Dein Vater hat gesessen - Lore I. Lehmann - E-Book

Dein Vater hat gesessen E-Book

Lore I. Lehmann

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Beschreibung

Nora wird kurz vor Ausbruch des zweiten Weltkriegs geboren. Die ersten fünf Geschichten erzählen von ihrem Kinderalltag während des Krieges. Von einem Bombensplitter dicht unter dem Auge, von dem Verlust der ersten Schokolade ihres Lebens, von einer überraschenden Geburtstagstorte bei Kriegsende. Sechs Episoden aus der Nachkriegszeit in Hannover zeigen eine Nora zwischen Übermut, Eigensinn und Unsicherheit. Verbotene Streifzüge in zerbombte Häuser, ein halbes Jahr im Nachkriegsengland, als Teenager mit intellektueller Attitüde im Café und schließlich gegen Ende der Schulzeit erstmals Ferien am Mittelmeer.

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Seitenzahl: 65

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Inhalt

Dein Vater hat gesessen

Sie trinkt keine Milch

Das Lied aus dem Mantel

Milch und Schokolade

Eine Blumenbinderin und ein Buchdrucker – das geht nicht

Getürmt

Ein schwieriges Kind

Operetten in Otter

Kämpfe

Guter Vorsatz – für die Pfeife?

Pins Parasols

Nachwort

Kurzbiographie

DEIN VATER HAT GESESSEN!

„Dein Vater hat gesessen!“, sagte Ursel triumphierend zu Nora. „Mein Vater hat das rausgefunden.“

„Wie – gesessen?“ fragte Nora verständnislos.

„Na, Mensch – im Gefängnis natürlich!“ Sie waren beide sechs Jahre alt und wussten, ins Gefängnis kamen Diebe und Mörder.

Die kleine Nora antwortete zwar „Quatsch, du spinnst ja!“, aber sie war erschrocken und sich ihrer Sache keineswegs sicher.

Ihre Eltern unterhielten sich manchmal so rätselhaft, dass sie einfach nichts verstehen konnte. Sie fühlte immer wieder, dass es Geheimnisse gab, aber etwas Schlimmes konnte es doch bestimmt nicht sein. Und solange sie zurückdenken konnte, war ihr Vater meistens bei ihnen gewesen, also nicht in einem Gefängnis. Sogar aus ihrer Babyzeit gab es Fotos mit ihm.

Ursel wohnte mit ihrer Familie in der Wohnung über ihnen. Die beiden Mädchen waren keine guten Freundinnen, aber sie spielten sehr häufig miteinander. Zwischen den beiden Familien gab es nur wenige Kontakte. Sie hatten die einzigen Autos in der Straße, doch irgendwie war das Auto der Rinks nicht anständig und das von Noras eigener Familie war anständig. Herr Rink war ein Schieber auf dem Schwarzmarkt, so hieß es, das war nicht anständig, und Noras Vater hatte eine Zeitung, das war ein anständiger Beruf. Aber wenn er doch vielleicht wirklich mal im Gefängnis gewesen war?

Ursel erzählte bald auch den Spielgefährten in der Straße, dass Noras Vater früher gesessen hatte. Nora konnte immer nur hilflos antworten: „Nein, das stimmt überhaupt gar nicht!“ Sie brauchte jetzt Hilfe von ihren Eltern. Ihren Vater konnte Nora auf keinen Fall dazu befragen. Der sprach nie über persönliche Dinge und wäre bestimmt sehr ungehalten geworden. Aber ihre Mutter hatte selbst schon eine süffisante Stichelei von Frau Rink gehört und erahnte Noras Nöte. Sie erklärte ihr, dass bis vor einem Jahr, also bis Ende des Krieges, ganz böse Menschen, die Nazis, über alles bestimmen konnten und ungeheuer viele Menschen getötet hätten. Ihr Vati hätte das schon im Voraus erkannt und so lange gegen diese Bösen geschrieben und geredet, bis sie ihn schließlich viele Jahre lang eingesperrt und gequält hätten. Er war also kein Verbrecher gewesen, sondern ein mutiger Held! Sie solle auf ihn stolz sein.

Nora hatte ihren Vater sehr gern und versuchte nun, stolz auf ihn zu sein. Aber die anderen Kinder verstanden die Erklärung der Mutter nicht. Sie meinten weiterhin: wenn die Nazis jemanden eingesperrt hatten, dann war auch etwas dran gewesen. Irgendetwas Schlechtes musste er vorher getan haben.

Dagegen konnte man nichts machen. Sie musste einfach damit leben. Aber bald wurde über die Nazi-Zeit sowieso überhaupt nicht mehr gesprochen.

Doch als sie etwa 16 Jahre alt war, wurden Ereignisse aus jener fernen Zeit plötzlich zu einem großen Thema zwischen ihr und ihrer Mutter.

Noras ganze Kindheit hindurch hatte die Mutter immer wieder mit Nachdruck darauf hingewiesen, wie sehr ihre Tochter doch in fast allem dem Vaterähnlich war, auch äußerlich. Nun war es aber so, dass die Mutter sehr gut aussah, der Vater jedoch nicht. Nora konnte diese Vergleiche immer schlechter vertragen. „Hör endlich damit auf!“ fuhr sie eines Tages ihre Mutter an. „Ich weiß, dass ich nicht so toll bin wie du. Du brauchst es nicht dauernd zu betonen!“ Ihre Mutter fühlte sich gekränkt und missverstanden. Nachdem sie sich ein wenig erholt hatte, erzählte sie ihrer Tochter zum ersten Mal ausführlich die Geschichte der Beziehung zwischen ihr und ihrem Mann, die lange vor Noras Geburt begonnen hatte.

Ingeborg und Fritz hatten sich Ende der zwanziger Jahre kennengelernt. Er war ein in manchen Kreisen sehr bekannter pazifistischer Publizist in mittleren Jahren. Ingeborg war zwanzig Jahre jünger. Sie hatte ihn von ferne verehrt und schaffte es schließlich, seine Sekretärin zu werden. Sie war temperamentvoll und sehr emotional, er eher nüchtern, wortkarg und spröde. Aber manchmal ziehen sich Gegensätze wohl tatsächlich an: zwischen beiden entwickelte sich ganz, ganz langsam eine große Liebe. Eine weitgehend geheim gehaltene Liebe.

Beide waren sich einig in ihrer Ablehnung des Nationalsozialismus, und Ingeborg unterstützte ohne Wenn und Aber Fritz‘ Aktionen gegen die schnell stärker werdenden Nazis. Die Gefahr wurde für ihn immer größer, aber Fritz lehnte den Rat von Freunden und Mitstreitern ab, sich ins Ausland zu retten. Und so wurde er dann sofort nach der Machtergreifung der Nazis verhaftet und in eins der ersten und noch provisorischen KZs gebracht.

Hier in Oranienburg erhielt Ingeborg schließlich eine Besuchserlaubnis, weil sie sich als Fritz‘ offizielle Verlobte ausgab. Unter den Augen der Bewacher strich er über ihren gerade selbst gekauften Ring, sagte, er stehe ihr gut und sie solle ihn für immer tragen. Das war ihre eigentliche Verlobung!

In den folgenden fünfeinhalb Jahren wurde Fritz in wechselnde KZs verlegt. Ingeborg hatte bald Arbeit gefunden, konnte sich also finanziell einigermaßen über Wasser halten. Sie hatte auch Freundinnen und Freunde und Verwandte, war daher nicht immer allein. Doch wie fühlte sie sich wohl in jener Zeit? Der Mann, den sie liebte, wurde unter unmenschlichen Bedingungen gefangen gehalten, und es war kein Ende dieser Haft abzusehen. Sie konnte nicht davon ausgehen, dass sie ihn eines Tages in Freiheit wiedersehen würde. Sie wusste nicht, wie weit er litt, denn das hätte er niemals erkennen lassen. Im Übrigen wurde ihr Leben durch eine strenge Auflage der Behörden erschwert: sie durfte mit niemandem über Fritz‘ Haft sprechen.

Entmutigen ließ sich Ingeborg trotzdem nur selten. Sie machte immer wieder Eingaben bei den Behörden und stellte Anträge. Dreimal fuhr sie nach England, um sich dort zu erholen, aber vor allem, um einflussreiche Politiker dafür zu gewinnen, sich für ihren Verlobten einzusetzen. Doch Erfolge dieser Mühen waren nicht erkennbar.

Ingeborg war nun bald Ende zwanzig und fühlte sich von Männern sehr umschwärmt. Gelegentlich ließ sie sich auch mal zum Tanzen oder in eine Weinstube einladen, doch früh an solchen Abenden fing sie an, begeistert von ihrem Verlobten zu sprechen, der gerade auf Reisen wäre, und prompt endete dann der Abend harmlos.

Doch nach über vier Jahren der Einsamkeit und des Wartens auf Fritz lernte sie einen gut aussehenden und charmanten jungen Mann kennen, bei dem alles anders war. Sie verliebte sich!

Das war nun wunderbar und schrecklich zugleich. Zuerst konnte Ingeborg mit diesem Dilemma zwischen Treue und Begehren nicht umgehen. Schließlich traute sie sich doch eine enge Beziehung zu diesem Mann zu. Werner hieß er. Eine Weile ging es ihr sehr gut damit, und sie erlebte viele glückliche Momente. Da sie ihm vertraute, hatte sie ihm ein Foto ihres Verlobten gezeigt und ihm nachund nach von Fritz‘ Odyssee durch die KZs erzählt und von ihren Bemühungen um ihn. Werner zeigte sich anfangs verständnisvoll, doch zunehmend versuchte er, ihr die Aussichtslosigkeit ihres Wartens deutlich zu machen und sie zu überreden, mit ihm ein neues Leben aufzubauen und eine Familie zu gründen. Er wollte ihr die – wie er meinte – falsch verstandene und wohl längst nicht mehr mit wahrer Liebe verbundene Treueverpflichtung ausreden.

In jenen Monaten war Fritz in das neue KZ Buchenwald verlegt worden. Hier wurden alle Regeln besonders streng angewandt, es gab viele Schikanen, kaum Besuchserlaubnisse, häufig Schreibverbote. Man hörte immer wieder von plötzlichen Todesfällen. Die Unruhe unter den Angehörigen der Häftlinge wuchs. Ingeborg schmückte nun noch konsequenter an den wichtigen Feiertagen der Nationalsozialisten ihre Wohnung, hielt Bier und Zigarren bereit für den Fall einer plötzlichen Amnestie. Doch jedes Mal verstrich ein solcher Termin.