren lagen am Kopf an, und sie drückte sich an meine Beine. Ihre eine Flanke sah aus, als hätte sie sich gegen eine frisch gestrichene Wand gelehnt. Doch ich hatte nicht gestrichen, und selbst wenn ich es getan hätte, hätte ich mir sicherlich nicht Rot ausgesucht.

Ich ging in die Knie und suchte nervös nach irgendwelchen Bisswunden, indem ich das nasse Fell beiseitestrich. Doch auf ihrer Haut gab es keine Wunden. Glück­licher­weise kniete ich schon, denn sonst wäre ich sicher umgekippt. Hastig fing ich an, Chester und George zu betasten, um herauszufinden, ob das Blut von ihnen stammte. Mein Herz hämmerte in der Brust, und wieder erfasste mich Schwindel. Auch an ihnen waren keine Wunden festzustellen. Ich senkte den Kopf und versuchte, meinen Atem zu beruhigen.

»Bennett?«, rief ich. Ich schob Chester von mir weg, der mir das Blut von der Hand leckte.

Ich sah, dass auch meine neue Couch voller Flecken war. Mein älterer Bruder hatte sie mir zu meinem dreißigsten Geburtstag geschenkt – ein Willkommen im Erwachsenenleben. Ich versuchte, die Hunde an einem Platz zu versammeln, doch sie wuselten um mich herum, was es mir erschwerte, mich zum Schlafzimmer vorzuarbeiten. Meine Wohnung war ein Schlauch, lang gestreckt und eng, jedes Zimmer ging vom Flur ab. Man hätte eine Kugel hindurchschießen können, ohne damit eine Wand zu treffen. Von meinem Platz aus konnte ich die untere Hälfte des Betts sehen. Ich konnte Bennetts Bein sehen.

»Was ist mit den Hunden los?«, fragte ich.

Während ich den Flur entlangging, sah ich, dass die roten Striemen an der Wand immer länger wurden, je weiter ich vorankam.

Bennett lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Fußboden des Schlafzimmers, eines seiner Beine ruhte auf dem Bett. Es dauerte einen Augenblick, bis ich sah, dass die beiden Teile nicht miteinander verbunden waren. Mein erster Gedanke war, zu verhindern, dass er an seinem eigenen Blut erstickte, doch als ich auf die Knie fiel, stellte ich fest, dass er überhaupt nicht mit dem Gesicht auf dem Boden lag. Er blickte zur Decke, wenigstens hätte er es getan, wenn er noch Augen im Schädel gehabt hätte. Für einen unlogischen Moment lang klammerte ich mich an die Hoffnung, dass das hier nicht Bennett war. Vielleicht hatte sich ein Einbrecher Zutritt verschafft, und die Hunde hatten ihn angegriffen. Selbst in meinem Zustand konnte ich sehen, dass die Leiche vor mir nicht von einem Menschen getötet worden war. Die Blutspritzer bildeten kein Gefühlsmuster. Ich hatte ausreichend forensische Erfahrung, um einordnen zu können, was ich vor mir hatte. Die Analyse von Blutspritzern gibt Aufschluss über die Art der Verletzung, die Reihenfolge, in der dem Opfer die Wunden zugefügt wurden, die Waffe, mit der die Verletzungen verursacht wurden, ob das Opfer in Bewegung war oder ruhte. Die vorliegenden Wunden waren Stich- und Bisswunden. Von Bennetts Händen war die Haut abgezogen, was passiert sein musste, als er sich gegen den Angriff wehrte. Sein rechtes Bein war in der Höhe des Knies abgetrennt. Die »Waffe« waren ein oder mehrere Tiere. Die Wundmale verliefen ungleichmäßig, nirgends waren die geraden Schnitte zu finden, wie sie etwa eine Klinge hinterlässt, und ganze Fleischstücke fehlten. Die Blutschlieren deuteten darauf hin, dass er über den Schlafzimmerboden gezerrt worden war. Rechter Fuß und rechter Unterschenkel waren wahrscheinlich nach dem Angriff aufs Bett getragen worden. Eine Blutfontäne hatte das Kopfteil des Bettes und die dahinterliegende Wand besprüht, wahrscheinlich war sie aus seiner Halsschlagader gedrungen.

Ich hörte meine Hunde hinter mir hecheln. Sie warteten auf ein Zeichen, was als Nächstes geschehen würde. Ich versuchte mein Entsetzen zu unterdrücken und redete so ruhig wie möglich mit ihnen, befahl ihnen, auf ihrem Platz zu bleiben. Plötzlich fiel mir ein neuer Geruch auf, der den nach Blut überdeckte. Er schien von mir selbst auszugehen. Ich stand langsam auf und bewegte mich wie in Zeitlupe um die Hunde herum. Cloud erhob sich und wäre mir sicher gefolgt, wenn ich ihr nicht noch einmal das Kommando gegeben hätte, Sitz zu machen. Chester und George richteten ihre gesamte Aufmerksamkeit auf mich, auch wenn sie sich keinen Zentimeter bewegten, während ich mich Schritt für Schritt in Richtung Badezimmer bewegte. Als ich es endlich erreichte, warf ich die Tür zu und stemmte mich mit dem gesamten Gewicht dagegen. Ich fürchtete, dass sie mir folgen und sich auf mich stürzen würden. Doch auf der anderen Seite vernahm ich nur ein kläg­liches Winseln.

Ich stand noch nicht unter Schock. Das würde noch früh genug folgen. Ich befand mich noch immer in diesem unbestimmten Zustand der tränenreichen Dankbarkeit dafür, überlebt zu haben. Seltsamerweise war ich zudem wie berauscht, als hätte ich gerade einen großen Preis gewonnen. Das hatte ich ja auch – mein Leben. Doch die Euphorie hielt nur ein paar Sekunden lang an. Ich zwang mich aus diesem eigenartigen Trancezustand heraus und begriff, dass ich einen Krankenwagen rufen musste. Zwar konnte er das unmöglich überlebt haben, aber was, wenn ich mich täuschte? Was, wenn er dalag und litt? Mein Handy steckte in meiner Handtasche, die ich zusammen mit den Schlüsseln auf dem Kaminsims hatte liegen lassen. Ich hörte das Geräusch knisternden und zerreißenden Papiers, und mir fiel die Kekstüte wieder ein. Ich hatte sie wohl fallen lassen, und nun machten sich die Hunde darüber her. Behutsam öffnete ich die Tür und schob mich am Schlafzimmer vorbei, um meine Handtasche zu holen. Wie lange wären sie wohl mit den Keksen beschäftigt? Ich bestand nur noch aus Adrenalin und wäre am liebsten zurückgerast; stattdessen nahm ich vorsichtig meine Handtasche, während ich die ganze Zeit die Hunde im Auge behielt. Wieder im Badezimmer, sicher hinter einer verriegelten Tür, setzte ich mich in die Badewanne, als würde mich die alte Wanne mit ihren Klauenfüßen im Ernstfall verteidigen, und wählte die Notrufnummer. Dazu brauchte ich zwei Anläufe. Als mich die Mitarbeiterin am anderen Ende nach der Art des Notfalls fragte, war ich nicht fähig zu antworten. Ich konnte noch nicht einmal schreien.

»Sind Sie in einer akuten Gefahrensituation?« Die Stimme am anderen Ende der Leitung war die einer älteren Frau.

Ich nickte heftig.

»Ich deute Ihr Schweigen als ein Ja. Können Sie mir sagen, wo Sie sind?«

»Im Bad.« Ich flüsterte meine Adresse.

»Die Polizei ist unterwegs. Ich bleibe solange am Telefon mit Ihnen. Ist jemand bei Ihnen zu Hause eingedrungen?«

Ich hörte die Hunde vor der Badezimmertür. Das Winseln von vorhin hatte sich noch verstärkt. Nun jammerten sie und kratzten an der Tür, wollten hereingelassen werden.

Ich gab keine Antwort.

»Wenn ein Eindringling in Ihrer Wohnung ist, klopfen Sie einmal mit dem Finger auf die Sprechmuschel.«

Ich klopfte dreimal.

»Sind die Eindringlinge bewaffnet? Klopfen Sie einmal.«

Ich klopfte einmal auf das Telefon.

»Mehr als eine Waffe?«

Ich klopfte erneut.

»Schusswaffen?«

Ich schüttelte den Kopf und legte das Telefon neben mich in die Wanne. Ich konnte die Mitarbeiterin noch immer hören, doch ihre Stimme war weit weg. Mein Kopfschütteln – nein, nein, nein – war so tröstlich für mich gewesen, als hätte mich jemand im Arm gewiegt.

Einer der Hunde imitierte das Jaulen der herankommenden Sirenen. Es war Cloud. Früher hatte ich immer gelacht, wenn sie in die städtische Version eines Wolfsrudels eingestimmt hatte. Als hätte die verhätschelte Cloud, deren Zähne ich jeden Abend putzte, auch nur das leiseste bisschen Bestie in sich. Jetzt versetzte mich ihr Jaulen in Angst und Schrecken.

»Die Polizei ist angekommen«, sagte die leise Stimme vom Boden der Wanne her. »Klopfen Sie einmal, wenn die Eindringlinge noch immer in der Wohnung sind.«

Die Hunde fingen an zu bellen, als sich Schritte der Wohnungstür näherten, als eine Hand die Klinke drückte. Doch anscheinend hatte ich die Tür hinter mir zugezogen.

»Polizei! Machen Sie auf!«

Ich versuchte, ihnen etwas zuzurufen, doch der einzige Laut, den ich hervorbrachte, war ein kläg­liches Stöhnen, leiser noch als die Stimme, die mich noch immer fragte, ob die Einbrecher in der Wohnung waren. Die einzige Antwort, die die Polizisten erhielten, bestand aus Gebell.

»Polizei! Machen Sie auf!«

Das Bellen ging weiter.

»Ruf Animal Control!«, hörte ich einen der Polizisten rufen.

Als Nächstes vernahm ich, wie die Tür aufgebrochen wurde, dann einen ohrenbetäubenden Schuss. Das Winseln, das darauf folgte, war so traurig, als würde ein Mensch weinen. Die beiden anderen Hunde hörten auf zu bellen.

»Guter Hund, du bist ein guter Hund«, sagte einer der Polizisten.

»Ich glaube, der hier ist tot.«

Die Schritte näherten sich vorsichtig.

»Oh Scheiße, oh Gott!«, sagte der andere.

Ich hörte, wie er würgte.

Dann flog die Badezimmertür auf, und ein junger Polizist fand mich in der Wanne kauernd vor.

Er ging neben mir in die Hocke. Ich roch den sauren Atem, der daher rührte, dass er sich gerade beinahe übergeben hatte.

»Sind Sie verletzt?«

Ich hatte die Beine unter mich gezogen, das Gesicht ge­­gen die Knie gepresst und die Hände hinter dem Kopf verschränkt.

»Ein Krankenwagen ist unterwegs. Hören Sie, wir müssen nachsehen, ob Sie irgendwo bluten.«

Er legte mir sanft die Hand auf den Rücken, und ich begann zu schreien.

»Okay, okay, niemand tut Ihnen was.«

Ich verharrte in meiner eingerollten Position. Es war dieselbe Position, die Schulkinder in einem Bombentraining einnehmen, um sich vor einer Nuklearexplosion zu schützen. Später fand ich heraus, dass eines der Symptome eines akuten Schocks steife Unbeweglichkeit ist.

»Animal Control ist hier«, rief der andere Polizist.

Der Krankenwagen musste zur selben Zeit angekommen sein, plötzlich fühlte ein Pfleger meinen Puls, während eine Krankenschwester mich auf äußere Verletzungen untersuchte. Dabei verharrte ich die ganze Zeit zusammengekauert in der Wanne.

»Ich glaube nicht, dass das Blut von ihr stammt, doch ich kann am Bauch nicht nachsehen«, erklärte die Krankenschwester. »Ich lege ihr eine Infusion. Das wird jetzt ein bisschen piksen, Liebes.«

Mit etwas, was sich wie eine Stricknadel anfühlte, stach sie mir in die linke Hand. Ich schrie so laut auf, dass die Hunde wieder zu bellen anfingen. Jetzt waren sie nur noch zu zweit.

»Wir werden Ihnen jetzt etwas geben, das Ihnen beim Entspannen hilft, damit wir Sie auf Verletzungen untersuchen können.«

Eine dunkle Hitze schoss mir in den Arm, als hätte mir jemand einen warmen Handschuh übergestreift. Dann breitete sich die Schwärze aus, bis sie groß genug war, dass ich in sie hineinklettern konnte, ein tröst­licher schwarzer Sack, in dem ich verschwinden konnte.

»Wir müssen ihr ein paar Fragen stellen. Kann sie sprechen?«, fragte einer der Polizisten.

»Sie steht unter Schock.«

»Heißen Sie Morgan Prager?«

Ich versuchte zu nicken, doch der schwarze Sack saß zu eng.

»Können Sie uns sagen, wer mit Ihnen zusammen in der Wohnung war? Wir finden bei dem Toten keinen Ausweis.«

»Versteht sie uns?«, fragte der zweite Polizist.

Ich wurde auf eine Bahre gehoben und durch meine Wohnung gerollt. Ich öffnete die Augen, als wir am Schlafzimmer vorbeikamen. Diesmal fand ich die ganze Szene eher verwirrend als Furcht einflößend. »Was ist passiert?«, fragte ich mit einer neu gewonnenen, leisen Stimme.

»Sehen Sie nicht hin«, wies mich die Krankenschwester an.

Doch ich sah hin. Niemand versorgte Bennett. »Hat er Schmerzen?«, hörte ich mich selbst fragen.

»Nein, Liebes, er hat keine Schmerzen.«

Unmittelbar bevor man mich die Treppe hinuntertrug, erblickte ich Chesters Körper auf dem Boden des Flurs. Warum hatten sie ihn erschossen? Sowohl Cloud als auch George waren jeweils in einem Käfig von Animal Control, auf dem »Gefähr­licher Hund« stand.

Die Ärzte entdeckten keine Wunden an meinem Körper, keine physische Ursache für meine starre Unbeweglichkeit, meine Stummheit, die nur manchmal von einem Schrei unterbrochen wurde, wenn sich jemand mir zu nähern versuchte. Zu meiner Sicherheit stellten sie eine Bescheinigung nach New Yorker Gesetz, Paragraf 9.27 aus: Zwangseinweisung in ein Krankenhaus aus medizinischen Gründen.

Wahr oder falsch:

Sie haben selbst ein lebensbedroh­liches Ereignis erlebt oder waren Zeuge eines solchen Ereignisses, das starke Angst, Hilflosigkeit oder Entsetzen verursacht hat.Sie durchleben dieses Ereignis in Ihren Träumen erneut.Sie durchleben dieses Ereignis im Wachzustand erneut.Sie haben Selbstmordgedanken.Sie haben Mordfantasien.Sie verstehen, dass Sie in einer psychiatrischen Klinik unter­gebracht sind.Sie wissen, warum Sie hier sind.Sie fühlen sich für das Ereignis verantwortlich.

Ich wusste, dass die Psychiaterin, die sich mir als Cilla vorgestellt hatte, es nur gut meinte und das hier die üb­lichen Fragen waren, die zur Beurteilung meines geistigen Zustandes dienen sollten, doch die Fragen, auf die ich Antworten brauchte, waren nicht darunter.

Sie musterte mich mit ruhiger Neugier. »Sie müssen jetzt nicht mit mir sprechen oder die Fragen beantworten.« Sie zog die Schreibtischschublade auf, legte den Fragebogen wieder hinein und nahm eine Packung Nikotinkaugummis heraus. »Ich bin von denen genauso abhängig wie früher von Zigaretten.« Ich schätzte sie auf Anfang fünfzig, sie hatte glatte Haare, darin eine Spange aus Schildpatt. Sie schenkte sich einen Kaffee ein und nahm eine zweite Tasse vom Buffet. »Wie trinken Sie Ihren Kaffee?« Sie holte eine Tüte Milch aus dem kleinen Kühlschrank und goss ein. »Sagen Sie stopp.«

Ich hob die Hand.

»Zucker?«

»Ist das, woran ich mich erinnere, wahr?« Seit sechs Tagen waren dies die ersten Worte, die ich hervorbrachte.

»Woran erinnern Sie sich denn?«

»Mein Verlobter ist tot. Ich habe ihn im Schlafzimmer gefunden. Meine Hunde hatten ihn angegriffen.«

Die Psychologin wartete, ob ich fortfuhr.

»Ich wusste, dass er tot ist, bevor ich den Krankenwagen gerufen habe. Ich habe mich in der Badewanne versteckt, bis Hilfe kam. Ein Polizist hat einen meiner Hunde erschossen.« Ich konnte ihr nicht in die Augen sehen. »Es ist alles meine Schuld.«

»Sie standen unter Schock, als man Sie hergebracht hat, aber Ihr Gedächtnis ist nicht in Mitleidenschaft gezogen. Konnten Sie letzte Nacht schlafen? Haben Sie etwas gegessen?«

Ich verneinte beide Fragen. Ich würde alle Fragen verneinen müssen, die etwas mit Normalität zu tun hatten. Normalität war etwas, das ich nie mehr erleben würde.

»Ich verstehe, dass Ihr Schmerz unermesslich ist, und ich kann Ihnen etwas geben, das Ihnen hilft zu schlafen. Aber ich habe keine Medizin gegen Ihr Leid. Trauer ist keine Krankheit.«

»Können Sie mir etwas gegen die Schuldgefühle geben?«

»Vielleicht fühlen Sie sich schuldig, weil Schuld sich leichter aushalten lässt als Trauer.«

»Was soll ich nur tun?«

»Sie tun doch schon etwas. Sie sprechen mit mir. Das ist der erste Schritt.«

»Sprechen ändert nichts an den Tatsachen.«

»Das stimmt, aber wir sind auch nicht hier, um die Tatsachen zu ändern.«

»Er ist tot. Was ist mit meinen Hunden?«

»Die Hunde sind Beweismittel. Sie sind in der Obhut der Gesundheitsbehörde.«

»Wird man sie umbringen?«

»Was sollte man denn Ihrer Meinung nach mit ihnen tun?«

Cloud hatte niemals irgendwem auch nur ein Härchen gekrümmt. Sie war bei mir, seit sie acht Wochen alt war. Was konnte die Pitbulls nur dazu getrieben haben? Sie hatten zwei Monate lang bei mir im Bett geschlafen. Sie hatten sogar in meinem Bett geschlafen, wenn Bennett mich besuchte. Die ersten paarmal musste ich Chester aussperren, weil er sein Revier verteidigte – genauer gesagt war ich das Revier, das er verteidigte. Vielleicht hatte Bennett ihn körperlich bedroht? Der Angriff war allumfassend. Bennett war nicht mehr zu erkennen gewesen.

»Was ist mit Bennetts Leiche passiert? Haben sich seine Eltern um das Begräbnis gekümmert?«

»Die Polizei konnte sie leider noch immer nicht ausfindig machen.«

»Er sagte mir, dass seine Eltern in einer Kleinstadt in Quebec leben.«

»War Bennett aus Quebec zu Besuch?«

»Er wohnte in Montreal.«

»Ihr Bruder hat mir erzählt, dass er Bennett niemals begegnet ist.«

»Sie haben mit Steven gesprochen?«

»Wohnt Steven nicht ganz bei Ihnen in der Nähe?«, fragte Cilla nach.

»Wir hatten so wenig gemeinsame Zeit, dass Bennett sie nur mit mir verbringen wollte.«

»Haben Sie ihn jemals in Montreal besucht?«

»Er wollte das, hat mir sogar einen Schlüssel zu seiner Wohnung gegeben. Doch letztendlich war es einfacher, wenn er mich besuchte.«

»Wie haben Sie sich kennengelernt?«

»Ich habe für meine Doktorarbeit in klinischer Psychologie recherchiert.«

Nachdem ich sechs Tage lang in unseren täg­lichen Sitzungen kein Wort gesprochen hatte, war ich jetzt noch nicht bereit, ihr zu sagen, dass ich ihn kennengelernt hatte, als ich meine Theorie zu weib­lichen Opfern männ­licher Sexualstraftäter überprüfen wollte. Ich hatte fünf Typen von Frauen definiert, die besonders gefährdet waren: die Gefallsüchtige, die Enttäuschte, die Verkorkste, das Opferlamm und die Höf­liche. Entsprechende Profile veröffentlichte ich auf verschiedenen Datingseiten. Ich entwarf auch ein Kontrollprofil – ein zurückhaltendes, ernsthaftes, mo­­ralisches Arbeitstier, das über sich selbst lachen konnte und gern Sex hatte – in anderen Worten: mich. Aus Bennetts erster E-Mail schloss ich, dass er in die Kontrollgruppe der normalen Typen gehörte. Doch anders als die anderen »normalen Typen«, deren Antworten eher wie Lebensläufe klangen, die sie an einen Headhunter wegen eines Jobs mit sechsstelligem Jahresgehalt schickten, interessierte sich Bennett für mich. Er wollte wissen, was ich für Bücher las, welche Musik ich mochte. Ich fühlte mich wie eine Betrügerin, und als unser Mailverkehr immer intensiver wurde, hatte ich keine Wahl mehr. Doch sobald ich ihm gestand, was ich online wirklich tat, war er nicht etwa böse oder verletzt, sondern fasziniert. Er stellte mir zahllose Fragen über meine Arbeit, und sein Interesse schmeichelte mir.

Seine Begeisterung für meine Ideen ging über das meiner Kommilitoninnen und Kommilitonen hinaus, einschließlich des gutaussehenden dominikanischen Polizisten, mit dem ich eine Zeitlang ausgegangen war. Man könnte beinahe sagen, dass Bennett leicht obsessive Züge entwickelte. Eines Nachmittags erwischte ich ihn dabei, wie er eine Antwortmail auf dem Hotmailaccount las, den ich für die Arbeit an meiner Studie eingerichtet hatte. Der Absender war ein Mann, bei dem ich eine vom Standard abweichende Sexualität vermutete, obwohl ich mir noch nicht sicher war, ob er ein potenzieller Straftäter war. Als ich Bennett zur Rede stellte, antwortete er: »Du hast das Postfach offen gelassen, und ich war neugierig. Mir fällt auf, dass dieser Typ von sich selbst immer in der dritten Person spricht. Ist das charakteristisch?« Mir war bis dahin nicht einmal aufgefallen, dass der betreffende Absender das tat. Einmal mehr hatte er mir geholfen. Und nun wurde mir schlagartig bewusst: Ich konnte mich bei ihm weder entschuldigen, noch konnte ich ihm danken. Ich versank erneut in Verzweiflung.

»Wann darf ich hier wieder raus?«

»Die Zwangseinweisung ist vor über drei Tagen angeordnet worden«, erklärte mir Cilla. »Im Moment ist Ihr Aufenthalt hier freiwillig.«

»Muss ich gehen?«

Mir kommt es seltsam vor, dass ich in der Psychiatrie einen erotischen Traum hatte. Vielleicht ist es aber normal.

»Sag mir, was sich für dich besser anfühlt«, hatte Bennett mich in diesem Traum aufgefordert. Dann küsste er mich auf die Lippen und zog mich so fest an den Haaren, dass es wehtat.

Ich war von mir selbst überrascht, als ich antwortete: »Meine Haare.«

Er streichelte die Innenseite meines Oberschenkels, und dann biss er mich. Wieder fragte er mich, was sich besser anfühlte.

»Der Biss.«

»Braves Mädchen«, lobte mich Bennett. Dann leckte er mir wie ein Hund über die Wange.

Er befahl mir, mich auf den Bauch zu drehen, und in meinem Traum spürte ich, wie er an zwei Stellen gleichzeitig in mich eindrang. Wie war das möglich?

»Was fühlt sich besser an?«

»Ich kann mich nicht entscheiden«, erwiderte ich, und er fuhr mit dem, was er tat, fort, als wäre er zwei Männer auf einmal.

Als ich Cilla während unserer nächsten Sitzung von dem Traum berichtete, erklärte sie mir, dass Trauer nicht selten zu sexueller Erregung führe, mein Körper sei ebenso mitgenommen wie meine Psyche. Sie wies darauf hin, dass Sex auch im Traum eine lebensbejahende Praxis war.

Bennett berührte meinen Körper stets zuerst an einer Stelle, die mich die Liebkosung fühlen ließ, als wäre sie unendlich. Der Druck war dabei niemals zurückhaltend – es war der Druck eines Bildhauers, der nassen Ton formt.

Bei unserer ersten Verabredung mieteten wir uns einfach ein Zimmer im Old Orchard Beach Inn in Old Orchard Beach, Maine.

Wir kamen überein, dass unser erstes Treffen von Angesicht zu Angesicht in der Abgeschlossenheit dieses Hotelzimmers stattfinden sollte. Obwohl ich dieser Zusammenkunft doch einen Monat lang entgegengefiebert hatte, war ich ängstlich. Wir hatten ebenfalls beschlossen, dass Bennett im Zimmer auf mich warten würde. In diesem Moment wünschte ich mir, wir hätten uns für einen öffent­lichen Ort entschieden, wo wir etwas gemeinsam hätten unternehmen können – eine Bootsfahrt, einen Spaziergang – alles, nur keinen Aufenthalt zu zweit in einem kleinen Zimmer mit einem riesigen Bett. Vor Bennett war ich nur mit unreifen Jungs zusammen gewesen. Egal in welchem Alter, Jungs waren immer scharf, lustig, schnell, gefährlich, selbstsüchtig und heiß, aber sie waren niemals selbstsicher. Kaum hatte ich die Tür geöffnet, da packte Bennett mich auch schon am Handgelenk und zog mich ins Zimmer. Ich erblickte einen Mann, der nicht im herkömm­lichen Sinne gutaussehend war. Und ich wusste sofort, dass das keine Rolle spielte. Seine Gesichtszüge waren nicht symmetrisch – einer seiner Mundwinkel hing leicht hinab. Seine Gesichtshaut war von Aknenarben übersät. Die blauen Augen mit den langen Wimpern wirkten inmitten der rauen Haut besonders klar. Doch was bei einem anderen Mann die Attraktivität beeinträchtigt hätte, trug bei ihm zu der Anziehungskraft bei, die auch der junge Tommy Lee Jones auf Frauen ausübte. Die Kraft war körperlich zu spüren. Seine Bewegungen waren lässig.

Er küsste langsam. Und er fühlte, wann es genug war.

Und wann er wieder anfangen musste.

Er legte mir die Hände ans Gesicht, während er mich küsste. Ich hielt mich an seinem Nacken fest. Frauen lernen, große Männer zu bevorzugen, doch Bennett war nicht einmal eins fünfundsiebzig groß; und ich mochte es, dass wir auf gleicher Augenhöhe waren. Ich war erleichtert, dass er kein Parfüm benutzte. Er roch wie sauberes Seewasser.

Wir ließen uns auf das Bett fallen, und er zog mich zu sich heran. Meine Schüchternheit verschwand angesichts seiner auf mich gerichteten Begierde. Ich war überhaupt nicht mehr gehemmt. Es fühlte sich fast so an, als wäre seine Selbstsicherheit auf mich übergegangen. Ich half ihm dabei, meine Bluse aufzuknöpfen. Mit einem Verschluss mussten wir uns nicht aufhalten, denn darunter trug ich nur ein seidenes Top. Das zog er mir über den Kopf. Er ließ sich damit Zeit. Er nahm meine Hand und führte sie zu seinem steifen Penis. Dann hob er meine Hand zu seinen Lippen und küsste die Innenfläche. Dabei nahm er jeden einzelnen meiner Finger nacheinander in den Mund. Er kniete sich hin und zog mich nackt aus, während er immer noch all seine Kleider trug, Jeans und ein weißes Hemd. Er rieb sein Kinn an meinem Körper und küsste die Innenseiten meiner Oberschenkel. Ich wollte ihn, doch ich hielt mich zurück und folgte seiner Choreografie. Er hatte keine Eile, also hatte ich ebenfalls keine. Auf sein Zeichen hin legte ich mich auf den Rücken, spreizte die Beine, und er steckte die Zunge in mich hinein. Keiner der Jungs hatte das jemals getan, jedenfalls nicht auf diese Weise. Die Geschwindigkeit, mit der ich zum Höhepunkt kam, war mir peinlich, bis ich sah, wie sehr sie ihn freute. Er stand auf, und nun musste ich mich hinknien. Er hatte eine abgetragene Levi’s an, die vorne geknöpft wurde. Ich öffnete sie und spürte erneut seinen Steifen. Ich lehnte mich nach vorn und berührte ihn mit meinen Brüsten.

»Komm her«, sagte er.

Er steckte einen Finger in mich und küsste meinen Hals, als er fühlte, wie bereit ich für ihn war. Dann ließ er mich noch ein paar Sekunden warten. Seine Bewegungen strahlten Autorität aus. Er wusste, dass in der Ruhe Kraft lag und Erregung in der Pause.

»Komm her«, sagte er erneut.

Meine Zimmergenossin im Bellevue Hospital war eine junge Studentin vom Sarah-Lawrence-College, die versucht hatte, sich mit Toilettenpapier zu ersticken. »Ich habe die Alkoholvorräte meines Vaters ausgetrunken und alle Pillen meiner Großmutter geschluckt, aber nichts hat geholfen«, erzählte sie mir. Unser Zimmer ähnelte einem ge­­wöhn­lichen Wohnheimzimmer, außer dass die Fenster aus Sicherheitsglas und der Badezimmerspiegel aus rostfreiem Stahl bestanden. Wenn wir die Tür abschlossen, verschaffte uns das keine Privatsphäre, denn in einem Bullauge zum Flur ging niemals das Licht aus. Meine Zimmergenossin Jody erzählte mir, dass unsere gemeinsame Psychiaterin Cilla früher Backgroundsängerin bei Lou Reed gewesen war. Jody wirkte sehr viel älter als achtzehn, und die Angewohnheit, sich dicke Lidstriche zu ziehen, machte sie nicht jünger. Das Empfangspersonal hatte sie aufgefordert, all ihre Piercings zu entfernen, sodass nun eine Reihe von winzigen Löchern ihre Unterlippe perforierte.

Cilla dagegen schminkte sich niemals, und sie sah jünger aus, als ich sie schätzte. Ihr faltenloses Gesicht war so beruhigend wie ihr wohlwollender Blick. Sie hatte sicher lange geübt, um diesen Ausdruck hinzukriegen – er war neutral und unvoreingenommen, als sähe sie einer gewöhn­lichen Patientin in die Augen und nicht einer Frau, die für den Tod ihres eigenen Verlobten verantwortlich war. Ich hatte mich an diesem Gesichtsausdruck versucht, als ich mich im Rahmen meiner Ausbildung wöchentlich mit den Internetbetrügern und Exhibitionisten im Gefängnis auf Rikers Island getroffen hatte.

ENDE DER LESEPROBE