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Plötzlich steht Imogens Fake-Boyfriend vor ihr – Was soll da schon schiefgehen?
Imogen Finch war noch nie richtig verliebt ... obwohl ihre Mutter eine magische Matchmakerin ist und sie genau wie diese buchstäblich das rosarote Leuchten einer verliebten Person sehen kann. Damit sie nicht ständig nach ihrem nicht vorhandenen Liebesleben gefragt wird, erfindet sie kurzerhand eine Beziehung mit August Tate, einem Jungen, den sie erst einmal kurz getroffen hat und der weit genug weg wohnt, um davon nie etwas mitzubekommen. Denkt sie.
Als ihr Schwarm Ren verlassen wird und sie das aquamarineblaue Leuchten seines Liebeskummers sieht, beendet Imogen kurzerhand ihre Fake-Beziehung mit August auf Instagram in der Hoffnung, so eine Chance bei Ren zu haben. Das Letzte, womit sie rechnet, ist, dass die reale Version ihres Fake-Freundes in der Stadt auftaucht und fragt, warum sie Schluss gemacht haben. Ehe sie sich versieht, ist sie zwischen August und Ren hin- und hergerissen und verliebt sich zum ersten Mal in ihrem Leben.
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Seitenzahl: 451
Veröffentlichungsjahr: 2025
SUSAN CRISPELL
Aus dem Amerikanischen von Christiane Wagler
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© 2025 für die deutschsprachige Ausgabe
cbj Kinder- und Jugendbuch Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)
www.cbj-verlag.de
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »The Broken Hearts Club« bei Sourcebooks US
Aus dem Amerikanischen von Christiane Wagler
Lektorat: Tamara Reisinger
Umschlaggestaltung: Carolin Liepins, München
Umschlagmotive: Shutterstock.com (Carlos Amarillo, Summer loveee, Daria Kubrak, dinadankers) Innengestaltung unter Verwendung der Bilder von: © Adobe Stock (ManMuz, Jer)
FK · Herstellung: DiMo
Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München
ISBN 978-3-641-31201-5V002
Für Dad und Susan, danke, dass ihr mir gezeigt habt, dass die wahre Liebe immer einen Weg findet.
Liebesregel #21: Du musst bereit sein, einen Teil deines Herzens zu verschenken, damit dir ein anderer dafür ein Stück von seinem schenkt.
Die Liebe bringt einen dazu, lächerliche Dinge zu tun. Wie ich zum Beispiel: Heute feiere ich mein Einjähriges mit meinem Fake-Freund.
Versteht mich nicht falsch. Ich habe August nicht erfunden. Er ist ein echter Siebzehnjähriger, mit dem ich im Sommer vor fast zwei Jahren einen Nachmittag verbracht habe, während meine Mom über ihre Partnervermittlung seine Mom verkuppelt hat. Er weiß bloß nicht, dass ich mir seinen Namen und ein paar seiner charmantesten Charaktereigenschaften für den persönlichen Gebrauch ausgeliehen habe.
Ich habe keine Ahnung, ob der echte August romantisch ist. Aber der falsche August ist da nicht zu toppen. Das Überraschungsgeschenk zu unserem Jahrestag vor meiner Haustür – das August zusammen mit meiner BFF Gemma organisiert hat, falls es jemanden interessiert – wird mein Insta heute den ganzen Tag in hellem Glanz erstrahlen lassen. Es besteht aus einem Strauß Ranunkeln, deren pralle Kugeln aus zarten Blütenblattschichten einem unweigerlich ein Lächeln auf das Gesicht zaubern, und einer schwarzen Samtschachtel, in der sich eine Halskette aus Roségold mit flachem, rundem Anhänger verbirgt, auf dem vorne ein Kamerasymbol und hinten #heißgeliebt eingraviert ist, das Hashtag für unsere Beziehung. Das ist so süß, dass es selbst eine Zynikerin an die Liebe glauben lässt. Zumindest einen Augenblick lang.
Niemand wird je erfahren, dass alles ein Schwindel ist.
Nur Gemma ist eingeweiht. Eigentlich war es ihre Idee, nachdem sie ein Foto gesehen hat, das ich von ihm an dem Tag gemacht habe, an dem wir uns kennengelernt haben. August ist süß, auf so eine Emo-Art. Auf dem Bild steht er auf dem Steg hinter unserem Haus, und sein dunkelbraunes Haar ist so lang, dass es ihm über die Augen fällt. Er trägt eine Beanie, für die es an dem fast dreißig Grad heißen Tag eigentlich viel zu warm war, die er aber nicht abnehmen wollte, und ein gut sitzendes Baseball-T-Shirt, das Muskeln an seiner sonst schlanken Statur erahnen lässt. Und er lebt auf der anderen Seite des Bundesstaates in Winston-Salem, weshalb er genau der Richtige war, als ich als ewige Single-Tochter einer unfehlbaren Partnervermittlerin zu sehr unter Druck geraten bin.
Als Gemma die von mir in Szene gesetzten Geschenke begutachtet und mit einem »Völlig drüber, Mo« kommentiert, erstarre ich und glotze sie verständnislos an.
Das war die am wenigsten ausgefallene meiner Ideen. Ich hatte mit dem Gedanken gespielt, mir diesen wahnsinnig tollen Roségold-Ring mit einer Emaille-Verzierung in einem blaugrünen Farbverlauf von einer schottischen Schmuckgestalterin zu leisten (der mehr gekostet hätte, als ich in einem Monat im Restaurant von Gemmas Dads verdiene) oder die Namensrechte an einem Doppelstern zu erwerben (bis mir klar wurde, dass das eine Mega-Abzocke ist – nur die Internationale Astronomische Union darf Sternen einen Namen geben). Und ich hatte auch darüber nachgedacht, einen Fremden dafür zu bezahlen, dass er sich ein #heißgeliebt-Tattoo stechen lässt, damit ich ein Foto davon machen und so tun kann, als wäre es August. Aber das ging dann selbst mir zu weit.
»Was laberst du da? Das ist genau richtig«, widerspreche ich.
»Wenn du mit genau richtig verzweifelt meinst«, antwortet Gemma. Sie hebt die Schachtel mit der Kette von unserem »HEREINSPAZIERT«-Türvorleger hoch und ruiniert damit mein mühsames Arrangement, für das ich volle zehn Minuten gebraucht habe.
Ich nehme ihr die Schachtel aus der Hand und richte sie dann wieder so aus, dass das frühmorgendliche Licht perfekt darauffällt. Anschließend mache ich mit meiner Nikon D500 ein paar letzte Aufnahmen. Vor der ersten Stunde werde ich gerade noch Zeit haben, um die Bilder mit einem tragbaren SD-Kartenleser auf mein Handy zu übertragen und eine Story auf Insta zu posten.
»Seit einem Jahr versuche ich nun schon, alle von dieser Beziehung zu überzeugen. Da darf ich es jetzt nicht vermasseln!«
»Dann spar dir lieber die Blumen. Die sehen aus wie ein Hochzeitsstrauß. Sonst trägst du echt zu dick auf.«
»Nicht ich, Gemma. August. Außerdem sind es meine Lieblingsblumen. Da wäre es ja komisch, wenn er mir etwas anderes schenken würde.«
Sie verdreht theatralisch die Augen. Wenn sie nicht so verdammt coole Kulissen für die Theater-AG bauen würde, könnte sie glatt in jedem Stück die Hauptrolle spielen. »Also gut. Aber beeil dich. Ich brauche einen Kaffee vor dem Unterricht.«
»Den hättest du auch auf dem Weg hierher besorgen können. Bis du hier gewesen wärst, wäre ich vielleicht auch schon fertig gewesen, wenn du mich nicht mit deinem Völlig-drüber-Gequatsche abgelenkt hättest.«
Gemma stößt einen genervten Seufzer aus, schließt die Augen, als ob sie meinen Anblick nicht länger ertragen würde, und lässt dabei ihren türkis-violetten Meerjungfrau-Lidschatten aufblitzen.
Ich lache.
Sie lacht.
Wir setzen unsere Unterhaltung fort, als wäre nie eine Pause entstanden.
»Und dich um die Möglichkeit bringen, dass August dich zum Jahrestag mit einem Kaffee überrascht? Das hätte ich mich nie getraut«, meint sie.
Gemma tut so, als würde sie das ganze Trara hassen, aber ich weiß, dass sie darauf abfährt. Sie ist Single so wie ich, und diese Fake-Beziehung ist das Aufregendste, was wir beide seit Ewigkeiten erlebt haben. Doch sie weigert sich, ihr Liebesleben mit meiner Hilfe zu pushen. Obwohl ich ihr mit einem einzigen Blick verraten könnte, ob die Person, die sie gernhat, das Gleiche empfindet.
Ich grinse Gemma an und erwidere: »Ist dann jetzt keine große Überraschung mehr, oder?«
Sie zuckt die Schultern. »Tja, ist es bei deinem Freund nie. Dann passt das wenigstens.«
»Das ist hart.«
»Aber deshalb nicht weniger wahr. Und jetzt schieß los.«
Das mache ich, und während ich noch ein paar Fotos knipse, sage ich so dramatisch, wie ich kann, »Peng, peng, peng«, wenn der Auslöser klickt.
»Schlürf, schlürf, schlürf«, entgegnet Gemma.
Ich verstehe den total subtilen Hinweis und packe die Accessoires für das Jahrestag-Fotoshooting wieder in die Tragetasche, in der sie die letzten zwei Wochen verbracht haben. Meine Finger verharren auf der Halskette. Es ist mir schwergefallen, sie nicht schon früher hervorzuholen. Die Geschenke von August dienen einerseits dazu, meine Lügengeschichte aufrechtzuerhalten, andererseits sind sie wohlüberlegt, denn ich hatte ohnehin vor, sie mir zu kaufen. Aber so hat es den Vorteil, dass ich als eine Hälfte einer perfekten Beziehung dastehe.
Gemma beschleunigt meine lahmarschige Aufräumaktion, indem sie die Ranunkeln in eine Vase auf der Veranda pfeffert und sie so schwungvoll zu mir rüberschiebt, dass das Wasser darin mir vorn über das Kleid schwappt.
»Das trocknet an der Luft«, meint Gemma statt einer Entschuldigung.
»Erinnere mich daran, dass ich meinen Jahrestags-Überraschungskaffee von dir fernhalte, sonst habe ich den auch noch auf dem Latz.«
Gemma sieht mich durchdringend an und zieht warnend eine Augenbraue hoch. »Nur wenn ich wegen dir zu spät zur ersten Stunde komme.«
»Wir gehen ja schon, wir gehen ja schon.« Ich stelle die Stofftasche und die Blumen auf dem Tisch in der Diele ab, rufe meiner Mom ein »Tschüss« zu, die bereits in ihrem Büro sitzt und sich auf den ersten Kunden vorbereitet, der heute ihre Partnervermittlung aufsucht, und flitze zum Auto, bevor Gemma ohne mich losdüst. Das hat sie schon einmal gemacht, und ich musste drei Straßen weit rennen, bevor ich sie an einem Stoppschild eingeholt habe. Dabei hat sie sich vor Lachen so ausgeschüttet, dass ihr die Luft weggeblieben ist.
Sobald ich sicher auf dem Beifahrerplatz sitze, schließe ich das SD-Laufwerk an mein Handy an, übertrage die Fotos, und nachdem ich das Beste davon ausgewählt habe, suche ich die Bildunterschrift heraus, die ich letzte Woche während einer Schicht im Yeastie Boys entworfen habe, und füge sie meinem Jubiläums-Post hinzu. Ein Jahr lang #heißgeliebt. Gemma findet das Hashtag zum Kotzen und denkt, dass es August, wenn er jemals etwas von unserer Fake-Beziehung erfährt, so peinlich sein wird, dass er mich auf der Stelle abmurkst. Doch zum Glück wird er nie etwas davon erfahren. Ich habe für meinen August einen falschen Instagram-Account erstellt, damit ich ihn in meinen Storys und Posts taggen kann, ohne auf den echten August zu verlinken.
Wenn man eine Lügengeschichte wie diese verkaufen will, kommt es auf die Details an. Und ich bin die Königin der Details. Deshalb bin ich eine so gute Fotografin. Ich sehe Dinge, die andere nicht bemerken, und bringe sie zum Vorschein.
Wie auf diesem Bild. Die meisten Leute hätten sich darauf konzentriert, alles mittig auszurichten. Jeden Teil des Geschenks gleich zu betonen. Ich aber nicht. Ich habe einen Winkel gewählt, bei dem die Kette leicht aus der Mitte herausgerückt ist und die Blumen mit den gewundenen Stielen aus einer Ecke in das Bild hineinragen, was das Foto tausendmal interessanter macht. Es ist nicht einfach nur starr und kontrastarm, sondern erzählt eine Geschichte. Eine Liebesgeschichte. Und vielleicht wird diese Geschichte eines Tages wahr. Nicht mit August, sondern mit jemandem, der endlich mehr als nur befreundet mit mir sein will.
Gemmas Dads gehört das Yeastie Boys Café. Es ist ein Lokal, in dem es den ganzen Tag Frühstück und die besten und fluffigsten Biscuits im Bundesstaat North Carolina gibt. Die Auszeichnung, die das beweist, hängt an der Wand neben der Kasse. Gemma und ich arbeiten hier, seit wir über den Tresen schauen können, wenn auch erst offiziell, seit wir vierzehn sind und ihre Dads uns legal auf die Gehaltsliste setzen konnten.
Der kleine Raum in der Art eines Diners ist erfüllt von Stimmengewirr und Speckgebrutzel aus der Küche. Ein paar vertraute Gesichter blicken uns entgegen und wir werden mit »Morgen, Gemma«, »Morgen, Mo« begrüßt. Wir kennen alle Stammgäste mit Namen und Standardbestellung. Doch auf dem Weg zur Schule kommen wir so oft auf der Suche nach einem Koffeinkick in dieses Café, dass sie auch wüssten, wer wir sind, wenn wir nicht hier kellnern würden.
Ich erwidere jeden Gruß persönlich. Gemma winkt dem ganzen Raum zu und lächelt erst, als einer ihrer Dads, Lee, ihr einen Blick zuwirft.
»Nur einen Schuss«, ermahnt mich Gemma und eilt hinter den Tresen, um von Lee zwei Becher zum Mitnehmen in Empfang zu nehmen. Zum Dank drückt sie ihm einen Kuss auf die Wange.
Ich tue so, als hätte ich keine Ahnung, worauf sie hinauswill, nur um sie auf die Palme zu bringen. »Einen Schuss wovon? Espresso? Sollen wir im Unterricht einpennen?«
»Du weißt ganz genau, was ich meine. Nicht erst den Becher hin und her drehen, um das beste Licht zu finden. Das Licht hier ist überall perfekt.« Sie hält mir den Becher hin, auf dessen mir zugewandter Seite eine handschriftliche Nachricht in schwarzem Filzstift steht.
Ich liebe dich über alles.
Einen Moment lang vergesse ich, dass alles nur Fake ist. Dass August nicht wirklich mein Freund ist und diese Liebesbekundung nicht wirklich von ihm stammt. Und mir wird ganz warm und weich ums Herz.
»Wow, das muss ja ein Kaffee sein«, sagt jemand hinter mir.
Ich muss mich nicht umdrehen, um zu wissen, dass die Stimme Ren gehört. Mache ich aber trotzdem. Denn offensichtlich bin ich masochistisch veranlagt.
Ren Kano. Mein Dauer-Crush. Mit seinem lässigen Surferlächeln und dem gewellten dunklen Haar, in das man unbedingt die Hände vergraben möchte. Er ist der Grund, warum ich meine Beziehung zu August überhaupt erst erfunden habe. Um ihn mir aus dem Kopf zu schlagen, als es zwischen ihm und Lana Abrams ernst wurde. Die beiden sind seit der Neunten zusammen und praktisch schon auf dem halben Weg zum Traualtar. Ich muss nur die Augen auf die roségoldene Aura richten, die sie umgibt, wenn sie zusammen sind, um zu erkennen, dass es wahre Liebe ist.
Die Fähigkeit, im wahrsten Sinne des Wortes sehen zu können, wenn Menschen ineinander verliebt sind, macht meine Mom zu einer der begehrtesten Partnervermittlerinnen des Landes. Für die Tochter besagter Partnervermittlerin ist das kein Zuckerschlecken. Dass die Typen, auf die ich stehe, mich wie einen Freak behandeln – oder, schlimmer noch, mich fragen, ob ihre Angebeteten ihre Gefühle erwidern – , ist der Sargnagel für meine eigene Partnersuche. Ren hat weder das eine noch das andere je getan, aber dank Lana wird er mich nie so anschmachten wie ich anscheinend meinen Salzkaramell-Moccachino.
Die Lüge liegt mir schon auf der Zunge, bevor ich überhaupt darüber nachdenken kann. »Das ist ein besonderer Kaffee. August und ich sind heute seit einem Jahr zusammen. Da wir uns nicht so oft sehen, hilft Gemma ihm, Überraschungen für mich zu organisieren. Deshalb bin ich so hin und weg von meinem Moccachino.« Ich drehe den Becher so, dass Ren und Lana die Nachricht lesen können, die absolut nicht von meinem Freund ist.
Lana wartet, bis Ren mit der Bestellung ihrer Getränke abgelenkt ist, und seufzt: »Du kannst von Glück reden, dass er sich ein Bein ausreißt, um dir zu zeigen, wie sehr er dich liebt. Besonders nach einem Jahr. Ich glaube, Ren hat so etwas schon nach den ersten drei Monaten nicht mehr gemacht.« Durch ihre übliche, von der Liebe befeuerte roségoldene Aura ziehen sich blaugrüne Wirbel wie Patina.
Die Farbe von Liebeskummer.
Wie sich dieser Farbschimmer von Lanas dunkler Haut abhebt, ist atemberaubend. Das blasse blaugrüne Leuchten steht in so starkem Kontrast zu der Aura, die ich in den letzten drei Jahren oder so um Lana herum gesehen habe, dass ich sie kaum wiedererkenne. Es juckt mich in den Fingern, ein Handyfoto von ihr zu machen, um mich zu vergewissern, dass ich mir nichts einbilde, was eigentlich gar nicht da ist. Doch das lasse ich, denn ich habe ja Manieren.
Hätte ich es aber getan, hätte ich ihre Liebeskummer-Aura im Bild festhalten können. Niemand außer Mom und mir wäre in der Lage, sie zu sehen, aber sie wäre da in Form von lebhaften Farbschwüngen, so wie ich sie jetzt auch tatsächlich wahrnehme.
Mein Blick wandert zu Ren, der derzeit keine Farbe hat. Keine Liebe, kein Liebeskummer. Was auch immer er für Lana angesichts ihrer Bemerkung empfindet, ist etwas, das ich nicht erkennen kann. Aber die Spannung, die sich zwischen uns aufbaut, sorgt für dicke Luft im Raum. Obwohl ich scheinbar die Einzige bin, die das mitbekommt.
Es ist ja nicht so, dass ich will, dass sie sich trennen. So herzlos bin ich nicht. Aber ich wäre jetzt auch nicht enttäuscht, wenn es passiert.
Schuldgefühle kriechen über meine Haut wie ein Sonnenbrand, und ich beeile mich, die Risse in der Beziehung der beiden zu kitten, bevor sie zu tief dafür werden. »Es ist doch bloß ein Kaffee. Wenigstens siehst du Ren jeden Tag. Er muss sich nicht extra etwas einfallen lassen, um dich daran zu erinnern, dass er an dich denkt.«
»Das heißt nicht, dass es nicht schön wäre, ab und zu daran erinnert zu werden.«
Ren bedeutet Lee, mit der Bestellung zu warten, die er gerade aufgegeben hat. Er legt den Arm um Lanas Schultern und zieht sie an sich heran. »Soll ich dir etwas Besonderes auf deinen Kaffee schreiben lassen?«
»Es ist nichts Besonderes, wenn du mich zuerst fragen musst.«
»Das ist dann ein Nein?« Seine Worte haben eine leichte Schärfe, etwas Schroffes, das von seinem neckenden Lächeln übertüncht wird.
Meine Finger verkrampfen sich, weil ich meinen Becher so fest umklammere. »Wenn ich das nächste Mal hier arbeite und du mir vorher Bescheid gibst, bereite ich etwas vor.« Scheiße. Habe ich wirklich gerade angeboten, eine Liebesnachricht für die Freundin meines Schwarms zu schreiben? Mit mir stimmt echt etwas nicht.
Lana wirft meinem Becher einen vernichtenden Blick zu und befreit sich aus Rens Umarmung. »Mach dir keine Umstände, Mo. Wenn er nicht von allein darauf kommt, werde ich ihn nicht dazu überreden. Das muss ich sonst schon oft genug.« Das Blaugrün in ihrer Aura wird dunkler, bis es sich zu einer Sturmfront zusammenzieht, die um ihre Brust tobt und all den Glanz und die Wärme der Liebe, die sie für Ren empfindet, unter dem Schmerz begräbt.
»Was soll das jetzt wieder heißen?«, fragt er.
»Genau das, wonach es sich anhört. Wenn ich nicht gemeinsame Unternehmungen planen oder an den Orten aufkreuzen würde, wo du dich bekanntermaßen herumtreibst, zum Beispiel hier, um vor der Schule einen Kaffee zu trinken, gäbe es unsere Beziehung nicht.«
Lee schiebt ihre Getränke – ohne Botschaft – über den Tresen, und Ren nimmt seines, als wäre es ein Schwert, mit dem er sich verteidigen könnte. Er hält es Lana entgegen und erwidert: »Wenn du das so siehst, kannst du dich ja mal erkundigen, ob Mos Mister Perfect einen Freund hat, den du stattdessen daten kannst.«
Beide schauen mich an, als wäre das eine echte Frage. Als würde meine Antwort über ihre gemeinsame Zukunft entscheiden. Diese Art von Druck kann ich echt nicht gebrauchen. Deshalb verfolge ich eine strikte Kein-Verkuppeln-Politik. Die einzige Beziehung, mit der ich etwas zu tun haben möchte, ist meine eigene. »Ich …«
»Weißt du was? Das wäre besser, als hier herumzuhocken und zu warten, bis dir einfällt, dass es mich auch noch gibt. Mo hilft mir bestimmt sehr gerne. Aber komm nicht wieder angekrochen, wenn du endlich kapierst, was du einfach so weggeworfen hast.«
Rasch schaltet sich Gemma ein und rettet mich, bevor ich alles noch schlimmer mache. »Ihre Mom ist die Partnervermittlerin. Und wir sollten in die Schule fahren, bevor wir noch zu spät kommen. Noch ein Mal und ich muss nachsitzen.« Sie hakt sich bei mir unter und navigiert mich von den beiden weg, bevor ich ein Foto von meinem Kaffee machen kann. Die schmelzende Schlagsahne und das schokoladenhaltige Getränk schwappen durch das Loch im Deckel, den ich auf den Becher gedrückt habe, laufen an der Seite herunter und hinterlassen eine klebrige Spur auf meiner Nachricht.
Alles Gute zum Fake-Jahrestag.
Liebesregel #10: Wenn du nach dem suchst, was perfekt ist, entgeht dir das, was richtig ist.
Bei all dem Trubel um die Fake-Jahrestag-Planung und Ren und Lanas mögliche Trennung habe ich meinen Termin bei meiner Tutorin in der Mittagspause völlig vergessen. Meine Bewerbung für den Kunst-Intensivkurs im Sommer an der Kinsey School of Art and Design ist in siebenunddreißig Tagen fällig. Auf meinem Handy läuft ein Countdown. Mrs. Clemente hilft mir bei der Auswahl meiner besten Aufnahmen. Diejenigen, die genauso viel über mich als Fotografin wie über das Motiv aussagen.
Als ich zum Fotografie-Labor auf der anderen Seite des Schulgeländes komme, ist sie allerdings nicht da. Ich bin nur ein paar Minuten zu spät und bezweifle, dass sie mich schon im Stich gelassen hat. Obwohl Lasagne-Tag ist und die Cafeteria besseres italienisches Essen kocht als das Flour + Salt, das nobelste Restaurant in der Stadt. Schön zu wissen, dass unsere Schulgebühr in etwas fließt, von dem wir alle etwas haben.
Ich lege meine Ledermappe auf den Tisch und nehme die Porträts heraus, die Gemma und ich am tollsten finden. Insgesamt zwölf. Für die Bewerbung sind acht erforderlich, also muss ich mich entscheiden. Als ich die Bilder auf dem Tisch arrangiert – und dann wieder umsortiert – habe, stürmt Mrs. Clemente in den Raum und balanciert in einer Hand ein Kunststoff-Tablett, auf dem ein Teller mit Lasagne herumschlittert. »Sieh mal an, Sie haben ja schon alles vorbereitet.« Sie stopft sich eine Gabel voller käse- und soßetriefender Nudeln in den Mund. »Ich muss das nur mal kurz abstellen.«
»Sie können ruhig weiteressen. Das stört mich nicht.«
»O nein. In den nächsten zehn, vielleicht zwölf Minuten haben Sie meine volle Aufmerksamkeit. Zeigen Sie mal, was Sie haben.«
Meine Handflächen werden ganz feucht, wie jedes Mal, wenn Ren ins Café kommt. Ich wische sie an meinen Oberschenkeln ab und hoffe, dass Mrs. Clemente es nicht bemerkt. Wie sich herausstellt, würdigt sie mich keines Blickes, sondern studiert bereits konzentriert mit leicht zusammengekniffenen Augen meine Fotos.
Objektiv gesehen weiß ich, dass meine Bilder gut sind. Vor dem blassgrauen Hintergrund und in dem natürlichen Licht, das durch raumhohe Fenster ins Atelier einfällt, strahlt die Liebesaura der Porträtierten. Ich fotografiere alle Modelle als Brustbild, sodass das Strahlen voll zur Geltung kommt. Auch wenn Mrs. Clemente die wirbelnde roségoldene Wolke nicht so sehen kann wie ich, bildet jedes einzelne Porträt einen offenkundig verliebten Menschen ab.
Meine Hose ist dem überschießenden Stress-Schweiß nicht gewachsen, also lasse ich von ihr ab und balle stattdessen die Hände hinter dem Rücken zur Faust.
»Die sind gut, Imogen.« Mrs. Clementes Ton ist vorsichtig, als hätte sie Angst, mehr zu sagen. Als wüsste sie, dass das, was als Nächstes kommt, mich am Erdboden zerstören wird. Dann legt sie los. »Aber spiegeln sie wirklich Ihr Talent wider? Lassen sie die ganze Bandbreite und künstlerische Tiefe erkennen, zu der Sie – wie wir beide wissen – fähig sind?«
Schon von klein auf wollte ich Fotografin werden und habe das Handy meiner Mom regelrecht zugepflastert mit Bildern von jedem Menschen, dem wir begegnet sind. Gegenstände oder Orte abzulichten, hat mich nie interessiert. Immer nur Menschen. Ich fand es toll, wie die meisten Leute, sobald eine Kamera auf sie gerichtet ist, innehalten und ihr umwerfendstes Lächeln aufsetzen. Früher habe ich alle Bilder gelöscht, auf denen eine Person nicht lächelt, weil ich es für eine schlechte Aufnahme hielt. Jetzt nehme ich die Schönheit verschiedener Gesichtsausdrücke wahr. Die Geschichten, die die Augen erzählen, die Stellung des Mundes, die Neigung des Kopfes. Und es ist meine Aufgabe, diesen Geschichten Gehör zu verschaffen.
»Aber ich beschäftige mich nun mal mit Porträtfotografie. Und das sind meine besten«, verteidige ich mich.
»Und sie sind ja auch wunderschön. Doch für eine Mappe sind sie ein bisschen zu eintönig. Die Bilder sind sich zu ähnlich. Sie wollen die Aufnahmejury für den Sommerkurs vom Hocker reißen, und ich fürchte, das hier wird nicht besonders viel Eindruck schinden. Ich denke, das können Sie drin behalten.« Sie deutet auf ein Porträt von Delaney Richards, einer Stammkundin von Mom. So verbissen, wie Delaney auch nach der wahren Liebe sucht, bis jetzt hat sie es nur geschafft, sich in ihre Vorstellung von einem perfekten Mann zu verlieben. Mom hat ihn noch nicht gefunden. »Und dieses hier.« Mrs. Clemente tippt auf das Porträt von Gabe, Gemmas anderem Dad. Er hat eingewilligt, Teil meiner Mappe zu werden, wenn ich dafür Extraschichten schiebe, falls sich eine andere Bedienung eine Woche krankmeldet. »Vielleicht noch ein weiteres. Beim Rest der Bewerbung sollten wir etwas Neues ausprobieren. Etwas, das Sie von den anderen wirklich abhebt und bei dem sich Ihre Begabung voll entfalten kann. Glauben Sie, Sie schaffen das?«
Nein, schreit es in meinem Kopf. Aber ich hüte mich, das Wort laut auszusprechen. Ich muss Mrs. Clemente einfach beweisen, dass sie sich in Bezug auf meine Arbeit irrt.
»Ich habe noch andere Bilder, von Unterrichtsprojekten und Aufnahmen von der Natur und Orten in dieser Stadt, die ich einfach so gemacht habe.«
»Das ist doch schon mal ein guter Anfang. Doch ich möchte Sie dazu anspornen, außerhalb Ihrer Komfortzone zu denken. Damit will ich dafür sorgen, dass jede Aufnahme aussagekräftig ist. Dass sie dem Betrachter etwas mitteilt. Sie machen tolle Fotos von Menschen, weil Sie das lieben. Jetzt müssen wir nur noch etwas anderes als Menschen finden, für das Sie sich genauso begeistern können. Das können Landschaften, Haustiere oder ein anderes Format sein wie Unterwasserfotografie. Wofür auch immer Sie sich erwärmen können. Ich weiß, dass Sie das hinkriegen, Imogen.«
Das Blöde ist nur, ich liebe die Liebe. Deshalb sind meine Porträts ja auch so gut. Ich kann den Moment sehen, in dem die Liebe einsetzt und das Herz eines Menschen entflammt. Wenn ich ihm dann die richtigen Fragen stelle, ihn dazu ermuntere, etwas über sich zu erzählen, fängt er förmlich an zu strahlen. Die Fotos machen sich praktisch von allein.
Aber einen leblosen Gegenstand kann ich nicht in eine perfekte Aufnahme verwandeln. Und ich kann Mrs. Clemente nicht dazu bringen, das zu sehen, was ich sehe. Den wirbelnden Schleier aus Roségold, der um die Bilder wogt. Die Stärke, Helligkeit und Bewegung, die bei jeder Person einzigartig sind. Wenn ich meine Fotos betrachte, nehme ich die Liebe wahr, die sie verströmen. Mom kann das auch. Für alle anderen sind es einfach Porträts glücklicher Menschen, die in die Kamera grinsen.
Doch wenn es mir nicht gelingt, den anderen das zu offenbaren, was sich meinen Augen bietet, dann werde ich nie mehr als bloß gut sein.
Als ich nach Hause komme, ist Moms Bürotür geschlossen, was heißt, dass ein Kunde bei ihr ist. Die Glastür erweckt den Anschein von Privatsphäre. Doch sobald sie das Büro verlassen haben, erstattet mir Mom haarklein Bericht über ihre Kunden, sodass ich, wenn ich Aufnahmen von ihnen für die Partnersuche mache, alles weiß, was ich brauche, damit die Bilder richtig gut werden. Zu wissen, was sie lieben – was sie innerlich zum Strahlen bringt – , macht den entscheidenden Unterschied.
Das ist etwas, das Mrs. Clemente an meinen Fotos nicht versteht. Ich nehme nicht nur Porträts auf. Ich fange das wahre Wesen des Herzens meiner Modelle ein und lege es für alle Welt offen. Die roségoldenen Wirbel, die von ihnen ausgehen, mögen für andere außer Mom und mir nicht sichtbar sein, doch die Liebe, durch die sie hervorgerufen werden, schon.
Ich muss nur einen Weg finden, damit Mrs. Clemente das erkennt.
Moms Lachen unterbricht meine Gedanken. Es ist ihr Mutter-Tochter-Gilmore-Girls-Marathon-Couchlümmel-Lachen. Nicht die höfliche, reservierte Variante, die sie bei ihren Kunden einsetzt. Wer auch immer heute bei ihr ist, wird garantiert die wahre Liebe finden, wenn er Mom dazu bringen kann, ihre professionelle Zurückhaltung abzulegen und sich schlapp zu lachen.
So war August an dem Tag, als wir uns begegnet sind. Er ist mit seiner Mom zu einer Partnerberatung nach Portree gekommen, und innerhalb von fünf Minuten hatte ich das Gefühl, ihn schon mein ganzes Leben zu kennen. Er hatte so etwas Unkompliziertes an sich. Eine tief verwurzelte Offenheit, die mich dazu bewegt hat, ihm all meine Geheimnisse anvertrauen zu wollen. Deshalb habe ich ihn an jenem Tag gefragt, ob ich ihn fotografieren darf. Um diesen Moment festzuhalten, in dem ich mich gesehen fühlte. Verstanden. Das Foto von August erinnert mich daran, was ich mir eigentlich davon erhoffe, eine Beziehung zwischen uns zu erfinden. Die Art Beziehung, wie sie meine Eltern hatten. Mein Dad ist seit dreizehn Jahren tot, aber die Liebe, die er und meine Mom füreinander empfunden haben, war echt – und so stark, dass Moms Herz nicht zerbrochen ist, obwohl sie ihn so früh in ihrer gemeinsamen Geschichte verloren hat.
Wahre Liebe bricht keine Herzen.
Das ist die erste Liebesregel.
Wenn dein Herz gebrochen wird, war es keine wahre Liebe, und du musst weitersuchen, bis du sie schließlich findest. Das trichtert Mom zumindest ihrer Kundschaft ein. Moms Liste mit Liebesregeln, die sie ihnen beim ersten Termin in die Hand drückt, soll den Geist für die Liebe öffnen. Die Regeln sind eine Philosophie. Eine Lebenseinstellung. Nicht nur für Moms Kunden, sondern auch für mich. Aber warum soll ich mich mit Liebeskummer herumschlagen, wenn ich im wahrsten Sinne des Wortes sehen kann, ob mich jemand liebt?
An jenem Tag auf dem Steg hat August mich nicht geliebt, aber um ihn war ein Schimmer. Die Verheißung auf mehr.
Das ist es, wonach Mom bei ihren Kunden Ausschau hält. Was ich auf den Fotos für die Partnersuche einfange. Der Funke, der ihre Herzen entflammen wird. Vielleicht habe ich ja nichts anderes mehr als die Liebe im Kopf, aber ich schwöre, als Moms Kunde eine halbe Stunde später aus ihrem Büro kommt und das Haus verlässt, zieht er hinter sich ein rosiges Funkeln wie Glitzer her. Er ist athletisch gebaut, mit breiten Schultern und mächtigen Muskeln, die unter seinen hochgekrempelten Hemdsärmeln hervorlugen. Ich sehe schon vor mir, wie das Licht, wenn ich ihn fotografiere, seine hervortretenden Wangenknochen und die lange Nase umspielt, die wirkt, als wäre sie irgendwann einmal gebrochen worden. Sein Lächeln ist entspannt, echt. Als hätte er gerade die beste Verabredung seines Lebens gehabt.
Mom bleibt auf der Veranda stehen und schmiegt sich in seine offenen Arme. Und mir klappt die Kinnlade herunter. Lachen? Umarmen? Einen Kunden? Wer ist diese Frau und was hat sie mit meiner Mutter gemacht?
Vielleicht ist dieser geheimnisvolle Kunde ja nicht der Einzige, dem die Liebe ein Strahlen entlockt.
Ich mustere Mom nachdenklich, als sie ihm mit einem letzten Lachen hinterherwinkt und die Tür schließt. Vermutlich, um sich davon abzuhalten, ihm hinterherzufahren. Seit mein Dad starb, als ich vier Jahre alt war, habe ich Mom noch nie so erlebt. Wie sie einen Typen anschmachtet. Sie hat sich immer darauf konzentriert, anderen zu dem Glück zu verhelfen, das sie und Dad hatten. Aber in diesen Typen hat sie sich hundertpro verknallt. Als sie sich nach der Verabschiedung zu mir umdreht, hat sie Herzchen in den Augen und seufzt sehnsüchtig.
»Der scheint ja ganz nett zu sein. Bist du dir sicher, dass du ihn mit einer anderen verkuppeln willst?«, frage ich.
Mom vermeidet es sorgfältig, mich anzusehen, als sie in ihr Büro geht. Als könnte sie mich davon abhalten, sie zur Rede zu stellen, wenn sie sich gleich wieder in die Arbeit stürzt. »Das ist unser Job, Imogen.«
»Aber er ist süß. Und du stehst ganz eindeutig auf ihn. Du umarmst keine Kunden. Liebe kann schon durch einen Blick oder eine Berührung zum Ausdruck gebracht werden. Regel Nummer sechs, schon vergessen? Doch ihn hast du umarmt.«
»Alex ist ein alter Freund.«
»Wie alt? Warst du mit ihm zusammen? Ich empfange hier nämlich definitiv mehr als nur Freundschafts-Vibes.«
»Älter als du. Und da ist nichts. Er ist bloß ein Freund.« Sie nimmt auf ihrem Stuhl Platz und sammelt die Notizen ein, die sie während der Sitzung mit Alex gemacht hat, damit sie sie später in die Kundendatei eintippen kann. »Wie ist es mit deiner Tutorin gelaufen?«
Ich hocke mich auf den Ohrensessel gegenüber von Moms Schreibtisch und lasse die Beine über eine und den Kopf über die andere Armlehne hängen, sodass sich meine Haare in kastanienbraunen Wellen auf dem Boden kringeln. »Nicht so gut, wie ich gehofft hatte. Sie will, dass ich es mit etwas anderem als Porträts versuche. Weil die offenbar ›keinen vom Hocker reißen‹. Ihnen fehlt das ›Wow!‹.« Um meinen Worten Nachdruck zu verleihen, lasse ich meine Hände wie Feuerwerk in der Luft explodieren.
Da Mom an meine Übertreibungen gewöhnt ist, schüttelt sie bloß den Kopf und seufzt. »Das hat Mrs. Clemente ganz sicher nicht gesagt.«
»Nicht mit diesen Worten. Aber ich konnte es in ihrem Gesicht erkennen, Mom. Sie fand sie öde. Und wenn sie sie öde fand, wird die Aufnahmejury das auch tun, und das war’s dann mit meiner Chance, auf die Kinsey zu kommen. Nicht nur im Sommer, sondern überhaupt.« Und das muss ich verhindern. Ich weiß nur noch nicht, wie.
»Okay, und jetzt kommen wir mal wieder ein bisschen runter, ja?« Mom ist immer nüchtern, fokussiert. Wenn ich eine Sache verkompliziere, bringt sie Ordnung ins Chaos und sucht mit mir nach einem Ausweg. »Für mich klingt das so, als möchte Mrs. Clemente einfach nur, dass du ein breiteres Spektrum zeigst. Deine Begeisterung fürs Fotografieren wird immer zum Vorschein kommen, egal was du fotografierst. Ich denke, du solltest es als Möglichkeit begreifen, jedes Fünkchen Talent zu präsentieren, das du besitzt. Bring sie dazu, sich deinen Namen zu merken.«
»Ich bin nicht deine Kundin, Mom. Dieser Achte-dich-selbst-Motivationskram funktioniert bei mir nicht. Die Kinsey ist nicht auf eine Beziehung mit mir aus.«
Mom lächelt, als wäre das nicht gerade die größte Chance meines Lebens. »Nein, bei dieser Einstellung wohl eher nicht.«
»Glaub mir, es fehlt mir nicht an Selbstvertrauen. Mein Problem ist, dass niemand meine Porträts so sieht wie ich.« Niemand sieht die Liebe so wie ich. Niemand außer Mom, die damit ihren Lebensunterhalt verdient. »Bei meiner Fotografie geht es einzig und allein darum, meine Sicht ohne Worte rüberzubringen. Wenn mir das nicht gelingt, bin ich sowieso nicht gut genug für die Kinsey.«
»Regel Nummer vier: Mach dich nicht selber klein«, sagt Mom.
Ich kontere mit: »Regel Nummer zwölf: Wenn du es weißt, dann weißt du es einfach.«
Und wenn es mir nicht gelingt, meine fotografischen Fähigkeiten zu verbessern, dann sind meine Pläne für den Sommer – Scheiße, seien wir mal ehrlich, die Pläne für mein Leben – so hoffnungslos wie mein Liebesleben.
Liebesregel #2: Öffne dein Herz für die Liebe und sie wird bereitwillig zu dir kommen.
Ich erinnere mich nicht an meinen Dad. Der Mann, den ich vor mir sehe, wenn ich die Augen schließe und versuche – ernsthaft versuche – , mich an ihn zu erinnern, ist bestenfalls eine Mischung. Eine Vorstellung, die zusammengewürfelt ist aus Dingen, die man mir erzählt, und Bildern, die man mir gezeigt hat. Als meine Eltern jung waren, war es mit der Digitalfotografie noch nicht weit her, und daher sind die einzigen Fotos, die ich von ihm habe, verblasst. Aber ich erkenne, dass ich sein Lächeln habe. Und meiner Mom zufolge auch seine Vorliebe für Frühstück zum Abendessen.
Deshalb bediene ich im Yeastie Boys. Na ja, nicht direkt. Als Gemmas Dads das Café eröffnet haben, war mein Dad gleich Feuer und Flamme. Ein Biscuit-und-Eier-Laden, in dem es den ganzen Tag Frühstück gibt? Himmlisch. Er hat sich sofort mit Lee und Gabe angefreundet, und so war im Alter von zwei an meinem BFF-Status mit Gemma und im Alter von vier an meiner Begeisterung für alles, was mit Biscuits zu tun hat, nichts mehr zu rütteln. Ich bin quasi in den Sitznischen hier aufgewachsen. Dann haben sie mich eines Tages in eine eiergelbe Schürze gesteckt, auf die vorn mein Name gestickt war, und mich arbeiten lassen. Natürlich hat Gemma den Namen auf meiner Arbeitskleidung angepasst – er lautet jetzt »Mo«.
Ich drücke Lee ein Küsschen auf die Wange, während ich mich an ihm vorbeilehne und für meine Schicht am Samstagmorgen einchecke.
»Für dich ist ein Päckchen angekommen«, sagt er und deutet auf einen gepolsterten Umschlag, der neben der Kasse steckt. Lees Hände sind voller klebrigem Teig, und er nutzt die Unterbrechung, um noch einmal Mehl auf die Arbeitsplatte zu streuen. Dann konzentriert er sich wieder darauf, den Biscuit-Teig zu falten, zu wenden und wieder zu falten, um ihn in ein halbes Dutzend Schichten zu legen.
»Oh, wie hoch sind die Chancen, dass da ein neues Auto drin ist?«
»Leider nicht so hoch, wie du dir vielleicht erhoffst.«
»Hey! Solltest du die Jugend hier nicht ermutigen, anstatt ihre Träume zu zerstören?«
Als der Teig ausreichend gefaltet ist, schüttet Lee eine Handvoll Mehl auf die Silikonmatte, um ihn auszurollen. Er schnippt seine Finger in meine Richtung und sprenkelt die Vorderseite meiner Schürze weiß. »Seit wann träumst du davon, ein Auto zu gewinnen?«
Seit meine Tutorin gesagt hat, dass ich nicht gut genug bin. Aber da ich diesem Gespräch keine ernsthafte Wendung geben will, entgegne ich: »Wer würde sich denn nicht gern ein Auto schenken lassen? Und dann noch per Post!« Ich wackle mit den Augenbrauen und er bricht in schallendes Lachen aus. Beinahe-Elternkrise abgewendet.
Ich lasse ihn mit seinem Biscuit-Teig allein und gehe nach draußen, um mein Kein-Auto-Päckchen zu öffnen. Der Umschlag ist so federleicht, dass er mir fast aus der Hand fliegt, als ich ihn aus dem Kunststoff-Posthalter ziehe. Es steht kein Absender darauf. Nur eine Notiz, die mit schwarzem Filzstift auf die Rückseite des Umschlags geschrieben wurde.
Tut mir leid, dass das Geschenk verspätet kommt. Ich hoffe, es zaubert dir ein Lächeln aufs Gesicht. – August
Ich vergewissere mich noch einmal, ob tatsächlich mein Name auf der an das Café adressierten Sendung steht, und reiße dann die Lasche auf. Auf den ersten Blick ist der Umschlag so leer, wie er sich anfühlt. Ich drehe ihn mit der Öffnung nach unten und schüttle meine Verwirrung und einen Anflug von Enttäuschung zusammen mit einem Stück Papier heraus. Das aus einem Notizbuch herausgerissene Blatt ist mit dicken Filzstiftstrichen bedeckt, mit denen ein Großteil der gedruckten Wörter geschwärzt ist. Die noch sichtbaren Wörter lauten:
Ich lese es zweimal durch und sauge die Worte in mich auf, als ob sie für mich bestimmt wären. Fünf oder zehn Sekunden lang vergesse ich, dass das Gedicht nicht von August ist. Dass August nicht mein Freund ist.
Als diese Erkenntnis eingesickert ist, folgt die zweite auf dem Fuß.
August weiß es.
Keine Ahnung wie, aber er hat es herausgefunden, und dieses Gedicht ist seine Art, mich damit zu konfrontieren.
Ich würge meine Panik an den Knien ab, bevor sie ganz von mir Besitz ergreifen kann, setze mich neben Gemma an den Tresen und stupse sie mit der Hüfte an. »Bitte sag mir, dass du das warst.«
Gemma schaut von einem Stapel Speisekarten auf, die sie vor dem Frühstücksansturm abwischt. Fragend zieht sie ihre bleistiftdünnen Augenbrauen zu einem spitzen V zusammen. »Was denn?«
»Das.« Ich halte die geschwärzten Zeilen hoch und lasse sie wie eine Papierpuppe auf LSD hin und her tanzen.
»Soll das ein Erpresserbrief sein?«
»Nein. Es ist ein Liebesgedicht. Glaube ich«, erwidere ich.
»Da hat jemand einen ziemlich abgefuckten Sinn für Liebe, wenn er diesen schwarzen Scheiß für romantisch hält.« Sie hält kurz inne, bevor sich ihre Lippen zu einem durchtriebenen Grinsen verziehen. »Ich find’s toll.«
Was genau der Grund ist, warum ich hoffe, dass sie dahintersteckt. »Du hast mir das echt nicht geschickt?«
»Ich meine, das wäre supernett von mir gewesen. Aber ich verschenke keine Kunst oder Poesie, oder was auch immer das ist, zu Fake-Jahrestagen. Natürlich ist das nicht von mir. Was steht da, von wem es ist?« Gemma nimmt das Gedicht noch einmal unter die Lupe und hält es gegen das Licht, als würde eine versteckte Botschaft irgendwo zwischen den schwarzen Filzstiftstrichen lauern. Sie findet nichts und wendet sich dem Umschlag zu, als hätte ich nicht schon mein ganzes Amateurdetektivin-Repertoire angewendet.
»August«, sage ich. Es gibt keine andere Erklärung.
»Wie der August?«
Ich mustere Gemma und suche nach Anzeichen dafür, dass sie mich doch veralbert. Ein Zucken. Eine Regung. Ein verräterischer Atemzug. Es muss von Gemma sein. Anderenfalls weiß August tatsächlich, was ich getan habe, und ich habe keinen blassen Schimmer, wie ich damit umgehen soll. Das Blatt zittert in meiner Hand. »Keine Ahnung! Entweder kommt es von ihm oder von jemandem, der sich für ihn ausgibt. Glaubst du, jemand ist dahintergekommen? Werde ich erpresst?«
Heilige Scheiße – und was für eine.
Wenn ihm klar ist, dass ich eine Beziehung mit ihm vortäusche, was hält ihn dann davon ab, allen zu erzählen, dass ich eine Lügnerin und Betrügerin bin?
»Heilige Scheiße«, sagt Gemma, als hätte sie meine Gedanken gelesen. »Wie hat er es herausgefunden?«
»Bessere Frage – warum hat er mir das geschickt? Und was will er?« Er muss etwas im Schilde führen, wenn er mir ein Liebesgedicht zukommen lässt, statt mich direkt zur Rede zu stellen. Aber was er auch will, ich bin nicht so blöd, ihm auf den Leim zu gehen.
»Das sind zwei Fragen. Aber wenn es eine Erpressung ist, muss es eine Forderung oder so geben. Was ist sonst noch drin?«
Ich gebe Gemma das Gedicht, als würde es sich selbst zerstören, wenn man es nicht im Auge behält, schnappe mir eine Schere, schneide den Umschlag an den Seiten auf und offenbare sein leeres Innenleben. »Nichts. Nur die Nachricht auf der Rückseite, in der er sich dafür entschuldigt, dass er ein paar Tage zu spät dran ist, und dass er hofft, es gefällt mir.«
»Jap, das ist jetzt nicht unheimlich oder so.«
»Weiß ich. Aber es ist auch irgendwie perfekt. Etwas, bei dem ich absolut schwach werden würde, wenn ein Junge es mir in echt schenkt.« Wieder mal typisch für mich, mit etwas verarscht zu werden, auf das ich wirklich abfahre.
»Fakt.« Gemma fährt mit den Fingern die schwarzen Filzstiftlinien auf dem Blatt nach und tippt dabei jedes Wort an. »Was willst du jetzt machen?«
»Das Einzige, was ich kann. Ich muss die Sache jetzt beenden, bevor er beschließt, mich in aller Öffentlichkeit in die Pfanne zu hauen. Wenn das jemand anderes erfährt, bin ich so was von geliefert.«
»Aber wenigstens hast du jetzt eine letzte Liebeserklärung, die dich über die Trennung hinwegtröstet.«
»Nicht lustig, Gemma.«
Sosehr ich auch glauben möchte, dass die Gefühle in dem Gedicht echt sind, meine Erfahrung sagt mir, dass mich jemand auf die Schippe genommen hat.
Um halb neun ist das Frühstück in vollem Gang. Aber ich bin von dem Gedicht – und dem Absender – so abgelenkt, dass ich drei Bestellungen durcheinandergebracht und zweimal das falsche Essen serviert habe. Gemma funkelt mich jedes Mal bitterböse an, wenn ich zu nahe an die Kasse komme, wo ich das Gedicht versteckt habe.
»Wenn du in den nächsten fünf Minuten deinen Verstand nicht wieder beisammenhast, nehme ich das Ding und schmeiße es auf den Kompost«, droht sie. Sie meint es gut und deshalb kann ich nicht sauer auf sie sein. Außerdem musste sie den ganzen Morgen zusätzlich zu ihren eigenen Tischen meine Fehler ausbügeln.
»Ich weiß. Sorry. Ich reiße mich jetzt zusammen.«
»Dein neuer Tisch sagt mir etwas anderes.«
Als ich ihrem Blick folge, macht mein Herz Akrobatik in meiner Brust. Nicht bloß einen Purzelbaum oder Salto. Eine ganze Höhenflug-Nummer. Und alles nur wegen Ren. Er und Lana verabreden sich jede Woche zum Frühstück. Aber heute ist nur Ren da und sieht einsam und verloren aus, als wäre er aus Versehen in eine andere Realität gerutscht und hätte keine Ahnung, wie er in sein richtiges Leben zurückkommt. Nur dass das hier das richtige Leben ist.
»Vielleicht solltest du ihn übernehmen«, sage ich und bugsiere Gemma vorsichtig in Richtung seines Tisches.
Sie reibt ihre Hände aneinander, als wollte sie sie in Unschuld waschen. »Dein Abschnitt. Dein Crush. Dein Gast.«
»Pst!« Ich lege ihr eine Hand auf den Mund, damit das Wort Crush nicht an fremde Ohren dringt. Alle denken, ich wäre superverliebt in August. Da kann ich ja schlecht in einen anderen verknallt sein. Schon gar nicht in Ren, der gerade mit seiner Dauer-Freundin Schluss gemacht hat. »Falls du mich davon überzeugen willst, dass das Gedicht nicht von dir stammt, sind solche Kommentare nicht hilfreich.«
»Kompost«, säuselt sie und läuft in die andere Richtung, sodass mir nichts anderes übrig bleibt, als Ren zu bedienen.
Sein Kopf fährt hoch, als ich mich ihm nähere, und ein Funke Hoffnung flammt in ihm auf wie ein Blitzlicht. Er erstirbt jedoch sofort, als Ren mich erkennt. Die Enttäuschung, die in meiner Brust aufflackert, lodert hell, eine ewige Flamme. Ich setze ein Lächeln auf. Er tut es mir nach.
»Hey, Mo.« Seine Stimme ist ungefähr so überzeugend wie sein Lächeln. Also gar nicht. Auch ohne die kupfer-blaugrünen Fetzen der Aura, die an seinem Körper haften, kann ich seinen Liebeskummer spüren. Da ist ein lanaförmiges Loch in seinem Herzen. In seinem Leben.
Ich mache mir etwas vor, wenn ich glaube, dass ich es ausfüllen kann. Meine supertolle Liebesbeziehung ist erfunden. So gern ich auch glauben möchte, alles über die Liebe zu wissen, kann ich dabei nicht auf praktische Erfahrungen zurückgreifen. Keiner möchte etwas mit einem Mädchen anfangen, das auf magische Weise die Liebe sehen kann. Zu viel Druck. Die paar Typen, die ich geküsst habe, haben sich nie auf eine Beziehung eingelassen.
Liebesregel Nummer fünf: Ein guter Kuss kann nicht das wettmachen, was deinem Herzen fehlt.
»Hey, Ren. Ich hatte dich heute gar nicht erwartet.«
Er schielt auf den leeren Platz ihm gegenüber und richtet seinen Blick dann wieder auf mich. Er ist klar und bestimmt. Als wäre er entschlossen, den Anschein eines normalen Lebens aufrechtzuerhalten, auch ohne Lana an seiner Seite. »Nicht? Der Samstagmorgen ist irgendwie unser Ding.«
Unser Ding? Ich weiß, dass ich mich immer gefreut habe, wenn er zur Tür hereinspaziert ist, auch wenn seine Lippen die halbe Zeit an Lanas Lippen hingen. Aber ich habe nie zu hoffen gewagt, dass er meinetwegen herkommt. Ich war diejenige, die etwas seinetwegen getan hat. Wie am Surfcamp seines Dads teilzunehmen, als ich zehn war, weil Ren beim Unterricht geholfen hat, obwohl ich unter Wasser die Luft nicht anhalten kann, ohne mir die Nase zuzuhalten. Oder ein Halbjahres-Fotoprojekt über Wabi-Sabi zu machen, weil Rens Opa mir bei einem seiner jährlichen Besuche aus Japan erklärt hat, dass dieses Kunstkonzept bedeutet, Schönheit in der Natur und der Vergänglichkeit der Dinge zu finden.
Ren dazu zu bringen, mir Beachtung zu schenken, ist vielleicht doch nicht so unmöglich, wie ich dachte. »Ja, ist wohl so. Willst du das Übliche?«
»Ich glaube, dieses Mal nehme ich etwas anderes und probiere etwas Neues aus. Was ist euer Frankenbiscuit heute?«
Frankenbiscuit – so genannt aufgrund der Ähnlichkeit mit Frankensteins Monster – ist unser Wochenend-Special. Eine chaotische Mischung aus Zutaten, die Gemma und ich abwechselnd zusammenstellen. Ihre Dads haben ein Vetorecht, von dem sie bis jetzt aber nur zweimal Gebrauch gemacht haben. Einmal bei jeder von uns. Die Biscuits sind jede Woche an beiden Tagen ausverkauft, wenn man also nicht rechtzeitig kommt, kriegt man keine mehr ab.
»Diese Woche ist es Osterexplosion. Das ist ein normales Buttermilch-Biscuit mit Schoko-Fondant-Ei im Kern, das mit gebratenem Hähnchen belegt ist. Dazu gibt es auch eine Fondant-Soße, aber …« Diese unkluge Entscheidung überlasse ich ihm kommentarlos.
Gemma jedoch hat keine Skrupel. Obwohl sie gesagt hat, dass ich mich um Ren kümmern soll, hat sie ganz eindeutig gelauscht. »Die Soße ist nicht optional«, ruft sie von der anderen Seite des Raums. »Du kennst die Regeln, Mo. Keine Änderungen oder Ersatzbeilagen beim Frankenbiscuit. Die Gäste essen es so, wie es ist, oder nehmen etwas anderes. Außerdem ist die Soße das Beste.«
Ich krümme mich übertrieben zusammen. »Eine Portion Soße enthält die Zuckerdosis einer ganzen Woche.«
»Was soll das denn heißen? Niemand bestellt ein Frankenbiscuit, weil es so gesund ist«, erwidert Gemma.
»Wie viel Respekt verlierst du vor mir, wenn ich das nicht nehme?«, fragt Ren und verzieht die Lippen.
»Oh, mein Respekt vor dir würde steigen«, versichere ich ihm. Hätte ich ein Vetorecht, hätte ich damit allein schon die Soße verhindert. »Gemma hingegen ändert vielleicht deine Bestellung und zwingt dich, das zu essen, nur um dir eins auszuwischen.«
»Mann, dann muss ich da wohl durch.«
Gemma jauchzt triumphierend. Die Hälfte der Gäste lässt vor Schreck das Besteck fallen oder wirft das Getränk um. »Tut mir leid«, sagt sie an den Raum gewandt und schnappt sich eine Handvoll Küchenkrepp, um aufzuwischen und Tassen nachzufüllen.
Ich wende mich wieder Ren zu, schüttle den Kopf und lache. »Du musst das nicht nehmen. Wirklich.«
»Fühlt sich jetzt irgendwie wie eine Challenge an. Also gleiche Frage, aber umgekehrt.«
»Werde ich den Respekt vor dir verlieren? Nein. Werde ich dir sagen, dass ich dich gewarnt habe, falls du alles auf dem Parkplatz auskotzt? Hundertpro.«
»Tja, ich scheine Bedarf an jemandem zu haben, der mich auf meine Schwächen hinweist.« Ihm entfährt ein trauriges, halbherziges Lachen, als würde er nicht bloß scherzen. »Und vielleicht an jemandem, der bereit ist, meine Haare zurückzuhalten, falls nötig.«
Das ist nicht gerade eine Liebeserklärung, aber es ist ein Anfang. Allein die Aussicht, mit den Händen durch seine dicken schwarzen Wellen fahren zu können, macht mich ganz wuschig. Ich schaffe es, diesen Gedanken für mich zu behalten. »Keine Bange. Ich übernehme das.«
Ich gebe seine Bestellung auf und sehe dann nach meinen anderen Tischen, die ich während meiner Unterhaltung mit Ren vernachlässigt habe. Gemma gibt Kussgeräusche von sich, als ich an ihr vorbeilaufe. Zum Glück ist Ren so sehr in sein Handy vertieft, dass er es nicht mitbekommt. Ich hingegen drohe ihr hinter dem Tresen stumm mit einer Rolle Gewebeband. Sie lässt es darauf ankommen und drückt mir einen Kuss auf die Wange.
»Ich hasse dich«, flüstere ich ihr ganz leise zu.
»Du liebst mich und du weißt es«, erwidert sie. Mit dem Rücken zum Raum gewandt, sodass nur ich sie hören kann, fügt sie hinzu: »Und wenn du weiter so an Rens Tisch klebst, wissen alle, dass du auch ihn liebst.«
Ich halte mich so lange wie möglich von Ren fern und kümmere mich darum, dass alle anderen versorgt sind, damit ich mich ihm dann wenigstens ein paar Minuten ungestört widmen kann. Er hält sich wacker. Die meisten würden ihm abkaufen, dass er die Trennung besser verkraftet als erwartet. Aber ich kann sehen, wie er sich wirklich fühlt. Und was er jetzt braucht, ist eine gute Freundin. Das Wissen, dass jemand für ihn da ist.
»Kommst du zurecht? Mit allem, meine ich«, frage ich, als ich ihm sein Essen bringe.
Ren beäugt das Frankenbiscuit vor ihm und ein Anflug von Bedauern stiehlt sich auf seine Lippen. Er schüttelt ihn ab und schaut zu mir auf. Er ist nicht der Typ, der sich an etwas aufhält, das nicht mehr zu ändern ist. »Ja. Geht schon, denke ich. Deshalb wollte ich dich eigentlich sehen.« Seine Liebeskummer-Wolke hellt sich auf, das Kupfer verwandelt sich in einen rosigen Schimmer, und das Blaugrün verschwindet gänzlich. Es ist eine aufkeimende Liebe von der Art, wie die Menschen sie noch gar nicht wahrnehmen oder sich nicht eingestehen wollen.
Hoffnung ergreift von meinem ganzen Körper Besitz und breitet sich mit jedem wilden Schlag meines Herzens in mir aus. Wenn Ren auch nur das geringste bisschen Liebe für mich empfindet, muss ich jetzt handeln. Ihn wissen lassen, dass ich genauso fühle. »Oh, das freut mich echt.«
»Mich auch. Du bist der einzige Mensch, der weiß, was gerade los ist. Und ich dachte, vielleicht kannst du mir sagen, wie es Lana geht. Wie sie mit der Trennung fertigwird. Ich habe eine halbe Stunde auf dem Parkplatz gesessen, bevor ich reingekommen bin, nur falls sie auftaucht, aber das ist sie nicht. Und da dachte ich, ich gehe rein, mache mein Ding. Hänge mit dir ab.«
»Und quetschst mich über Lana aus?« Die Enttäuschung ist wie ein Sandsack, der an meinen Fußgelenken festgebunden ist und mich unter die tosenden Wellen des Meeres zieht. Natürlich ist Ren nicht meinetwegen hier. Er ist wegen meiner Magie hier. Um sich zu erkundigen, ob Lana ihn noch liebt. Als er ihren Namen erwähnt, wird sein Leuchten noch strahlender, seine Liebe für sie ist nicht zu übersehen.
Bescheuert, Mo. Du bist so bescheuert. Wie konnte ich nur glauben, dass er sich mit mir verabreden will.
Immer die zauberhafte Liebesmagierin, nie diejenige, um die sich jemand zauberhaft bemüht.
»Ja. Du kannst erkennen, ob sie mich noch liebt, oder? Ich meine, falls sie hier aufkreuzt. Oder vielleicht am Montag in der Schule. Und dann weiß ich, ob ich noch eine Chance bei ihr habe oder ob ich es endgültig versaut habe.«
»Warum hast du ihr nicht einfach gesagt, dass du sie noch liebst, als sie mit dir Schluss gemacht hat?«
»Keine Ahnung. Ich konnte ihr irgendwie nichts mehr recht machen. Falls das mit uns vorbei ist, wollte ich es ihr nicht noch schwerer machen, verstehst du?« Er stützt die Ellbogen auf den Tisch und vergräbt den Kopf in den Händen. »Ich dachte, das wäre irgendwie einfacher. Glaub mir, das ist es nicht. Aber ich denke, das liegt daran, dass ich nicht weiß, ob sie auch so fertig ist.« Er sieht mich wieder so an, als wäre ich seine letzte Hoffnung.
Es ist die Verzweiflung, die mir den Rest gibt. Das letzte bisschen der Kontrolle sprengt, die ich über den Zorn habe, der mich von innen heraus verbrennt. Rasend vor Wut und Enttäuschung entgegne ich: »Du könntest sie einfach fragen.«
Sein Kopf schnellt zur Tür, als wäre sie genau dort, genau in diesem Moment in Erscheinung getreten. Als er niemanden vorfindet, sinkt er in sich zusammen. »Habe ich ja versucht. Ich glaube, sie hat meine Nummer blockiert. Oder sie ignoriert einfach alle meine Anrufe und Nachrichten.«
»Ich muss mich um meine anderen Tische kümmern.« Ich wende mich ab, aber meine Gefühle für ihn halten mich zurück. Er leidet und er hat mich um Hilfe gebeten. Das muss etwas bedeuten, auch wenn er mich im Moment nur als gute Freundin betrachtet. Und eine gute Freundin würde ihn nicht im Stich lassen. »Aber weißt du was? Vielleicht ist es ein Zeichen, dass es eine da draußen gibt, die besser zu dir passt. Eine, die du noch gar nicht in diesem Licht gesehen hast.«
»Glaubst du?«
»Keine Ahnung. Aber du wirst nie erfahren, was die Liebe für dich bereithält, wenn du dich nicht auf sie einlässt.«
Das ist Regel Nummer einunddreißig.
Noch eine von Moms Regeln, an die ich nie zu glauben gewagt habe. Bis jetzt.
Liebesregel #30: Wahre Liebe trügt nie.
Was ich zu Ren gesagt habe, läuft seit Tagen in Dauerschleife in meinem Kopf.
Ich muss die Sache mit August beenden. Es gibt keine andere Möglichkeit. Nach dem anonymen Gedicht und dem Gespräch mit Ren darüber, sich der Liebe zu öffnen, kann ich nicht länger alle anlügen. Insbesondere meine Mom nicht.
Aber wie soll ich die anderen davon überzeugen, dass meine buchstäbliche Bilderbuchbeziehung plötzlich zu Ende ist, ohne mit der Wahrheit herauszurücken?
Ich weiß nur, dass es nicht meine Entscheidung sein darf. Damit das Ganze funktioniert, muss August mich abservieren. Mir das Warum und Wie zu überlegen, ist jedoch leichter gesagt als getan. Aber wenn es vorbei ist, kann ich von vorn beginnen.
Keine Lügen mehr.
Keine Geschichten, die ich aufrechterhalten muss.
Nur das beschwingte Gefühl der Erleichterung, alles hinter mir zu haben.
Und vielleicht kann ich dann eines Tages, in naher Zukunft, von Moms Regeln tatsächlich Gebrauch machen. Damit das passiert, muss ich August aber loslassen. Ich ignoriere den kleinen Stich in der Brust, den mir der Gedanke daran versetzt, und mache mich auf die Suche nach Mom – der erste Schritt, mein Liebesleben wieder auf Kurs zu bringen. Als ich zu ihrem Büro komme, verwünsche ich sofort mein Timing, denn ihre Stimme dringt durch die offene Tür, und die Geduld darin schwindet mit jeder Silbe, trotz des aufgesetzt zuckersüßen Tonfalls.
»Wir versuchen es so lange, bis wir den Richtigen gefunden haben. Bis Donnerstag, Delaney«, säuselt Mom, bevor sie auflegt.