Harzfeger - Lore I. Lehmann - E-Book

Harzfeger E-Book

Lore I. Lehmann

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Beschreibung

Leben Hexen unter den Menschen? Leben Menschen unter den Hexen? Gibt es im Harz parallele Welten oder ergänzen sie sich? In dieser Geschichte über Frau Kohrs aus Bad Lauterberg und ihrer Nichte Susanne kann man endlich mehr darüber erfahren.

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Seitenzahl: 56

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Frau Kohrs war am frühen Nachmittag wieder zu Hause, nach einem nur mäßig anstrengenden Arbeitstag. Sie bereitete sich einen kräftigen Kaffee, fügte einen kleinen Schuss Cognac hinzu, und oben auf das Ganze kam ein Sahnehäubchen aus der Sprühdose. Zufrieden nahm sie sich das widerspenstige und daher unvollendet gebliebene Sudoku vom Frühstück noch einmal vor.

Kaum hatte sie eine der noch fehlenden Fünfen gefunden, klingelte es an der Tür. Missmutig zog sie ihre Hausschlappen an und öffnete die Wohnungstür. Das Gesicht des Polizisten in Uniform kannte sie, sie hatte ihn in den Straßen von Bad Lauterberg gelegentlich gesehen. Er zeigte ihr seinen Ausweis.

„Sind Sie Frau Kohrs?“

Sie nickte und zog fragend die Augenbrauen nach oben.

„Haben Sie eine Nichte?“

„Ja, sicher. Genau genommen drei. Sind aber alle ein bisschen jung für Sie!“

Etwas verlegen kam von ihm nur: „Kann ich kurz in der Wohnung mit Ihnen sprechen?“

Jetzt wurde Frau Kohrs doch mulmig zumute. Irgendetwas musste passiert sein, aber ein eindeutiges Katastrophennachrichtenüberbringergesicht hatte er nicht.

„Um welche meiner Nichten geht es überhaupt?“

„Tja, das weiß wohl noch keiner. Also: Mein Kollege aus Bad Grund hat mich angerufen. Einem Spaziergänger ist ein Mädchen, hellblond, blauäugig, so zwischen zehn und dreizehn Jahre alt, im Gelände aufgefallen, unter einem Baum. Nicht verletzt, aber etwas zerkratzt, so als wäre sie aus dem Baum ins Gebüsch gefallen.“

Ach, dachte Frau Kohrs erleichtert, irgendwo im Gelände und dann noch Baum und Gebüsch - das war jedenfalls nicht Susanne, Gott sei Dank. Also eine von den Zwillingen ihrer Schwester. Wilde Mädchen, die eine wie die andere. Elf Jahre alt und eigentlich sehr süß in ihrem Ungestüm.

„Wie heißt das Mädchen denn? Und warum wenden Sie sich an mich und nicht an die Eltern?“ fragte sie.

„Na ja, das ist es ja. Die redet nicht. Zuerst dachten die Kollegen, sie ist vielleicht taubstumm oder unter Schock, aber als die miteinander beratschlagten, ob sie jemanden vom Jugendamt benachrichtigen sollten, da konnte das Kind plötzlich doch sprechen und sagte einen Satz, nämlich, dass sie nach Bad Lauterberg zu ihrer Tante Kohrs wollte. Mehr konnten die Kollegen nicht aus ihr rauskriegen.“

Ach verflixt, dachte Frau Kohrs nun, also doch Susanne. Die Zwillinge waren elende Quasselstrippen, die keine zwei Minuten ihren Mund halten konnten.

Susanne war die Tochter ihres Bruders, und sie war so anders als ihre Cousinen, so sehr anders als überhaupt jedes Kind. Der Polizist wollte nun die Adresse der Eltern wissen, damit das Mädchen ihnen zugeführt werden könnte. Das wollte Frau Kohrs verhindern, sie wollte Susanne selbst ‚zuführen', aber die Adresse musste sie natürlich doch angeben. Der Beamte versprach, den Kollegen in Bad Grund zu bitten, noch eine halbe Stunde lang nichts zu unternehmen, bis sie selbst dort eingetroffen war.

Also nichts mit Kaffee und Sudoku. Sie zog schnell ihre Stiefeletten an, griff sich Jacke und Tasche, lief die Treppe hinunter zum Hof und stieg in ihren kleinen grünen Flitzer. In dieser Situation musste sie sich wohl um das Kind kümmern, ob sie wollte oder nicht.

Sie hatte sehr wenig Kontakt zur Familie ihres Bruders. Mit ihm kam sie so einigermaßen zurecht, aber mit ihrer Schwägerin überhaupt nicht. Sie konnten sich gegenseitig nicht ausstehen. Daher war sie selten dort zu Besuch und kannte das Kind auch nicht besonders gut. Und - ganz ehrlich gesagt - sie fand Susanne eher unangenehm und nicht sonderlich sympathisch. Jedoch rührte es sie immer wieder, anscheinend ihre Lieblingstante zu sein. Vielleicht überhaupt die Einzige, für die Susanne Zuneigung fühlte. Ach, von einem Kind geliebt zu werden, kann einen ganz schön unter Druck setzen, dachte sie, während sie auf die Bundesstraße einbog.

Frau Kohrs war eine flotte Fahrerin, und so hielt sie tatsächlich bereits nach einer halben Stunde vor dem Polizeikommissariat in Bad Grund. Als sie eintrat, erhob sich der diensthabende Beamte, und sie bemerkte sofort, sie hatte durch ihre bloße Erscheinung seine ganze Aufmerksamkeit. Sie kannte das. Sie war groß und sehr schlank - ihre rundliche Schwester nannte das sogar hager. Ihr Gesicht war schmal, vielleicht etwas knochig, ihre Nase vielleicht ein ganz klein wenig zu scharf. Ihre Augen waren groß und dunkel und sehr schön, das fand sie selbst. An ihren dunkelbraunen langen Locken gab es auch nichts zu auszusetzen. Schick war sie sowieso. Für diesen vierschrötigen Polizisten von vermutlich Ende 30 war das Alter von Mitte 40, das sich ihrem Ausweis entnehmen ließ, offensichtlich nicht unattraktiv. Wie auch immer: Sie konnte zwar keine Gedanken lesen wie ihre Schwester, aber in seinen Augen sah sie ein eindeutiges ‚Oh! Rassefrau!'

Gut so! Mit gewinnendem Lächeln nannte sie ihren Namen und fragte nach ihrer Nichte. Schlagartig veränderte sich die Szene: Der Beamte fiel geradezu in seinen Stuhl zurück, stöhnte, wies grimmig auf seine verbundene rechte Hand und presste schließlich heraus:

„Also die Tante.“ Er schüttelte den Kopf. „Das Kind ist schon bei seinen Eltern.“

„Aber ich hatte doch extra darum gebeten, auf mich….“

„Was glauben Sie wohl“, unterbrach er sie, „was hier los gewesen ist. Das war doch kein Kind, das war eine Furie. Hier!“ Er hob anklagend seine Hand. „Gebissen hat sie mich und war nicht zu bändigen! Ihre Eltern mussten sie abholen.“

Frau Kohrs konnte gar nicht fassen, was sie da hörte. Doch nicht Susanne!? Aber ihr Bruder hätte ja wohl kaum ein fremdes Kind mit nach Hause genommen.

„Ich schließe hier gleich ab, um vier ist Dienstschluss. Und dann lasse ich mir eine Spritze geben. Morgen bekommt das Jugendamt einen gepfefferten Bericht. Eine Anzeige wegen Verletzung der Aufsichtspflicht werden die Eltern wohl auch zu erwarten haben. Tut mir leid. Die werden sich noch umgucken!“

‚Waltraud Kohrs', sprach Frau Kohrs in Gedanken zu sich selbst, ‚jetzt wirst du zeigen, was du kannst. Dies hier wird ja echt ernst.'

Sie konzentrierte sich auf den Mann und seine Verletzung und zeigte ihr Mitgefühl. Sie erkundigte sich nach der Tiefe des Bisses, dem Ausmaß der Schmerzen und wollte wissen, wie er ihn zuerst versorgt hatte. Sie empfahl ihm dann eine sehr wirksame – so sagte sie – desinfizierende Salbe aus der Apotheke. Den Namen schrieb sie ihm gleich auf, obwohl er abwehrte. Ein klein wenig schien er besänftigt zu sein.

„Es tut mir so leid“, sagte sie, „als Polizist haben Sie ja sowieso einen ziemlich gefährlichen Job, und da denkt man doch nicht, dass ausgerechnet von einem kleinen Schulmädchen irgendeine Gefahr ausgehen kann.“

„Ja, und wenn Sie wüssten, was der Anlass war! Das Mädel hatte etwas unter ihrem Anorak verborgen, ich wollte sehen, was es war. Da wurde sie plötzlich ganz wild und wehrte sich, der Gegenstand fiel herunter, und als ich ihn aufheben wollte, biss sie mich, und wie! Und jetzt raten Sie mal, was das für ein Ding war!“

Auffordernd sah er Frau Kohrs an.

„Keine Ahnung. Ein Handy? Ein Nintendo?“