DelfinTeam (3). Ritt auf der Brandung - Katja Brandis - E-Book

DelfinTeam (3). Ritt auf der Brandung E-Book

Katja Brandis

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Beschreibung

Katja Brandis erweckt mit ihren Worten die Naturgewalt des tosenden Meeres zum Leben. Ein Abenteuerroman über den Extrem-Sport Wellenreiten. Die australische Zweigstelle von The Deep steht kurz vor der Schließung. Um das zu verhindern, braucht Sandys bester Freund Sharky ihre Unterstützung. Die junge Delfintrainerin ahnt, dass er auch vor einer persönlichen Herausforderung steht und so reist sie zusammen mit Delfinweibchen Caruso zu ihm nach Australien. Während Sandy und Sharky um das Überleben von The Deep kämpfen, erhalten sie einen Auftrag, der das Unternehmen retten könnte. Die beiden DelfinTeams sollen einen erfolgreichen Surfer als "Bodyguards" bei einem riskanten Big Wave Contest begleiten. Sandy zweifelt: Was passiert, wenn sie diesen gefährlichen Job wirklich annehmen? Das größte Delfinabenteuer: In dem dritten Band vom "DelfinTeam" riskiert Sandy alles, um The Deep zu retten   Weitere Bücher aus der Reihe: DelfinTeam (1). Abtauchen ins Abenteuer DelfinTeam (2). Der Sog des Bermudadreiecks Weitere Bücher von Katja Brandis: Gepardensommmer Koalaträume

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DelfinTeam (1). Abtauchen ins Abenteuer

DelfinTeam (2). Der Sog des Bermudadreiecks

Katja Brandis,

Jahrgang 1970, hat Amerikanistik, Anglistik und Germanistik studiert und als Journalistin gearbeitet. Schon in der Schule liehen sich viele Mitschüler ihre Manuskripte aus, wenn sie neuen Lesestoff brauchten. Inzwischen hat sie zahlreiche Romane für Jugendliche veröffentlicht, unter anderem Ruf der Tiefe, Gepardensommer und Khyona. Mit ihren Bestsellerreihen Woodwalkers und Seawalkers begeistert sie Jungen und Mädchen gleichermaßen. Sie lebt mit Mann, Sohn und drei Katzen in der Nähe von München.

www.arena-verlag.de/katja-brandis

Ein Verlag in der Westermann Gruppe

1. Auflage als Arena-Taschenbuch 2023

© 2023 Arena Verlag GmbH

Rottendorfer Straße 16, 97074 Würzburg

Alle Rechte vorbehalten

Dieser Roman erschien erstmals in anderer Ausstattung 2006 im Verlag Carl Ueberreuter, Wien.

Dieses Projekt wurde vermittelt durch die Autoren- und Projektagentur Gerd F. Rumler (München)

Umschlaggestaltung: Caro Liepins unter Verwendung von Bildern von Shutterstock (© Daniel Dayment, cmp55, belizar, iPics, Fabio Principe)

Vignetten und Abbildung der Taucherausrüstung im Innenteil unter Verwendung von Bildern von Shutterstock (© ZiaMary, DianaFinch und Sergiy Zavgorodny)

ISSN 0518-4002

E-Book ISBN 978-3-401-81046-1

Besuche den Arena-Verlag im Netz unter:

www.arena-verlag.de

@arena_verlag

@arena_verlag_kids

Für alle Meeresschützer:innen!

Weihnachtsüberraschung

»Fröhliche Weihnachten, Sandra!«, sagte ihre Mutter und umarmte Sandy.

Irgendwie unwirklich, dachte Sandy. Draußen waren es fünfundzwanzig Grad im Schatten, der Himmel war von einem kräftigen Blau. Aber am Datum war nicht zu rütteln, es war der 24. Dezember. Wahrscheinlich würde sie lange keinen Schnee mehr sehen. Aber das war ihr herzlich egal. Hier in Florida gab es dafür andere schöne Dinge. Palmen. Pelikane. Und vor allem Delfine. Jede Menge Delfine.

»Schön, dass du da bist, Mama! Warte, ich nehm deinen Koffer«, sagte Sandy und wuchtete den Samsonite ihrer Mutter auf einen Gepäckwagen. »Mein Auto steht draußen. Es ist nicht weit bis zu The Deep, in einer Viertelstunde sind wir da.«

Als die automatischen Türen vor ihnen zurückwichen und sie draußen standen, sog Christine Weidner die tropischschwüle Luft tief ein. »Genauso habe ich mir Key West vorgestellt!«

»Na ja, es kann auch ganz anders sein.« Sandy mühte sich ab, den Hartschalenkoffer in ihren alten roten Toyota zu stopfen. Warum musste ihre Mutter immer so viel Kram mitnehmen? Als ob es bei The Deep darauf ankäme, schick angezogen zu sein! »Letzte Woche hatten wir einen fetten Sturm. Wir haben zwei Tage gebraucht, bis wir alles aufgeräumt und repariert hatten.«

Es war Trainingszeit, als sie in der Zentrale ankamen. Schon von Weitem hörte Sandy die Pfiffe, das Knarren und Klacken der Delfine – Geräusche, die ihr Herz höher schlagen ließen. Yurikos Lachen und Marks Stimme wehten herüber. Sieht aus, als hätte sich Marks Partner Skipper inzwischen von der Sturmpatrouille erholt, dachte Sandy und schloss den Bungalow Nummer elf auf, der zwischen blühenden Hibiskusbüschen lag. Drinnen war es dunkel und kühl, sie hatte extra die Jalousien unten gelassen. »So, das hier ist dein Quartier. Stell dein Zeug ab, dann gehen wir runter zum Fluthaus.«

Christine Weidner schob ihren Rucksack in eine Zimmerecke, ließ sich auf das einfache Bett sinken und zündete sich eine Zigarette an. »Gib mir einen Moment. Meine Güte, bin ich müde!«

»Deinen Jetlag kannst du ein andermal ausschlafen«, sagte Sandy fröhlich. »Die ganze Zeit hast du gesagt, dass du meinen Delfin kennenlernen willst, da gilt Schwächeln nicht! Hast du daran gedacht, wasserfeste Sandalen mitzubringen?«

»Ich habe mir welche gekauft. Wahrscheinlich werde ich sie nie wieder brauchen, wenn ich zurück in Frankfurt bin.« Ihre Mutter ließ eine Rauchwolke zur Decke steigen. »Und dein neuer Freund, der Ex-Kampfschwimmer, ist der zurzeit hier? Auf den bin ich, ehrlich gesagt, noch neugieriger. Und dieser Sharky, von dem du so viel erzählt hast?«

Sandy freute sich, dass ihre Mutter es geschafft hatte, sich die Namen ihrer Freunde zu merken. Normalerweise hatte sie ein Gedächtnis wie ein Sieb. »Ja, Ramón ist da, er geht erst nächste Woche auf einen Einsatz – gerade trainiert er seinen Partner Rocky im offenen Meer. Sharky ist zurzeit in Australien, er ist letzte Woche abgedüst. Janine hat mit Thorin heute eine Wrackbergung. Aber Yuriko kannst du kennenlernen, mit der verstehe ich mich auch sehr gut.«

»Na, dann los«, sagte ihre Mutter und drückte ihre Zigarette aus. Sie gingen über einen der schmalen Fußpfade Richtung Wasser. Vom Dammweg aus blickten sie über die künstliche Lagune. Aus der Richtung des Meeres fächelte eine nach Salz riechende Brise herüber. »Wunderschön ist es hier«, sagte Christine Weidner.

Jetzt bin ich ja mal gespannt, ob sie und Caruso etwas miteinander anfangen können!, dachte Sandy. Alles, was ihre Mutter bisher mit Tieren zu tun gehabt hatte, war, hin und wieder eine Spinne zu erschlagen. Da sie als Krankenhausärztin viel Schichtdienst hatte, waren Haustiere nie ein Thema gewesen. Sandy hatte jahrelang vergeblich um einen Hund gebettelt.

Sie wateten in das türkisfarbene Wasser der Lagune hinaus. Auf einem Pfosten der Schleuse, die ins Meer führte, hockte ein rosa-weißer Pelikan und verdaute mit nachdenklicher Miene seine letzte Mahlzeit.

Yuriko, eine zierliche Gestalt im Bikini, winkte ihnen zu. Sandy winkte zurück. »Das ist Yuriko – sie hat Caruso für mich betreut, während ich dich abgeholt habe«, erklärte sie und hielt das Handgelenk, an dem sie ihr Dolcom trug, ins Wasser. Sie hatte kaum Gelegenheit, den Rufknopf zu drücken, da schoss unter Wasser ein grauer Blitz heran. Caruso reckte den glänzenden Kopf aus dem Wasser und atmete schnaufend.

»He, da bist du ja!«, lachte Sandy, machte die Hallo-Geste und fragte dann Caruso okay? in Dolslan. Training anstrengend? Ihre Hände bewegten sich wie von selbst, sie musste längst nicht mehr darüber nachdenken, welche Zeichen sie benutzen sollte.

Caruso beobachtete sie aus dunklen Augen aufmerksam. Training gut, Mensch Yuriko viel gut!, übersetzte das Dolcom ihre Pfiffe.

Sandy legte einen Arm um ihre Mutter, um Caruso zu zeigen, dass sie nicht einfach eine normale Besucherin war. Caruso tauchte den Kopf wieder ins Wasser und ortete sie mit ihrem Sonar. »He, das kribbelt!«, rief Christine Weidner. »Ist das Ultraschall?«

»Genau. Für Delfine ist es eine Art natürliches Radar. Ein sechster Sinn.« Sandy sah, dass ihre Mutter sich nicht so recht traute, Caruso anzufassen, und legte die Hand auf Carusos Rücken. »Du kannst sie ruhig streicheln. Die Hände hast du dir doch gewaschen, oder? Achtung, dass du ihrem Blasloch nicht zu nahe kommst, da sind Delfine empfindlich.«

»Du bist ja eine Hübsche«, sagte ihre Mutter und tätschelte Caruso ungeschickt. Brav hielt Sandys Partnerin still und Sandy belohnte sie mit einem lautlosen Applaus für ihre Geduld. Sie war froh, dass Caruso mit Fremden schon viel besser zurechtkam als am Anfang.

Inzwischen war Yuriko herangekommen, sie ließ sich von Kiara auf einer Luftmatratze an Land zurückschieben. »Hallo, Mrs Weidner! Wollen Sie sich bei ihr noch beliebter machen?«, fragte sie und reichte Sandys Mutter einen Fisch.

Hoffentlich gibt’s kein »Igitt!«, schoss es Sandy durch den Kopf. Doch Christine Weidner nahm den kalten, glitschigen Hering in die Hand, ohne eine Miene zu verziehen. Wahrscheinlich ist sie aus dem Krankenhaus viel ekligere Dinge gewohnt, dachte Sandy und beobachtete, wie ihre Mutter den Fisch zögernd in Carusos aufgesperrtes Maul fallen ließ. »Die hat ja eine ganze Menge Zähne, deine Partnerin … wie viele Wörter kann sie eigentlich inzwischen?«

»Über achtzig«, sagte Sandy stolz. Sie wollte Caruso ein paar Übungen vorführen lassen – doch dann sah sie aus den Augenwinkeln, dass ein weißer Mast jenseits der Lagune auftauchte. »Das ist die Esperanza II! Ramóns Schiff. Komm, gehen wir mal runter zum Anlegesteg.«

Caruso kam natürlich mit. Sie schwamm über die Schleuse ins Meer und war vor Sandy am Bootssteg. Dort tummelte sich schon Rocky und Ramón war damit beschäftigt, sein Tauchzeug aus dem Katamaran zu laden. Er trug eine schwarze Shorts, eins der königsblauen T-Shirts mit dem The-Deep-Logo und eine Basecap. Jack, sein großer Mischlingshund, kam wedelnd auf Sandy zu und begrüßte sie stürmisch.

Wir sind schon ein ganz schön auffälliges Paar, Ramón und ich, dachte Sandy, während sie Jack die Ohren kraulte. Eine kleine weiße Deutsche mit Lockenkopf und ein hochgewachsener Kubaner mit brauner Haut … in Deutschland würden die Leute wahrscheinlich glotzen …

Ramón wuchtete seine Tauchtasche auf den Steg und schaute ihnen entgegen. Es berührte Sandy tief im Herzen, dass er so unbeschwert und glücklich aussah. Nach dem heftigen Einsatz im Bermudadreieck vor einem Monat hatte er es noch schwerer gehabt als die anderen Mitarbeiter von The Deep: Weil er sein Schiff und seinen sämtlichen Besitz verloren hatte, besaß er fast nichts mehr aus seinem alten Leben. Doch seit er einen neuen Katamaran hatte, ging es ihm deutlich besser. Er hatte es sogar geschafft, seinen wasserscheuen Malerfreund Churchill zu einem Bootsausflug zu überreden. Inzwischen hingen drei abstrakte Ölbilder in leuchtenden Farben in der Kabine der Esperanza II – der Grundstock einer neuen Sammlung.

Sandy umarmte Ramón und er küsste sie, ohne sich darum zu kümmern, dass ihre Mutter zusah. Sein sehniger Körper war warm von der Sonne und roch nach Salz und Meerwasser.

Ramón wandte sich Sandys Mutter zu. »Hi, Mrs Weidner! Guten Flug gehabt?«

»Buenos Dias«, sagte Christine Weidner fröhlich. »Sí, ich hatte einen guten Flug. Das war leider schon mein ganzes Spanisch …«

»Macht nichts«, meinte Ramón und grinste. »Guten Tag, danke und so was kann ich inzwischen auch auf Deutsch sagen, aber nicht viel mehr.«

Glück gehabt – sah aus, als würden sich die beiden verstehen.

Am Abend saßen sie im Fluthaus, bis zu den Knien im Wasser; zwischen ihnen schwammen die Delfine umher. Sandy hatte sich mit ihrer Mutter darauf geeinigt, dass sie die Weihnachtsgeschenke erst morgen früh auspacken würden, so wie es in Amerika Sitte war. Heute war erst mal das Festessen dran. Mark und Sue hatten gekocht – es gab gegrillten Snapper »Hawaiian Style«. Yuriko hatte dazu eine Ananasbowle gebraut und zum Nachtisch hatte Sandy eine Orangencreme mit Amaretto vorbereitet.

»Mhm, lecker! So ein Weihnachtsmenü werde ich wahrscheinlich nicht so schnell wieder bekommen!«, schwärmte ihre Mutter und nahm sich noch eine zweite Portion Fisch. Sharky hätte es auch geschmeckt, dachte Sandy wehmütig – gegrillter Snapper war eines seiner Lieblingsessen.

»Hat eigentlich schon einer von euch ’ne Mail von Sharky gekriegt?«, fragte sie in die Runde. »Mir hat der treulose Kerl kein einziges Mal geschrieben. Dabei würde mich ja schon interessieren, ob ihn das mit seinem Bein am Surfen hindert oder nicht.«

Sie hatte sich noch nicht an den Gedanken gewöhnen können, dass sie ihren besten Freund ein halbes Jahr lang nicht sehen würde. Er war in sein Heimatland Australien zurückgekehrt, um dort wieder das Wellenreiten anzufangen. Die anderen The-Deep-Mitarbeiter hatten ihr erzählt, dass Sharky einmal ein sehr guter Surfer gewesen war – bis ein Tigerhai ihn am Bein erwischt hatte. Selbst jetzt noch hinkte Sharky deutlich.

»Wenn er sich nicht meldet, heißt das bei Sharky, dass alles in Ordnung ist«, sagte Gregory Arrowsmith, der Chef und Gründer von The Deep. »Aber ich werde ihn trotzdem morgen mal anrufen.« Greg hatte Sharky kurz vor seiner Abreise offiziell zu seinem Stellvertreter gemacht; inoffiziell war er schon längst einer der wichtigsten Mitarbeiter von The Deep gewesen.

»Ich möchte gar nicht wissen, wie heiß es in Australien ist – da unten ist jetzt Hochsommer«, sagte Yuriko und neckte Kiara, indem sie sie spielerisch an der Rückenflosse zog. »Wahrscheinlich wird Sharky genauso braun sein wie Ramón, wenn er zurückkommt.«

»Was haben Sie demnächst für einen Einsatz, Ramón?«, fragte Christine Weidner.

Ramón nippte an seinem Glas Bowle, verzog das Gesicht und schenkte sich stattdessen zwei Fingerbreit Whisky ein. »Drei Wochen Mittlerer Osten mit Rocky, Greg und Little Joe. Wir sollen Supertanker durch gefährliche Gewässer eskortieren und bei der Gelegenheit möglichst viele Minen orten und aus dem Meer holen.«

»Ach du Scheiße!« Christine Weidner sah ihn erschrocken an.

»Halb so wild«, erwiderte Ramón höflich. »Wenn man weiß, was man macht, ist es nicht viel riskanter, als in Downtown Miami bei Rot über die Straße zu gehen.«

Sandy fand es selbst schwer zu sagen, warum sie nicht oft Angst um Ramón hatte. Vielleicht, weil er wirklich wusste, was er tat – durch seine Ausbildung bei einer Eliteeinheit der US-Navy war er der mit Abstand beste Taucher und Seemann bei The Deep.

In diesem Moment klingelte das Telefon. Greg ging hoch zu den Verwaltungsbüros, um dranzugehen. Erst zehn Minuten später kam er wieder. Er wirkte beunruhigt. »Sandy, kommst du mal? Sharky ist dran. Er will dich sprechen.«

Sharky?! Sandy sprang auf und platschte hoch in den ersten Stock, in Gregs Büro. Wie schön, dass er sich meldete! Sie fragte sich, warum Greg so komisch dreinschaute.

Schnell nahm sie sich den Hörer. »Na du? Hast du schon deine ersten Kängurus gesehen?«

Seine Stimme mit dem breiten australischen Akzent war so vertraut. »Nee. An der Gold Coast gibt’s nicht so viele. Wie geht’s dir? Ihr feiert gerade, habe ich gehört …«

Sandy berichtete von der Ankunft ihrer Mutter und deren ersten Begegnung mit Caruso. »Aber erzähl du doch mal – gefällt dir deine alte Heimat noch? Wie klappt es?«

»Das kann ich dir sagen.« Sharky klang plötzlich verbittert. »Gar nichts klappt. Das ist das totale Chaos hier unten. Eigentlich sollten mindestens drei Teams von dieser Niederlassung aus arbeiten, Haipatrouillen und Rettungseinsätze machen. Aber zurzeit ist nur noch eins übrig, Nolan und Wondergirl.«

»Oje, wieso denn das?«

»Ein Delfin ist gestorben und einer der Menschen hat gekündigt und seinen Partner Floyd im Stich gelassen. Jetzt trauert Floyd und frisst nicht mehr. Wahrscheinlich werde ich Weihnachten damit verbringen, an seinem Becken zu hocken und ihn zu überreden, wenigstens einen Fisch anzunehmen.«

Sandy wusste, dass es für einen Delfin spätestens nach zwei Tagen ohne Futter kritisch wurde. »Hoffentlich kommt er durch!«

»Das Problem ist auch: Wenn ich es nicht schnell schaffe, hier alles in Ordnung zu bringen, kriegt The Deep ganz großen Ärger. Vor ein paar Monaten ist ein neuer Stadtrat gewählt worden, der uns das Leben schwer macht. Er gilt als tüchtig und unbestechlich, aber auch als sehr streng.«

»Meinst du, du schaffst es, das hinzukriegen?« Nach dem Surfen wagte Sandy gar nicht mehr zu fragen.

Sie hörte, wie Sharky tief durchatmete. Dann sagte er: »Allein nicht, fürchte ich. Ich brauche dich hier unten, Sandy. Dich und Caruso. Greg hat schon zugestimmt. Komm so schnell wie möglich her. Bitte.«

In Sandys Kopf wirbelten die Gedanken herum. Wie? Was? Sie sollte nach Australien? »Ich … aber …«

»Ein Monat würde wahrscheinlich reichen, das würde mich schon wahnsinnig entlasten«, sagte Sharky und Sandy hörte, wie erschöpft er klang. Der Arme – dabei hatte er sich so darauf gefreut, nach Australien zurückzukehren! Das Problem war, dass sein Anruf ihr gerade überhaupt nicht in den Kram passte. Ihre Mutter wollte eine Woche bleiben – sie hatten sich ein Dreivierteljahr nicht gesehen. Sandy freute sich schon darauf, mit ihr in Miami umherzuschlendern, die Everglades anzuschauen, in Key West Cocktails zu schlürfen. Und was würde Ramón sagen? Er und Sharky hatten zwar einen Waffenstillstand geschlossen, aber gefallen würde es ihm ganz sicher nicht, dass sie einen ganzen Monat mehr oder weniger allein mit seinem Rivalen verbrachte …

So leid es ihr tat, es ging nicht. Aber sie brachte es nicht übers Herz, es ihm zu sagen. »Ich überlege es mir und rufe dich zurück, okay?«, sagte Sandy.

Das Herz war ihr schwer. Es war kein schönes Gefühl, Sharky im Stich lassen zu müssen. Leise tappte sie hoch zum vorderen Balkon des Fluthauses. Von hier aus konnte sie über die Lagune hinwegblicken, in der sich der Mond spiegelte. In der Dunkelheit und Stille spürte sie, wie sich ihre Gedanken langsam klärten. Warum wollte er ausgerechnet Caruso und sie – warum keinen der anderen, die mehr Erfahrung hatten? Doch Sandy ahnte die Antwort schon. Ich bin die Einzige, die er an sich heranlässt, dachte sie. Den anderen zeigt er die coole Fassade. Keinem anderen als mir gegenüber hätte er zugegeben, dass er Hilfe braucht.

Sandy stellte sich vor, was Sharky an ihrer Stelle getan hätte. Wäre er gekommen? Sie erinnerte sich daran, wie er ihr am Anfang mit Carusos Ausbildung geholfen hatte. Wie er mit ihr um zwei Uhr nachts vor ihrem Bungalow gesessen hatte, als sie nach Nikkis Tod diese Krise gehabt hatte. Wie er mit Mark nach Jamaika geflogen war, um nach ihr zu suchen. Wie er ihr nach dem gescheiterten Wracktauchgang im Bermudadreieck zu Hilfe gekommen war. Wie sie sich in San Juan zusammen auf das feindliche Schiff geschlichen hatten.

Sie schob ihm im Geiste Antworten in den Mund. Geht leider nicht, meine Mutter ist gerade zu Besuch. Das verstehst du doch. Oder: Meine Freundin hat leider etwas dagegen. Sorry.

Nein, so was hätte Sharky nicht gesagt. Er hätte gar nichts gesagt und hätte am nächsten Tag vor der Tür gestanden.

In ihr kristallisierte sich eine neue Entscheidung heraus. Aber erst wollte sie Caruso fragen. Schließlich wäre der lange Flug für sie sehr anstrengend.

Sandy kletterte die Außentreppe nach unten und watete in das dunkle Wasser der Lagune hinein. Sie hörte das Plätschern von Flossen, dann das Knarren und Quietschen eines Delfins. War es Caruso? Sandy setzte sich ins Wasser und der Delfin versuchte sofort, sich an sie zu schmiegen. Ja, es war Caruso. Ihre beste Freundin. Lächelnd legte Sandy die Arme um ihren großen Körper. Dann hob sie die Hände, sprach lautlos in Dolslan mit ihr. Das Mondlicht reichte dafür völlig aus, Delfine sahen gut im Dunkeln. Sharky Probleme. Caruso und Sandy helfen Sharky? Transport viel viel weit.

Es dauerte eine Weile, bis Caruso antwortete. Ihre dunklen Augen schimmerten im schwachen Licht. Schließlich begann ihre Partnerin zu pfeifen. Helfen Sharky ja!, las Sandy im beleuchteten Display des Dolcoms.

»Ich glaube, das ist eine gute Idee«, sagte Sandy und streichelte ihrer Partnerin Rücken und Flanke. Ihre Haut fühlte sich glatt und feucht an wie ein frisch gepelltes Ei.

Nach ein paar Minuten schob sie Caruso sanft weg und ging zurück ins Büro. Sie wählte die Nummer, die Sharky ihr gegeben hatte. »Geht klar«, sagte sie. »Ich komme runter.«

»Danke«, sagte Sharky einfach.

Greg wartete im anderen Büro auf sie. Er blätterte in einer alten Ausgabe von Marine Biology und schaute auf, als er sie in der Tür stehen sah. »Du machst es also?«

»Ja – wenn ich’s mir genau überlege, wollte ich immer mal nach Australien«, antwortete Sandy. Sie fühlte sich ganz leicht und fröhlich. Komisch, manchmal spürte man es, wenn man die richtige Entscheidung getroffen hatte. Dann waren alle Zweifel plötzlich weg.

»Das ist gut. Sharky hält große Stücke auf dich – wie ich übrigens auch«, meinte Greg. In Gedanken versunken, spielte er mit der Kaurimuschel auf seinem Schreibtisch. »Wird nicht ganz einfach, über die Feiertage euren Transport zu organisieren. Aber das schaffen wir schon. Gib Caruso ab sofort nichts mehr zu fressen, du weißt ja, sie muss für den Flug einen leeren Magen haben.«

»Äh, ja gut«, sagte Sandy, verwirrt von dem Lob – so was hörte man nicht oft von Greg. Nachdenklich machte sie sich auf den Weg zurück ins Erdgeschoss.

Ihre Mutter hatte sich mit Yuriko festgequatscht und bemerkte nicht, dass etwas nicht in Ordnung war. Aber Ramón schien wie immer sofort zu spüren, was in Sandy vorging. »Alles klar?«, fragte er leise.

»Eigentlich schon«, sagte Sandy und beugte sich zu ihm hinüber, um ihn zu küssen. »Aber ich fliege in den nächsten Tagen nach Australien. Sharky ist in Schwierigkeiten.«

»Was für Schwierigkeiten?«, fragte er. Als sie es ihm erzählt hatte, zog Ramón eine Grimasse. »Klingt übel. Trotzdem hoffe ich, er holt dich nicht mit dem Hintergedanken nach Australien, dass er dich dort in Ruhe anbaggern kann. Ich habe gemerkt, wie er dich auf dieser letzten Versammlung angesehen hat …«

O nein, nicht schon wieder diese verdammte Eifersüchtelei. Sie entschied sich für einen lockeren Ton, obwohl ihr nicht danach zumute war. »Machen wir’s doch so – du hältst dich von den Wüstenprinzessinnen fern und ich fange dafür nichts mit Sharky an! Wir sind nur Freunde, das weißt du.«

»Klar, ich weiß das – aber weiß er das auch?«

»Er weiß, dass ich mit dir zusammen bin. Ende der Diskussion!«

Inzwischen war auch ihre Mutter aufmerksam geworden. Also erzählte Sandy ihr, was los war. »Soll das heißen, dass ich den Rest der Woche allein verbringen muss?«, fragte sie und ihre Lippen waren auf einmal ganz schmal. »Weißt du überhaupt, wie schwierig es war, vom Krankenhaus ein paar Tage freizubekommen?«

Sandy spürte, wie sie ärgerlich wurde. Was konnte sie denn dafür? Und schließlich hatte ihre Mutter sich nie dafür entschuldigt, dass sie Sandy als Kind so oft allein gelassen und bei der Oma abgegeben hatte! Die Klinik hatte immer Vorrang gehabt.

Mühsam schluckte Sandy ihren Ärger hinunter. Sie wollte keinen Streit. Besser, sie versuchte, von Weihnachten zu retten, was zu retten war. »Es tut mir leid, dass es sich so ergeben hat. Aber ich glaube sowieso nicht, dass Greg so schnell einen Flug für Caruso und mich findet. Schließlich können wir nicht einfach einen Platz in einer Linienmaschine buchen und losjetten. So bequem ist es leider nicht, mit einem Delfin zu reisen.«

»Schon gut«, seufzte Christine Weidner. »Job ist eben Job, ich kenne das ja.«

Nein, dachte Sandy. Nur irgendeines Auftrags wegen hätte ich es nicht getan. Aber sie versuchte es nicht zu erklären, um die Sache nicht noch schlimmer zu machen.

Sie wateten durch das kniehohe Wasser in die Küche, um den Nachtisch vorzubereiten. Ihre Mutter folgte ihr. Im Wohnraum hatten sie mit den anderen Englisch gesprochen, aber jetzt, da sie alleine waren, schaltete Sandy auf Deutsch um. »Weißt du, was? Ich komme im März oder so mal nach Deutschland. Durch den Bonus für den Bermuda-Einsatz kann ich’s mir leisten.«

»Ja, so machen wir’s«, meinte ihre Mutter etwas besänftigt und half, die Orangencreme in Schalen zu füllen – oder versuchte es zumindest. Denn Kiara manövrierte, pfeifend und Knacklaute von sich gebend, in der Küche umher und versuchte, sich zwischen sie und den Tisch zu schieben.

»Ignorier sie einfach«, empfahl Sandy und zerlegte eine Orange, um die Scheiben als Deko oben auf die Creme zu kleben. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie gerade anfing, sich auf die Reise zu freuen. Seit ihrer Kindheit war Australien für sie ein magisches Land. Ihr Vater, der aus Indien stammte, hatte mal ein halbes Jahr dort gelebt und ihr einen eigenartigen Anhänger mitgebracht, den sie immer noch besaß. Damals hatte er behauptet, es sei die Schuppe einer Meerjungfrau, und ihr ein Märchen dazu erzählt. Daran glaubte sie natürlich längst nicht mehr. Aber sie hatte nicht herausgefunden, was es sein konnte. Noch mal zu fragen, war schwierig. Ihr Vater lebte schon seit einiger Zeit bei seinem Guru in Jaipur und schickte nur hin und wieder mal eine Postkarte.

»Was hat Papa damals in Australien eigentlich genau gemacht?«, fragte Sandy.

»Herumreisen, Kiffen und hin und wieder ein bisschen Jobben, schätze ich«, meinte ihre Mutter bitter. »Während ich mit dir daheim gesessen bin und verzweifelt versucht habe, irgendeine Betreuung für dich zu organisieren.«

»Hat er sich damals schon für Religionen interessiert?«

»Ja, aber wenn ich geahnt hätte, dass er schon ein paar Jahre später in diesen verdammten Ashram verschwinden und nie wiederkommen würde, hätte ich nicht mit ihm diese dämlichen Meditationsseminare gemacht!«

Sandy gab auf. Es hatte keinen Sinn, mehr über ihren Vater erfahren zu wollen. Ihre Mutter regte sich nur auf, wenn das Thema auf ihn kam.

»So«, sagte Sandy und stellte Kiara ein Schälchen fertig dekorierte Orangencreme auf den Rücken. »Wenn du schon hier rumhängst, Madame, kannst du dich auch nützlich machen. Bring Gegenstand Yuriko.«

***

Am nächsten Morgen war es Zeit, die Geschenke auszupacken. Sandy hatte ihrer Mutter ein Buch von Hemingway gekauft; schließlich hatte der mal in Key West gelebt. Außerdem hatte sie ein Bild von sich und Caruso rahmen lassen. Eine Pressefotografin hatte es in der Lagune aufgenommen. Auf dem Foto stand Sandy in voller Tauchausrüstung im hüfttiefen Wasser und Caruso hatte sich vor ihr wie ein Filmstar in Pose geworfen, sie krähte mit geöffnetem Schnabel in die Kamera.

»Toll«, sagte ihre Mutter und lächelte. »Vielleicht glauben mir meine Kollegen jetzt, dass meine Tochter wirklich mit einem Delfin zusammenarbeitet.«

Sandy bekam ein Tablet, einen neuen Badeanzug und einen großen Weltatlas. »Damit du dir vorher anschauen kannst, wo du überall hinfliegst«, sagte ihre Mutter.

»Gute Idee«, meinte Sandy und musste lachen, als sie sah, was ihre Mutter für Caruso ausgesucht hatte: ein gelbes Quietscheentchen aus Gummi!

Sie selbst schenkte Caruso als neues Spielzeug eine »Pool noodle«, eine lange Rolle aus Schaumstoff. Für Ramón hatte sie eine Abraham-Lincoln-Biografie gekauft; er las gerne Sachbücher und interessierte sich für Geschichte und Politik. Außerdem hatte sie ihm ein neues, richtig gutes Tauchermesser unter die Palme gelegt, die als Weihnachtsbaum herhalten musste. Sein altes war bei der Befreiungsaktion in San Juan verloren gegangen.

Ramón hatte für Sandy eine kleine Statue ausgesucht, einen springenden Delfin aus weißem Porzellan. »Als ich ihn im Laden gesehen habe, hat er mir sofort gefallen, weil er so lebensecht aussah«, berichtete Ramón.

»Er ist wunderschön«, sagte Sandy und umarmte Ramón. Beim Gedanken, dass sie ihn so lange nicht sehen würde, zog sich ihr Herz zusammen. Hoffentlich konnten sie den nächsten Einsatz wieder gemeinsam machen.

***

»Ich habe geahnt, dass es schwierig werden würde«, brummte Greg an diesem Abend. »Es gibt nur zwei mögliche Flüge – einer geht morgen Abend, der andere in drei Wochen. Welchen willst du nehmen?«

»Drei Wochen ist zu spät – bis dahin ist Sharkys Sorgenkind wahrscheinlich tot«, sagte Sandy und seufzte. »Dann wird’s wohl der andere sein müssen.«

An diesem Abend ging sie mit ihrer Mutter in einem schicken Restaurant in Key West essen; ohne Kollegen, nur sie beide allein. Ein richtiger Mutter-Tochter-Abend. Dann war es viel zu schnell so weit: Sandy stand am Frachtterminal des Miami International Airport und schrie den Fahrer des Gabelstaplers an: »Vorsicht! Verdammt noch mal, da ist ein echter Delfin drin, keiner aus Plastik!« Sie erinnerte sich an Ramóns Geschenk, das dick gepolstert in ihrem Handgepäck untergebracht war. »Stellen Sie sich vor, er sei aus Porzellan …«

»Jaja, schon gut«, grunzte der Fahrer und manövrierte etwas behutsamer.

Der Airline-Transportbehälter von The Deep war eine oben offene, innen mit Schaumstoff gepolsterte drei Meter lange Kiste aus Kunststoff, in der Caruso auf extraweichem Stoff in der Luft hing. An den Seiten hatte die Kiste auf Höhe der Augen Plexiglasfenster, damit der Delfin hinausschauen konnte. Feuchte Tücher verhüllten Carusos Haut, die Sandy an den empfindlichsten Stellen mit Vaseline eingeschmiert hatte. Ihre Partnerin sollte sich nicht wund scheuern auf dem langen Flug.

Sandys Mutter war zum Flughafen mitgekommen und beobachtete die Vorbereitungen neugierig. Sie würde Silvester bei The Deep verbringen; Sandy hatte Yuriko gebeten, sich besonders um sie zu kümmern. Ramón konnte es nicht, er flog morgen selbst ab.

Es schien endlos zu dauern, bis Caruso in ihrem Transportbehälter sicher im Bauch des riesigen Jumbojets verstaut war. Um sie herum türmten sich andere Kisten und Kästen, es roch nach Sperrholz, Metall und tropischen Früchten. Greg Arrowsmith und Mike Chang, der Tierarzt von The Deep, schleppten ein paar Wasserkanister an Bord und sicherten sie. Sandy machte es sich zwischen der ganzen Ausrüstung, so gut es ging, bequem und goss etwas Wasser über Carusos Haut. »So, jetzt geht’s gleich los«, tröstete sie ihre Partnerin und übersetzte es mit den Händen automatisch in Dolslan. »Wenn wir erst mal in der Luft sind, wird alles besser, du kennst das ja.«

Caruso pfiff etwas, aber das Dolcom konnte es nicht entschlüsseln. Wahrscheinlich waren es Delfinflüche.

»Vielleicht hätten wir ihr eine Beruhigungstablette geben sollen«, sagte Greg besorgt.

Sandy schüttelte den Kopf. »Quatsch. Sie ist Transporte doch gewohnt.«

Schnaufend holte Caruso Atem. Mike Chang, der Tierarzt von The Deep, drückte auf seine Stoppuhr. »Sie hält sich gut. Ein Atemzug pro Minute bisher. Wenn es dabei bleibt, ist alles prima.«

Sandy legte die Hand auf eine von Carusos Brustflossen. »Oje, aber sie glüht ganz schön …«

Im Meer hatten die Delfine sozusagen eine Wasserkühlung – sobald sie an Land waren, wurde für sie Überhitzung zu einer ständigen Gefahr. Dann konnten ihre Flossen, die sich normalerweise kühl anfühlten, so heiß werden, dass man darauf Spiegeleier hätte braten können.

»Denk dran, sie feucht zu halten!« Mike Chang und Greg wünschten ihnen einen guten Flug und verabschiedeten sich. Traurig umarmte Sandy ihre Mutter. »Ich komme bald nach Deutschland, versprochen.«

»Mach dir keine Gedanken. Ich werde mich schon gut amüsieren in Florida. Silvester telefonieren wir, ja?«

Die riesige Ladeklappe der Boeing schloss sich. Dann hörte Sandy die Triebwerke aufheulen. Bald waren sie unterwegs.

Sandy war der einzige Mensch im Bauch des Frachtflugzeugs. Wenn Caruso nicht gewesen wäre, hätte sie sich schrecklich allein gefühlt. Sandy richtete sich auf der Luftmatratze ein, die neben Carusos Behälter lag. Ein Zwanzig-Stunden-Flug lag vor ihnen. Dann waren sie auf der anderen Seite der Welt …

Sandy holte den Anhänger, den ihr Vater ihr geschenkt hatte, aus der Tasche. Glatt und kühl lag er in ihrer Hand. Er bestand aus drei orangeweißen Ovalen, hart wie Porzellan. Sie überlappten sich so raffiniert, dass sie eine fast glatte Fläche bildeten, die nach oben und unten spitz zulief. Schön ist er, der Anhänger, dachte Sandy. Den muss ein Künstler gemacht haben.

Sie nahm die silberne Pfeife ab, die sie sonst trug, und befestigte die Ovale um ihren Hals. Seltsam – auf einmal fühlte sie sich ihrem Vater näher als seit Jahren.

Swimmingpool

Wie immer schien die letzte Etappe kein Ende zu nehmen. Caruso wurde auf eine einfache Tragbahre umgelagert, dann ging es mit dem Wasserflugzeug von Sydney aus nach Norden, an die Gold Coast im australischen Staat Queensland. »Bald haben wir’s geschafft«, sagte Sandy zu Caruso und goss ihr etwas Wasser über den Rücken.

Unter ihr zog die Ostküste Australiens vorbei. Üppiges Grün, breite Flussdeltas, dann schließlich ein endloser, hellsandiger Strand mit der weißen Rüschenlinie der Brandung. Hier war die Küste dichter besiedelt, mit Hunderttausenden von Einfamilienhäusern, die von oben wie ordentlich verteilte Bauklötzchen aussahen.

Endlich ging das Wasserflugzeug in den Landeanflug über. Als es mit im Leerlauf klackerndem Propeller anlegte, hatte Sandy schon die Gestalt mit blonden Dreadlocks erspäht, die am Pier stand. Ihr Herz schlug schneller und sie war selbst überrascht, wie sehr sie sich freute.

Mit den Händen in den Taschen seiner Cargohose schlenderte Sharky ihr entgegen, als Sandy sich aus der Kabine wand. Ein breites Grinsen stand auf seinem Gesicht. »Na, wenn das nicht Besuch aus Key West ist.« Er trug ausnahmsweise ein T-Shirt, es verbarg das Haitattoo auf seiner Schulter und den Raubfischzahn, der an einer Lederschnur um seinen Hals hing.

»Und Sie sind Mr Jeffers, vermute ich?«, gab Sandy zurück und versuchte vergeblich, dabei ernst zu bleiben. Sie umarmten sich herzlich.

Gemeinsam luden sie die Tragbahre mit der unruhig wirkenden Caruso in ein Schlauchboot mit dem Logo von The Deep um, dann brausten sie die kurze Strecke bis zu ihrem Ziel. Die Niederlassung lag etwas außerhalb des Orts am Currumbin Beach. Kräftige, lang gestreckte Wellen beendeten hier ihre lange Reise über den Ozean und brachen sich auf dem Strand. Geschickt manövrierte Sharky das Boot durch einen mit Steinen eingefassten Kanal bis zu einem kleinen Anlegeplatz, der vor der Brandung geschützt war und von tiefgrünen subtropischen Bäumen gesäumt wurde. Erstaunt sah Sandy ein Becken vor sich, das grob aus dem Stein gehauen worden war. Natürliche Felsen bildeten die Seitenwände – manchmal schwappte eine Welle schäumend über ihren Rand und verwandelte das Wasser in eine weiße Suppe. Doch es dauerte nur eine Minute, dann war das Wasser des Felsenbeckens wieder türkisfarben und kristallklar. Sandy war begeistert.

»Das war mal ein öffentliches Meerwasserschwimmbad, das pleitegegangen ist«, erzählte Sharky. »Greg hat die Anlagen so umbauen lassen, dass The Deep was damit anfangen konnte.«

»Sieht wunderschön aus. Warum in aller Welt hat dieser Stadtrat etwas gegen die Niederlassung?«

Sharkys Gesicht verdüsterte sich. »Darüber erzähle ich dir nachher mehr.«

Mithilfe eines Flaschenzugs hoben Sandy und Sharky Caruso mitsamt ihrer Tragbahre aus dem Boot und wateten an einer flachen Einstiegsstelle ins Wasser hinaus, um ihr zu helfen. Die Felsen waren mit einem dünnen Algenfilm bewachsen und glitschig – um ein Haar wäre Sandy ausgerutscht.

Sie stützten Caruso von beiden Seiten, bis sich ihre Muskeln von der Reise erholt hatten und sie es schaffte, selbst zu schwimmen. »Good girl«, lobte Sharky und legte die Hand auf Carusos Rücken. »Siehst du, es geht wieder, alles in Ordnung.«

Sandy spürte, dass Caruso sofort ruhiger wurde. Alle Delfine von The Deep mochten Sharky sehr und Caruso war keine Ausnahme.

Sandy setzte sich ins Wasser und legte den Arm um ihre Partnerin. Caruso okay?, fragte Sandy so lange, bis ein schnelles Nicken als Antwort kam.

Nelson, Sharkys Partner, war ebenfalls herangekommen und schwamm an ihrer Seite. »So, ich glaube, wir können Caruso in seine Verantwortung geben«, sagte Sharky schließlich und signalisierte seinem Partner Hilf Caruso schwimmt zusammen.

Sie winkten Caruso noch einmal zu und wateten an Land. Sharky lud sich Sandys Seesack auf die Schulter. »Ich hab dir ein Zimmer im Hotel gebucht. In der Niederlassung ist nicht viel Platz, zu dritt wäre es arg eng. Magst du gleich eine Führung oder willst du dich erst aufs Ohr legen? Du siehst aus wie ein Zombie.«

Gerade wollte Sandy erwidern, dass sie sich auch so fühlte, da fegte ein molliger junger Mann in Badeshorts durchs Eingangstor. Seine glatten dunklen Haare trug er in einer Frisur, die seit den Beatles etwas aus der Mode gekommen war – sie umrahmten sein freundliches, rundes Gesicht wie das Fell eines Seehunds. »Yeah, ich hab’s!«, rief er.

»Was hast du, Nolan?«, fragte Sharky.

»Ich hab das Apartment gekriegt. Ist hier ganz in der Nähe.« Nolan bemerkte Sandy und musterte sie mit zutraulicher Neugier. »Das heißt, wenn ihr wollt, könnt ihr beiden das ehemalige Büro hier auf dem Gelände haben, in dem bisher ich und Sharky gehaust haben. Wenn euch ’ne Wohngemeinschaft nix ausmacht.«

Sandy und Sharky sahen sich an.

»Ich bin fürchterlich unordentlich«, sagte Sandy.

»Macht nichts, ich auch. Aber ich bin ein schrecklicher Morgenmuffel.«

»Weiß ich. Ich werde dich einfach nie vor neun ansprechen.«

»Ist gebongt«, sagte Sharky und grinste.

In der Wohnung – der ehemaligen Verwaltung des Schwimmbads – roch es nach ungewaschenen Klamotten und abgestandenem Kaffee. Die Wände hätten dringend einen neuen Anstrich gebraucht. Ein fleckiger beigefarbener Teppich bedeckte den Boden. Im schmalen Flur waren Pressluftflaschen aufgereiht, in einem Regal standen zerfledderte Ordner mit Einsatzberichten und etwa zwanzig Comicbände. In einer Ecke erspähte Sandy einen Laptop, der vor fünf oder sechs Jahren sicher mal das Neuste vom Neuen gewesen war. Aber wenigstens war es kühl, die Klimaanlage funktionierte und aus den Fenstern hatte man einen guten Blick über die Becken – vielleicht hatten von hier aus die Bademeister ihren Dienst getan?

Es gab zwei Zimmer – in einem standen Kochnische, Sofa und Tisch, im anderen zwei Einzelbetten; auf einem davon lagen Sharkys Klamotten. Unschlüssig betrachtete Sandy das Sofa. Sollte sie vielleicht besser im Wohnzimmer übernachten oder das Hotelzimmer nehmen? Ramón wäre nicht begeistert, wenn er erfuhr, dass sie mit Sharky im selben Raum schlief! Aber das musste sie ihm ja nicht erzählen.

»Dusche und Klo sind übrigens draußen in den Umkleiden«, erklärte Sharky und Sandy machte sich gleich mal auf den Weg dorthin. Die ehemalige Damenumkleide, ein düsterer Raum, in dem einige Schließfächer standen, war vollgestellt mit Delfinspielzeug, Bojen, Transporttragbahren und anderem Zubehör. Es roch nach Plastik und Salzwasser.

Sandy musste sich durchwinden, um zur Toilette zu gelangen. Auf dem Rückweg warf sie einen Blick in die Männerumkleide: Aha, hier lagerten Lycra- und Neoprenanzüge, Jackets, Flossen und andere Tauchsachen. Eine Tür weiter, im ehemaligen Kiosk, stand ein altertümlicher Tiefkühler, dessen Deckel mit Klebeband geflickt war, außerdem ein wackeliger Arbeitstisch, eine Spüle, eine Waage und ein halbes Dutzend bunte Plastikeimer. Hier wurden, folgerte Sandy, die Mahlzeiten der Delfine zubereitet und konnten dann gleich durchs Verkaufsfenster nach draußen gereicht werden. Sandy musste lächeln, als sie es sich vorstellte. Ein Kilo Heringe, bitte. Aber schön roh!

Kommt sofort, macht zehn Dollar …

Langsam wurde Sandy klar, was die Stadtverwaltung an der Niederlassung auszusetzen haben könnte.

Sharky half Nolan, seine Sachen nach draußen ins Auto zu verfrachten – darunter drei schwere Kisten mit der Aufschrift »Comics A–E«, »Comics F–K« und »Comics L–Z« – während Sandy auf der Suche nach frischem Bettzeug die Schränke aufriss. Als Nolan sein Auto vollgeladen hatte und etwas mehr Ruhe eingekehrt war, holte Sandy sich aus dem lautstark brummenden Kühlschrank eine Cola und warf sich aufs Sofa. »Kann es sein, dass Greg hier schon lange kein Geld mehr reingesteckt hat?«

Sharky zuckte die Schultern. »Irgendwann müssen sich die Niederlassungen selbst tragen, daran führt kein Weg vorbei.«

»Sharky, könntest du morgen schauen, ob du meinen Tauchcomputer hinkriegst?«, rief Nolan aus dem Flur. »Das Ding hat irgendwo einen Wackelkontakt. Ach ja, und bei meinem Dolcom funktioniert das Versammeln-Signal nicht. Wäre echt lieb, wenn du es dir morgen ansehen könntest.«

»Klar. Wenn du mir sagst, wo du das Werkzeug hingetan hast.«

»Schau doch mal im Kiosk unter der Spüle … aber es könnte auch im Karton ganz hinten rechts in der Damenumkleide sein …«

Sieht so aus, als wäre länger niemand hier gewesen, der sich mit Technik auskennt, dachte Sandy. Da kommt jemand wie Sharky, der nicht nur programmieren, sondern auch Elektronik aller Art hinbasteln kann, gerade recht!

Nolan düste vorbei. Er ging mit kurzen, watscheligen Schritten, kam damit aber sehr schnell voran. Jetzt trug er eine helle Shorts und – krass! – ein Netzhemd, das seine dichten Brusthaare wunderbar zur Geltung brachte. »Okay, das war’s eigentlich – dann bis morgen! Sally wartet schon. Könntet ihr euch um Wondergirl kümmern, falls sie etwas braucht?«

Und weg war er.

»Was ich brauche, ist erst mal ein Bier«, sagte Sharky. Aber nach einem enttäuschten Blick in den Kühlschrank kam er mit einem Softdrink zurück. »Mist, Nolan hat natürlich nicht dran gedacht, als er an der Reihe war mit Einkaufen. Er ist ein fürchterlicher Chaot und trinkt selbst nur Zitronenlimo und Cocktails.«

Sharky ließ sich auf einem umgedrehten Küchenstuhl nieder und stützte die Arme auf der Lehne ab. Er vergewisserte sich schnell, dass Nolan wirklich weg war, dann meinte er: »Als ich gesehen habe, wie er mit Wondergirl arbeitet, war ich nicht sehr angetan. Weil Nolan es mit den Gesten nicht so genau nimmt, hat sich Wondergirl einen fiesen Dolslan-Dialekt angewöhnt. Es könnte sein, dass schon jetzt niemand anders mehr mit ihr arbeiten kann.«

»Hast du’s ihm schon gesagt?«

»Ja, wenn auch nicht in diesen Worten. Ich wollte nicht, dass er kündigt. Leider hatte ich bisher keine Zeit, mit ihm einen Auffrischungskurs zu machen. Ich hatte mit Floyd zu tun. Immerhin frisst er wieder. Fürs Erste ist er über den Berg.«

Jetzt erst fiel Sandy auf, dass Sharky genauso übernächtigt und erschöpft aussah, wie sie sich selbst fühlte. »Sag bloß, du hast die letzten Tage und Nächte an seinem Becken verbracht!«

»Ich habe nicht auf die Uhr geguckt, aber so wird’s wohl in etwa gewesen sein.« Er seufzte und stand auf. »Los, bevor wir beide ins Koma fallen, stelle ich dich schnell den Delfinen vor.«

Es war später Nachmittag und schon nicht mehr so heiß, dennoch traf die Hitze sie wie ein Schlag ins Gesicht, als sie aus dem Büro traten. Sandy setzte schnell ihre Sonnenbrille auf, um ihre Augen vor dem gleißenden Licht zu schützen.

Ein Zaun schirmte das Gelände von der Außenwelt ab. In Richtung Meer, bei den Klippen, wuchsen Bäume, die wie umgedrehte Tannen aussahen; um das ehemalige Kassenhäuschen am Eingang herum erhoben sich ein paar große Eukalyptusbäume mit schmalen grüngrauen Blättern und hellen Stämmen, an denen die Rinde abblätterte. Ihr aromatischer Duft erfüllte die Luft.

Sie gingen die paar Schritte hinunter zum Felsenbecken. Darin schwamm gerade Nelson und hielt nach seinem Partner Ausschau. Sharky winkte ihm zu und der große Delfin versuchte, neben ihm zu bleiben, während Sharky zu einer Einstiegsstelle ging. Sandy musste lächeln, als sie das beobachtete. Die beiden waren wirklich ein Herz und eine Seele – genau wie Caruso und sie! Nur hatten die zwei schon viel mehr Einsätze bewältigt, sie waren eins der erfahrensten Teams von The Deep.

Angewidert kickte Sharky eine Boje beiseite, die neben dem Becken lag. »Dieser ganze Krempel gehört in die Ausrüstungskammer!« So unordentlich er privat war, so genau war er, wenn es um die Delfine ging.

Sandy sah einen der anderen Delfine auftauchen, kurz atmen und sofort wieder verschwinden. »Das ist Wondergirl«, erklärte Sharky. »Sie ist ausgewachsen und ganz schön stark. Deshalb machen sie und Nolan meist Rettung und Haipatrouillen an den großen Badestränden nördlich von hier. Sie kann nur dreißig Wörter.«

»Also ein Bademeister-Team«, meinte Sandy und beobachtete den zweiten Delfin, der etwas dunkler gefärbt und seiner ramponierten Haut nach nicht mehr ganz jung war. Das musste Floyd sein, das Sorgenkind. »Und worauf ist Floyd spezialisiert?«

»Taucherunterstützung, aber auch Suchen und Bergen.« Sharky seufzte. »Nolan hat mir erzählt, dass er normalerweise sehr sanft ist und Menschen mag. Aber im Moment kommt man kaum an ihn heran. Es war ein harter Schlag für ihn, dass sein Partner – der die Niederlassung geleitet hat – ihn nach fünf gemeinsamen Jahren im Stich gelassen hat.«

Sandy konnte sich vorstellen, wie es Floyd ging. So eine Art schwerer Liebeskummer. »Wieso hat der Blödmann denn gekündigt?«