Ein zarter Hauch von Glück - Susan Crispell - E-Book
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Ein zarter Hauch von Glück E-Book

Susan Crispell

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Beschreibung

Wenn ich mich im Dunkeln verliere, führst du mich zurück

Im Sommer nach ihrem sechzehnten Geburtstag bringt der Kuss eines Holloway-Mädchens dem geküssten Jungen oder Mädchen Glück.
Schon lange freut sich Remy auf ihre Kusszeit, doch statt Glück bringt sie dem Jungen, den sie küsst, Unglück. Überzeugt, dass ein Fluch auf ihr liegt, beschließt Remy, von nun an ihre Lippen bei sich zu behalten. Wäre da nicht der attraktive Nachbarsjunge, der neu in der Stadt ist und es ihr schwer macht, an ihrem Beschluss festzuhalten. Vor allem scheint er sie wirklich kennenlernen zu wollen und nicht nur für das Holloway-Glück auszunutzen. Aber bevor sie überhaupt daran denken kann, ihn zu küssen, muss sie den Fluch lösen und ihr Glück wiederfinden.

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Seitenzahl: 436

Veröffentlichungsjahr: 2024

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SUSAN CRISPELL

Aus dem amerikanischen Englischvon Christiane Wagler

Wir reduzieren und vermeiden die Emissionen, die an unseren Produkten entstehen, fortlaufend und gleichen die verbliebenen Emissionen über ein Klimaschutzprojekt aus. Weitere Informationen zu dem Projekt: www.ClimatePartner.com/14044-1912-1001

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Dataminings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

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© 2024 für die deutschsprachige Ausgabe cbj Kinder- und Jugendbuch Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »The Holloway Girls« bei Sourcebooks US

Aus dem amerikanischen Englisch von Christiane Wagler

Lektorat: Tamara Reisinger

Umschlaggestaltung: Carolin Liepins, München

Umschlagmotive: Shutterstock.com (tomertu, zyudi yanto, Levskaia Kseniia, Moschiorini)

FK · Herstellung: AW

Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München

ISBN 978-3-641-29478-6V001

www.cbj-verlag.de

Für meine Schwester Karen – ich bin so froh, dass ich mein Leben »stereo« mit dir lebe.

Das Buch des Glücks

Als Holloway-Mädchen ist dieses Buch dein Vermächtnis. Es erzählt von deiner Vergangenheit, deinen Liebesgeschichten und deiner Magie. Indem du deinen Namen hier verewigst, erklärst du dich bereit, die Regeln zu befolgen, und bindest alle Namen – sowohl deinen eigenen als Holloway-Mädchen als auch die derjenigen, die du küsst – an das Schicksal der Kusszeit.

Deine Kusszeit beginnt mit der Sommersonnenwende, die auf deinen sechzehnten Geburtstag folgt. Jeder Person, die du binnen eines Jahres küsst, wird Glück widerfahren, wenn sie es am meisten braucht. Das kann innerhalb eines Tages, einer Woche oder auch erst viele Jahre später geschehen. Darüber entscheidet die Magie. Solange der Name der geküssten Person im Buch eingetragen ist, wird das Glück sie finden.

Als Gegenleistung dafür, dass du anderen Glück schenkst, wird dein eigenes Leben bis ans Ende deiner Tage mit wahrer Liebe und einer ordentlichen Prise Glück gesegnet sein.

Diese Regeln musst du beachten:

Deine Magie wird die Herzen der Menschen in deiner Umgebung beeinflussen, die bereits Zuneigung für dich empfinden.Sowohl du als auch die Person, die du küsst, müssen dies freiwillig tun.Küsse niemals eine Person, die bereits in eine andere verliebt ist.

1. TEIL

Eine flüchtige Berührung von Lippen und Atemhauch

1

Nichts birgt mehr Potenzial als eine leere Seite. Besonders eine Seite aus dem Buch des Glücks. Das in Leder gebundene Notizbuch ist ein Familienerbstück. Es enthält den Namen aller Holloway-Mädchen und einen kurzen Bericht über das Glück, das ihre Magie den Menschen, die sie küssten, bescherte.

Ich bin mit den Geschichten der anderen Holloway-Mädchen aufgewachsen, und nun ist es endlich an mir, meine eigene zu schreiben. Es ist ein Übergangsritual und außerdem etwas, auf das ich mich mein ganzes Leben lang gefreut habe. Mit ein paar schnellen Strichen setze ich meinen Namen an den oberen Rand und verpflichte mich damit der Magie der Kusszeit.

Remy Reed Holloway

Meine Ur-Ur-Ur-Hoch-Unendlich-Großmutter war das erste Holloway-Mädchen, das die Kusszeit erleben durfte. Mit einem einzigen Küsschen brachte sie einem verliebten Jungen Glück. Und dadurch verwurzelte sie diese magische Fähigkeit in allen Frauen meiner Familie.

Wir wurden zu Liebesgöttinnen.

Glücksbringerinnen.

Noch bevor die Tinte getrocknet ist, spüre ich, wie die Magie der Kusszeit für das kommende Jahr von mir Besitz ergreift. Mir wird leicht ums Herz und mein Blut fängt an zu rauschen. Es ist ein Versprechen, dass die verheißungsvolle Zukunft, von der ich immer geträumt habe – eine mit wahrer Liebe und einem zarten Glücksschimmer, der sich wie Glitzer auf meine Haut legt – , nur einen Kuss entfernt ist.

Meine Kusszeit beginnt offiziell erst in fünfeinhalb Stunden. Aber obwohl es schon fast Mitternacht ist, hätte ich garantiert kein Auge zugetan, wenn ich das hier nicht vorher erledigt hätte.

Ich vollführe mit meiner Schwester Maggie, die sich auf mein schmales Doppelbett gequetscht hat und mich von hinten umarmt, meine beste Version eines Freudentanzes. Eigentlich ist es eher ein seltsames Rumgehampel mit dramatischen Handbewegungen. Aber es erfüllt seinen Zweck.

»Bei dir werden so viele Jungs für einen Kuss Schlange stehen, dass du ihre Namen gar nicht schnell genug auf deiner Seite eintragen kannst.« Sie drückt mich fest an sich, als würde es ihr nichts ausmachen, dass ihre Kusszeit morgen endet, wenn meine beginnt.

Und so ist es wohl auch. Meine Schwester hat im letzten Jahr mehr Jungs geküsst, als ich vermutlich in meinem ganzen Leben küssen werde.

Maggie küsst schlichtweg jeden, der ihr gefällt. Darauf vertrauen alle Jungs während der Kusszeit – von wegen Chancengleichheit und so – , und Maggie küsst auch einfach gern. Ich bin da anders drauf. Wenn ich dieses Jahr jemanden küsse, muss ich mir sicher sein, dass es etwas bedeutet. Uns beiden.

»Lass gut sein, Mags.« Ich knuffe sie mit dem Ellbogen in die Rippen und entlocke ihr ein Lachen. »Mir würde schon einer reichen, der eher an mir als am Glück interessiert ist.«

Wir Holloway-Mädchen haben null Einfluss darauf, wer sich während der Kusszeit in uns verliebt. Aber wenn ich es mir aussuchen könnte, dann wäre dieser Jemand Isaac Fuller. Ich kann nicht einmal seinen Namen denken, ohne dass sich meine Mundwinkel nach oben ziehen. Es ist wie ein blinkendes Neonschild über meinem Kopf, auf dem jedes Mal, wenn ich ihn sehe, Küss mich aufleuchtet. Und wenn alles nach Plan läuft, kann ich ihn vielleicht dazu bringen, genau das zu tun.

Isaac und ich sind nicht wirklich befreundet, sondern kennen uns durch ein paar gemeinsame Kurse und noch ein paar mehr Bekannte. Unsere Spinde sind praktisch nebeneinander, nur durch drei andere getrennt, und irgendwie hat sich im letzten Jahr so ein Ritual entwickelt. Jeden Morgen vor der ersten Stunde klopfte Isaac im Vorbeigehen an meine Spindtür und meinte, Da ist sie, und ich darauf, Hier bin ich, und er, Jetzt kann mein Tag beginnen. Damals hatte er aber eine Freundin und hat das bloß so gesagt. Was mein Herz jedoch nicht davon abhielt, jedes Mal einen Salto zu schlagen. Als er sich am Ende des Schuljahres von Hannah trennte, keimte in mir die Hoffnung auf, dass unser morgendliches Ritual ihm vielleicht doch mehr bedeutet.

Maggie greift nach dem Buch und klappt es zu. Dann lässt sie sich zurück auf die Matratze plumpsen und zieht mich mit sich. Sie presst ihre Stirn an meine und streift meine Wimpern mit ihren, als würde ihr diese Berührung direkten Zugang zu meinen Gedanken verschaffen. Aus dieser Nähe sieht man die zarten Sommersprossen auf ihren Wangen, anders als meine, die dunkel und zahlreich sind und den Nasenrücken und beide Wangen bis zum Kinnansatz bedecken.

Sie schiebt eine Hand unter ihr Kinn, um meinen Kissenbezug vor ihrem himbeerfarbenen Lippenstift zu schützen, der passenderweise Partygirl heißt, und erklärt: »Ich weiß schon, dass es während der Kusszeit schwer zu erkennen ist, wer echte Gefühle für dich hat und wer nur aufs Glück aus ist. Aber denk einfach daran, am schönsten ist es, jemanden zu küssen, für den du wirklich etwas empfindest.«

Das klingt wie eine abgewandelte Version von etwas, das Mom uns nun schon das ganze Leben lang predigt. Eine Art Holloway-Motto. Wenn wir ein Familienwappen hätten, würde es den kitschigsten Spruch aller Zeiten tragen: Wahre Liebe ist das Schönste überhaupt.

Ich möchte Maggie von Isaac erzählen. Dass ich ihn küssen will und sonst niemanden. Aber ich kenne meine Schwester fast besser als mich selbst, und ich habe keine Lust auf einen Vortrag über die Regeln und darüber, dass ich Isaac nicht küssen darf, wenn er noch in Hannah verliebt ist. Also erwidere ich einfach: »Mach ich«, und lächle, als hätte ich meine Wahl nicht schon längst getroffen.

Oma schärfte uns immer ein, jemanden zu küssen, dessen Herz schon vergeben ist, sei eine der schlimmsten Sünden der Kusszeit, ebenso wie sich zu weigern, überhaupt jemanden zu küssen. Aber im Buch des Glücks steht nichts darüber, was passiert, wenn ein Holloway-Mädchen die Regeln bricht. Ich kann mich nur an ein oder zwei Geschichten über Mädchen in meiner Familie erinnern, die ihre wahre Liebe nie fanden. Und das waren auch bloß Gerüchte.

Ich verscheuche die Bedenken und lasse mir diesen großen Moment nicht verderben. Wenn die Kusszeit Isaac morgen in ihren Bann zieht, bedeutet das, dass seine Gefühle für mich echt sind. Und dann kann mich nichts davon abhalten, ihn bei der erstbesten Gelegenheit zu küssen.

Als Maggie und ich in meinem Bett aufwachen, klebt ein Zettel am Fenster meines Zimmers. Maggie, die stets wachsam ist, wenn es um mich geht, entdeckt ihn vor mir. Sie fällt aus dem Bett, weil sie sich in ihrer Eile, die Nachricht zu lesen, mit dem Fuß im Bezug verheddert. Ich presse mir eine Hand auf den Mund und unterdrücke ein Lachen, die andere strecke ich aus, um ihr vom Boden aufzuhelfen. Sie funkelt mich wütend an, aber dann verschränken sich unsere Finger ineinander, als wir die Botschaft inspizieren, die uns durch die Scheibe entgegenblickt. Das Blatt mit den ausgefransten Rändern wurde aus einem Spiralblock gerissen. Die unordentlich hingekritzelten Worte, die trotz der hellblauen Linien auf dem Papier nach unten wandern, lauten: Dir ein Lächeln auf die Lippen zu zaubern, versüßt mir den Tag.

Es ist nicht direkt ein Liebesbrief, aber er kommt einem solchen näher als jeder zuvor. Normalerweise ist Maggie diejenige, die die ganze Aufmerksamkeit auf sich zieht – auch schon vor ihrer Kusszeit. Zu wissen, dass jemand ausnahmsweise mir den Vorzug gibt und nicht meiner Schwester, ist ein echter Serotonin-Kick. Ich streiche mit den Fingern über die Scheibe und fahre die Umrisse der einzelnen Wörter nach.

»Von wem ist der?« Maggie beugt sich näher heran und sucht nach einer Unterschrift. »Und wie konnte er ihn hier anbringen, ohne dass wir ihn gehört haben?«

»Keine Ahnung.« Aber ich weiß es wohl. Im Laufe der Jahre habe ich Hunderte solcher Liebesbriefe an Hannahs Spind gesehen. Sie waren Isaacs Art, ihr und jedem, der vorbeikam, zu zeigen, dass sein Herz ihr gehörte. Vielleicht ist das seine Art zu sagen, dass es nun mir gehört.

»Das ist voll süß. Und stimmt ja auch. Wer auch immer er ist, er sollte auf jeden Fall auf deiner Liste stehen.«

»Warum muss es denn gleich eine Liste sein? Was, wenn ich ihn mag?« Das will ich eigentlich gar nicht fragen, aber mein Herz hört nicht auf mich.

Maggie hebt unsere verschränkten Hände und tippt mir auf die Brust, als könnte sie mein Herz damit zur Vernunft bringen. »Es heißt nicht umsonst Kusszeit, Rem. Wenn wir nur eine Person küssen sollten, würde sie nicht ein ganzes Jahr dauern. Oder die Magie würde nur bei einer Person wirken.«

»Ja, aber es gibt keine Regel, die besagt, dass wir mehr als einen küssen müssen. Nur, dass wir können, wenn wir wollen.« Ich schiebe das Fenster auf und greife nach oben, um das Klebeband abzuziehen. Das Blatt flattert im Wind, als ich es losmache, und weht mir fast aus der Hand, als wollte es wegfliegen und seine Botschaft in der ganzen Stadt verbreiten. Ich lege den Zettel in die oberste Schublade meines Nachttischs, damit Maggie nicht merkt, wie viel er mir bedeutet.

»Oh, du wirst es wollen«, versichert sie mir. »Warte, bis die Kusszeit ihre Magie entfaltet, dann wirst du schon sehen.«

2

Heute Abend findet am Firelight Falls eine Party statt, mit der der Sommer eingeläutet wird – und eine zweite Kusszeit.

Die Leute erzählen, sie erkennen die Kusszeit daran, dass die Luft süßer riecht, als hätte man sie mit Zucker bestreut. An Tagen, an denen die Luftfeuchtigkeit so hoch ist, dass man kaum atmen kann, behaupten sie, es sei, als wäre die Luft in Honig getaucht worden. Aber damit wollen sie der ganzen Sache bloß einen romantischen Anstrich verleihen. Es ist die Sommersonnenwende, die die Magie im Blut eines Holloway-Mädchens entfacht.

Die Magie hat sich den ganzen Tag über in mir aufgebaut. Als sie am Abend ihre volle Stärke erreicht, dringt ein heißer Luftzug durch die offenen Autofenster, kitzelt meine Haut und hinterlässt einen leichten Duft nach Vanillebuttercreme in der Stadt. Aber das kann auch an den Dutzenden von Whoopie Pies liegen, die in zwei von Moms »Wild Flour Bake Stop«-Beuteln auf dem Rücksitz liegen. Nach diesen kleinen Doppeldeckern mit Cremefüllung sind alle Jungs in der Stadt verrückt. Vielleicht liegt es am Namen, den sie gewöhnlich leise und anzüglich aussprechen, oder auch daran, dass sie handlich und so megalecker sind, dass man schon nach dem zweiten greift, während einem der erste noch auf der Zunge zergeht.

Wie dem auch sei, Moms S’mores-Whoopies – eine fluffige Marshmallow-Füllung mit einem Klecks Schokoladencreme zwischen runden Graham Crackern – gehören bei unseren Treffen am Wasserfall zur Standardverpflegung. Und egal, wie viele wir mitbringen, es sind immer zu wenige.

Der Parkplatz am Pfad zum Wasserfall ist rappelvoll. Die Autos stehen bis auf die Straße, blockieren eine halbe Fahrspur und betteln förmlich darum, dass jemand die Polizei ruft, damit sie im Wald eine Razzia wegen Alkoholkonsums von Minderjährigen durchführt. Maggie parkt am Lookout Bed & Breakfast neben dem Ausgangspunkt des Wanderpfads. Dort hat Mrs. Chastain Schilder aufgestellt, die genau das untersagen, aber da sie all ihr Gebäck für den Nachmittagstee von Mom und mir backen lässt, wird sie uns schon nicht abschleppen lassen.

Maggie und ich hieven die Tragetaschen aus dem Auto und folgen dem Pfad, der sanft zum Wald abfällt. Das dichte Laubwerk über uns versperrt der Frühabendsonne den Weg, sodass nur wenig Licht durch die Blätter dringt. Und auch kein Lüftchen kommt durch. Mein Kleid klebt an dem Schweißfilm auf meinem Oberkörper. Ich zupfe an dem dünnen Stoff, damit sich keine dunklen, nassen Flecken darauf abzeichnen, wenn wir den Wasserfall erreichen – und Isaac. Alles soll perfekt sein, falls es heute Abend zu unserem ersten Kuss kommt.

Auf dem Weg zum Wasserfall wirft Maggie mir immer wieder ein vielsagendes Lächeln über die Schulter zu. Für den Bruchteil einer Sekunde trifft ihr Blick auf meinen, und der aufgeregte Funke darin setzt die Luft zwischen uns in Brand. Und weil ich meine Schwester so gut kenne wie sie mich, bin ich mir sicher, dass sie heute Abend noch einen letzten Kuss verschenken wird, bevor die Magie der Kusszeit sie endgültig verlässt.

In den letzten Wochen hing sie nonstop am Telefon. Dabei hat sie kaum mehr als einen flüchtigen Kommentar im Gruppenchat gepostet, den wir mit unserer besten Freundin Laurel haben. Zuerst dachte ich, ihr geheimnisvoller Schwarm sei Theo, der heiße Barista aus dem Pour House, der ihr bei jedem Besuch eine Flirtnachricht auf dem Becher hinterlässt. Aber das müsste sie nicht vor mir verheimlichen, und sie lässt absolut nicht durchblicken, bei wessen Nachrichten sie sich zusammenreißen muss, um nicht von einem Ohr zum anderen zu grinsen. Doch da ich Maggie nichts von Isaac erzählt habe, kann ich ihr nicht wirklich übel nehmen, dass sie mir das nicht verrät.

Also erwidere ich ihr Lächeln einfach und hoffe, dass wir beide den Kuss bekommen, auf den wir heute Abend aus sind.

Der Wald weicht einer ausgedehnten Fläche aus Sand, Steinen und moosbewachsenen Baumstämmen, die das Felsbecken am Fuß des Wasserfalls säumen. Ich lasse meinen Blick über die Anwesenden schweifen, um zu sehen, wer da ist. Isaac entdecke ich mühelos. Als hätte ich die letzten Monate in einem Wimmelbuch verbracht, und meine Augen wären darauf trainiert, alles zu übersehen, was nicht zu dem Gesuchten passt.

Er steht knietief im Wasser und schirmt die Augen mit einer Hand vor der Sonne ab, während er einem seiner Freunde beim Sprung vom Wasserfall zuschaut. Sein feuchtes aschblondes Haar klebt ihm am Kopf, und seine Augen, die so dunkelgrün sind, dass es fast schon ins Haselnussbraune geht, sind zusammengekniffen und zaubern ein Grübchen auf seine linke Wange. Mit den Fingern zeigt er dem Springer eine Wertung von sieben an. Die beiden Jungs zu seiner Rechten, seine besten Freunde Ethan Wells und Seth Anders, vergeben sieben und neun Punkte. Sie sind alle im Tauchteam der Schule. Aber weil Isaac aus diesen spontanen Wettbewerben fast immer als Sieger hervorgeht, hat er sich selbst zum ständigen Preisrichter ernannt, damit die anderen auch einmal gewinnen können.

Isaac bemerkt mich ein paar Sekunden, nachdem Felix Vega aus dem seichten Wasser aufgetaucht ist und auf mich zupatscht. Letzten Sommer habe ich mit Felix auf Paiges Mittsommerparty rumgemacht. Das war, bevor ihm klar wurde, dass es ihm nicht das geringste bisschen Glück einbringt, weil meine Kusszeit noch nicht begonnen hatte. Aber als ich es ihm verraten habe, lachte er nur und küsste mich noch einmal. Er ist ein ziemlich guter Küsser. Wenn ich nicht schon in Isaac verknallt wäre, würde ich ihm vielleicht noch eine Chance geben.

Maggie streift mir die Tasche von der Schulter und flüstert: »Es muss nicht heute Abend passieren.«

Die Magie in meinem Blut flammt entrüstet auf. Ich drehe mich zu Maggie um und will ihr sagen, dass es keinen Grund gibt zu warten, aber sie bewegt sich bereits auf die Leute zu, die um die Feuerstelle hocken, und hält ihnen die Beutel mit Whoopie Pies hin. Paige und Audrey, die den Kreis unserer engsten Freundinnen vervollständigen, winken uns von der anderen Seite des Feuers zu, wo sie sich bereits den besten Platz gesichert, uns aber leider nichts freigehalten haben. Dahinter steckt wahrscheinlich Hannah. Seit Hannahs Vater letztes Jahr Paiges Mutter geheiratet hat, wechselt Paige Schritt für Schritt auf die dunkle Seite. Laurel gibt sofort ihren Platz auf einem der Baumstämme hinter ihnen auf, um sich zu meiner Schwester zu setzen. Ihr Lächeln konkurriert mit dem der Jungs, die um Maggies Aufmerksamkeit buhlen.

Doch bevor ich darüber nachdenken kann, was das wohl zu bedeuten hat, ruft Isaac: »Da ist sie.«

Seit Schulschluss sind erst wenige Wochen vergangen, aber seinen Gruß zu hören, ist wie wenn sie im Radio plötzlich deinen Lieblingssong spielen. »Hier bin ich«, antworte ich.

Jetzt muss er nur noch kommen und mich holen.

»Macht ihr das immer noch?«, fragt Felix und schüttelt sich das Wasser aus den Haaren. Er lächelt mich an und in seinen Augen ist nur ein Hauch von Enttäuschung zu sehen.

Ich senke den Kopf, damit mein Lächeln nicht verrät, was ich für Isaac empfinde. »Das ist irgendwie so unser Ding.« Meine Stimme hat mal wieder nichts mitgekriegt und klingt verträumt und butterweich.

Isaac schließt zu uns auf, stellt sich zwischen uns und legt mir einen Arm um die Schultern. »Jetzt kann meine Nacht beginnen.« Seine Lippen streifen mein Ohr lange genug, um mir einen Schauer über die Haut zu jagen.

Wir sind fast gleich groß, und deshalb weiß ich, dass er seinen Kopf nur ein wenig neigen musste, um mein Ohr zu berühren. Der Gedanke daran sendet ein Kribbeln durch meinen ganzen Körper. Ich kann ihn nicht ansehen, um herauszufinden, ob er das absichtlich getan hat, ohne meinen Mund direkt in Kussweite zu bringen. Aber der Heiserkeit seiner Stimme nach zu urteilen, muss es so sein.

Ich trete einen Schritt zurück und schaffe ein wenig Abstand zwischen uns, damit ich nicht in Versuchung gerate, meine Lippen auf seine zu pressen. Er lässt meine Schultern los. Stattdessen nimmt er mir den Beutel ab und schwenkt ihn triumphierend über dem Kopf, als wäre er die ganze Zeit nur hinter den Whoopies her gewesen.

»Hey!« Ich greife nach dem Beutel, aber er tanzt damit außer Reichweite.

Isaac schenkt mir ein schüchternes, entwaffnendes Lächeln. Es ist so viel intensiver als jedes andere Lächeln, das ich von ihm kenne, dass mir fast das Herz stehen bleibt. »Was? Hast du gehofft, dass ich auf was anderes aus bin?«

»Weißt du nicht, dass es Unglück bringt, während der Kusszeit mit dem Herzen eines Holloway-Mädchens zu spielen?«, necke ich ihn und lasse meinen Blick noch ein wenig länger auf ihm ruhen, wobei ich sein Lächeln erwidere und insgeheim bete, dass es auf ihn eine ähnliche Wirkung hat wie auf mich.

»Äh … stimmt das?«

Der ganze Sinn der Holloway-Magie ist es, Glück in der Welt zu verbreiten. Sie Kuss für Kuss zu einem besseren Ort zu machen. Befolgt man die Regeln, manifestiert sich das Glück. Befolgt man sie nicht, bleibt es aus. Alle in der Stadt kennen die Kusszeit-Regeln in etwa. Aber da Maggies Kusszeit gerade erst zu Ende geht, hat sie jedem hier, der ein Stück vom Holloway-Glück abhaben will, schon haarklein erklärt, wie die Magie funktioniert – auch denjenigen, die sie nicht geküsst hat. Daher sollten Isaac und alle anderen, die heute Abend am Wasserfall sind, wissen, dass man keinen Kuss mit Gewalt erzwingen oder ein Holloway-Mädchen küssen darf, wenn man bereits verliebt ist.

Ich lege meine Hand auf Isaacs Unterarm, lasse meine Finger um sein Handgelenk gleiten, wo sein Puls heftig und schnell pocht, und flüstere: »Kein bisschen.« Ich lache, als er seinen Arm wieder um mich schlingt und mich an sich zieht.

An seine Seite geschmiegt zu sein, kann ich gerade einmal zwei Sekunden genießen, bevor er sich neben mir verkrampft.

»Scheiße«, murmelt er. Dann: »Hannah.«

Meine Bauchmuskeln ziehen sich zusammen, und ich mache mich auf eine Abfuhr gefasst, nun da Hannah auf uns zuläuft.

Und ich warte.

Und warte.

Und dann merke ich, dass er mich nicht loslässt. Er entscheidet sich nicht für sie.

Schon das allein hält mich davon ab, den Rückzug anzutreten, als Hannah kurz vor uns stehen bleibt und mit ihrem Blick die Luft zwischen uns zerschneidet.

»Ziemlich cleveres Timing, was, Isaac?«, stichelt sie.

»Wieso clever?«

Sie hat die Arme verschränkt und ihre rundgefeilten Nägel bohren Halbmonde in ihre Haut. »Na, dass du genau in dem Moment mit mir Schluss gemacht und dich auf Remy gestürzt hast, in dem ein Kuss von ihr dein Leben auf magische Weise verändern wird.«

»Darum geht es nicht«, meint Isaac und wendet sich mir zu, wobei sein warmer Atem meine Wange streift.

Mein Herz will ihm unbedingt glauben, aber mein verräterischer Verstand warnt mich, dass Hannah nicht ganz unrecht hat. Kann er wirklich so schnell über sie hinweg sein? Sie waren seit der achten Klasse zusammen. Mit Unterbrechungen jedenfalls. Hannah war immer diejenige, die sich eine Auszeit gönnte, sobald jemand anders auch nur das geringste bisschen Interesse an ihr zeigte. Isaac nahm sie jedes Mal zurück. Als ob diese Tage/Wochen/Monate der Trennung ihr klargemacht hätten, dass sie eigentlich nur ihn liebt.

Ich schaue mich nach Maggie um, um mir von ihr eine Portion Selbstvertrauen zu holen. Sie hat es sich am Feuer gemütlich gemacht und sitzt mit Laurel auf einem Handtuch, während sich eine Handvoll Jungs ein letztes Mal um einen ihrer glücksbringenden Küsse bemüht.

Ich löse mich aus Isaacs Umarmung und sage: »Wenn ich jemanden küsse, dann weil ich es will, und nicht, weil er aufs Glück aus ist.«

»Dann muss ich mich noch mehr anstrengen, um dich davon zu überzeugen, dass du mich küssen willst.« Er sagt das so, als ob Hannah nicht neben uns stünde. Als ob nicht alle Anwesenden jedes Wort verfolgen würden.

Das Grinsen, das er mir nun zuwirft, verrät, dass er sich seiner Sache sicher ist. Doch wenn er die Wahrheit sagt und mehr als nur das Holloway-Glück will, dann wird er es beweisen müssen.

3

Bei Einbruch der Dunkelheit schreitet Isaac schließlich zur Tat. Oder vielmehr schickt er Felix vor.

»Isaac wartet auf dich.« Felix deutet auf das schwarze Loch am Eingang des Wegs, der hinauf zum Wasserfall führt. Er legt einen Arm um meine Schultern und neigt sein Gesicht zu meinem herab. Für jeden Beobachter sieht es so aus, als würden wir uns gemeinsam davonmachen und Isaac links liegen lassen. »Er weiß, dass Hannah nicht hoch zum Wasserfall geht, weil sie Höhenangst hat, also …«

Also … ist das wahrscheinlich heute Abend meine einzige Chance, mit Isaac allein zu sein.

Und herauszufinden, ob er mir die Wahrheit gesagt hat.

»Dann lasse ich ihn mal lieber nicht warten.«

Die meisten unserer Freunde und Freundinnen haben es sich inzwischen mit Decken, Handtüchern und in Hängematten, die zwischen Baumstämmen aufgespannt sind, am Kiesstrand bequem gemacht. Nach Sonnenuntergang nuckeln sie lieber gemächlich am Lagerfeuer an ihren Bierflaschen, als auf dem schmalen Pfad, der sich am Rand der Klippe entlangschlängelt, ihren Hals zu riskieren. Darum reiße ich mich auch nicht gerade. Aber mit Isaac allein sein zu können, ist es wert.

Wenn Maggie noch hier wäre, würde sie versuchen, mir das auszureden. Doch sie ist vor einer halben Stunde losgezogen, um ein paar Flaschen Wasser zu holen, und nicht zurückgekehrt. Und daher gibt es nichts, was mich davon abhält. Wenn sie auf ihr Herz hört, darf ich das ja wohl auch. Maggie wird mir einfach nachsehen müssen, dass ich ein kleines bisschen leichtsinnig bin.

Mehr als ein Dutzend Augenpaare folgen Felix und mir, als wir uns in der Dunkelheit zum Waldrand begeben, während der schwache Strahl seiner Taschenlampe uns den Weg weist. Niemand fragt, wohin wir gehen. Oder was wir dort oben wollen. Das Rauschen des Wasserfalls übertönt ihr Getuschel und auch den Großteil meiner Schuldgefühle, weil ich Felix derart ausnutze. Dass er sich auf die Sache einlässt, obwohl er selbst auf einen Kuss von mir aus ist, beweist, dass er ein guter Freund ist – sowohl für Isaac als auch für mich.

Da mein Handy in Maggies Tasche ist, kann ich sie nicht anrufen, um ihr von meinem Vorhaben zu erzählen. »Wenn du meine Schwester siehst«, bitte ich Felix, »sag ihr, dass ich bei Isaac bin und sie sich keine Sorgen machen soll.«

»Bist du sicher, dass du nicht lieber mit mir da hochgehen willst?« Er lacht, aber die Art, wie er mich ansieht, mit diesem Dackelblick und dem hoffnungsvollen Lächeln, zeigt, dass er es ernst meint.

Isaac streckt eine Hand zwischen den Bäumen heraus, zieht mich ein Stück an sich heran und erspart mir damit, Felix eine Abfuhr geben zu müssen. »Danke, dass du Remy für mich hergebracht hast. Eine Szene von Hannah reicht für heute Abend.«

»Ja. Klar. Macht da oben nichts, was ich nicht auch machen würde.« Felix ringt sich ein weiteres Lachen ab, dann schlängelt er sich durch den Wald, damit niemand sieht, dass er ohne mich wieder zurückkommt.

»Hey«, sagt Isaac, als wir allein sind.

Es steckt so viel in dieser einen Silbe. Endlich, sagt sie. Jetzt steht nichts mehr zwischen uns.

»Hey.« Meine bedeutungsschwangere Antwort: Ich will das auch. Das Warten hat ein Ende.

Er hält mir seine Hand entgegen, mit der Handfläche nach oben, und ich verschränke meine Finger mit seinen. Nur ein schwacher Schimmer Mondlicht dringt durch die fast geschlossene Wolkendecke, und als wir ein paar Schritte in den Wald hineingegangen sind, ist auch der nicht mehr zu sehen. Die Taschenlampe, die mir Felix geliehen hat, flackert, als ob sie Angst vor der Dunkelheit hätte. Ich drücke Isaacs Hand in der stummen Bitte, nicht loszulassen, bis wir wieder im Hellen sind. Der süße Duft von gerösteten Marshmallows und Kokosnuss-Limetten-Sonnenmilch vom Lagerfeuer weicht einem feuchten, erdigen Geruch. Nach Frischgebackenem ist das mein zweitliebster Duft. Ich möchte ihn am liebsten in einem Flakon einfangen, damit ich ihn für den Rest des Sommers mit mir herumtragen kann.

Wir klettern über morsche Baumstämme und Felsen, die glitschig von der Gischt des Wasserfalls sind. Mein Fuß rutscht auf feuchten Blättern aus, und ich greife hastig nach einem Ast, um mich wieder zu fangen. Dabei fällt mir die Taschenlampe aus der Hand und ihr Licht wird vom Wald verschluckt.

»Hoppla! Alles okay?« Isaac lässt meine Hand los und legt seinen Arm um meine Taille, um mir Halt zu geben, obwohl seine Berührung das Gegenteil bewirkt.

Rinde löst sich unter meinen Fingernägeln und bleibt an meiner klammen Haut kleben. Ich wische meine Finger am Oberschenkel ab. »Ja. Mir geht’s gut.«

Er zieht mich näher heran, dann dreht er sich auf der Stelle und sucht den Boden nach der verloren gegangenen Leuchte ab. Es ist zu dunkel, um irgendetwas zu erkennen, das sich da unten verbergen könnte. Nachdem wir ein paar Minuten vergeblich nach der Taschenlampe Ausschau gehalten haben, geben wir auf und kehren mit leeren Händen zum Pfad zurück.

»Willst du zurück?«, fragt er.

Zurückzugehen bedeutet Geglotze/Getuschel/getrennte Wege. Es bedeutet, uns das vorzuenthalten, was wir beide unbedingt wollen. »Auf keinen Fall!«, erwidere ich.

Mein Wunsch, ihn zu küssen, ist stark genug, um Hannahs Stimme in meinem Kopf zum Schweigen zu bringen, die mahnt, dass er nicht über sie hinweg sei und sie nur eifersüchtig machen wolle. Sein Blick fällt auf meinen Mund, und ich weiß, er brennt ebenso auf den Kuss wie ich.

Etwas mehr Mühe kostet es mich jedoch, die Sorgen darüber zu verdrängen, welche Folgen der Kuss hat, falls er doch noch in Hannah verliebt ist. Was, wenn ich meine Holloway-Magie verliere, sobald sich unsere Lippen berühren? Das ist jedenfalls das schlimmste Szenario, das ich mir vorstellen kann. Obwohl, wenn es tatsächlich eine Konsequenz hätte, diese Regel zu brechen, wäre sie wahrscheinlich nicht sooo drastisch. Das Buch des Glücks hätte diese Warnung in fetten Lettern verkündet. Ich knülle den Gedanken zusammen, schiebe ihn in die hinterste Ecke meines Bewusstseins und baue darauf, dass die Magie mich beschützt.

»Ich auch nicht.« Isaac hält mich den ganzen Weg im Arm, bis die Klippe beginnt und der Pfad schmaler wird, sodass wir im Gänsemarsch gehen müssen. Ich taste mich langsam vorwärts und setze einen Fuß vorsichtig vor den anderen, denn obwohl die Magie der Kusszeit jetzt durch meine Adern fließt, bin ich mir nicht sicher, ob das Glück auf meiner Seite ist, wenn ich etwas tue, was meine Schwester leichtsinnig finden würde. Isaac streckt die Hand aus und hilft mir über eine besonders rutschige Stelle. Mein Herz schlägt erst dann wieder im normalen Rhythmus, als wir die massiven Felsplatten am Rand des Wasserfalls erreichen.

»Endlich sind wir ungestört«, sagt er.

»Wir hätten uns auch so mal allein treffen können. Das nennt man ›Date‹.«

»Das wäre wahrscheinlich schlauer gewesen. Aber ich weiß nicht so genau, wie diese ganze Kusszeit-Sache funktioniert. Und ich war mir nicht sicher, ob du mich küssen willst, bloß weil ich dich küssen will. Ich weiß, dass ein paar der Jungs auch auf dich stehen, also bin ich nicht der Einzige im Rennen.«

»Du würdest es merken, wenn ich dich nicht küssen will.« Nicht, dass ihn das davon abhalten würde, sich trotzdem Hoffnungen zu machen.

»Dann kann uns jetzt wohl nichts mehr aufhalten, hm?«

Einen Moment lang denke ich, dass er mich einfach so küsst. Keine Liebesschwüre, kein Trara. Nur Lippen, die auf Lippen treffen, und das war’s dann auch schon. Ich widerstehe dem Drang, einen Rückzieher zu machen, und will einfach nicht glauben, dass es Isaac nur um das Glück geht, sondern vertraue darauf, dass er mich – und diesen Kuss – genauso sehr will wie ich ihn. Und ich werde nicht enttäuscht, denn kurz darauf senkt er den Kopf und lächelt, als wäre es ihm peinlich, dass er die letzten Worte laut ausgesprochen hat.

Er tritt ein paar Schritte vom Rand der Klippe zurück, wo die Felsen dem rauschenden Wasser weichen, zieht sein Hemd aus und breitet es auf dem Boden aus, damit ich etwas halbwegs Sauberes habe, worauf ich sitzen kann. Dann lässt er sich auf den feuchten Steinen nieder. Ich gehe neben ihm in den Fersensitz und ziehe mein Kleid über die Knie.

»So krass, dass man die anderen neben dem dröhnenden Wasserfall nicht hören kann. Als ob außer uns niemand hier wäre«, sage ich. Der Blick, den er mir zuwirft, sendet einen warm prickelnden Schauer durch meinen Körper. Wenn er das kann, ohne mich auch nur zu berühren, werde ich dann in Flammen aufgehen, wenn wir uns endlich küssen?

Ich lege den Kopf in den Nacken und genieße diesen vollkommenen Augenblick. Genieße die Sekunden, bevor ich den ersten Jungen in meiner Kusszeit küsse und uns beiden damit eine glückliche Zukunft beschere.

Mein ganzes Leben hat mich zu diesem Moment geführt. Jede Nervenzelle in meinem Körper vibriert schneller und schneller, bis Aufregung und Vorfreude mich überwältigen. Ich will nicht, dass dieses Gefühl jemals aufhört. Aber wenn ich Isaac nicht bald küsse, werde ich mich wohl zum Abkühlen in den Wasserfall stürzen müssen, bevor ich den Verstand verliere.

Hier oben verschmelzen die Bäume auf dem nächsten Gipfel und der Himmel zu einem Meer aus Tinte und lassen sich nur durch die funkelnden Sterne voneinander unterscheiden. Das Plätschern und Rauschen des Wassers, das sich in den Abgrund ergießt, ahmt das heftige Klopfen meines Herzens nach.

»Spürst du es?« Ich senke die Stimme, sodass er an mich heranrücken muss, um mich zu verstehen.

»Was denn?«

»Die Magie in der Luft. Wie winzige Funken, die sich an deiner Haut entzünden.«

Isaac lässt seinen Blick an meinem Hals hinab zu meinen nackten Schultern wandern, dann wieder hinauf zu meinen Lippen, und ich muss mich zusammenreißen, damit ich mich nicht vorbeuge und ihn auf der Stelle küsse. »Du meinst, wenn ich dich küsse, brauche ich nie wieder eine andere zu küssen, weil es nie mehr so … intensiv sein wird?«

Ich lache. »So was in der Art.«

Sein verführerisches Lächeln erstirbt. Er richtet sich auf, stützt die Ellbogen auf die angewinkelten Knie, starrt über den Rand der Klippe und wirkt auf einmal ziemlich unschlüssig. »Remy, hör mal …« Er bringt meinen Namen nur mit Mühe heraus. Dann räuspert er sich und nimmt einen neuen Anlauf.

Aber auf Hör mal folgt nie etwas Gutes. Und die Tatsache, dass Isaac innerhalb eines Atemzugs vom Flirt-Modus in den »Wie-bringe-ich-es-ihr-schonend-bei«-Modus wechselt, ist völlig absurd. Es sei denn, er überlegt es sich gerade anders.

Hat er Angst vor der Magie? Oder geht es um Hannah?

Bei dem Gedanken daran drehen meine Nerven völlig frei. Ich wünschte, ich könnte sie mir aus dem Bauch reißen und wie Kieselsteine auf den Felsen verstreuen. »Es wird trotzdem noch schön sein, eine andere zu küssen. Versprochen«, beruhige ich ihn, während mein Herz noch immer wie verrückt hämmert.

»Ich weiß. Die Jungs, die Maggie dieses Jahr geküsst haben, hätten etwas gesagt, wenn die Magie ihnen auf Dauer die Tour vermasselt hätte.«

»Schweigen und genießen ist bei euch wohl nicht, oder?«

»Nicht, wenn es ums Holloway-Glück geht.«

»Warum hat es dann plötzlich den Anschein, als ob du mich nicht mehr küssen und etwas von dem Glück abhaben willst?«, frage ich. Es hat keinen Sinn, das Offensichtliche hinauszuzögern, auch wenn ich die Antwort nicht wirklich hören will.

Er neigt den Kopf, stützt ihn auf die Hand und vergräbt die Finger in seinem Haar. »Das will ich ja. Du bist echt cool, Remy.«

»Aber du bist doch noch nicht über Hannah hinweg, oder?«

»Hannah kann unglaublich gut Leute manipulieren. Ich habe den Gedanken an sie kurz an mich rangelassen, das ist alles.« Isaac sieht mich an, während das Mondlicht Schatten auf sein Gesicht malt. »Ich hab mich wieder gefangen. Und ich will dich unbedingt küssen.« Doch in seiner Stimme schwingt ein leichtes Zögern mit.

Da werfe ich mich ihm praktisch an den Hals, und er denkt an das Mädchen, das sein Herz regelmäßig als Zielscheibe benutzt? Hannah ist eine gute Schützin, ihre Trefferquote liegt bei hundert Prozent. Wahrscheinlich braucht sie nicht einmal den schwarzen Kreis, den er auf seine Brust gezeichnet hat, indem er sie jedes Mal zurückgenommen hat. Aber trotzdem ist Isaac hier oben bei mir. Er ist kurz davor, mich zu küssen. Also kann das, was er für Hannah empfindet, nicht wirklich Liebe sein, oder?

Mein Herz trommelt ein monotones Bittebittebitte, als mich Zweifel überkommen. Wie mein Verstand ist es nicht bereit, sich geschlagen zu geben und die Chance auf einen Kuss von Isaac verstreichen zu lassen. Wir haben diesen Tanz monatelang geprobt, den Rhythmus des anderen gelernt und getestet, wie nah wir einander kommen können, ohne uns zu berühren. Und jetzt, wo ich hier sitze und alles, was ich mir wünsche, zum Greifen nah ist, verdränge ich meine hartnäckigen Bedenken und glaube seiner Beteuerung, dass ich diejenige bin, die er will.

Es ist nur ein Kuss. Eine flüchtige Berührung von Lippen und Atemhauch. Aus der aber hoffentlich mehr wird. Etwas, das das Zeug für ein Liebeslied hat.

»Ich will dich auch küssen«, sage ich. So. Absolut. Unbedingt. Irgendwie schaffe ich es, die letzten Worte nicht auszublubbern.

Sein Grinsen ist das Letzte, was ich sehe, bevor ich meine Augen schließe und sein Mund auf meinem ist, nicht zaghaft, wie meistens beim ersten Kuss, sondern heiß und fordernd und perfekt. Ich lege eine Hand auf seine nackte Brust, direkt über seinem Herzen, und lasse mich gegen ihn sinken. Seine Hände umrahmen mein Gesicht und seine Finger vergraben sich tief in meinem Haar. Ich gebe mich der Leidenschaft hin, die zwischen uns aufbrodelt, und werde von ihr verschlungen.

In diesem Moment gibt es nur uns beide.

Als wir uns schließlich voneinander lösen, dauert es satte fünfzehn Sekunden, bis ich wieder zu mir komme, und danach eine Ewigkeit, bis ich mich bewegen kann. Als ich es tue, meint Isaac leichthin: »Vielleicht ist an der Magie ja doch was dran.«

»Dass ich sie in mir spüren kann, war nicht gelogen. Ich wusste bloß nicht, dass sie so … intensiv ist.«

»Mir tut jeder leid, der das nicht mit dir erleben kann.« Er wirft einen Blick in Richtung unserer Freunde und Freundinnen, die unten am Lagerfeuer chillen und nicht mitbekommen, was wir hier treiben. »Weißt du schon, wen du sonst noch küssen wirst?«

Wen sonst? Wie kann er glauben, dass es nach diesem Kuss noch jemanden geben kann? »Es ist nicht so, dass ich eine Liste hätte oder so.«

»Klar, du willst dir wahrscheinlich alle Optionen offenhalten.«

»Es macht dir nichts aus, wenn ich einen anderen küsse?«, frage ich und gebe ihm damit die Möglichkeit, die Kurve zu kriegen.

»Warum sollte es? Ich meine, das ist doch der Sinn der Sache, oder? Es wäre ja komisch, wenn du nur mich küssen würdest. Außerdem würden ein paar der Jungs echt durchdrehen, wenn sie denken, sie hätten keine Chance auf das Holloway-Glück.«

Seine Worte lassen eine Bombe in meiner Brust detonieren, die meine Rippen in Geschosse verwandelt. Die Knochensplitter durchbohren meine Eingeweide tausendfach. Ich atme tief ein, um mich gegen die schmerzhaften Stiche zu wappnen, doch die Luft entweicht einfach aus mir.

»Du bist so ein Arsch, Isaac.«

»Weil es mir nichts ausmacht, dass du andere Jungs küsst?«

»Weil ich dachte, du magst mich.« Tränen brennen in meinen Augen, aber ich blinzle sie zurück, denn vor ihm die Fassung zu verlieren, wäre noch etwas, das ich heute Abend bereuen würde. »Ich dachte, es wäre mehr als nur ein Kuss. Ich wäre mehr für dich als nur eine Glücksbringerin.«

Bei diesen Worten zuckt Isaac zusammen. So viel Anstand hat er wenigstens. »Was willst du denn von mir hören? Ich mag dich wirklich, Remy. Und ich habe nicht gelogen, als ich sagte, dass ich dich küssen möchte. Aber nach allem, was mit Hannah passiert ist, bin ich noch nicht bereit für was Ernstes. Ein Kuss ändert das nicht, auch wenn er im wahrsten Sinne des Wortes magisch war.«

»Gott, ich hätte wissen müssen, dass nach all den Jahren, in denen Hannah dein Herz in Stücke gerissen hat, kaum noch etwas davon übrig ist.«

»Und trotzdem willst du ein Stück davon abhaben«, sagt er. Das ist keine Anschuldigung, sondern eine nüchterne Feststellung, die er in demselben Tonfall vorträgt, in dem er Seth erzählt hätte, dass er sich bei einem Sprung nicht richtig gedreht und schräg statt senkrecht auf dem Wasser aufgekommen ist.

Nein, nicht ein Stück. Wenn er mir jetzt das ganze Ding anbieten würde, ich würde es nehmen. Dann wären wir wenigstens quitt.

»Der Zettel, den du an mein Fenster geklebt hast, wozu das Geschwafel, wenn du nur einen Kuss wolltest? Warum das ganze Getue vorhin vor Hannah, wenn sie doch recht hatte?«

»Du tust so, als wäre ich ein Verbrecher. Du bist ein Holloway-Mädchen. Leute zu küssen, ist eure Aufgabe. Ich habe gewartet, bis deine Kusszeit beginnt, damit ich dich küssen kann, aber vielleicht wäre Maggie die bessere Wahl gewesen. Sie hätte nicht versucht, mehr daraus zu machen als einen Kuss.«

Meine Kusszeit sollte der Abschnitt in meinem Leben sein, in dem sich ausnahmsweise einmal alles um mich dreht. In dem ich keine Minderwertigkeitskomplexe habe, weil ich die stillere Schwester bin und Maggie alles einfach so zufliegt. Isaac hat vielleicht so lange gewartet, bis er mich statt Maggie küssen konnte, aber er wollte trotzdem nur einen Kuss. Nicht mich. Nicht mein Herz.

»Keine Sorge, das werde ich auch nicht«, erwidere ich. »Du hast deinen Kuss bekommen. Ziel erreicht. Aber von mir aus kannst du dich gern von einer Klippe stürzen, weil du nicht der Typ bist, für den ich dich gehalten habe.«

»Krieg dich wieder ein«, blafft Isaac. Dann dreht er sich um und läuft auf den Rand des Wasserfalls zu, um sich, wie schon so oft, in die Tiefe zu werfen. Doch er stößt sich eine Sekunde zu spät ab, um den Sprung richtig auszuführen. Statt in einem Bogen nach oben zu steigen, fliegt er zu weit nach vorne und plumpst geradewegs hinunter.

Ich renne an den Rand und versuche, neben dem Wasserschwall die Fontäne auszumachen, die er verursacht, wenn er unten in das Felsbecken eintaucht. Aber es gibt keine Fontäne – zumindest keine, die so groß ist, dass sie neben der sprudelnden Gischt auffällt –, nur ein vom Rauschen des Wasserfalls gedämpftes Klatschen und ein Knirschen, das vermutlich niemand hört, als Isaac unten an den glatten Steinen hängen bleibt und halb im, halb außerhalb des Wassers landet.

4

Ich bin die Einzige, die Isaac fallen sieht. Die Einzige, die weiß, dass er da unten im Wasser liegt, verletzt ist und vielleicht sogar stirbt. Seth und Ethan tauchen sofort in das Felsbecken, als ich den Weg hinunterstolpere und ihnen – oder wem auch immer – zurufe, sie sollen ihm helfen. Jemand wählt den Notruf. Dann hagelt ein Haufen von Fragen auf mich ein, die ich nicht beantworten kann oder will.

Was ist da oben passiert?

Sollen Holloway-Mädchen nicht Glück bringen?

Wie konnte ausgerechnet Isaac einen Sprung so verhauen?

Wird er wieder?

Sie tragen Isaac aus dem Wasser, gefühlte Stunden später, obwohl es nur wenige Minuten gewesen sind. Seth hat die Arme um Isaacs Brust geschlungen, Ethan hält ihn an den Beinen. Als sie ihn auf das steinige Ufer legen, entweicht Isaacs Atem rasselnd und in schnellen, flachen Stößen. Ich denke nur, wenigstens atmet er, auch wenn es gar nicht gut klingt.

Aber atmen heißt, er lebt.

Hannah kniet sich neben Isaac in den Schlamm, streicht ihm über das Haar und flüstert: »Das wird schon, das wird schon«, als würde es wahr werden, wenn sie es nur oft genug wiederholt. Isaac schmiegt seine Wange in ihre Handfläche und sein schmerzverzerrtes Gesicht glättet sich ein wenig. Wie bescheuert war ich denn zu glauben, dass er nicht mehr in sie verliebt ist. Vielleicht mag er mich ja wirklich, wie er behauptet hat, aber das ist nichts im Vergleich zu dem, was er offensichtlich noch für Hannah empfindet.

Omas Warnung hallt laut in meinen Ohren wider – das Einzige, was schlimmer ist, als während der Kusszeit niemanden zu küssen, ist, jemanden zu küssen, dessen Herz bereits vergeben ist. Dann übermannen mich die Schuldgefühle.

Ist er verunglückt, weil wir diese Regel gebrochen haben? Bestraft ihn die Holloway-Magie für meinen Fehler?

Da im Buch des Glücks nicht erwähnt wird, was passiert, wenn ein Holloway-Mädchen gegen die Regeln verstößt, habe ich keine Ahnung, wie ich Isaac helfen kann. Weiß ich nicht, wie ich dafür sorgen kann, dass er wieder in Ordnung kommt. Im Moment kann ich nur hoffen, dass die Holloway-Magie nachlässt, wenn ich hier weggehe und sie mit mir nehme.

Wie ein Zombie schleiche ich um unsere Lagerstelle und suche die Gesichter im Schein des Feuers nach Maggie ab. Und weil sich fast alle am matschigen Ufer versammelt haben, ist eines sonnenklar. Meine Schwester ist nirgends zu finden und ich bin auf mich gestellt.

Paige fasst mich am Arm und zieht mich zum Weg, der zum Parkplatz hinaufführt. »Lass uns auf den Krankenwagen warten, okay?« Ihr kupferfarbenes Haar löst sich aus ihrem Messy Bun, und ihr Augen-Make-up besteht nur noch aus schwarzen Rändern, als hätte sie sich über die Augen gewischt, obwohl von Tränen keine Spur ist. Wir sind seit der ersten Klasse befreundet, und auch wenn wir uns in den letzten Monaten auseinandergelebt haben, weil sie sich Hannahs Clique angeschlossen hat, stehen wir uns immer noch so nahe, dass ich weiß, sie hat Angst und will es nicht zugeben.

Audrey hingegen lässt ihrer Nervosität freien Lauf, indem sie ununterbrochen plappert, während sie uns folgt und mir über den Rücken streichelt, sobald ich langsamer werde. Ich höre ihr nicht zu. Stattdessen zweifle ich bei jedem zweiten Schritt an meiner Entscheidung. Vielleicht ist es falsch, einen Bogen um Isaac zu machen. Vielleicht ist die Holloway-Magie das Einzige, was ihn retten kann. Maggie wüsste das. Meine Schwester weiß immer eine Lösung. Aber sie ist nicht hier, um mir zu erklären, wie die Magie funktioniert und was sie Isaac antun könnte. Ich habe keinen blassen Schimmer, wo Maggie abgeblieben ist, und ich fühle mich verloren. Und so gehe ich weiter und hoffe, dass meine erste Eingebung richtig war.

Wenn der heutige Abend irgendetwas gezeigt hat, dann, dass man meinem Urteilsvermögen nicht trauen kann. Und Isaac bezahlt jetzt den Preis dafür.

Obwohl wir zwanzig Minuten bis zum Parkplatz brauchen, sind wir trotzdem vor dem Krankenwagen da. Als er endlich eintrudelt, laufen die Sanitäter, zwei davon mit einer Trage, zu Fuß den Weg hinunter zum Ufer.

Ich bin nicht religiös. Ich bete nicht. Aber als die Minuten verstreichen, während wir darauf warten, dass sie Isaac zurückbringen, versuche ich es. Auch wenn es kein Gebet ist, sondern eher eine Bitte an das Universum: Lass ihn nicht sterben. Bitte, lass ihn nicht sterben.

Maggie kommt irgendwann kurz vor Mitternacht nach Hause. Sie stürmt in mein Zimmer, völlig außer Atem, als wäre sie den ganzen Rückweg gerannt. Ihr feuchtes Haar klebt ihr an Nacken und Schultern. Sie streicht es ungeduldig weg, als ob es ihr die Luft nehmen würde.

»Isaac ist im Krankenhaus.« Ihre Stimme versagt, und sie muss schlucken, bevor sie weiterreden kann. »Er soll vom Wasserfall gestürzt sein. Seine Lunge ist kollabiert und er hat sich ein paar Rippen gebrochen. Sie sagen, er hat Glück gehabt, dass er das überlebt hat.«

Die Finsternis in meiner Brust breitet sich noch weiter aus, tentakelartige Finger greifen nach Nerven und Muskeln und halten die Gefühle zurück, die bei ihren Worten wieder hochkommen wollen. Ich erzähle ihr nichts von dem, was zwischen Isaac und mir oben am Wasserfall vorgefallen ist.

Nichts von unserem Kuss.

Nichts davon, dass er vielleicht/irgendwie/wahrscheinlich noch in Hannah verliebt ist.

Und schon gar nichts darüber, dass sich mein Inneres anfühlt, als würde es verderben und jeder Tropfen Magie in meinem Blut zu Asche werden.

Wie soll ich vor ihr auch zugeben, dass meine Kusszeit, obwohl sie gerade erst begonnen hat, bereits in Scherben liegt und alles meine Schuld ist?

»Glück hat damit nichts zu tun«, flüstere ich.

Sie fährt fort, als ob ich nichts gesagt hätte. »Und ich wusste nicht, wo du warst. Jemand meinte, du warst bei ihm, als er heruntergestürzt ist, und dann warst du einfach weg. Vielleicht im Wald oder im Wasser – ich hatte nicht die leiseste Ahnung.« Maggie presst sich den Handrücken auf den Mund, als ihr die Tränen in die Augen schießen, und verschmiert die Reste ihres Lippenstifts. Sie lässt sich auf das Bett sinken und lehnt sich an mich, um zu testen, ob ich echt/aus Fleisch und Blut/hier bin.

»Ich bin nach Hause.«

»Das sehe ich. Ich bin fast verrückt geworden, weil ich nicht wusste, ob es dir gut geht oder nicht. Warum hast du denn nicht auf mich gewartet?«

Bei Isaacs Freunden zu bleiben, nachdem der Krankenwagen ihn abtransportiert hatte, kam nicht infrage. Nicht nach dem, was ich getan habe. Obwohl sie nicht wussten, dass ich ihn geküsst habe, wussten alle, dass ich irgendetwas mit seinem Unfall zu tun habe. »Weil du nicht da warst, Mags. Zuerst habe ich überall nach dir gesucht, bevor du gemerkt hast, dass ich nicht mehr da bin.«

Ich bin unfair. Es ist nicht Maggies Schuld. Nicht wirklich. Aber wenn sie nicht einfach wer weiß wohin abgehauen wäre, wäre ich bei ihr gewesen, statt heimlich Isaac zu küssen. Und alles wäre in bester Ordnung.

Er wäre in bester Ordnung.

»Du hättest jemandem sagen können, dass es dir gut geht und dich jemand nach Hause bringt.«

»Hätte ich mein Handy gehabt, hätte ich dich angerufen. Aber das ist in deiner Tasche. Du weißt schon, die, die du mitgenommen hast, als du heute Abend verschwunden bist, ohne mir zu sagen, wohin du gehst oder mit wem du unterwegs bist. Da schienst du ja nicht so besorgt um mich zu sein.«

Mich überkommt ein Anflug von Panik, wie nach dem Unfall, als ich gemerkt habe, dass ich niemanden anrufen und um Hilfe bitten kann. Die Luft im Raum wird dünn. Meine Lunge brennt, weil mir das Atmen schwerfällt. Und plötzlich will ich Maggie so weit wie möglich von mir weghaben. Ich lege mich auf den Rücken und strecke mich, mache mich in meinem Bett so breit, wie es geht. Sie zuckt kurz zusammen, als ich sie mit dem Knie anremple, aber sie steht nicht auf.

»Es war der erste Abend deiner Kusszeit. Ich dachte, du willst vielleicht nicht, dass ich die ganze Zeit an dir klebe«, verteidigt sie sich.

Noch ein paar flache Atemzüge, dann verwandelt sich die Panik in Wut. Heute ist viel passiert, woran ich schuld bin. Dass meine Schwester mich allein gelassen hat, gehört nicht dazu. »Es war auch dein letzter Abend. Ich wette, du wolltest einen letzten Kuss, bevor dich die Magie verlässt. Also tu nicht so, als wärst du mit dem, auf den du gerade scharf bist, nur mir zuliebe abgehauen.«

Maggie wendet ihren Kopf und blickt mich über die Schulter hinweg an. Ihr Lippenstift ist so gut wie weg, nur ein Hauch von Rot ist übrig. »Warum bist du denn so sauer auf mich?«

»Weil du mich anlügst.«

»Mach ich nicht.«

»Ha, du lügst ja schon wieder.«

»Also schön. Was verheimliche ich denn vor dir?«

Was verheimlicht sie mir denn nicht? Wir hatten noch nie Geheimnisse voreinander, aber plötzlich türmen sie sich zwischen uns auf und treiben uns auseinander, jetzt, wo ich Maggie am meisten brauche. »Erstens, warum du dich heute Abend weggeschlichen hast. Zweitens, mit wem du dich verdrückt hast. Mit wem du seit Wochen am Handy flirtest und denkst, ich wüsste es nicht. Ich bin nicht doof, Maggie. Ich weiß, dass du dich mit jemandem triffst und alles tust, damit ich nicht dahinterkomme. Ich verstehe bloß nicht, warum.«

»Ich wollte einfach nicht, dass du das Gefühl hast, wir würden dich ausschließen.« Maggies Stimme ist sanft, flehend, sie bittet bereits um Verzeihung, bevor die Katze aus dem Sack ist. »Du, Laurel und ich, wir haben so unser Ding. Zu dritt. Und dann haben sie und ich vor ein paar Wochen uns auch mal nur zu zweit unterhalten. Und daraus ist dann irgendwie mehr geworden.«

»Du und Laurel ?« Das muss ein Witz sein. Hält sie es wirklich für eine gute Idee, mit einer unserer besten Freundinnen etwas anzufangen? Maggies Gefühle wechseln so oft wie ihre Lippenstiftfarbe, also jeden zweiten Tag. Aber wenn sie ihre Beziehung mit Laurel geheim hält, muss es ja etwas Ernstes sein. Oder sie will nicht, dass ich ihr die Schuld gebe, wenn Laurel nichts mehr mit mir zu tun haben will, falls es so läuft, wie es bei Maggies Beziehungen immer läuft. Ich setze mich auf und lehne mich mit dem Rücken an die Wand. Ich ziehe die Knie an und umfasse sie mit den Armen, damit sie nicht zittern. »Warst du heute Abend mit ihr zusammen? Hast du sie geküsst?«

Ich muss sie nur ansehen und weiß, dass es so war. Ihr nasses Haar hängt in Strähnen herab und tropft auf ihre Schultern. Der Stoff ihres Einteilers ist nur über dem BH und dem Slip feucht, also hatte sie ihn beim Schwimmen nicht an. Natürlich hat sie mir auch kein Sterbenswörtchen darüber verraten, dass sie mit Laurel nur in Unterwäsche baden war.

»Sei mir deswegen bitte nicht böse.«

»Hast du sie geküsst?«, frage ich noch einmal.

Sie erhebt sich vom Bett, schlingt die Arme um sich und weicht meinem Blick aus. »Ja.«

»Warum? Wegen der Kusszeit oder weil du etwas für sie empfindest?«

Maggie wäre vielleicht die bessere Wahl gewesen. Isaacs Worte haben sich in mein Gedächtnis eingebrannt. Meine Schwester hat die Erwartung geweckt, dass in der Kusszeit alle mal dürfen. Warum sollte sie da bei Laurel eine Ausnahme machen?

»Du hast Isaac heute Abend geküsst, oder? Wieso?«, will sie wissen.