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Ein packender, vielschichtiger Psycho-Krimi von Glauser-Preisträgerin Petra Busch In einer Sommernacht kommt die Witwe Edith Felber ums Leben, als während eine Unwetters das Dach ihrer Werkstatt einstürzt. Ihr Sohn, der Kriminaltechniker Lukas Felber, und dessen sensible Schwester Sarah sind schockiert, als sich der Tod der Mutter als Mord entpuppt. Hauptkommissar Ehrlinspiel leitet die Ermittlungen, ihm zur Seite steht Karolina Baumann, die neue Konfliktberaterin. Als die beiden tiefer die Familiengeschichte der Felbers dringen, gerät ihr Kollege Lukas ins Zwielicht. Was hat es mit dem tödlichen Unfall seines Vaters vor 28 Jahren auf sich? Und warum reagiert Sarah so aggressiv auf ihren Bruder? Felber kämpft mit wachsender Angst und einer grausamen Erkenntnis. Auch Baumann weiß mehr als die Kollegen. Als sie sich Lukas anvertraut, gibt es einen weiteren Todesfall … "So einfühlsam und genau wie Petra Busch erzählt im Augenblick keine andere deutsche Autorin von Verbrechen und Mord." WDR
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Seitenzahl: 483
Petra Busch
Deine Seele so schwarz
Kriminalroman
Knaur e-books
In einer Sommernacht kommt die Witwe Edith Felber ums Leben, als während eines Unwetters das Dach ihrer Werkstatt einstürzt und sie unter sich begräbt. Ihr Sohn, der Kriminaltechniker Lukas Felber, und dessen sensible Schwester Sarah sind schockiert, erst recht, als sich der Tod der Mutter als Mord entpuppt.
Hauptkommissar Ehrlinspiel leitet die Ermittlungen, ihm zur Seite steht Karolina Baumann, die neue psychologische Beraterin. Als die beiden tiefer in die Familiengeschichte der Felbers dringen, gerät ihr Kollege Lukas ins Zwielicht. Was hat es mit dem tödlichen Unfall seines Vaters vor 28 Jahren auf sich? Und warum reagiert Sarah so aggressiv auf ihren Bruder? Felber kämpft mit wachsender Angst und einer grausamen Erkenntnis. Auch Baumann weiß mehr als die Kollegen. Als sie sich Lukas anvertraut, gibt es einen weiteren Todesfall …
Die Nacht war heiß wie im Juli. Aus dem Autoradio dröhnte Rick Astley, Take me to your heart. Sie streckte den Kopf zum offenen Beifahrerfenster hinaus, der Fahrtwind traf hart ihre Wangen, fast schmerzhaft, und sie stellte sich vor, dass es seine Hände waren, die ihr über das Gesicht strichen. Sie jauchzte. Noch nie zuvor hatte sie im Auto vorn sitzen dürfen.
Er gab Gas.
Es war großartig. Die großartigste Nacht in ihrem Leben.
Verboten.
Neu.
Das beste Geschenk zu ihrem elften Geburtstag.
Sie fühlte sich erwachsen. Ihre Mutter hatte ja schon immer gesagt, dass sie frühreif sei. »Yeah«, schrie sie den schwarzen Silhouetten der Bäume entgegen, deren Stämme einer nach dem anderen für den Bruchteil einer Sekunde im Scheinwerferlicht aufblitzten. Doch das Röhren des alten Motors und die Weite der Landschaft verschluckten ihre Stimme.
»Willst du …?«, hörte sie ihn schreien, verstand aber den Rest nicht. Sie zog den Kopf ins Innere des Wagens zurück. »Was?«
»Lenken! Ob du mal lenken willst.« An seiner Stimme erkannte sie, dass er lächelte.
Sie blickte zu ihm, und sogar in der fast vollständigen Finsternis konnte sie sehen, wie sein linker Arm lässig im Rahmen des heruntergekurbelten Fensters hing.
Sie griff ins Lenkrad. »Klar!« Das Leder war warm. Warm von seiner Wärme. Seinen Händen. Er ließ das Lenkrad los. »Du musst aber Gas geben und bremsen«, rief sie gegen den Motor, den Wind und Rick Astley an.
»Keine Sorge.«
Das Auto jagte den Berg hinauf.
Dasselbe hatte sie auch betont cool zu ihrer Mutter gesagt, als diese sie beim Abendbrot ermahnt hatte, nicht mehr so lang zu lesen. »Um halb neun Uhr ist das Licht aus.« Morgen stand ihr dieses blöde Diktat in Deutsch bevor. Da müsse sie ausgeschlafen sein, hatte die Mutter gesagt, damit es eine gute Note würde. Gute Noten seien wichtig. Fürs Leben. Und die Familie.
»Aber ich hab heute Geburtstag!«
»Wir feiern am Wochenende nach. Das haben wir doch alles schon besprochen. Heute wird geschlafen.«
»Aber der Papa hat gesagt …«
»Der Papa ist nicht da. Ab ins Bett jetzt! Und Licht aus, ja?«
»Jaaa, jaaa.« Sie hatte die Augen verdreht, war rasch in den Flur zu dem Schlüsselkästchen geschlichen und dann in ihr Zimmer hinaufgegangen. Perfekt gelaufen! Sie löste die Verrieglung ihrer Balkontür, putzte sich die Zähne, wusch Gesicht und Hände und zog das neue Kleid an. Sie hasste den Pfefferminzgeschmack der Zahnpasta, und das Kleid war wahrscheinlich viel zu dünn. Doch sie wollte schön sein für die Nacht und gut riechen. Sie hatte es ihm versprochen.
Dann legte sie sich ins Bett, den Wecker im Blick, und betrachtete das Bild mit dem Streichorchester über ihrem Schreibtisch. Typen mit schwarzen Klamotten und doofen Spießerfrisuren. Völlig bescheuert. Falco und Nena hatten viel besser hier hereingepasst. Die waren echt cool. Und auch die Poster mit den Pet Shop Boys und Robin Beck hatte sie geliebt. Am liebsten hätte sie ein riesengroßes Bild von ihm über ihr Bett gehängt. Doch das wagte sie nicht.
Gleich konnte sie ihn ohnehin unentwegt ansehen. Ihr wurde warm, und gleichzeitig kribbelte es ihr im Bauch, als liefen Ameisen in ihr herum. Sie fragte sich, was das in den letzten Wochen für ein eigenartiges Gefühl war.
Punkt zweiundzwanzig Uhr war er gekommen. Wie verabredet.
»Mein Engel«, sagte er und gab erneut Gas.
»Ras nicht so! Ich kann sonst nicht lenken.« Rechts und links der Straße lagen freie Wiesen, nur vom Mond in ein fahles Licht getaucht.
»Wir drehen jetzt um.« Er schob ihre Hand vom Lenkrad herunter. »Du musst nach Hause. Deine Mutter wird dich suchen.«
»Wird sie nicht!«
Er lachte, bremste ab und bog auf einen Feldweg ein, der zu dem kleinen Waldstück mit dem schattigen Weiher führte. In den letzten Wochen waren sie oft mit den Fahrrädern dorthin gefahren und hatten gebadet, zusammen mit den anderen Jugendlichen aus dem Dorf. Oben angekommen, waren sie verschwitzt von der Steigung gewesen und voller Freude in das kühle Wasser gesprungen. Er hatte sie immer verstohlen angesehen in ihrem Badeanzug, fast als schäme er sich. War sie zu dick? Die Mutter ermahnte sie ständig, nicht so viel zu essen. Dabei hatte die selbst einen richtig fetten Arsch und Bauch.
Am Rand der Wiese, die direkt in das Kiesufer überging, hielt er an, schaltete Motor, Radio und Licht aus. Der Mond reflektierte auf der stillen, spiegelglatten Oberfläche wie eine silberne Scheibe. Kein Windhauch störte die Ruhe, kein Rascheln war aus dem Wald zu hören. Nur ein Vogel rief in die Dunkelheit.
»Was ist? Du wolltest mich heimfahren. Wegen meiner Mutter.«
»Gleich.« Seine Hand berührte ihren Oberschenkel. Sie war warm. Irgendwo schrie ein zweiter Vogel. Papa wüsste bestimmt, was es für einer ist. Ein Uhu oder ein Kauz oder so was. Es roch nach Algen und Tannen. Im Herbst, wenn es nass war, roch es nach Erde und Moos. Jetzt war alles trocken.
»Du darfst niemandem erzählen, was wir hier machen, hast du das verstanden!« Seine Stimme klang plötzlich rauh, und sie roch das Bier in seinem Atem.
Sie lachte. »Nein, du darfst es niemandem erzählen.« Wenn ihre Mutter wüsste, dass sie nicht im Bett lag und dass sie den Autoschlüssel … Kurz wurde ihr übel.
Er lachte ebenfalls, und sie fragte: »Hast du Bier dabei?«
»Du bist zu jung für Alkohol.«
»Aber ich bin schon elf! Wenn wir uns eine Dose teilen, dann …«
»Du willst also Dinge tun, die nur Erwachsene machen, hm?« Seine Hand glitt auf ihrem Oberschenkel ein wenig nach oben, dann noch ein Stückchen weiter unter dem Sicherheitsgurt hindurch, und sie spürte seine Finger unter ihrem Slip.
Sofort verkrampfte sie sich und richtete ihren Blick starr auf das Wasser. »Fahr jetzt!« Sie hatte sich das anders vorgestellt. Händchen halten, über die Haare streicheln. Ein bisschen Bier trinken. Aber nicht an … dieser Stelle da anfassen. »Hör auf!«
Seine Hand erstarrte.
»Fahr!«, kreischte sie und fürchtete, er könne ihren rasenden Herzschlag hören.
Sofort zog er seine Hand zurück. »Entschuldige«, flüsterte er und schaltete das Radio wieder ein. If you knew what I’m feeling, you would not say no, sang Rick Astley fröhlich, und aus dem Augenwinkel sah sie, wie er den Kopf senkte.
»Ich will nach Hause!« Nicht weinen, sagte sie sich. Sie war doch schon fast erwachsen!
Er startete den Motor, wendete und gab Gas, jagte den Wagen über den dunklen Waldweg zurück. Erde spritzte auf und prasselte laut gegen die Windschutzscheibe und Karosserie.
Sie umklammerte den Türgriff, schwieg, den Blick starr auf ihren Schoß gerichtet, auf den Rocksaum des roten Kleides, das sie heute Mittag nach der Schule aus einem raschelnden Seidenpapier ausgepackt hatte. Papa hatte sich so gefreut, dass sie es gleich angezogen und sich singend im Kreis gedreht hatte.
Auf der schmalen Asphaltstraße ins Dorf hinab beschleunigte er noch mehr. Don’t worry, be happy, sang Bobby McFerrin, In every life we have some trouble, und im Scheinwerferlicht flogen die Straßenpfosten im Sekundentakt vorbei. Als sie sich dem Gasthaus am Dorfeingang näherten, nahm sie all ihren Mut zusammen und rief: »Du musst langsam fahren!«
Er reagierte nicht. Auch nicht, als sie an der Gaststätte vorbeischossen und die ersten Häuser passierten, zwischen denen die Straße im gelben Licht der Laternen lag.
»Bitte, ich hab Angst!« Sie sah zu ihm. Er presste die Lippen aufeinander, und die Knöchel seiner Hände, die das Lenkrad umklammerten, traten weiß hervor. Er war ihr plötzlich unheimlich und fremd.
Rechts tauchte die Kirche auf, dann die langgestreckte Backsteinmauer, die den stillgelegten alten Friedhof umgab. In dem Efeu, der alles überwucherte, brüteten Vögel, und zwischen den Gräbern wohnten Igel.
Sie wollte jetzt an die Igel denken. Damit sie nicht auf die Straße sehen musste, die schnell wie in einem Actionfilm auf sie zuraste und unter ihnen verschwand. Scharf zog der Fahrtwind durch den Wagen. Vorhin hatte sie ihn genossen. Jetzt schmerzte er sie.
Die Scheinwerfer auf der Gegenfahrbahn tauchten wie aus dem Nichts auf. Hell und unruhig näherten sie sich, schnell, viel zu schnell.
»Brems!«, schrie sie. Die Scheinwerfer rasten direkt auf sie zu, kamen auf ihre Fahrbahn herüber, wechselten kurz zurück, schossen wieder frontal auf sie zu. Sie wimmerte.
Er riss den Wagen scharf nach rechts.
Später hätte sie nicht sagen können, was sie zuerst wahrgenommen hatte. Die Gestalt draußen auf dem Gehweg, den dumpfen Aufprall, den Knall und das Splittern der Windschutzscheibe, die Steine, die ihr in den Schoß fielen, oder McFerrins Stimme in der blutigen Stille. Somebody came and took your bed. Don’t worry, be happy.
Blut, überall Blut. Rotgolden im Licht der Straßenlaternen. Rotgolden auf den Glassplittern, auf dem Armaturenbrett, in ihrem Schoß. Sie wusste nicht, wo der rote Saum des Kleides endete und wo das Blut begann. Und etwas anderes lag noch auf ihrem Schoß. Sein Arm. Fast sein ganzer Körper lastete auf ihr, gerade so, als habe er sich zu ihr gebeugt und wolle ihr wieder unter den Slip greifen. Doch er bewegte sich nicht. Und jetzt sah sie, woher das viele Blut kam. Das Blut, das sich über ihre Oberschenkel und den Sitz ergoss. Sehnen. Knochen. Fleisch. Sie wollte schreien, laut bis in den Himmel. Doch aus ihrem Mund kam nur ein Krächzen.
Eine kleine Ewigkeit später, als das Blut nur noch träge und in kleinen Stößen über ihre Beine floss, rüttelte sie an der Tür, die klemmte. Sie kletterte aus dem Fenster, stürzte auf den Asphalt und kroch auf allen vieren los, Don’t worry, be happy im Ohr, um sie herum alles verschwommen wegen der Tränen. Sie spürte ihre offenen Knie nicht, roch das Blut nicht mehr, sah nichts von der Umgebung. Sie war nur Angst. Ein Bündel Angst, das über den Asphalt kroch. Bis ihr etwas den Weg versperrte. Mit der Hand wischte sie Tränen und Rotz weg. Sah in zwei Scheinwerfer. Hob schützend den Unterarm vor die Augen, beobachtete, wie die Tür des Autos aufging, sah zwei Beine, die auf sie zukamen.
Da endlich konnte sie schreien. Schreien, bis sie glaubte, ihre Lunge würde zerreißen, und bis die Beine direkt vor ihr stehen blieben und sie in der erlösenden Finsternis versank.
Der Regen schlug wie Schrotkugeln gegen die geschlossenen Fensterläden, und aus der lecken Dachrinne hörte sie das Wasser auf den Asphaltweg platschen. Edith griff nach der Fernbedienung des Fernsehers, erhöhte die Lautstärke von sechs auf zehn und trank einen großen Schluck Schafbuttermilch. Ohne den Nachrichten wirklich zu folgen, starrte sie auf den Bildschirm. Lächelte vor sich hin und strich fast liebevoll über das Glas mit der cremigen weißen Flüssigkeit.
Seit über einem Jahr hatte sie experimentiert, um eine bessere Konsistenz zu erreichen. Erst war die Milch zu sauer und dickflüssig gewesen, dann zu wässrig. Jetzt war sie perfekt: sämig weich und glatt auf der Zunge, leicht säuerlich, und der Geschmack nach Schaf dominierte nicht.
Der Sommer konnte kommen. Ihr Dorfladen und der Wochenmarkt warteten auf eine Neuheit. Seit Jahren verkaufte sie gut. Marmeladen, Kräuter- und Teemischungen – und Buttermilch. Die neue Milch würde dieses Jahr der Renner werden. Edith glaubte fest daran. Genauso wie daran, dass der halbe Liter, den sie täglich trank, sie noch mindestens zwanzig Jahre gesund halten würde.
Bilder von überfluteten Häusern flimmerten über den Bildschirm, Menschen in Schlauchbooten und Autos, die wie Papierschiffchen auf einem Bach durch die überschwemmten Straßen trieben. Edith hatte es sich in ihrem Lieblingssessel bequem gemacht, einer riesigen Halbkugel aus Holz, in der ein dickes Polster und darüber ein Schaffell lagen. Seit Georgs Tod liebte sie das Möbelstück noch mehr. Sie konnte sich hineinkuscheln und an ihren Mann denken, an seine Wärme und Berührungen. Und daran, wie er diesen Sessel in einem sonnigen Herbst gefertigt hatte.
Draußen krachte etwas. Sie rutschte in dem Sessel nach vorn. Nicht, dass die Unwetter sie beunruhigten, die seit Tagen in ganz Deutschland wüteten und zahlreiche Tote forderten. Die Toten zählte sie schon lang nicht mehr. Vater, Mutter, Ehemann, Tochter … und was interessierten sie diese Betonmoloche in den Tälern. Millionen fremder Menschen. Hektik. Gifte. Hier oben war sie sicher, hier auf halber Höhe des Schauinsland, zu dessen Fuß sich Freiburg ausbreitete. Kam zu viel Wasser vom Berg, so schoss es geradewegs Richtung Stadt hinab, vorbei an ihrem alten Bauernhaus mit dem Dorfladen im Erdgeschoss, vorbei an dem Stall mit ihren Schafen, der auf der hinteren Weide am Wald lag, und vorbei an der Werkstatt, die genau gegenüber, auf der anderen Straßenseite, an den Hang gebaut war.
Angst kannte Edith nicht. Nicht vor derlei banalen Dingen. Starkregen und Gewitter würden wieder aufhören. Sie hatte hier in fast siebzig Jahren Fluten von Tauwasser, einen Erdrutsch, kleine Lawinen, Trockenperioden und Orkane erlebt, dazu ein abgedecktes Dach, ein Stück weggeschwemmte Straße und Tage, in denen meterhoher Schnee sie von der Versorgung abgeschnitten hatte. Darüber konnte sie nur lächeln. Es war noch immer alles gutgegangen. Und auch jetzt würde alles ohne größere Schäden ablaufen. Obwohl die Männer vom Technischen Hilfswerk, die gestern irgendwelche Stäbe in den Hang hinter der Werkstatt getrieben und dazwischen Matten aufgespannt hatten, ihr geraten hatten, einige Tage zu ihren Kindern zu ziehen. »Das ist ein Jahrhundertunwetter! Wenn der Hang vollends durchweicht und herunterbricht«, hatte ein stämmiger Kerl mit gelbem Helm zu ihr gesagt, »können Sie hier alles dichtmachen. Die Werkstatt, den Dorfladen und wahrscheinlich auch Ihre Wohnung.«
Edith stellte das Glas mit der Buttermilch auf dem Couchtisch ab. Was wusste der Typ schon! Kommt alle Schaltjahre mal aus dem Tal hier herauf und denkt, er müsse das ganze Dorf evakuieren und auch noch Straßensperren errichten! Nicht mit ihr! Als die Nachbarn gemeinsam aufbrachen, hatte sie behauptet, ihr Sohn hole sie gleich ab. Wozu flüchten? Hier war noch nie etwas Schlimmes passiert. Außer damals, an dem Tag vor siebenundzwanzig Jahren. Aber das war keine Naturgewalt gewesen.
Im Fernsehen wechselte der Ton. Die Nachrichten waren zu Ende. In einer finsteren Häuserschlucht jagten sich jetzt zwei Typen, ballerten mit Pistolen herum und schrien. Sie schaltete um. Krimis mochte sie nicht. Ein Konzert mit klassischer Musik, das wäre jetzt gut gewesen. All die Menschen in ihren schönen dunklen Anzügen und Kleidern. Doch nirgends spielte ein Sinfonieorchester. Bei einer Reportage über Wüsten blieb sie hängen. Ein gutes Omen, dachte sie und freute sich über die Bilder von trockenem Sand. Fast glaubte sie, die Sonne und die heißen Sandkörner auf ihrer Haut zu spüren. Ein paar Tage noch, dann würde hier oben endlich ein richtiger Juli herrschen. Mit Sonne, dem Duft der Wiesenkräuter und den Schafen auf den Weiden, die jetzt geschützt im Stall standen.
Und falls es doch Probleme geben sollte, war ja schon Hilfe unterwegs. Bereits am Nachmittag hatte Edith angerufen. Straßensperren hin oder her. Denn der Werkstatt durfte keinesfalls etwas passieren. Georgs Werkstatt. Die sie in den letzten siebenundzwanzig Jahren nur drei Mal betreten hatte. Einmal am Tag nach seinem Tod, mit dem auch ein Stückchen von ihr selbst gestorben war. Vier Jahre später, als sie Genugtuung erfahren und die Figur des Liebespaares dort verwahrt hatte. Und vor einer Woche. Zusammen mit Sarah. Als sie alles geplant hatten. Die Werkstatt und was sich darin befand, würde sie bis zum letzten Atemzug beschützen.
Edith blickte auf die Wanduhr. Halb zwölf nachts. Konnte es tatsächlich so lang dauern, von Freiburg hier heraufzufahren? Wegen des bisschen Regens? Waren wirklich alle Wege überschwemmt oder unterspült? Oder war das letzte Stück vor dem Dorf nur zu Fuß passierbar, und deswegen brauchte man so viel wertvolle Zeit? Niemals! Sie war doch heute früh noch auf dem Markt gewesen und hatte ihre Johannisbeermarmelade und den Feldsalat verkauft.
Sie spürte die vertraute Mischung aus Zorn und Enttäuschung in sich aufsteigen. Heiß, schnell wie ein Skorpion, der sich aus einem Sandloch nach oben gräbt.
Rasch konzentrierte sie sich auf den Wüstenfilm. Sanfte Dünen, stahlblauer Himmel, Menschen in langen, blauen Gewändern, die auf Kamelen in die ockerfarbene Weite ritten. So gern wäre auch sie einmal verreist. Aber weiter als bis zur Ostsee hatte sie es nie geschafft. Georg hatte ihr die Tage dort geschenkt. Einzelzimmer in einem Romantikhotel zwischen den Dünen. Zur Erholung nach der schwierigen Geburt des zweiten Kindes. Sie hatte den Sand und die Möwen geliebt, und vor allem hatte sie es genossen, umsorgt zu werden. Es war die Ausnahme gewesen und auch geblieben. Harte Hofarbeit schon als Jugendliche, Schule, Lehre als Köchin, Ehe, Hilfe in der Werkstatt, Schwangerschaft, Kinder, Pflege der Eltern … Sie war pausenlos für das Überleben anderer da gewesen. Nur nie für sich selbst.
Jetzt war Edith achtundsechzig Jahre alt, und seit Georgs Tod hatte sie alles allein geschafft. Die Kinder großgezogen, die Ausbildung des Ältesten finanziert, aus dem Verkaufsladen für Georgs Schnitzereien den Dorfladen gemacht und für die Stadt ihren Marktstand etabliert.
Draußen krachte es erneut, der Sturm riss an den Klappläden, und für ein paar Sekunden verstand sie den Kommentator im Fernsehen nicht. Dann flogen die Fensterläden auf. Edith stemmte sich aus dem Sessel hoch und trat ans Fenster. Die Läden schlugen gegen die Außenwand und dann wieder gegen den Fensterrahmen. Außer schwarzer Nacht konnte sie nichts erkennen, die Straßenlaternen waren ausgegangen, und die Sicht reichte nicht einmal bis auf die gegenüberliegende Straßenseite. Dorthin, wo sie noch immer Georg hinter der Werkbank stehen sah und ihm in Gedanken zuwinkte.
Wieder das Krachen, es kam von oben, vom Dachstuhl. Dann ein Blitz, und in den wenigen Sekunden, in denen er die Szene in silbernes Licht tauchte, erkannte Edith die Dachziegel, die in den Vorgarten fielen und zu Scherben zerbrachen. Nur einen Augenblick später neigte sich mit einem lauten Knirschen die riesige Weißtanne an der Hofeinfahrt Richtung Straße.
Jetzt schluckte sie doch. Sie sollte noch einmal anrufen. Die Hilfe noch eindringlicher anfordern. Zu den Nachbarn konnte sie nicht, die waren alle bei Verwandten und Freunden untergekommen. Wenigstens war der Stall mit den Schafen sicher. Er lag leicht erhöht, schräg hinter dem Haus am Waldrand. Das Wasser floss sicher um ihn herum. Aber die Werkstatt? Sie presste die Lippen aufeinander.
Vielleicht hätte sie nicht so stur sein und der Anordnung des Technischen Hilfswerks folgen sollen. Jetzt war sie mit ihren Tieren ganz allein hier oben. Umgeben von dunklen Häusersilhouetten, tiefem, dunklem Wald, tosenden Regenbächen, Gewitter, Sturm und Nacht.
Eine Bö riss mehrere Dachziegel herunter, und zeitgleich zu einem Blitz, der vom Gipfel des Schauinsland bis zu ihr zu zucken schien, ließ ein ohrenbetäubender Donner sie vom Fenster zurücktreten. Monotone, quäkende Musik begleitete die schaukelnden Kamele im Fernseher.
Edith schaltete ihn aus.
Da hörte sie es … dumpf und ohrenbetäubend, als setze sich der halbe Schauinsland in Bewegung. Augenblicklich erinnerte sie sich an das Gesicht unter dem gelben THW-Helm. Jahrhundertunwetter. Wenn der Hang vollends durchweicht und herunterbricht. Alles dichtmachen. Mit angehaltenem Atem trat sie wieder ans Fenster. Spürte ihren Herzschlag hart unter der Baumwollbluse.
Der nächste Blitz brachte Gewissheit. Wie in Zeitlupe lösten sich vom Hang hinter der Werkstatt riesige Erdschollen und rutschten träge auf das Dach herab. Massen an schwerem Geröll schoben nach.
Das konnte nicht sein! Durfte nicht sein! Nicht die Werkstatt! Sie schnappte nach Luft, eilte los, die knarrenden Holzstufen ins Erdgeschoss hinunter. Das Liebespaar! Sie musste die Figur retten! Wenigstens die! Warum hatte sie sie nicht letzte Woche schon mit ins Wohnhaus genommen?
Sie klammerte sich am Geländer fest, um nicht zu stürzen.
In der Figur lebte Georg weiter. Lebte ihre Liebe. Für immer. Und sie barg ihre Existenz.
Unten angekommen, riss sie die Werkstattschlüssel vom Haken und öffnete die Haustür – die der Sturm ihr augenblicklich aus der Hand schlug. Wind und Regen peitschten ihr kalt ins Gesicht, zerrten an Rock und Bluse, Wasser lief in ihre Pantoffeln, umspülte ihre Knöchel und tropfte ihr aus dem Haar über den Rücken. Es war ihr egal. Sie eilte durch den Vorgarten, stieg über die Weißtanne, die quer über der Straße lag, und verletzte sich dabei an der Wade. Sie verlor einen Schuh, fiel, verlor den zweiten Schuh, richtete sich auf und kämpfte sich weiter, den Arm schützend vor das Gesicht gehoben.
Nur noch wenige Schritte! Die Silhouette der weißgetünchten, einstöckigen Werkstatt mit dem Flachdach zeichnete sich schwach vor ihr ab.
Etwas riss ihr den Kopf nach hinten, Sturm, herumfliegendes Geäst, die Plane von dem Holzstoß nebenan − sie wusste es nicht.
Nur noch wenige Schritte.
Warum war die Hilfe nicht gekommen? Warum?
Schon berührte sie den glatten Türknauf, da ging rechts über der Werkstatt eine Schlammlawine ab und riss Äste und einen kleinen Baum mit. Edith erstarrte, kam aber gleich wieder zu sich und versuchte zitternd, den Schlüssel in das Schloss zu stecken. Schließlich traf sie das Schlüsselloch und drehte den Schlüssel mit klammen Fingern um.
Gleich darauf atmete sie in der Dunkelheit den vertrauten Geruch nach Holz und Eisen ein. Sie schloss die Tür. Siebenundzwanzig Jahre hatte der Duft sich gehalten. Schon letzte Woche hatte sie ihn kaum ertragen, und auch jetzt fröstelte sie wieder, vor Nässe und Kälte, vor Angst, vor Trauer und weil Georg ihr noch immer schrecklich fehlte.
Sie tastete nach dem Lichtschalter, drückte darauf – doch es blieb finster. »Verdammt«, stieß sie hervor und bemerkte, dass ihr Tränen warm übers Gesicht liefen.
Über dem Dach vernahm sie die Geräusche, noch viel dumpfer und lauter, ein Schlag sagte ihr, dass eine neue Gerölllawine abgegangen war und das Dach getroffen hatte. Sie zitterte am ganzen Körper, tastete sich rasch durch den Raum, und Steinchen und irgendwelcher Dreck drückten sich schmerzhaft in ihre nackten Fußsohlen. Sie ignorierte das Rumpeln über sich. Dahinten, wo bis vor wenigen Tagen Georgs Stechbeitel und Messer gehangen hatten, musste die Truhe in der Nische stehen.
Ein Klirren ließ sie kurz innehalten. Prasseln und Tosen wurden lauter. Ein Fenster war zu Bruch gegangen, Scherben trafen sie an den Beinen. Jetzt peitschte der Regen direkt in die Werkstatt herein. O Gott, nein, flüsterte sie. Sie musste das Liebespaar herausholen.
Endlich! Da! Sie ertastete die große glatte Holztruhe, öffnete sie und schlug das Seidenpapier zur Seite. Fest drückte sie die kleinkindgroße Figur an ihre Brust, als es über ihr krachte und sich fast gleichzeitig Schlamm über sie ergoss, schwer und eiskalt.
Edith fiel, schob sich mit einem Arm unter dem Matsch hervor, mit dem anderen schützte sie die Figur. Sie stand mühsam auf, bis zu den Waden im Schlamm, schleppte sich Schritt für Schritt zur Tür, schluchzte »Georg, Georg«, während hinter ihr die nasse Erde in den Raum kroch und ihn langsam füllte. Schon glaubte sie, es nicht zu schaffen – da erreichte sie die Tür. Hier war der Matsch erst knöchelhoch. »Danke«, flüsterte sie und griff nach der Klinke – doch die Tür ließ sich nicht öffnen.
Sie hämmerte mit der Faust dagegen. »Hilfe!« Sie rüttelte an der Klinke. Wieso klemmte die Tür? Der Schlamm konnte es nicht sein, er war hier zu niedrig. »Hilfe!«
Der Schlüssel! Sie hatte den Schlüssel von außen stecken lassen.
Im Bruchteil einer Sekunde begriff sie.
»Hört mich denn keiner! Bitte, bitte lasst mich raus!«
Um ihre Waden stieg der zähe Schlamm unerbittlich an.
Rotz und Tränen liefen ihr über das Gesicht, ihre Faust schmerzte vom Hämmern gegen die Tür. Edith schrie, der Schlamm stieg bis zu ihren Knien.
Die Fenster! Mit letzter Kraft drehte sie sich um, wandte sich dem zerborstenen Fenster zu, doch sie kam kaum voran. Ihre Beine waren wie einzementiert, zum Stehen verdammt. Ihr Herz raste, ihr Arm krampfte sich um das hölzerne Liebespaar, sie schrie Georgs Namen.
Beim nächsten Blitz, als ihr der Schlamm schon bis zur Hüfte reichte, sah sie die spitzen Scherbenreste, die in dem Fensterrahmen steckten. Ganz nah waren sie, zum Greifen nah. Die Rettung! Sie streckte den freien Arm aus und griff in den Rahmen, mit dem anderen Arm presste sie noch immer die Figur an ihre Brust, kämpfte sich durch den Schlamm Richtung Fenster, obwohl die Scherben ihr tief in die Hand schnitten. Sie spürte den Schmerz kaum, kam der rettenden Öffnung näher, doch der Schlamm zog sie wie eine riesige Saugglocke zurück. Die Scherben, an denen sie sich mit der zerschnittenen Hand festzuhalten versuchte, brachen ab, und Edith wurde wie ein Spielball vom Fenster weggerissen. Da wusste sie: Ich sterbe, und ihr einziger Wunsch war, dass es schnell gehen würde.
Ich sterbe.
Sie atmete zum letzten Mal Luft ein, erdig und vertraut, streckte den freien Arm ein letztes Mal Richtung Fenster, und in dem silberblauen Zucken sah sie das Gesicht, das wie die Scheibe eines blassen Mondes zu ihr hereinschaute.
Thomas Kramer bezweifelte, dass noch irgendetwas zu retten war. Fast zehn Jahre hatte er für das geschuftet, was er war. Hätte er weitergemacht, wäre er in wenigen Jahren Teilhaber von Eckert & Tritsch geworden. Sarah zuliebe hatte er alles aufgegeben. Und jetzt das!
Er ließ die schwere Aktentasche im Flur stehen, band sich in der Küche die Krawatte ab und warf sie zusammen mit dem Jackett auf den Tisch, neben den Computerausdruck der Bestellliste. Bandschleifer, Biegewelle, Benzin-Kettensäge, Nassschärfmaschine, Imprägnieröl, Antikwachs. Seine Frau hatte die Sachen für Mitte der nächsten Woche geordert.
Normalerweise hätte er jetzt nach Sarah gerufen, ihr einen Kuss zur Begrüßung gegeben. Hätte sie angesehen und sich wie an ihrem ersten Tag über ihre Berührung gefreut. Stattdessen goss er sich einen Wodka ein, gab Eiswürfel dazu, setzte sich und trank einen großen Schluck. Der Alkohol brannte ihm in der Kehle. Gut so. Am besten gleich einen zweiten Wodka hinterher. Und einen dritten. Dann müsste er nichts mehr denken. Doch er hatte bereits zwei Gläser Champagner getrunken. Hatte mit den Kollegen, nein: Ex-Kollegen seinen Ausstand gefeiert. Noch einmal zahlreiche Glückwünsche für sein neues Leben entgegengenommen. Bis die Polizei in sein Büro gekommen war. Zwei Männer. In Zivil.
Thomas schenkte sich ein halbes Glas Wodka nach. Das musste genügen. Wenn seine Kinder nach Hause kamen und ihn betrunken hier fänden … Thomas Kramer war schließlich ein Vorbild.
Das war er auch in der Rechtsanwaltskanzlei gewesen. Und als Ehemann. Sein Chef hatte ihm beste Referenzen mit auf den Weg gegeben, als er vor einem halben Jahr angekündigt hatte, die Kanzlei zu verlassen. Deswegen hatte er so schnell die neue Stelle gefunden. Teil- statt Vollzeit, nur zwei Drittel seines letzten Gehalts, keine Aufstiegsmöglichkeiten, der Weg ins Büro dreimal so weit. Doch für Sarah und die Familie hatte er seine eigenen Wünsche zurückgestellt. Finanziell würden sie auch mit dem neuen Gehalt einen hohen Lebensstandard halten können. Sie standen so dicht vor dem großen Glück. Vor Sarahs – und damit vor seinem Glück. Zumindest redete er sich das ein.
»Wo waren Sie am Abend des neunten Juli, Herr Doktor Kramer? Letzten Samstag?«, hatte ein auf leger getrimmter Kommissar ihn trotz der Ausstandsfeier im gläsernen Foyer gefragt. Ringsum blauschwarzer Himmel, und an den bodentiefen Fensterscheiben lief der Regen wie an einer Duschwand herunter. Thomas hatte nicht verstanden. Wie konnte der Mann es wagen, ihn vor allen Kollegen so zu behandeln! Nur, weil Thomas zunächst gesagt hatte, er habe nichts zu verbergen und sie könnten hier im Foyer der Kanzlei offen reden?
Und dann die Todesnachricht! Zusammen mit der wiederholten Frage, wo er am Abend vor drei Tagen gewesen sei. Als wäre er in einem Tötungsdelikt der Verdächtige! Er, Rechtsanwalt Dr. Thomas Kramer. Dem Gerechtigkeit und Empathie tatsächlich noch etwas bedeuteten. Sogar nach so vielen Berufsjahren. Manche Kollegen lachten darüber. Thomas interessierte das nicht. Als er nach dem Gespräch mit den beiden Beamten, das sie dann doch in seinem Büro unter sechs Augen geführt hatten, die Kanzlei verlassen hatte, waren ihm betroffene Blicke gefolgt. Die Geschke vom Empfang tuschelte mit der neuen Buchhalterin, sein Nachfolger, seit einer Woche zur Übergabe im Haus, senkte den Kopf. Keiner sprach ihn noch einmal an. Als habe er sich in der letzten Stunde mit Pest und Cholera gleichzeitig infiziert. Jemand raunte: »Tschüss, alles Gute!«, und sein Chef sagte: »Wenn du mich brauchst, Thomas, als Freund und Anwalt, du weißt ja …« Thomas hatte genickt, war in seinen Porsche Cayenne gestiegen und ziellos und viel zu schnell durch die Stadt gefahren, hatte nichts als das monotone Knacken der Scheibenwischer wahrgenommen und versucht, seine Gedanken zu sortieren. Das Gerede der Ex-Kollegen war ihm egal. Die würde er im besten Fall nie wiedersehen. Aber wie sollte er das Sarah beibringen? Und wieso hatte sie die Beamten nicht in die Wohnung gelassen, so dass diese zu ihm ins Büro gekommen waren?
Sarahs Welt würde zusammenbrechen. Und sie wären wieder da, wo sie vor drei Jahren gestanden hatten. Oder schlimmer.
Die Kinder durften davon nichts mitbekommen – falls seine Frau jetzt zusammenbrach. Andererseits waren sie schon sieben und zehn Jahre alt. Neugierig. Klug. Offen fürs Leben. Das genaue Gegenteil von Sarah. Sie war so labil. So zerbrechlich. Immer noch. Eine Frau, die er stets nur beschützen wollte. Ihr Neuanfang mit dem, was sie so liebte, hätte sie alle gerettet.
Sarah hatte unbedingt umziehen wollen. Weg von Freiburg. Nach Irland oder Südfrankreich. Dort ein Künstlerleben anfangen. Doch solche Extreme waren nicht sein Ding. Und seine großzügige Maisonettewohnung hier im Freiburger Stadtteil Herdern, sein Eigentum, wollte er auch nicht aufgeben. So hatten sie gemeinsam ein Jahr an einer Lösung für beide gearbeitet. Er hatte gekämpft. Für die Familie. Thomas sollte nur noch sechs Stunden am Tag arbeiten und den Rest der Zeit Sarah unterstützen und die Kinder betreuen. Sarah bekam ihre Werkstatt, er wechselte in eine Teilzeitstelle, die sein alter Arbeitgeber ihm nicht anbieten wollte. »Einen wie dich beschäftigt man ganz oder gar nicht. Verschwende dein Talent nicht!« Sein Chef hatte nichts verstanden, und so war Thomas gegangen. Alles hätte gut werden können.
Er hörte Schritte näher kommen. Sarah kam die Treppe vom Obergeschoss herunter. Rasch stellte er die Wodkaflasche zurück in den Kühlschrank und das Glas in die Spülmaschine.
»Hallo, Tom.« Sarah hielt eine Pappschachtel in den Händen. Tom nannte sie ihn immer, wenn sie gut gelaunt war. »Ich hab dich gar nicht kommen hören. Wie war der Abschied? Sehr schlimm?«
»Hey.«
Sie legte die Schachtel auf den Tisch und öffnete sie. »Schau mal, was ich im Schlafzimmer gefunden habe. Habe ich als Achtjährige zusammen mit Papa geschnitzt. Ich …« Sie verstummte und schaute ihren Mann an.
Er schloss die Augen. Fand keine Worte für das, was er ihr jetzt sagen musste.
»Thomas?«
Er sah sie an. »Wo warst du heute Nachmittag?« Er klang ungewollt schroff. Er hatte sie zu Hause beim Sortieren ihrer neuen Schnitzmesser und beim Surfen im Web vermutet, wo sie die letzten fehlenden Werkzeuge und Arbeitsmaterialien bestellen konnte.
Sie hob die Augenbrauen, und ihre blaugrünen Augen musterten ihn – von seinem garantiert viel zu roten Gesicht bis zu den dunklen Lackschuhen, die er nicht ausgezogen hatte. »Bei Doktor Eickhoff. Das weißt du doch. Letzte Therapiesitzung. Wir hatten erst gestern noch darüber gesprochen, dass heute zwei Abschiede …«
Er senkte den Kopf, hörte nicht mehr zu, und als er die weißen Fliesen sah, dachte er darüber nach, dass Sarah genauso gut hätte in der Psychiatrie enden können und er dankbar sein musste, dass alles gut geworden war. Bis jetzt. Er blickte auf und flüsterte: »Wo sind die Kinder?«
»Drüben bei den Jakobs. Sie bleiben auch zum Abendessen dort.« Sie trat vor ihn und strich ihm eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Seine Frau duftete frisch, ein wenig nach der Sanddornseife, die sie so mochte. »Damit wir heute den Abend für uns haben.« Sie machte eine Pause. »Was ist los, Tom? Hast du etwa geglaubt, ich wäre bei einem Liebhaber gewesen?« Sie begann zu lachen.
»Hör auf!«, fuhr er sie an. Und sagte dann versöhnlich: »Ich hatte es vergessen. Verzeih.«
»Schon gut. Dann können wir ja jetzt auf deinen letzten Tag bei Eckert und Tritsch anstoßen.« Sie wirbelte zum Kühlschrank, doch er hielt sie am Arm fest.
»Sarah, bitte setz dich.«
Sie drehte sich um. »Es ist etwas passiert, nicht wahr?«
Er ließ sie los. Nickte.
»O Gott, ist etwas mit Jonas oder Emma? Sie sind gar nicht bei den Jakobs, sie …«
»Nein, nein.«
»Was dann? Entlassen bist du nicht worden. Die Handwerker sind bestellt und beginnen am Montag. Wir fangen neu an. Wir sind beide gesund. Was kann denn noch sein?«
»Deine Mutter ist tot.«
Sarah starrte ihn an.
»Es tut mir so leid.«
Sie stützte sich auf der Arbeitsplatte ab. Sah Thomas wortlos an und flüsterte schließlich: »Mama?«
Er nahm ihre Hände. Sie waren weich und warm. Sarah liebte ihre Mutter sehr. Fast zu sehr.
Sarahs Unterlippe zuckte, ein sicheres Anzeichen dafür, dass sie gleich haltlos weinen würde. »Aber wir wollten doch morgen … Was ist passiert?«
»Das Unwetter. Sie war in der Werkstatt. Ein Erdrutsch hat das Dach zerstört, eine Schlammlawine hat sie … unter sich begraben.« Er sehnte sich nach einem weiteren Wodka.
»Was? Werkstatt? Warum war sie denn dort? Und weshalb war sie nicht bei meinem Bruder? Sie hat mir doch gesagt, sie würde … weil das Dorf … Ich habe geglaubt, sie sei in Sicherheit.« Sie schluchzte. Leise, dann lauter, und schließlich stieß sie einen langgezogenen Schrei aus, der Thomas fast das Herz zerriss. Dabei wusste sie noch gar nicht alles.
»Du musst morgen früh um acht Uhr ins Polizeipräsidium. Die möchten mit dir sprechen«, sagte er, als sie auf einen Stuhl sank und vor- und zurückschaukelte.
»Polizei? Warum?«
Er setzte sich neben sie und nahm sie fest in die Arme. Dann weinte er mit ihr.
Kriminalhauptkommissar Moritz Ehrlinspiel schloss sein Mountainbike an dem Stahlring im Carport fest und streifte Regencape und -hose ab. Es war noch dunkel, und obwohl er Frühaufsteher war, kam er nur selten vor sechs Uhr morgens ins Polizeipräsidium – so wie heute.
Hanna hatte ihn vorhin, die Hände um die kleine Espressotasse gelegt, zum bestimmt fünfzigsten Mal in diesem Sommer als »grünen Sturkopf« bezeichnet. Bei strömendem Regen mit dem Fahrrad ins Büro! Und das bei einstelligen Temperaturen! Obwohl er jederzeit seinen Wagen nehmen oder sie ihn fahren könnte. Jetzt, da sie genug Zeit hatte. Ehrlinspiel hatte nichts erwidert. Nur bedauert, dass es wieder nicht geklappt hatte, in Frieden einen gemeinsamen Kaffee zu trinken und loszuradeln. So hatte er seine Tasse stehenlassen und war mit einem resignierten »Bis heute Abend« gegangen.
Er nahm seine Umhängetasche aus der wasserdichten Fahrradtasche und rannte die paar Meter zum Hintereingang des Polizeipräsidiums. Die Streitereien mit Hanna machten ihn mürbe. Genauso wie ihre Dauerfrustration, die sie seit Monaten an ihm ausließ. Dabei hatte Moritz zum ersten Mal in seinem Leben über mehrere Jahre eine erfüllte Partnerschaft gelebt. Noch an Silvester hatte er seine Lebensgefährtin und sich in der sommerlichen Bretagne gesehen, barfuß im warmen Sand, hinter ihnen ein Leuchtturm und vor ihnen das endlos scheinende Meer; der salzige Wind, der Hanna durch die langen braunen Haare strich. Am Abend hätten sie in einem kleinen Restaurant Austern und gegrillten Hummer gegessen und aus Steingut-Tassen herben Cidre getrunken. Später hätte er in der kleinen Ferienwohnung Kerzen in silbernen Haltern angezündet, all seinen Mut zusammengenommen und sie gefragt, ob sie seine Frau werden wolle.
Sein Glück war ein Trugbild gewesen. Die Reise, als Überraschung für Hanna geplant, hatte er storniert.
Noch auf der Treppe ins erste Obergeschoss versuchte Ehrlinspiel zum dritten Mal an diesem Morgen, Lukas auf dem Mobiltelefon anzurufen. Der Leiter der Kriminaltechnik hatte Urlaub. Die Mailbox sprang an. Ehrlinspiel drückte die Ansage weg. Gestern am späten Abend, nachdem er vom Schauinsland und aus dem überschwemmten Dorf zurückgekommen war, war er bei Lukas zu Hause vorbeigefahren. Niemand hatte geöffnet. Auch der alte Hund hatte nicht angeschlagen. Vermutlich war der Kollege verreist.
Auf dem Flur, in dem die Kriminalpolizeidirektion mit den acht Inspektionen beheimatet war, begegnete ihm außer der dunkelhäutigen Putzfrau niemand. Ihr Kittel und die Schuhe hatten fast dieselbe Farbe wie der blaue Linoleumboden, und der Geruch in den langen Fluren erinnerte den Hauptkommissar immer an seine Grundschule: Paraffin, Zitronenreiniger und Staub. Er wünschte der Putzfrau einen guten Morgen und fragte: »Sind Sie mit Zimmer 334 fertig?« Er wollte in der nächsten Stunde nicht gestört werden.
Sie hob eine durchsichtige Plastikflasche und einen Lappen hoch, lächelte und nickte.
Ehrlinspiel hatte die Frau noch nie zuvor gesehen. Die Polizei wird mittlerweile jedem Klischee gerecht, dachte er angesichts ihrer Hautfarbe. Seit der großen Strukturreform der baden-württembergischen Polizei Anfang 2014 war nichts besser geworden. Weder seine eigenen und sicher erst recht nicht die Arbeitsbedingungen für das Reinigungspersonal.
Im Büro hängte er die Regenkleidung hinter dem Waschbecken auf, schob auf dem Schreibtisch ein paar Ordner zur Seite und fuhr den Rechner hoch. Als Erstes kontrollierte er sein E-Mail-Postfach. Keine Antwort von Lukas. »Mist!«
Er wählte Lukas’ private Festnetznummer. Den Hörer in der Hand, stellte er sich ans Fenster und blickte in den Innenhof hinab, auf das Flachdach des Carports und die riesige Blutbuche. Tuuut, tuuut. Ihre rotvioletten Blätter hingen träge und tropfend herab.
Fast hoffte er, dass Lukas nie ans Telefon gehen würde. Die Rolle des Hiobsboten war Moritz Ehrlinspiel zuwider. Als der Anrufbeantworter ansprang, atmete er auf – und schämte sich fast dafür.
Im Intranet überflog er rasch die internen News und konzentrierte sich dann wieder auf Lukas. Das Chaos aus Akten, Papierausdrucken, Zetteln und Stiften ignorierte er. Genauso wie die Schmerzen im linken Arm, die ihn besonders bei nasskaltem Wetter plagten. Auch sein Nacken war verspannt, und hinter den Schläfen begann das vertraute Pochen. Die Quittung dafür, dass er Stunden in der kühlen Nässe im Dorf und anschließend die Nacht auf dem Sofa verbracht hatte, um nicht neben Hanna schlafen zu müssen.
Lukas. Was wusste Ehrlinspiel eigentlich über ihn? Der Kollege von der Kriminalinspektion 8 und Erster Kriminalhauptkommissar war achtundvierzig Jahre alt, ein kantiger Typ, akribisch, hundertfünfzigprozentig im Job und ein verschlossener Eigenbrötler. Von Sabine war er seit vier Jahren geschieden. Er hatte einen uralten Schäferhund, Jagger, den Lukas nach dem Mord an seinem Besitzer aufgenommen hatte. Seither waren die beiden unzertrennlich. Genauso, wie Ehrlinspiel und seine beiden Siamkater Bentley und Bugatti es gewesen waren. Auch die waren nach einem Mord allein zurückgeblieben, schon damals alt. Moritz hatte für sie Rezepte ausgetüftelt und gekocht. In den letzten Monaten trauerte Ehrlinspiel nicht nur um Bugatti, den er nach Bentley nun ebenfalls hatte begraben müssen. Sondern auch um die Zeit, vor der er Hanna kennengelernt und mit seinen Katern allein gelebt hatte. Dass sie keine Katzen mehr wollte, machte es nicht besser. Ein Punkt, in dem er Lukas gut verstand. Der nämlich hatte erst einen Hund bei sich aufnehmen können, nachdem Sabine gegangen war.
Akribischer Eigenbrötler. Gescheiterte, kinderlose Ehe. Hund. Das war alles, was Ehrlinspiel über Lukas gewusst hatte. Bis gestern, als er zwischen schlammbedeckten Straßen, zerstörten Gärten und einem zusammengefallenen Gebäude neben der Leiche von Edith Felber gestanden hatte.
Er rief in der Rechtsmedizin an. Professor Reinhard Larsson war persönlich nicht zu sprechen und ließ ausrichten, er melde sich nach der Obduktion. Und er ließ fragen, ob der Herr Kommissar nicht dabei sein wolle? Zum allgemeinen Vergnügen? Ehrlinspiel verdrehte die Augen. »Bitte richten Sie Reinhard aus«, sagte er zu der Sekretärin, »dass der Kollege Wenner anwesend sein wird. Er ist bereits auf dem Weg ins Institut.«
Um Viertel vor acht kam Paul Freitag ins Büro.
»Hey«, sagte Ehrlinspiel nur, als sein Freund das Jackett auf einen Bügel hängte, darüberstrich und sich dann in obligatorischer Bundfaltenhose und blauem Hemd ihm gegenübersetzte. Ihre Schreibtische bildeten zusammen ein großes Oval. Daran schloss ein kleiner runder Besprechungstisch an.
»Du siehst verdammt mies aus.« Freitag faltete die Hände zwischen akkurat sortierten Akten, Stiften und den Fotos einer molligen Blondine – Freitags Frau Lilian – und zweier Mädchen. »Was ist los? Ist es wegen Lukas? Immer noch unauffindbar?«
Ehrlinspiel zuckte die Schultern. Wegen Lukas und Edith Felber, dachte er, wegen Hanna und wegen Bentley und Bugatti, die er schrecklich vermisste. »Ja.«
»Reimer hat eine Soko angefordert.«
»Hoffentlich!« Ehrlinspiel war noch immer skeptisch gegenüber dem neuen Leiter der Kriminalinspektion 1, der mit der Reform ihr neuer Chef geworden war.
Freitag grinste. »Immer noch am Hadern mit der Strukturreform?«
»Du bist offenbar der Einzige, der sie so gelassen sieht.«
»Wir müssen noch ein paar Jährchen hier ausharren. Willst du sie dir zusätzlich schwermachen?«
»Ich bin nicht so tolerant wie du. Vielleicht werde ich doch noch Tierarzt.«
»Mit dreiundvierzig?«
»Mit fünfzig. Ich muss noch studieren.« Ehrlinspiel grinste. »Dann blieben fünfzehn glückliche Berufsjahre.«
»Du weißt nie, was die Zukunft bereithält. Und als Polizist gehst du nach heutigem Stand immerhin mit sechzig oder knapp drüber regulär in Rente.«
»Noch siebzehn Jahre unter diesen Bedingungen? Nein, Freitag.«
Kaum ein Kollege hatte die Reform befürwortet. Aus der ehemaligen Polizeidirektion Freiburg war ein Präsidium mit drei Direktionen geworden: Verkehrspolizei, Schutzpolizei und Kriminalpolizei. Statt Dezernaten gab es jetzt Inspektionen, acht davon gehörten zur Kriminalpolizeidirektion, kurz: KPDir. Alle Führungspositionen waren neu besetzt worden, mit Kollegen, die Ehrlinspiel vorher nur vom Namen her gekannt hatte – wenn überhaupt. Kriminaloberrat Hannes Reimer leitete seit zweieinhalb Jahren die Inspektion 1 für Kapitaldelikte.
»Es wird besser werden. Es muss sich nur einspielen.« Freitag fuhr sich mit der Hand durch das schwarze Haar, das wie immer etwas zu lang war und fast bis zu seiner charakteristisch gebogenen Nase reichte.
»Wenn es nach zweieinhalb Jahren nicht eingespielt ist, kannst du das vergessen. Unser Super-Ex-Innenminister Gall hat die Polizei pulverisiert. Was willst du mit zwölf regionalen Präsidien in Baden-Württemberg plus den paar Kriminalkommissariaten? Das reicht doch hinten und vorn nicht. Wir hier sind zuständig vom nördlichen Kaiserstuhl bis fast nach Schaffhausen. Wir brauchen aber Manndeckung zur Kriminalitätsbekämpfung. Keine Raumdeckung! Wir sind viel zu weit weg vom Geschehen! Schau dir doch mal die gestiegenen Krankmeldungen seit der Reform an und die …«
»Momentan sind wir eher zu nah dran.«
Moritz Ehrlinspiel seufzte. Freitag hatte recht. »Ich mache uns erst mal einen Kaffee«, sagte er, als auch schon die Kollegin von der Pforte anrief und Freitag das Zimmer verließ, um Sarah Kramer zur Befragung abzuholen.
Ehrlinspiel nahm drei Kaffeebecher vom Fenstersims und füllte frische Bohnen in die Kaffeemaschine, als hinter ihm jemand sagte: »Du kannst vier Becher nehmen.«
Er drehte sich um. »Lukas!«
»Platz!« Der Kriminaltechniker löste die Hundeleine, tätschelte Jagger den Kopf, und sofort legte das große Tier sich neben den Tischen auf den Boden. »Dringend, hm?« Lukas tippte auf seinem Smartphone herum. »Ich habe hier … sieben Anrufe seit gestern.«
»Komm, setz dich.« Ehrlinspiel lächelte Lukas schief an. Ein unsicheres Lächeln angesichts dessen, was er nun tun musste.
»Ich steh ganz gern.«
»Lukas, wir hatten gestern ein Tötungsdelikt. Das weibliche Opfer wird zur Stunde obduziert, die Identität ist bekannt.« Er schluckte. War viel zu förmlich. »Die Tote ist …«
Paul Freitag und eine Frau traten in das Büro. Eine Elfe, schoss es Ehrlinspiel durch den Kopf. Blass, schmal, langes helles Haar. Sie blieb abrupt stehen, als sie die Männer erblickte.
»Sarah?« Lukas ging einen Schritt auf Frau Kramer zu.
Freitag schloss von innen die Tür. »Hallo, Lukas!«
»Hör mal« – Ehrlinspiel legte dem Kriminaltechniker eine Hand auf den Unterarm –, »das Opfer ist … deine Mutter. Eure Mutter.«
Lukas reagierte nicht. Starrte seine Schwester an. Er schien in sich hineinzuhören. Zu prüfen, ob das stimmen konnte, was Ehrlinspiel zum ersten Mal in seinem Job hatte tun müssen: einem Kollegen mitteilen, dass ein naher Angehöriger Opfer eines Gewaltverbrechens geworden war.
»Wann, wie und wo? Fundort? Tatort? Wo sind die Fotos? Ich werde sofort …« Lukas war mit wenigen Schritten bei der Tür, doch Ehrlinspiel hielt ihn am Arm fest.
Jagger hob den Kopf. Knurrte. »Den Teufel wirst du tun! Marco Wenner ist mit den besten Leuten vor Ort gewesen. Einige sind noch im Dorf. Du hast Urlaub. Du bist Angehöriger! Du hältst dich von dort fern! Wir brauchen dich hier nur als Zeugen. Du kennst die Vorschriften, Lukas!«
»Lass mich los!«
»Opfer? Tatort?« Sarah Kramer war jetzt noch blasser. Und da schüttelte Lukas Ehrlinspiels Arm ab und schloss seine Schwester in die Arme.
Ehrlinspiel dachte, Lukas wolle die zierliche Frau zerquetschen, so heftig umklammerte der große Mann Sarah Kramer. Ihr Körper bebte. »Aber mein Mann hat gesagt«, flüsterte sie, »Mama sei … von einer Schlammlawine verschüttet worden, als das Dach der Werkstatt …« Sie befreite sich aus Lukas’ Umarmung. »Stimmt das nicht?«
Ehrlinspiel führte sie zu einem Stuhl. »Setzt euch bitte auch«, sagte er zu Freitag und Lukas. Und zu Frau Kramer: »Ihr Mann hat recht.« Er stellte die vier Tassen dampfenden Kaffees auf den Tisch, doch Sarah bat um ein Glas Wasser. Er holte es ihr und setzte sich zu der Gruppe. »Ich lasse das Aufnahmegerät mitlaufen. Ist das für Sie in Ordnung, Frau Kramer? Lukas?« Beide nickten, und der Kriminalhauptkommissar sprach Datum, Uhrzeit, Ort, Anlass der Befragung und die Namen der Anwesenden auf das Band. »Wir wissen laut erster Untersuchung Folgendes«, begann er dann. »Ihre oder eure Mutter ist im Schlamm umgekommen. Am Samstagabend. Während des Unwetters. Aber sie ist nur deswegen ums Leben gekommen, weil sie, als die Decke der Werkstatt eingebrochen ist und der Schlamm eindrang, nicht mehr zur Tür hinauskonnte. Die war verschlossen.«
»Von außen?« Lukas’ Blick ging zwischen Ehrlinspiel und seiner Schwester hin und her.
»Ja.«
»Das kann alles sowieso gar nicht sein«, sagte Sarah. »Sie verwechseln das Opfer. Das Dorf war evakuiert. Mama hat mir am Telefon noch gesagt, dass sie« – sie sah zu Lukas – »für ein paar Tage bei dir sei. Weil das Technische Hilfswerk … weil …« Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie wischte sie nicht ab.
»Sie war nicht bei mir. Ich war ja nicht mal zu Hause. Jagger und ich sind mit dem Wohnmobil unterwegs gewesen.«
»Wann hast du deine Mutter zum letzten Mal gesehen oder gesprochen?«, fragte Ehrlinspiel.
»Habt ihr schon irgendwas? Was sagt Marco?«
»Marco Wenner ist gerade bei der Obduktion. Wir wissen bisher nichts. Aber ich werde dich informieren, versprochen.«
»Wo genau wurde sie gefunden? Und von wem?«
»Eine junge Nachbarin hatte gestern früh, als sie ins Dorf zurückkam, Probleme, zu ihrem Haus zu fahren. Sie war mit dem Motorrad unterwegs. Sie ließ die Maschine stehen und wollte zu Fuß gehen, dabei musste sie über den Hof eurer Werkstatt. Dort lag die Tür im Schlamm, sie war herausgebrochen. Und in dem leeren Türrahmen der Werkstatt lag eure Mutter. Ihr Rock hatte sich in den Scharnieren verfangen. Der Schlüssel der Tür steckte noch an der Außenseite. Marco hat bestätigt, dass die Tür von außen verschlossen war.«
»Wie heißt die Nachbarin?«
»Lukas, wir …«
»Behandle mich nicht wie einen Idioten. Ich bin Polizist. Seit Jahren ein Team mit dir!«
»Jennifer Peters. Sie hat die Polizei verständigt. Von Frau Peters wissen wir auch Ihren Namen, Frau Kramer. Und den Ihres Mannes und seines Arbeitsplatzes. Daher konnten wir ihn gestern gleich aufsuchen, nachdem wir weder Lukas noch Sie erreicht haben.« Leise fügte er hinzu: »Es tut mir leid, Lukas. Wirklich.«
Der Kriminaltechniker nickte.
»Trotzdem. Wann hast du zuletzt mit deiner Mutter gesprochen oder sie gesehen?«
»Am Tag, an dem Jagger und ich losgefahren sind. Das war am Samstag vor eineinhalb Wochen. Zweiter Juli. Welches Arschloch hat meine Mutter eingeschlossen? Was soll das Ganze? Ich …« Jagger legte den Kopf auf Lukas’ Knie. »Und um deine Fragen vorwegzunehmen: Sie war wie immer. Hat keinerlei Andeutungen gemacht über eventuelle Sorgen oder eine Bedrohung. Dass sie Feinde hatte, wäre mir auch nicht bekannt. Dir, Sarah?«
»Wer sollte Mama gehasst haben?«
»Ich habe Mum am Samstagmorgen angerufen und ihr erzählt, dass Jagger und ich ein paar Tage in den Süden fahren. Sie war schon in Freiburg auf dem Wochenmarkt. Sie hat samstags einen Stand dort. Sie hat gelacht und meinte, dass es im Süden auch regnet. Und dass wir gesund zurückkommen sollen.«
»Und Sie?« Ehrlinspiel wandte sich an Sarah Kramer. »Wann haben Sie sie zuletzt gesprochen oder gesehen?«
»Vergangenen Samstag. An dem Tag, als sie … sie hat mich am Nachmittag angerufen. Nach dem Wochenmarkt, gegen halb drei. Sie war gut drauf, weil sie ein neues Rezept für Schafbuttermilch erfunden hatte. Sie ist da sehr eigen, nur das Beste für den Dorfladen.« Sarah Kramer legte ihre Hände in den Schoß. Das Wasserglas stand unangetastet vor ihr. »Sie war sicher, dass das der Renner des Sommers werden würde.«
»Über die bedrohliche Wetterlage haben Sie sich nicht weiter unterhalten?«
»Nein, wozu? Ich ging davon aus, sie sei schon bei Lukas. Also, dass sie direkt vom Markt zu ihm gefahren sei. Warum hat sie mich angelogen?« Sie sah Ehrlinspiel an, dann Lukas. »Sie hat mich doch angelogen?«
»Wussten Sie denn nicht, dass Ihr Bruder im Urlaub war?«
»Ich bin spontan weggefahren«, antwortete Lukas. »Ich mache das öfter so. Nur Mum sage ich Bescheid. Sie war immer gleich in großer Sorge, wenn sie mich mal nicht erreichte.«
Ehrlinspiel nickte. »Ihre Mutter hat Sie also angerufen. Vom Handy aus?«
»Sicher. Wenn ich die Festnetznummer gesehen hätte, hätte ich ja gewusst, dass sie nicht bei Lukas ist.«
»Wo waren Sie am Samstagabend, Frau Kramer?«
»Zu Hause.«
»Allein?«
»Mit meinem Mann Thomas und den Kindern. Thomas kennen Sie ja. Und Sie haben ihn bereits dasselbe gefragt.«
»Am Samstag war längst abzusehen, dass das Unwetter das Dorf bedroht«, sagte Ehrlinspiel zu Sarah. »Das THW hatte bereits am Freitag alle aufgefordert, ihre Häuser zu verlassen. Ihre Mutter hat gewusst, in welcher Gefahr sie sich befindet. Vielleicht wollte sie nicht, dass Sie sich Sorgen machen, und gab deshalb vor, bei Lukas zu sein?«
»Das wage ich zu bezweifeln.« Lukas zog eine Packung Marlboro aus der Brusttasche seines Hemdes. Sie beherbergte einen schier unerschöpflichen Fundus an Utensilien, und Ehrlinspiel fragte sich nicht zum ersten Mal, ob hinter den beiden Taschen noch größere eingenäht waren, in denen Handy, Zigaretten, Feuerzeuge und Stifte verschwanden. Lukas Felber klopfte eine Zigarette aus der Packung. »Ausnahme?«
»Okay, aber wirklich nur die eine.« Ehrlinspiel öffnete das Fenster. Es roch nach Regen und nassem Asphalt.
»Mum hatte vor nichts Angst.« Er zündete sich eine Zigarette an und inhalierte lang und tief. »Vor gar nichts. Sie hat garantiert nicht vorgehabt, ihr Haus zu verlassen.«
»Aber sie hat mir am Telefon gesagt, dass sie bei dir sei, Lukas, und war in Wirklichkeit zu Hause? Ich dachte tatsächlich, sie sei ausnahmsweise einmal vernünftig.« Sarah Kramers Stimme war nur ein Flüstern.
»Über was genau haben Sie am Telefon gesprochen?«
»Sie fragte, ob ich mit den Handwerkern alles geklärt hätte. Und ob die neue Nassschleifmaschine lieferbar sei. Ich wollte die Werkstatt neu eröffnen. Sie gehörte meinem Vater.« Sie konnte kaum weitersprechen, schluckte immer wieder. »Papa ist schon lang tot. Es war nicht einfach für meine Mutter und mich, jetzt diesen Schritt zu gehen. Aber ich muss wieder arbeiten. Und ich habe meinen Vater und seine Schnitzereien sehr geliebt. Er war der Beste. Ich möchte das in seinem Sinn fortführen.«
»War Mum deswegen in Dads Werkstatt? Wollte sie etwas vorbereiten?« Lukas nahm einen tiefen Zug an der Zigarette. »Aber bei dem Wetter? Und wer wusste, dass sie in der Werkstatt war?«
»Eure Mutter hielt eine große Holzstatue im Arm. Zwei Leute mit Blumenranken außen herum. Sie hielt sie fest umklammert, noch in der Totenstarre, die sich gestern noch nicht wieder gelöst hatte. Können Sie sich oder kannst du dir das erklären?«
Lukas stand auf und trat ans Fenster, den Rücken der Gruppe zugewandt. »Das Liebespaar. Mann und Frau in inniger Umarmung von Rosen umwunden.« Er drehte sich zu Ehrlinspiel, Freitag und seiner Schwester. »Dad war Krippenschnitzer. Er hat die schönsten Figuren im Südschwarzwald gemacht. Er war genial. Nicht einfach nur ein Schnitzer. Die Figur, von der wir sprechen, war das Hochzeitsgeschenk für Mum. ›Das Liebespaar‹. Hat immer im Wohnzimmer gestanden. Bis einige Jahre nach Dads Tod.«
»Im Herbst 1989.«
Lukas’ Augen funkelten. »Du hast deine Hausaufgaben schnell gemacht.«
Ehrlinspiel ignorierte Lukas’ sarkastischen Ton und wandte sich Sarah Kramer zu. »Sie sind also auch Holzschnitzerin?«
»Ich habe es als Kind bei Papa gelernt. Später war ich in der Lehre im Münstertal. Habe aber mehr pausiert als gearbeitet. Der Kinder wegen. Und mitten in der Stadt ohne Werkstatt kann man diesen Beruf nicht ausüben. Aber jetzt sollte es so weit sein.«
»Hätten Sie nicht schon in den letzten Jahren die Werkstatt Ihres Vaters nutzen können? Warum gerade jetzt?« Ehrlinspiel versuchte, sich die schmale Frau hinter der Werkbank vorzustellen. Sein eigener Vater war Schreiner. Mittlerweile in Rente. Moritz hatte immer einen riesigen Respekt vor den Sägen, Fräsmaschinen und Spalthämmern gehabt. Ganz im Gegensatz zu seiner Zwillingsschwester Finnja, die die geborene Heimwerkerin und ein richtig verrücktes Huhn war.
»Erstens waren die Kinder zu klein. Und außerdem war Mama noch nicht so weit. Ich hätte das Gefühl gehabt, meinen Vater zu verdrängen. Er hat dort gelebt, auch als er schon tot war. Er war überall. Sein Geist. Sein Wesen. Verstehen Sie?«
»Ja«, sagte Ehrlinspiel und dachte: nein. Warum sollte die Tochter den Geist des Vaters stören, wenn sich die beiden gut verstanden und sogar den gleichen Beruf hatten? »Ihr Vater starb bei einem Verkehrsunfall. Lukas, meinst du, es könnte ein Zusammenhang zum Tod deiner Mutter bestehen?«
»Wohl kaum.« Lukas klang professionell und ruhig wie immer. Als ginge es um ein fremdes Opfer. »Dad hat sich in den Tod gefahren, nachdem er bis spät in die Nacht gearbeitet und die großen Krippenfiguren ausgeliefert hatte, die fürs Weihnachtsgeschäft in der Stadt verlangt wurden. Einfach so, ganz ohne Gegenverkehr und ohne betrunken zu sein.« Er stand auf und nahm Jagger an die Leine.
»Möchtest du deinen Urlaub verlängern, Lukas? Ich könnte dem Chef …«
»Ich bin ab sofort wieder im Dienst. Ich werde es Reimer selbst mitteilen.«
»Lukas, das musst du nicht! Das darfst du nicht. Erst recht kannst du nicht in die Soko.«
»Komm, Junge.« Lukas tätschelte Jaggers Kopf, ging mit ihm zur Tür und drehte sich dort noch einmal um. »Ich bin lang genug hier, um die Regeln zu kennen. Und du bist nicht mein Boss, Moritz. Außerdem hat die Führungsgruppe die Soko noch nicht mal zusammengestellt.« Er ging hinaus, schloss die Tür, und ganz leise war noch das Klacken von Jaggers Krallen im Flur zu hören.
Alles war genauso eingetreten, wie sie befürchtet hatte. Sie schnitt die Preisschild-Anhänger an dem schwarzen Glitzertop und dem dazu passenden Minirock ab und warf sie in den Tretmülleimer. Auf den Fliesen stand noch zentimeterhoch das Wasser. Das ganze Erdgeschoss war nass. Die Teppiche waren durchweicht, im Flur hatte sich sogar der Holzboden aufgeworfen. Wie sie den retten sollte, war ihr ein Rätsel. Zwar war der Schlamm des gegenüberliegenden Hanges nur bis auf die Straße und nicht bis zu ihrem Haus vorgedrungen. Dennoch war der Schaden erheblich und ihr Tag ohnehin gelaufen. Aufräumen und putzen, putzen und aufräumen. Aber gestern war sie dazu nicht mehr fähig gewesen.
Vier Tage München hatte Jenny hinter sich. Und hundert schnippische Bemerkungen über David ertragen. Nie wieder würde sie bei Vera wohnen, wenn sie ein paar Tage Unterschlupf brauchte, wie jetzt während des Unwetters. Seit Jenny David kennengelernt und dann im März hierhergezogen war, ließ ihre einst beste Freundin keine Gelegenheit aus, ihren Freund schlechtzumachen. Dabei hatte Vera ihn erst ein einziges Mal gesehen. »Was willst du mit dem alten Kerl?« – »Ekelst du dich nicht vor seinen Berührungen?« – »Du könntest doch jeden jungen Knackarsch haben! Dieser Typ ist ein Aufschneider und Lügner. Der will nur ins Bett mit dir!« Jenny unterdrückte Tränen der Wut. Das einzig Gute an dem Kurztrip war das Shoppen gewesen. Endlich Großstadt. Endlich Glitzer. Endlich Überfluss. Und zwischen Cut-out-Overknees, Picard-Schultertaschen und Tanga-Bikinis hatte auch Vera endlich einmal die Klappe gehalten. Hippe Street Styles lenkten sie von allem ab. Schon immer. Bepackt mit Einkaufstaschen, waren im Café ihre Lästereien nach dem Shoppen aber sofort erneut losgegangen. David wird dir hier nicht gerecht, David hat dir jenes nicht zu bieten, David ist ein Schwindler und so weiter. Wütend hatte Jenny schließlich ihren Rucksack gepackt, war auf ihr Motorrad gestiegen und in den Schwarzwald zurückgefahren.
Eigentlich war das Dorf bis heute früh gesperrt gewesen, doch genau in diesem Moment räumten draußen die Arbeiter die Straßen frei. Jenny hörte die Bagger und Stimmen der Arbeiter bis in die Küche. Sie hätte keine weitere Nacht bei Vera ertragen. Kurz vor dem Ortseingang war die Straße dann auch nahezu unpassierbar und glitschig vom Schlamm gewesen, so dass Jenny ihre alte Yamaha SR500 am Straßenrand hatte stehenlassen und zu Fuß ins Dorf gegangen war. Nur wenige Minuten später, als sie über umgefallene Bäume steigen und den verlassenen Werkstatthof der Felbers und dann die Straße überqueren musste, um zu ihrem gegenüberliegenden Haus zu gelangen, hatte sie die Tote gefunden. Wie betäubt hatte sie vor dem mit Schlammspuren überzogenen, klitschnassen und leblosen Körper gestanden. Hatte sich dann gebückt. Kein Zweifel. Die langen grauen Haare und das runde Gesicht mit den kleinen Augen gehörten ihrer Nachbarin. Auch die grüne Bluse. Die Felber trug immer grüne Blusen. »Frau Felber?«, hatte Jenny geflüstert und gleichzeitig gedacht, wie blöd das war. Die Frau war eindeutig tot. Die 110