Demon – Sumpf der Toten - Douglas Preston - E-Book
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Demon – Sumpf der Toten E-Book

Douglas Preston

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Beschreibung

Ein neuer Fall für Special Agent Pendergast aus der Feder des Bestseller-Duos Preston & Child. "Demon - Sumpf der Toten" ist ein hochexplosives Gemisch aus Thriller, Mystik, Historie und Drama. In der Kleinstadt Exmouth an der Küste von Massachusetts soll Special Agent Pendergast den Raub einer wertvollen Weinsammlung aufklären. Im Weinkeller stößt er überraschend auf eine frisch zugemauerte Nische. Hinter der Wand sind Ketten zu finden, außerdem ein menschlicher Fingerknochen. Offenbar wurde hier vor langer Zeit jemand lebendig eingemauert. Die Einbrecher haben das Verlies geöffnet, das Skelett herausgeholt und die Mauer wieder geschlossen – der Weinraub war anscheinend reine Ablenkung. Schnell muss Pendergast lernen, dass Exmouth eine äußerst dunkle Vergangenheit hat. Das Skelett ist nur der erste Hinweis auf eine Verfehlung aus alter Zeit, die bis heute ungesühnt ist. "Spannung, Abenteuer, unvorhergesehene Wendungen: Lesefutter mit Suchtpotential." WDR

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Seitenzahl: 512

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Douglas Preston / Lincoln Child

DEMON

Sumpf der Toten Ein neuer Fall für Special Agent Pendergast

Thriller

Aus dem Amerikanischen von Michael Benthack

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Über dieses Buch

In der Kleinstadt Exmouth an der Küste von Massachusetts soll Special Agent Pendergast den Raub einer wertvollen Weinsammlung aufklären. Im Weinkeller stößt er überraschend auf eine frisch zugemauerte Nische. Hinter der Wand sind Ketten zu finden, außerdem ein menschlicher Fingerknochen. Offenbar wurde hier vor langer Zeit jemand lebendig eingemauert. Die Einbrecher haben das Verlies geöffnet, das Skelett herausgeholt und die Mauer wieder geschlossen – der Weinraub war anscheinend reine Ablenkung. Schnell muss Pendergast lernen, dass Exmouth eine äußerst dunkle Vergangenheit hat. Das Skelett ist nur der erste Hinweis auf eine Verfehlung aus alter Zeit, die bis heute ungesühnt ist.

Inhaltsübersicht

Widmungen

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

53. Kapitel

54. Kapitel

55. Kapitel

56. Kapitel

57. Kapitel

58. Kapitel

59. Kapitel

60. Kapitel

Epilog

Die Pendergast-Romane in der inhaltlich chronologischen Reihenfolge

Unsere anderen Romane

Leseprobe »Death – Das Kabinett des Dr. Leng«

Lincoln Child widmet dieses Buch

seiner Tochter Veronica

 

Douglas Preston widmet dieses Buch

Ed und Daria White

1

Als die Türglocke läutete, hörte Constance Greene auf, das flämische Virginal zu spielen. In der Bibliothek wurde es still, Anspannung lag in der Luft. Sie blickte in die Richtung von Special Agent A. X. L. Pendergast. Er saß neben einem verglühenden Kaminfeuer, trug dünne weiße Handschuhe und blätterte, ein halbausgetrunkenes Glas Amontillado neben sich auf dem Beistelltisch, in einer illuminierten Handschrift. Constance erinnerte sich an das letzte Mal, als jemand an der Tür der Pendergast-Villa am Riverside Drive Nummer 891 geklingelt hatte – was nur höchst selten vorkam. Die Erinnerung an diesen furchtbaren Moment hing wie ein gefühlter Dunst in der Luft.

Proctor, Pendergasts Chauffeur, Bodyguard und »Mädchen für alles«, erschien. »Soll ich öffnen, Mr. Pendergast?«

»Bitte. Aber lassen Sie die Person nicht ins Haus. Fragen Sie sie nach ihrem Namen und was sie wünscht, und erstatten Sie mir Bericht.«

Drei Minuten später kehrte Proctor zurück. »Ein Mann namens Percival Lake. Er möchte Sie mit einer privaten Ermittlung beauftragen.«

Pendergast hob die Hand, als wollte er das Ansinnen kurzerhand zurückweisen. Dann aber hielt er inne. »Hat er gesagt, worum es sich bei der Straftat handelt?«

»Er hat es abgelehnt, ins Detail zu gehen.«

Pendergast wirkte gedankenverloren, mit seinen überaus schmalen Fingern tippte er sachte auf den vergoldeten Rücken des alten Buchs. »Percival Lake. Der Name kommt mir irgendwie bekannt vor. Constance, wärst du bitte so freundlich, ihn zu recherchieren? Wie hieß noch gleich diese Webseite? Sie ist nach einer großen mathematischen Zahl benannt.«

»Google?«

»Ach ja. Google den Namen doch bitte für mich.«

Constance hob die Hände von den altersgelben Elfenbeintasten, entfernte sich vom Cembalo, öffnete einen kleinen Schrank und zog ein Notebook auf einer Ausziehplatte hervor. Eine Minute lang tippte sie.

»Es gibt da einen Bildhauer gleichen Namens, der monumentale Kunstwerke in Granit erschafft.«

»Dachte ich mir doch, dass mir der Name bekannt vorkommt.« Pendergast streifte die Handschuhe ab und legte sie beiseite. »Führen Sie den Mann herein.«

Während Proctor den Raum verließ, wandte sich Constance mit erbostem Gesicht zu Pendergast um. »Sind wir derart knapp bei Kasse, dass du dich auf Schwarzarbeit verlegen musst?«

»Natürlich nicht. Aber die Kunstwerke des Mannes sind – wenngleich recht altmodisch – inspirierend. Meiner Erinnerung nach treten seine Figuren fast so plastisch aus dem Granit hervor wie Michelangelos Erwachender Sklave. Das mindeste, was ich tun kann, ist, ihn zu empfangen.«

Kurz darauf kehrte Proctor zurück. Hinter ihm im Durchgang stand ein großer Mittsechziger mit imposantem weißem Haarschopf. Die Haare waren das Einzige, was alt an ihm wirkte. Er war ungefähr eins fünfundneunzig groß, sonnengebräunt, hatte zerfurchte, aber attraktive Gesichtszüge, eine straffe, sportliche Figur und trug einen blauen Blazer über einem gebügelten weißen Baumwollhemd zu einer hellbraunen Hose. Er strahlte gute Gesundheit und große Vitalität aus. Seine Hände waren riesig.

»Inspector Pendergast?« Mit ausgestrecktem Arm schritt er auf Pendergast zu und umschloss dessen blasse Hand mit seiner Riesenpranke. Dabei schüttelte er sie so kräftig, dass er beinahe Pendergasts Sherryglas umgestoßen hätte.

Inspector? Constance schrak zusammen. Es sah ganz so aus, als würde ihr Vormund seine »Inspiration« bekommen.

»Bitte setzen Sie sich, Mr. Lake«, sagte Pendergast.

»Vielen Dank!« Lake nahm Platz, schlug ein Bein über das andere und lehnte sich bequem zurück.

»Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? Einen Sherry vielleicht?«

»Dagegen ist nichts einzuwenden.«

Schweigend schenkte Proctor dem Bildhauer ein kleines Glas ein und stellte es neben ihm ab.

Der Besucher nippte daran. »Ausgezeichneter Tropfen, danke. Und danke auch, dass Sie sich bereit erklärt haben, mich zu empfangen.«

Pendergast neigte den Kopf. »Bevor Sie mir etwas über sich erzählen – den Titel ›Inspector‹ darf ich leider nicht für mich in Anspruch nehmen. Das wäre die britische Bezeichnung. Ich bin nur ein Special Agent des FBI.«

»Ich lese vermutlich zu viele Kriminalromane.« Lake verlagerte sein Gewicht auf dem Stuhl. »Lassen Sie mich gleich zur Sache kommen. Ich lebe in einer kleinen Stadt am Meer im nördlichen Massachusetts namens Exmouth. Ein ruhiger Ort abseits der Touristenströme und bei den Sommergästen nur wenig bekannt. Vor etwa dreißig Jahren haben meine Frau und ich den alten Leuchtturm und die Leuchtturmwärterwohnung bei Walden Point gekauft, seitdem wohne ich dort. Ein ausgezeichnetes Fleckchen für meine Arbeit. Ich war schon immer jemand, der gute Weine zu schätzen weiß – Rotwein, Weißwein interessiert mich nicht –, und der Keller des alten Hauses hat sich als idealer Aufbewahrungsort für meine recht umfangreiche Weinkollektion erwiesen. Er reicht bis tief ins Erdreich, Wände und Boden sind aus Felsgestein, die Temperatur beträgt sommers wie winters dreizehn Grad Celsius. Wie auch immer: Vor ein paar Wochen bin ich für ein verlängertes Wochenende nach Boston gefahren. Bei meiner Rückkehr sah ich, dass ein Fenster zum Garten zerschlagen war. Es war zwar nichts aus dem Haus gestohlen worden, aber als ich in den Keller gegangen bin, stellte ich fest, dass er leer geräumt war. Meine Weinkollektion war weg!«

»Wie schrecklich für Sie.«

Constance glaubte, aus Pendergasts Ton ein ganz klein wenig verächtliche Belustigung herauszuhören.

»Sagen Sie mal, Mr. Lake, sind Sie verheiratet?«

»Meine Frau ist vor einigen Jahren gestorben. Ich lebe heute mit meiner, na ja, Lebensgefährtin zusammen.«

»Und sie war an dem Wochenende, an dem Ihr Weinkeller ausgeraubt wurde, mit Ihnen zusammen?«

»Ja.«

»Erzählen Sie mir von Ihren Weinen.«

»Wo soll ich da anfangen? Ich besaß eine vertikale Sammlung des Château Léoville Poyferré, die bis 1955 zurückreichte, dazu exzellente Sammlungen aller bedeutenden Jahrgänge der Châteaus Latour, Pichon-Longueville, Petrus, Dufort-Viviens, Lascombes, Malescot-Saint-Exupéry, Château Palmer, Talbot –«

Mit erhobener Hand wehrte Pendergast die Fortsetzung der Aufzählung ab.

»Entschuldigen Sie bitte.« Lake lächelte verlegen. »Ich neige dazu, ein wenig zu überziehen, wenn die Rede auf Weine kommt.«

»Ausschließlich Bordeaux-Weine?«

»Nein. In jüngerer Zeit habe ich angefangen, auch einige wundervolle italienische Weine zu sammeln, hauptsächlich Brunellos, Amarones und Barolos. Alle weg.«

»Sind Sie zur Polizei gegangen?«

»Der Polizeichef von Exmouth ist zu nichts nutze. Ja mehr noch, er ist ein Esel. Er kommt zwar aus Boston und macht seine Arbeit auch ganz ordentlich, aber für mich steht fest, dass er die ganze Angelegenheit nicht ernst nimmt. Hätte es sich um eine Sammlung Bud Light gehandelt, hätte er sich vermutlich mehr darum gekümmert. Ich benötige jemanden, der meine Weine findet, bevor sie in alle Winde zerstreut oder, Gott behüte, ausgetrunken sind.«

Pendergast nickte bedächtig. »Und warum haben Sie gerade mich aufgesucht?«

»Ich habe die Bücher über Ihre Arbeit gelesen. Diejenigen von Smithback. William Smithback, glaube ich.«

Ein Augenblick verstrich, ehe Pendergast antwortete. »Ich fürchte, die Bücher verzerren auf gröbliche Art und Weise die Fakten. Wie dem auch sei: Sie enthalten zutreffende Beobachtungen, weshalb Ihnen auch klar sein muss, dass mein Interesse der menschlichen Devianz gilt – und keinesfalls gestohlenen Weinflaschen. Es tut mir leid, aber ich kann Ihnen nicht weiterhelfen.«

»Nun, ich hatte gehofft, dass Sie mir vielleicht helfen können, denn ich entnehme diesen Büchern, dass auch Sie sich sehr gut mit Weinen auskennen.« Lake beugte sich auf seinem Stuhl vor. »Agent Pendergast, ich bin verzweifelt. Meine Frau und ich haben unzählige Arbeitsstunden in die Zusammenstellung unserer Kollektion gesteckt. An jeder Flasche hängt eine Geschichte, eine Erinnerung, vor allem an die wunderbaren Jahre mit meiner Frau. In gewisser Weise habe ich das Gefühl, als wäre sie ein zweites Mal gestorben. Ich würde Ihnen auch ein sehr gutes Honorar zahlen.«

»Es tut mir wirklich leid, Ihnen in dieser Sache nicht behilflich sein zu können. Mr. Proctor wird Sie zur Tür begleiten.«

Der Bildhauer erhob sich. »Na ja, ich hatte schon geahnt, dass meine Anfrage kaum Aussicht auf Erfolg haben würde. Trotzdem danke, dass Sie mir zugehört haben.« Lakes besorgte Miene hellte sich ein wenig auf. »Alles, was ich sagen kann, ist, dass die Diebe glücklicherweise den Haut-Braquilanges übersehen haben.«

Es wurde still im Raum.

»Von dem Château Haut-Braquilanges?«, fragte Pendergast ganz leise.

»Ja, ganz richtig. Ein voller Karton des Jahrgangs null-vier. Mein größter Schatz. Ich hatte die Flaschen beiseitegestellt, in eine Ecke des Kellers, in der originalen Holzkiste. Die verdammten Idioten haben sie einfach übersehen.«

Proctor öffnete die Tür zur Bibliothek und wartete.

»Wie sind Sie denn an eine Kiste des Null-Vierers herangekommen? Ich dachte, der Jahrgang sei längst nicht mehr auf dem Markt.«

»Das haben alle anderen auch geglaubt. Ich bin immer auf der Suche nach Weinsammlungen zum Verkauf, vor allem wenn der Besitzer stirbt und die Erben die Sammlung zu Geld machen wollen. Meine Frau und ich haben die Kiste in einer Kollektion alter Weine in New Orleans gefunden.«

Pendergast hob die Brauen. »New Orleans?«

»Eine alte französischstämmige Familie mit Vermögen, die schwere Zeiten durchgemacht hat.«

Constance sah, dass über Pendergasts Gesicht ein Ausdruck der Irritation huschte – oder der Verärgerung?

Lake wandte sich gerade zu der offenen Tür um, da erhob sich Pendergast von seinem Stuhl. »Ich habe es mir anders überlegt. Ich möchte mich doch Ihres kleinen Problems annehmen.«

»Tatsächlich?« Als Lake sich wieder umwandte, lag ein Lächeln auf seinem Gesicht. »Wundervoll! Wie gesagt, egal, welchen Stundensatz Sie nehmen, ich würde mich freuen –«

»Ich begnüge mich mit einem ganz einfachen Honorar: eine Flasche vom Haut-Braquilanges.«

Lake zögerte. »Ich dachte da eher an ein finanzielles Arrangement.«

»Mein Honorar ist die Flasche.«

»Aber die Kiste aufzubrechen …« Er brach den Satz ab, ein langes Schweigen folgte. Schließlich lächelte er. »Warum eigentlich nicht? Sie haben ja ganz offensichtlich keinen Bedarf an Barmitteln. Ich würde mich jedenfalls über Ihre Hilfe freuen.« Lake errötete selbst über diese großzügige Geste und streckte abermals die Hand aus.

Pendergast schüttelte sie. »Mr. Lake, bitte hinterlassen Sie Ihre Adresse und Ihre Kontaktdaten bei Proctor. Ich werde mich Ihnen morgen in Exmouth anschließen.«

»Ich freue mich darauf. Ich habe im Keller nichts angerührt. Ich habe alles so gelassen, wie es war. Die Polizei hat die Räume natürlich durchsucht, aber die Beamten haben bloß mit einem Smartphone ein paar Fotos geschossen – ist das nicht unglaublich?«

»Es wäre hilfreich, wenn Sie eine Ausrede fänden und die Polizei heraushielten, sollten die Beamten zurückkehren.«

»Zurückkehren? Das halte ich für ziemlich unwahrscheinlich.«

Damit verließ er das Zimmer, gefolgt von Proctor.

Constance wandte sich zu Pendergast um.

Er erwiderte ihren Blick und machte ein amüsiertes Gesicht.

»Darf ich fragen, was du vorhast?«

»Ich übernehme einen privaten Fall.«

»Bei dem es um den Diebstahl von Weinflaschen geht?«

»Meine liebe Constance, New York City war in den vergangenen Monaten auf deprimierende Art frei von Serienmorden. Ich habe, wie man so sagt, nichts in der Pipeline. Es bietet sich hier eine ideale Gelegenheit, Urlaub zu machen. Ein, zwei Wochen in einem hübschen Städtchen am Meer, in der Nebensaison, dazu das Amuse gueule eines Falls, der mir die Zeit vertreibt. Vom sympathischen Mandanten ganz zu schweigen.«

»Aufgeblasen und selbstgefällig wäre wohl eine treffendere Charakterisierung.«

»Du bist noch misanthropischer als ich. Ich jedenfalls könnte die frische herbstliche Luft am Meer nach den jüngsten Ereignissen gut vertragen.«

Sie blickte ihn verstohlen an. Es stimmte ja – nach den Strapazen im Laufe des Sommers könnte ihm eine kleine Luftveränderung durchaus guttun. »Aber eine Flasche Wein als Bezahlung? Als Nächstes bietest du deine Dienste noch im Tausch gegen einen Shake-Shack-Hamburger an.«

»Eher nicht. Dieser Wein ist der Grund, der einzige Grund, weshalb ich den Fall übernommen habe. Im neunzehnten Jahrhundert hat das Château Haut-Braquilanges die besten Weine Frankreichs produziert. Das Spitzengewächs wurde auf einem einzigen, achttausend Quadratmeter großen Weinberg erzeugt, die Rebsorten waren Cabernet Sauvignon, Cabernet Franc und Merlot. Die Lage befand sich auf einem Hügel in der Nähe von Fronsac. Unglücklicherweise war er im Ersten Weltkrieg stark umkämpft, wurde von Senfgas durchtränkt und dadurch für immer verseucht, so dass das Château abgerissen wurde. Nach allem, was man weiß, sind höchstens noch zwei Dutzend Flaschen von den Jahrgängen des Weinguts übrig. Aber keine mehr aus dem größten Jahrgang überhaupt – 1904. Man hat ihn für vergriffen gehalten. Merkwürdig, dass dieser Bursche eine ganze Kiste davon besitzt. Du hast ja selbst gesehen, wie sehr es ihm widerstrebte, sich auch nur von einer Flasche zu trennen.«

Constance zuckte mit den Schultern. »Ich hoffe, du hast einen schönen Urlaub.«

»Ich hege keinerlei Zweifel, dass wir dort höchst angenehme Urlaubstage verbringen werden.«

»Wir? Ich soll mitfahren?« Sie spürte, wie sie rote Wangen bekam.

»In der Tat. Ich glaube, so ein Urlaub würde auch dir guttun – damit du mal rauskommst aus deiner vertrauten Umgebung. Mehr noch, ich bestehe darauf. Du brauchst einen Urlaub ebenso sehr wie ich. Und außerdem würde ich es begrüßen, eine Zeitlang diesen Briefen der Verwaltung des Botanischen Gartens aus dem Weg zu gehen – du nicht auch?«

2

Constance Greene konnte die Meeresluft riechen, kaum dass Pendergast den alten Porsche-Sportwagen auf die Metacomet Bridge gelenkt hatte, ein marodes Bauwerk mit verrosteten Streben und Pfeilern, das eine breite Salzmarsch überspannte. Es war Mitte Oktober, und die Sonne spiegelte sich für einen Moment glitzernd auf dem Wasser, während sie in hohem Tempo dahinfuhren. Auf der anderen Seite der Marsch führte die Straße kurz durch ein dunkles Kiefernwäldchen, dann wieder hinaus. Dort, an einer Bucht, wo die Marsch aufs Meer traf, lag Exmouth/Massachusetts. Der Ort sah genauso aus, fand Constance, wie sie sich ein typisches Neuengland-Städtchen vorgestellt hatte: eine Ansammlung von Schindelhäusern entlang einer Hauptstraße, mehrere Kirchtürme, ein Backstein-Rathaus. Während sie mit gedrosselter Geschwindigkeit über die Hauptstraße fuhren, nahm Constance ihre Umgebung interessiert in Augenschein.

Der Ort verströmte die Atmosphäre leichter Vernachlässigung – was seinen Charme nur noch erhöhte: ein Städtchen am Meer mit weißen Schindelhäusern, Seemöwen, die am Himmel kreisten, holprigen Backsteinbürgersteigen und kleinen Geschäften. Sie fuhren an einer Tankstelle vorbei, mehreren alten Läden mit Schaufenstern mit Einfachverglasung, einem Diner, einem Bestattungsunternehmen, einem Kino, umgewandelt zu einem Buchladen, sowie einem Kapitänshaus mit Witwengang aus dem achtzehnten Jahrhundert. Ein Schild an der Straße wies das Gebäude als Exmouth Historical Society and Museum aus.

Die wenigen Einwohner, die über die Bürgersteige schlenderten, blieben stehen und blickten ihnen hinterher. Constance wunderte sich über ihre eigene Neugier. Zwar würde sie es sich niemals eingestehen, aber bei all ihrer großen Belesenheit hatte sie doch so wenig von der Welt gesehen, dass sie sich wie ein Marco Polo im eigenen Land fühlte.

»Siehst du irgendwelche Leute, die wie Weindiebe aussehen?«

»Der ältere Herr dort im Madras-Karo-Jackett und mit der violetten Fliege sieht verdächtig aus.«

Pendergast drosselte das Tempo und lenkte den Sportwagen an die Bordsteinkante.

»Wir halten an?«

»Wir haben nicht viel Zeit. Probieren wir doch mal, was meines Wissens als hiesige Delikatesse gilt: Hummerbrötchen.« Als sie ausstiegen, ging der Herr im Madrasjackett lächelnd und mit einem Nicken an ihnen vorbei.

»Höchst verdächtig«, murmelte Constance.

»Schon allein wegen seiner Fliege müsste man ihn hinter Gitter bringen.«

Sie gingen den Bürgersteig entlang und bogen in eine schmale Straße, die hinunter ans Wasser führte. Mehrere engstehende Fischerhütten, dazu einige Läden und ein paar Restaurants sowie mehrere Stege erstreckten sich entlang einer Bucht an der Mündung der Gezeitenmarsch. Dahinter, über den im Wind wehenden Meergräsern, konnte Constance die helle Linie der See erkennen. Könnte sie in einem Städtchen wie diesem leben? Auf gar keinen Fall. Doch als Ausflugsort fand sie es interessant.

Direkt an der Handelsmole stand eine Imbissbude, die Meeresfrüchte verkaufte. Ein handgemaltes Verkaufsschild zeigte einen Hummer und eine Sandklaffmuschel, die zu einer Reihe von Miesmuscheln tanzten, die mit diversen Instrumenten aufspielten.

»Zwei Hummerbrötchen bitte«, sagte Pendergast, als sie bei der Imbissbude angekommen waren.

Prompt wurden sie ihnen gereicht: Riesenstücke Hummer in einer cremigen Soße, die in ein gebuttertes Hot-Dog-Brötchen gestopft waren und auf die Pappschalen lappten.

»Und wie isst man so etwas?« Unschlüssig betrachtete Constance ihr Brötchen.

»Da fragst du mich zu viel.«

Ein Streifenwagen der Polizei bog auf den Parkplatz in der Nähe und drehte eine Runde. Der Wagen drosselte das Tempo, und der Fahrer, ein großer, dicker Mann mit dem Rangabzeichen eines Captains auf den Schulterklappen, musterte Constance und Pendergast einen Moment lang, lächelte vielsagend und fuhr dann weiter.

»Der Polizeichef höchstpersönlich«, sagte Pendergast und warf das Hummerbrötchen, das er nicht angerührt hatte, in einen Abfalleimer.

»Irgendetwas hat ihn offenbar belustigt.«

»Ja, und ich denke, wir werden schon bald herausfinden, um was es sich dabei handelte.«

Als sie wieder die Hauptstraße entlangschlenderten, stellte Constance fest, dass an der Windschutzscheibe des Porsches ein Strafzettel flatterte. Pendergast zog ihn hinter dem Scheibenwischer hervor und las ihn. »Anscheinend habe ich den Wagen auf zwei Parkflächen abgestellt. Wie nachlässig von mir.«

Pendergast hatte, wie Constance sah, den Porsche tatsächlich mitten über einem auf den Straßenbelag gemalten Strich abgestellt. »Aber in der ganzen Straße parkt praktisch kein einziges Auto.«

»Gesetz ist Gesetz.«

Pendergast steckte den Strafzettel ein, dann stiegen sie in den Porsche. Er startete den Wagen und setzte vorsichtig zurück auf die Hauptstraße. Im Nu hatten sie die Stadt durchquert und befanden sich auf der anderen Seite, wo die Geschäftsgebäude bereits kleinen schindelgedeckten Einfamilienhäusern wichen. Die leicht ansteigende Straße verlief durch von riesigen Eichen gesäumte Wiesen, bis sie schließlich auf höheres Gelände mit Blick auf den Atlantik führte. Direkt geradeaus, in Richtung der Uferklippen, sah Constance den Exmouther Leuchtturm – ihr Ziel. Er war elfenbeinfarben gestrichen, hatte eine schwarze Spitze und zeichnete sich deutlich gegen den blauen Himmel ab. Daneben lag das Wohnhaus des Leuchtturmwärters, schmucklos und streng wie in einem Gemälde von Andrew Wyeth.

Im Näherkommen erkannte Constance außerdem auf einer Wiese am Rand der Steilküste etliche unregelmäßig verteilte Skulpturen – grob behauene Granitblöcke mit polierten und irgendwie geheimnisvollen Formen, die aus dem Gestein erschienen: Gesichter, Körper, mythische Meereswesen. Ein beeindruckender Ort für einen Skulpturengarten.

Pendergast brachte den Sportwagen auf der mit Kies bestreuten Auffahrt neben dem Haus zum Stehen. Als sie ausstiegen, erschien Percival Lake in der Haustür und trat mit langen Schritten auf die Veranda.

»Herzlich willkommen! Großer Gott, Sie reisen aber wirklich stilvoll. Das ist ja ein Spyder 550, Baujahr 55, wenn ich nicht irre«, sagte er und stieg die Stufen hinunter.

»Ein 54er, um genau zu sein«, erwiderte Pendergast. »Der Wagen meiner verstorbenen Frau. Ich bevorzuge etwas Bequemeres, aber meine Mitarbeiterin, Miss Greene, hat darauf bestanden.«

»Das habe ich nicht«, widersprach Constance.

»Ah ja, Ihre Mitarbeiterin.« Die Art und Weise, wie der Mann sie mit ironisch gehobenen Brauen ansah, gefiel ihr gar nicht. »Freut mich, Sie wiederzusehen.«

Ziemlich kühl schüttelte sie ihm die Hand.

»Lassen Sie uns den Tatort aufsuchen«, sagte Pendergast.

»Ich muss schon sagen, Sie verschwenden keine Zeit.«

»Bei strafrechtlichen Ermittlungen besteht eine inverse Beziehung zwischen der Qualität der Beweismittel und dem Zeitraum, den diese der Untersuchung harren.«

»Stimmt.« Lake ging ihnen voraus ins Haus. Durch einen Vorflur betraten sie einen Wohnraum, der weiten Blick auf den Atlantik bot. Das alte Haus war tadellos in Schuss, luftig und frisch, die Meeresbrise bauschte die Spitzengardinen. In der Küche schnitt eine attraktive Mittdreißigerin, schlank und fit und mit blondgefärbten Haaren, Möhren.

»Das ist meine Mitarbeiterin, Carole Hinterwasser«, machte Lake sie bekannt. »Darf ich vorstellen, Agent Pendergast und Constance Greene. Sie sind hier, um meine Weinsammlung zu finden.«

Lächelnd wandte sich die Frau um, zeigte dabei ihre strahlend weißen Zähne, trocknete sich die Hände an einem Geschirrtuch ab und schüttelte Constance und Pendergast nacheinander die Hand. »Entschuldigen Sie bitte, ich schneide nur gerade Suppengemüse. Ich bin ja so froh, dass Sie kommen konnten! Perce ist echt am Boden zerstört. Diese Weine haben ihm so viel bedeutet – viel mehr, als sie finanziell wert sind.«

»In der Tat«, sagte Pendergast. Constance sah, dass sein Blick durch den Raum schweifte.

»Hier entlang«, sagte Lake.

Hinten in der Küche befand sich eine schmale Tür. Lake öffnete sie und knipste einen Lichtschalter an. Erhellt wurde eine steile, wackelige Treppe, die in die Dunkelheit hinunterführte. Ein würziger, kühler Geruch nach feuchter Erde und feuchtem Gestein schlug ihnen entgegen.

»Passen Sie auf, wo Sie hintreten«, sagte er warnend. »Die Treppe ist ziemlich steil.«

Sie stiegen hinab in einen irrgartenähnlichen Keller mit Natursteinwänden, die mit Salpeterfraß überzogen waren, und Natursteinboden. In einer Nische befanden sich ein Ofen und ein Wasserboiler, in einer anderen ein hergerichteter Raum mit Druckluftwerkzeugen, Sandsäcken, Schutzanzügen und diversen Geräten zum Polieren von Stein.

Sie bogen um eine Ecke und betraten den größten Raum des Kellers. Vor einer Wand standen, vom Boden bis zur Decke, leere Weinregale aus Holz. Gewellte gelbe Etiketten waren an die Regale getackert oder lagen hier und da auf dem Boden neben zerbrochenen Weinflaschen. Es herrschte ein starker Weingeruch.

Pendergast hob die Scherbe einer zerbrochenen Flasche auf und las das Etikett. »Château Latour, Jahrgang einundsechzig. Die Einbrecher waren außerordentlich achtlos.«

»Die haben hier ein totales Chaos angerichtet, diese Kretins.«

Pendergast ging vor dem nächstgelegenen Regal in die Hocke und inspizierte es mit seiner lichtstarken LED-Stiftlampe. »Erzählen Sie mal von dem Wochenende, an dem der Diebstahl stattgefunden hat.«

»Carole und ich waren nach Boston gefahren. Wir machen so was häufig: Essen gehen, ein Klassik-Konzert oder ein Museum besuchen – die Batterien aufladen. Wir sind am Freitagnachmittag losgefahren und Sonntagnachmittag zurückgekehrt.«

Die Stiftlampe leuchtete hierhin und dorthin. »Wer hat davon gewusst, dass Sie nicht zu Hause waren?«

»Praktisch das ganze Dorf, denke ich. Um von hier wegzukommen, müssen wir durch die Stadt fahren, und wie Sie gesehen haben, ist Exmouth nicht besonders groß. Jeder weiß, dass wir oft Ausflüge nach Boston unternehmen.«

»Sie sagten, die Einbrecher hätten ein Fenster eingeschlagen. Das Haus war abgeschlossen, nehme ich an?«

»Ja.«

»Hat das Haus eine Alarmanlage?«

»Nein. Im Rückblick erscheint das wohl töricht. Aber es gibt hier kaum Kriminalität. Ich kann mich nicht erinnern, wann es in Exmouth zuletzt einen Einbruch gegeben hat.«

Jetzt erschienen von irgendwo aus Pendergasts Anzug ein Reagenzglas und eine Pinzette. Mit der Pinzette hob er irgendetwas vom Weinregal und steckte es in das Röhrchen.

»Was für eine Historie hat das Haus?«

»Es gehört zu den ältesten nördlich von Salem. Wie gesagt, der Leuchtturmwärter hat hier gewohnt, das Gebäude wurde im Jahre 1704 erbaut und zu verschiedenen späteren Zeiten ausgebaut. Meine Frau und ich haben es gekauft und uns dann mit den Sanierungsarbeiten Zeit gelassen. Als Bildhauer kann ich fast überall arbeiten, aber wir fanden diesen Ort idyllisch – ruhig, abseits vom Rummel und doch in der Nähe von Boston. Charmant und versteckt gelegen. Und der lokale Granit ist fantastisch. Gleich auf der anderen Seite der Salzmarsch gibt es einen Steinbruch. Der rosa Granit, mit dem man das Museum für Naturgeschichte in New York erbaut hat, kam zum Teil aus diesem Steinbruch. Herrliches Material.«

»Könnten Sie mich irgendwann einmal durch Ihren Skulpturengarten führen?«

»Selbstverständlich! Sie sind im Inn abgestiegen, nehme ich an. Ich arrangiere gern eine kleine Führung für Sie.«

Während Lake den örtlichen Granit lobte, sah Constance Pendergast dabei zu, wie er auf den Knien herumrutschte – wobei er seinen Anzug schmutzig machte – und den Kellerboden inspizierte. »Und die Flaschen Braquilanges? Die lagern in der Kiste dort in der Ecke, nehme ich an?«

»Richtig. Zum Glück haben die Einbrecher sie übersehen.«

Pendergast stand wieder auf. Sein blasses Gesicht wirkte besorgt. Er ging zu den Weinflaschen, die separat in der Holzkiste lagen, auf der das Wappen des Châteaus aufgeprägt war. Der Deckel lag lose darauf, er hob ihn an und spähte in die Kiste. Behutsam griff er hinein und holte eine Flasche heraus, die er dann fast wie einen Säugling im Arm hielt.

»Wer hätte das gedacht?«, sagte er leise.

Er legte die Flasche in die Kiste zurück und ging mitten durch den Raum – wobei seine Schuhe auf den Glasscherben knirschten – zu den leeren Weinregalen zurück. Diesmal sah er sich die oberen Regalbretter an. Er nahm ein paar weitere Proben, leuchtete mit der Stiftlampe erst an die Decke und dann auf den Boden, dorthin, wo die Regale im Boden festgeschraubt waren. Plötzlich packte er zwei hölzerne Streben, die den Mittelteil des Regals stabilisierten, und zog einmal kräftig daran. Unter lautem Knacken und Knirschen löste sich das Regal, und dahinter wurde eine Wand aus gemauerten Natursteinen sichtbar.

»Was um alles in der Welt –«, rief Lake.

Doch Pendergast ignorierte ihn und zog weitere Teile des Weinregals von der Wand, bis der gesamte mittlere Bereich der gefugten Natursteinmauer dahinter frei lag. Schließlich holte er ein kleines Taschenmesser hervor, schob es zwischen zwei Steine und fing an zu kratzen und zu bohren, einen Stein lose zu wackeln und aus der Wand zu ziehen. Behutsam legte er ihn auf den Boden und leuchtete mit der Stiftlampe durch die Öffnung, die er soeben geschaffen hatte. Überrascht sah Constance, dass sich hinter der Wand ein kleiner Raum befand.

»Ich fasse es nicht!« Lake trat näher und spähte in den Raum.

»Treten Sie zurück«, sagte Pendergast schroff.

Jetzt holte er aus einer Tasche seines Anzugs ein Paar Latexhandschuhe und streifte sie über. Dann zog er sein Jackett aus, breitete es auf dem schmutzigen Boden aus und legte den Stein darauf. Schneller arbeitend, aber immer noch sehr sorgfältig, entfernte er einen weiteren Steinquader und dann noch einen und legte diese mit der Vorderseite nach oben auf die Anzugjacke. Constance zuckte zusammen: Schon jetzt sah der englische Maßanzug aus, als sei er nicht mehr zu retten.

Nach und nach erschien eine flache Mauernische. Bis auf die Eisenketten, die oben und unten in der hinteren Wand im Gestein befestigt waren und von denen eiserne Hand- und Beinschellen baumelten, war sie leer. Constance betrachtete die Ketten kühl und distanziert; ähnliche Dinge hatte sie schon vor langer Zeit in den Untergeschossen von Pendergasts Villa am Riverside Drive entdeckt. Der FBI-Agent selbst war allerdings noch blasser geworden, als er es ohnehin schon war.

»Mir fehlen die Worte«, sagte Lake. »Ich hatte ja keine Ahnung –«

»Ruhe, wenn ich bitten darf«, unterbrach ihn Constance. »Mein Vormund – soll heißen, Mr. Pendergast – ist beschäftigt.«

Pendergast zog weiterhin Steine aus der Mauer, bis die gesamte Nische frei lag – etwa zwei Meter hoch, einen Meter breit und einen Meter tief. Sie war so alt wie das Haus und ohne Zweifel gebaut worden, um einen Menschen aufzunehmen. Die eisernen Bein- und Handfesseln waren in der geschlossenen Stellung eingerostet, aber sie enthielten kein Skelett. Allerdings war die Nische, wie Constance feststellte, unerklärlich sauber, kein Stäubchen zu sehen.

Jetzt kniete Pendergast in der Nische und sondierte mit einer Lupe und der kleinen Pinzette jeden Spalt und jeden Riss, das Reagenzglas griffbereit in der anderen Hand. Zehn Minuten lang sah Constance ihm dabei zu, bis er sich – nachdem er kaum etwas gefunden hatte – dem Boden unmittelbar vor der Nische widmete. Wieder folgte ein längerer Zeitraum, in dem Pendergast bohrte und stocherte. Lake beobachtete ihn und hatte sichtlich Mühe, still zu bleiben.

»Ah!«, sagte Pendergast plötzlich. Er stand auf und hielt in der Pinzette einen, wie es schien, winzigen Knochen. Dann setzte er die Lupe auf und untersuchte das Knöchelchen ausgiebig. Schließlich kniete er sich wieder hin und inspizierte – indem er sich tief über die Steine beugte, die er aus der Mauer entfernt hatte – mit Hilfe der Stiftlampe und der Lupe die Rückseiten.

Und dann hob er den Kopf und fixierte Constance.

»Was ist denn?«

»Der Urlaub ist vorbei.«

»Was soll das heißen?«

»Dass es hier nicht nur um den Diebstahl von Wein geht. Die Geschichte ist viel größer – und viel gefährlicher. Du darfst nicht hierbleiben. Du musst zum Riverside Drive zurückkehren.«

3

Constance blickte ungläubig in Pendergasts von feinem Staub überzogenes Gesicht. Nach einem Moment antwortete sie: »Zu gefährlich. Für mich? Aloysius, du vergisst, mit wem du sprichst.«

»Keinesfalls.«

»Dann erkläre mir bitte, worum es hier geht.«

»Gern.« Er ließ das Knöchelchen in das Reagenzglas fallen, stöpselte es zu und reichte es ihr. »Nimm das mal.«

Sie nahm es, dazu die Lupe.

»Es handelt sich hier um das Endglied des linken Zeigefingers eines Menschen. Wie du siehst, ist die äußerste Spitze des Knochens abgeplatzt, zerkratzt und gebrochen. Diese Veränderungen traten perimortem ein – also zum Zeitpunkt des Todes.«

»Das sehe ich.«

»Schauen wir uns nun die Bausteine an.« Er beschrieb kleine Kreise mit der Stiftlampe. »Ich habe sie auf meinem Jackett so ausgelegt, wie sie in situ waren, mit der Innenseite zu uns weisend. Man beachte die tiefen Furchen und Kratzer und diese Spritzer einer dunklen Substanz.« Constance sah ihm zu, während er die LED-Stiftlampe wie einen Zeigestock verwendete. »Was sagen dir die Steine?«

Mit dieser Frage hatte sie gerechnet. »Dass jemand vor vielen Jahren in dieser Nische angekettet und lebendig eingemauert wurde und versucht hat, sich einen Weg nach draußen zu kratzen.«

Ein freudloses Lächeln erschien auf Pendergasts Gesicht. »Ausgezeichnet.«

»Das ist ja furchtbar«, mischte sich Lake ein, der ehrlich geschockt wirkte. »Einfach entsetzlich. Ich hatte ja keine Ahnung! Aber … wieso wussten Sie, dass sich diese Nische dort befand?«

»Die Diebe haben die Flaschen mit dem Braquilanges nicht mitgenommen. Das war der erste Hinweis. Wer sich die Mühe macht, einen ganzen Weinkeller auszuräumen, dürfte diesen legendären Jahrgang kennen. Und er wäre auch nicht so ungeschickt gewesen, diese Magnumflasche 61er Château Latour fallen zu lassen«, Pendergast zeigte auf die Scherben auf dem Boden, »die mindestens fünfzehntausend Dollar wert ist. Deshalb war mir von Anfang an klar, dass wir es hier – wenngleich wir es zweifelsfrei mit Dieben zu tun haben – mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht mit Weindieben zu tun haben. Nein, diese Leute waren hier, um etwas viel Wertvolleres in die Finger zu bekommen, zumindest für sie Wertvolleres. Natürlich hat dies dazu geführt, dass ich hinter den Weinregalen nachgesehen habe, wo ich Hinweise auf nicht lange zurückliegende Aktivitäten fand – was mich wiederum zu der Nische führte.«

Lake blickte sich ein wenig unsicher in dem Raum um. »Und Sie glauben tatsächlich, dass dort drin ein Mensch eingemauert war?«

»Ja.«

»Und dass dieser ganze Diebstahl inszeniert worden ist … um das Skelett fortzuschaffen?«

»Zweifellos.« Pendergast tippte auf das Reagenzglas mit dem Fingerknochen in Constances Hand.

»Gütiger Himmel!«

»Die Einmauerung ist eindeutig ein altes Verbrechen. Doch die Menschen, die das Skelett gestohlen haben, müssen von diesem Verbrechen gewusst haben und wollten es entweder vertuschen oder irgendetwas aus der Nische zurückholen, oder beides. Dabei haben sie sich große Mühe gegeben, ihr Tun verborgen zu halten. Dumm nur für sie, dass sie den Knochen übersehen haben. Denn er dürfte sich als sehr aussagekräftig erweisen.«

»Und die Gefahr?«, fragte Constance.

»Meine liebe Constance! Dieses Verbrechen ist das Werk von Einheimischen – jedenfalls von jemandem, den eine lange Geschichte mit dieser Stadt verbindet. Ich bin davon überzeugt, dass diese Leute zudem gewusst haben, dass noch etwas anderes zusammen mit dem Skelett eingemauert war, vermutlich etwas von großem Wert. Da sie das Weinregal wegrücken mussten und die daraus entstandene Unordnung nicht beseitigen konnten, haben sie einen Diebstahl inszeniert, um die Sache zu vertuschen.«

»Diese Leute? Es waren mehrere?«, fragte Lake.

»Eine Vermutung meinerseits. Das Ganze hat erhebliche Anstrengungen erfordert.«

»Du hast mir noch immer nicht beantwortet, was es mit der Gefahr auf sich hat«, sagte Constance.

»Die Gefahr entspringt der Tatsache, dass ich jetzt Ermittlungen einleiten werde. Wer immer das hier getan hat, wird darüber gar nicht glücklich sein. Die betreffenden Personen werden Maßnahmen ergreifen, um sich zu schützen.«

»Und du glaubst, ich gerate dadurch in eine gefährliche Lage?«

Es blieb still, bis Constance merkte, dass Pendergast gar nicht daran dachte, ihre Frage zu beantworten.

»Die einzige echte Gefahr«, sagte sie leise, »droht den Tätern, wenn sie den Fehler begehen, mit dir die Klingen zu kreuzen. Denn in diesem Fall werden sie es mit mir zu tun bekommen.«

Pendergast schüttelte den Kopf. »Das ist offen gesagt genau das, wovor ich Angst habe.« Er dachte nach. »Aber wenn ich dir erlaube hierzubleiben, dann musst du dich … im Griff behalten.«

Constance ignorierte die Andeutung. »Ich bin zuversichtlich, dass du mich sehr hilfreich finden wirst, vor allem, was die historischen Aspekte betrifft – denn offensichtlich gibt es hier eine lange Vorgeschichte.«

»Ein berechtigtes Argument. Zweifellos könnte ich von deiner Hilfe profitieren. Aber bitte – keine Ermittlungen auf eigene Faust. Davon hatte ich genug mit Corrie.«

»Ich bin Gott sei Dank nicht Corrie Swanson.«

Stille senkte sich über den Raum. Schließlich sagte Lake: »Also, verlassen wir diesen feuchten Keller, trinken wir ein Glas, schauen wir dem Sonnenuntergang zu und besprechen wir, was als Nächstes zu tun ist. Aber ich muss schon sagen, Ihre Entdeckung macht mich völlig sprachlos. Zwar ziemlich makaber, aber dennoch faszinierend.«

»Faszinierend, das schon«, sagte Pendergast an Lake gewandt. »Aber mehr noch gefährlich. Merken Sie sich das, Mr. Lake.«

 

Sie nahmen auf der Veranda Platz und schauten hinaus aufs Meer, während die Sonne hinter ihnen unterging und ihre violetten, orangenen und scharlachroten Strahlen die Wolken erleuchteten, die sich am Horizont im Osten türmten. Lake öffnete eine Flasche Veuve Clicquot.

Pendergast akzeptierte ein Glas. »Mr. Lake, ich muss Ihnen noch einige Fragen stellen, wenn Sie nichts dagegen haben.«

»Die Fragen stören mich nicht, aber das ›Mr. Lake‹. Nennen Sie mich Perce.«

»Ich stamme aus den Südstaaten. Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn wir bei der förmlichen Anrede bleiben könnten.«

Lake verdrehte die Augen. »Gut, wenn Sie das möchten.«

»Vielen Dank. Sie haben mehrmals die mangelnde Hilfsbereitschaft der Polizei erwähnt. Was hat sie bisher in dem Fall unternommen?«

»Nichts, verflucht noch mal! Wir haben nur zwei Polizisten in der Stadt, den Polizeichef und einen jungen Sergeant. Die sind hergekommen, haben sich etwa eine Viertelstunde umgesehen und ein paar Fotos geschossen, und das war’s dann. Nicht mal die Abnahme von Fingerabdrücken, gar nichts.«

»Erzählen Sie mir von den Polizisten.«

»Der Polizeichef, Mourdock, ist ein Tyrann und dümmer, als die Polizei erlaubt. Er macht im Grunde Urlaub, seit er von der Bostoner Polizei hierher raufgekommen ist. Das ist ein fauler Mistkerl, zumal jetzt, wo er nur noch ein halbes Jahr bis zur Pensionierung hat.«

»Was ist mit seinem Stellvertreter? Dem Sergeant?«

»Gavin? Nicht entfernt so dumm wie sein Chef. Scheint ein netter Kerl zu sein, steht nur ziemlich unter der Knute des Chiefs.« Lake zögerte.

Was Constance nicht entging. »Und der Polizeichef weiß, dass wir hier sind, oder?«

»Vorgestern bin ich leider ins Fettnäpfchen getreten. Ich habe die Wut gekriegt. Ich habe Mourdock gesagt, dass ich einen Privatdetektiv mit dem Fall beauftragen werde.«

»Und wie hat er darauf reagiert?«, fragte Pendergast.

»Mit heißer Luft. Drohungen.«

»Was für Drohungen?«

»Er hat gesagt, sollte irgendein Privatschnüffler den Fuß in seine Stadt setzen, würde er ihn auf der Stelle festnehmen. Was ich natürlich bezweifle. Aber er wird sicherlich Schwierigkeiten machen. Tut mir leid, ich hätte den Mund halten sollen.«

»Und von jetzt an werden Sie das auch – vor allem, was die Entdeckung betrifft, die wir heute gemacht haben.«

»Versprochen.«

Pendergast nahm einen Schluck Champagner. »Zum nächsten Punkt: Wie viel wissen Sie über die Geschichte dieses Hauses und seiner Bewohner?«

»Nicht allzu viel. Bis in die 1930er Jahre, als die Leuchtanlage auf automatischen Betrieb umgestellt wurde, diente es dem Leuchtturmwärter als Wohnhaus. Danach wurde das Gebäude stark vernachlässigt. Als ich es gekauft habe, stand es praktisch kurz vorm Einsturz.«

»Und der Leuchtturm? Ist er noch in Betrieb?«

»O ja. Er schaltet sich in der Abenddämmerung ein. Natürlich wird er nicht mehr benötigt, aber alle Leuchttürme an der Küste Neuenglands sind noch in Betrieb – aus Gründen der Nostalgie. Ich bin nicht der eigentliche Eigentümer des Leuchtturms, er gehört der US-Küstenwache, die Betriebslizenz hat die American Lighthouse Foundation, die den Leuchtturm auch unterhält. Er verfügt über eine vierstufige Fresnel-Linse und blitzt weiß, neun Sekunden lang. In der Historischen Gesellschaft müsste man eine Liste aller Leuchtturmwärter haben.«

Pendergast sah Constance an. »Das ist dein erster Auftrag: Finde heraus, wer der Leuchtturmwärter war, als sich die Greueltat im Keller ereignet hat. Ich werde den Fingerknochen analysieren lassen und dir ein Datum besorgen.«

Sie nickte.

Er wandte sich wieder Lake zu. »Und in der Historie der Stadt? Gibt es darin etwas, was Licht auf die Gruft dort unten werfen könnte?«

Lake schüttelte den Kopf, fuhr sich mit seiner großen, geäderten Hand durch den weißen Haarschopf. Constance fiel auf, dass er ungemein kräftige Arme hatte – wahrscheinlich die Folge seiner bildhauerischen Arbeit mit Stein. »Exmouth ist eine sehr alte Fischerei- und Walfangstadt, sie wurde kurz nach 1700 gegründet. Ich bin mir nicht sicher, welches Genie damals entschied, sie neben diesen Salzmarschen anzusiedeln, jedenfalls war es keine gute Idee. Die ganze Region wird von Greenheads heimgesucht. Die Fischerei war jahrzehntelang lukrativ, aber zu einem Sommerurlaubsort hat sich die Stadt, anders als Rockport oder Marblehead, nie entwickelt.«

»Greenheads?«, fragte Pendergast. »Ist das eine Art Stechfliege?«

»Die schlimmste. Tabanus nigrovittatus. Es sind die Weibchen, die beißen und Blut saugen – natürlich.«

»Natürlich«, erwiderte Constance trocken. »Nur Frauen machen die richtige Arbeit.«

Lake lachte. »Gut gekontert.«

»Irgendwelche dunklen Geschichten in der Stadt? Legenden, Gerüchte, Morde, Intrigen?«

Lake machte eine abwertende Handbewegung. »Bloße Gerüchte.«

»Zum Beispiel?«

»Die erwartbaren, wenn man bedenkt, dass Salem gar nicht weit südlich von hier liegt. Geschichten, dass sich in den 1690er Jahren eine Gruppe von Hexen hier in der Nähe niedergelassen hätte, um vor den Hexenprozessen zu flüchten. Völliger Quatsch natürlich. Im Grunde ist Exmouth das, was von einem alten Neuengland-Fischerdorf übrig geblieben ist. Allerdings kommt es im Westteil der Stadt – die Einwohner nennen ihn Dill Town – hin und wieder zu kleineren Straftaten. Die falsche Straßenseite, sozusagen.« Er trank einen gierigen Schluck Champagner. »Ich muss Ihnen sagen, eine Folterkammer in meinem Keller zu finden, das ist ein ziemlicher Schock für mich. Ich kann es kaum glauben. Das ist ja wie in dieser Schauergeschichte von Poe, ›Das Fass von Amontillado‹.« Er hielt kurz inne und blickte Pendergast an. »Sie sagten, im Keller habe sich auch etwas Wertvolles befunden? So etwas wie ein Piratenschatz vielleicht? Das Skelett, das die Kiste mit Gold bewacht?«

»Es ist zu früh, darüber zu spekulieren.«

Lake wandte sich mit einem Augenzwinkern an Constance. »Und was glauben Sie? Irgendwelche Vermutungen?«

Constance erwiderte den Blick. »Nein. Aber mir kommt da ein bestimmter Satz in den Sinn.«

»Und zwar?«

»Bei der Liebe Gottes, Montresor!«

Pendergast blickte erst Constance, dann den verdutzten Lake scharf an, der für einen Moment blass geworden war. »Bitte entschuldigen Sie meine Mitarbeiterin. Sie hat einen ziemlich morbiden Humor.«

Constance strich sich mit einer züchtigen Geste das Kleid glatt.

4

Pendergast lenkte den Porsche-Sportwagen – er hatte das Verdeck aufgeklappt, damit sie den spätmorgendlichen Sonnenschein genießen konnten – in eine Parkbucht in der Main Street.

»Automobile sind zwar immer noch etwas Neues für mich«, sagte Constance beim Aussteigen, »aber selbst ich erkenne, dass du falsch geparkt hast. Du hast den Wagen schon wieder mitten auf dem Markierungsstrich abgestellt.«

Pendergast lächelte nur. »Komm, gehen wir shoppen.«

»Soll das ein Witz sein?«

»Constance, zu den ersten Dingen, die du lernen musst, wenn du mit mir in einem Fall ermittelst, gehört, jede Kleinigkeit in Frage zu stellen. Also … ich sehe da in dem Schaufenster ein paar hübsche Hawaii-Hemden, und die gibt es sogar im Sonderangebot!«

Sie folgte ihm in den Laden und tat so, als würde sie einen Ständer mit Tennisbekleidung durchsehen, während Pendergast sich die Hawaii-Hemden anschaute und mehrere davon, anscheinend aufs Geratewohl, auswählte. Sie hörte, wie er die Verkäuferin ansprach und fragte, ob man je Probleme mit Ladendiebstählen gehabt habe und ob die deutlich sichtbare Überwachungskamera im Schaufenster wirklich erforderlich sei.

Constance runzelte die Stirn, als sie hörte, wie die Verkäuferin Pendergasts Einkäufe in die Kasse eingab. Vermutlich wollte er sich ein Bild von der Stadt machen, aber seine Vorgehensweise erschien ihr derart beliebig, dermaßen unkoordiniert angesichts der Tatsache, dass sie über viele andere dringende Dinge Nachforschungen anstellen mussten. Zum Beispiel die Liste der Leuchtturmwärter, die im Archiv der Historischen Gesellschaft auf sie wartete – und die Karbon-14-Datierung des Fingerknochens.

Kurz darauf standen sie wieder auf der Straße, Pendergast mit einer Einkaufstüte in der Hand. Er blieb im Eingangsbereich des Ladens stehen und sah auf die Uhr.

»Wie viele Meter dieser abscheulichen Kleidungsstücke hast du da eigentlich gekauft?«, fragte Constance mit argwöhnischem Blick auf die Einkaufstüte.

»Ich habe nicht darauf geachtet. Lass uns eine Weile hier bleiben.«

Constance schaute ihn an. Vielleicht bildete sie es sich ja nur ein, aber in seinem Gesicht lag ein Ausdruck der Vorfreude.

Und da sah sie das zweifarbige Polizeiauto die Main Street entlangfahren.

Pendergast blickte noch einmal auf die Uhr. »Die Neuengländer sind ja so herrlich pünktlich.«

Der Wagen drosselte das Tempo und hielt am Bordstein. Ein Polizist stieg aus: der Polizeichef, dem sie tags zuvor kurz begegnet waren. Constance war keine großartige Kennerin der Männerwelt des 21. Jahrhunderts, doch dieses Exemplar sah aus wie ein College-Footballstar aus den 1950er Jahren, der verwahrlost war: Crew-Cut, dicker Hals und kantiges Kinn, das alles auf einem mächtigen, unförmigen Körper. Er zog seinen klimpernden Gürtel hoch, holte einen dicken Block mit Strafzetteln aus der Hosentasche und fing an, ein Ticket für den Spyder auszustellen.

Pendergast schritt auf den Mann zu. »Darf ich mich nach dem Problem erkundigen?«

Der Polizist drehte sich zu ihm um, seine wulstigen Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. »Sie lernen wohl nicht besonders schnell, was?«

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Dass Sie wieder mitten auf dem Markierungsstrich geparkt haben. Ein Strafzettel scheint Ihnen wohl nicht genug zu sein.«

Pendergast zog den ersten Strafzettel aus der Tasche. »Meinen Sie den hier?«

»Genau.«

Pendergast riss den Strafzettel entzwei und steckte die Stücke wieder ein.

Der Polizeichef runzelte die Stirn. »Ist ja toll.«

Constance zuckte innerlich zusammen – der Mann sprach mit schwerem Südbostoner Akzent. Gab es einen knarzigeren Akzent im Amerikanischen? Pendergast hatte in Provokationsmodus geschaltet, und sie begann, seinen Ausdruck der Vorfreude zu verstehen. Das hier könnte vergnüglich werden. Im richtigen Augenblick würde Pendergast seinen FBI-Ausweis zücken und diesen widerwärtigen Cop in die Schranken weisen.

Der Mann schrieb den Strafzettel aus und steckte ihn unter einen der Scheibenwischer.

»Bitte schön.« Er grinste. »Noch einer, den Sie zerreißen können.«

»Sie haben sicher nichts dagegen, wenn ich es tue.« Pendergast zog den Strafzettel von der Windschutzscheibe, zerriss ihn, steckte die Stücke in die Hosentasche und tätschelte sie liebevoll.

»Sie können die einen nach dem andern zerreißen, aber damit verschwinden sie nicht.« Der Polizeichef beugte sich vor. »Ich will Ihnen mal einen kleinen Gratis-Ratschlag geben. Wir schätzen es gar nicht, wenn irgend so eine hergelaufene Pfeife von Privatdetektiv in unsere Stadt kommt und sich in unsere Ermittlungen einmischt. Passen Sie also auf, was Sie tun.«

»Ich bin hier als Privatermittler tätig, das stimmt schon«, sagte Pendergast. »Allerdings verwahre ich mich gegen die Verwendung des Worts Pfeife.«

»Meine aufrichtigste Entschuldigung für die Verwendung des Worts Pfeife.«

»Es ist Wein im Wert von mehreren hunderttausend Dollar gestohlen worden«, sagte Pendergast und verlieh seiner Stimme einen wichtigtuerischen Tonfall. »Das ist schwerer Raub. Aber die Polizei ist offenbar nicht fähig oder nicht willens, bei der Aufklärung des Falls, zu dem ich hinzugezogen wurde, irgendwelche Fortschritte zu erzielen.«

Der Polizeichef verzog das Gesicht. Trotz der herbstlichen Frische standen ihm Schweißperlen auf der fettigen Stirn. »Na schön. Wissen Sie was? Ich werde alles beobachten, was Sie tun. Ein Schritt, ein Zeh über die Linie, und Sie fliegen so schnell raus aus der Stadt, dass Sie nicht mehr wissen, wo Ihnen der Kopf steht. Ist das klar?«

»Gewiss. Und während ich in dem Fall des schweren Raubes ermittle, können Sie damit fortfahren, die Stadt vor der Plage des Falschparkens zu schützen.«

»Sie sind ja ein richtiger Komiker.«

»Das war eine Feststellung, keine höfliche Floskel.«

»Okay, dann hören Sie mir mal gut zu: Wenn Sie noch ein einziges Mal falsch parken, lasse ich Ihr Fahrzeug abschleppen.« Dabei strich er mit zwei seiner dicken Finger über die Seite des Wagens. »Und jetzt parken Sie ihn endlich so, wie es sich gehört.«

»Sie meinen, jetzt sofort?«

Der Polizist atmete schwer durch. »Ja, jetzt sofort.«

Pendergast stieg ein, startete den Porsche und setzte zurück, hielt aber vorzeitig, so dass sich die hintere Stoßstange exakt über dem Markierungsstrich befand.

Er stieg aus. »Bitte sehr.«

Der Polizist starrte ihn ungläubig an. »Ihr Wagen steht immer noch auf dem Markierungsstrich.«

Pendergast schaute den Porsche auf übertriebene Art und Weise an, betrachtete die Stoßstange und die durchgehende Linie und runzelte die Stirn. »Er steht auf der Linie, nicht darüber hinweg. Außerdem – sehen Sie sich doch die vielen Parkplätze in der Straße an. Wen interessiert’s?«

Schnaufend stieß der Polizist aus: »Sie kleines Arschloch, finden Sie das komisch?«

»Zuerst haben Sie mich Pfeife genannt. Jetzt bezeichnen Sie mich als Arschloch. Ich beglückwünsche Sie zu Ihrer ausgewählt höflichen Ausdrucksweise. Aber Sie scheinen zu vergessen, dass eine Dame anwesend ist. Vielleicht hätte Ihre Mutter Ihnen wegen Ihres reichlich frechen Mundwerks öfter den Kopf waschen sollen.«

Constance erlebte nicht zum ersten Mal, dass Pendergast jemanden absichtlich provozierte, aber noch nie so streitlustig.

Warum war das Erste, was er im Rahmen dieser Ermittlungen tat, keine Mühe zu scheuen, sich den Polizeichef zum Feind zu machen?

Der Chief trat einen Schritt näher. »Okay. Es reicht. Verschwinden Sie aus der Stadt. Sofort. Steigen Sie in Ihr kleines Schwuli-Auto und raus mit Ihnen und Ihrer Freundin.«

»Sonst?«

»Sonst nehme ich Sie wegen Herumlungerns und Ruhestörung fest.«

Pendergast lachte laut auf – was ganz untypisch für ihn war. »Nein, danke. Ich bleibe so lange, wie es mir gefällt. Ich freue mich sogar schon darauf, mir heute Abend im Inn das Baseballspiel anzusehen – in dem die New York Yankees die Red Sox zweifellos in das Loch zurückstoßen werden, aus dem sie während der Meisterschaft herauszukriechen versuchten.«

Lange, angespannte Stille. Dann griff der Polizist ruhig und absichtsvoll an seinen Gürtel und hakte das Paar Handschellen los. »Legen Sie die Hände auf den Rücken, Sir, und drehen Sie sich um.«

Pendergast gehorchte sofort. Der Polizeichef legte die Handschellen an.

»Hier entlang, Sir.« Er schubste Pendergast in Richtung Streifenwagen.

Constance wartete darauf, dass Pendergast irgendetwas sagte, seinen Ausweis zückte. Aber nichts dergleichen geschah.

»Einen Moment«, sagte sie leise hinter dem Polizisten.

Er blieb stehen und wandte sich um.

Constance schaute ihm mitten ins Gesicht. »Wenn Sie das tun, werden Sie bald der bedauernswerteste Mensch im Staate Massachusetts sein.«

Die Augen des Polizeichefs weiteten sich in gespielter Angst. »Drohen Sie mir?«

»Constance?«, bat Pendergast, wobei er seine Stimme gleichermaßen freundlich und warnend klingen ließ.

Constance richtete ihre Aufmerksamkeit weiterhin auf den Chief. »Ich drohe Ihnen nicht. Ich sage Ihnen nur eine traurige und schmachvolle Zukunft voraus.«

»Und wer wird das genau bewerkstelligen? Sie?«

»Constance?«, sagte Pendergast ein wenig lauter.

Sie bemühte sich, sich eine Antwort zu verkneifen und dem plötzlichen Brausen in ihren Ohren Einhalt zu gebieten.

»Miststück.« Der Polizist drehte sich um und schubste Pendergast weiter in Richtung Streifenwagen, was der FBI-Agent bereitwillig geschehen ließ. Der Chief öffnete eine der hinteren Türen, legte ihm die Hand auf den Kopf und stieß ihn in den Wagen.

»Bring das Scheckbuch mit auf die Wache«, sagte Pendergast, griff mit einiger Mühe in seine Hosentasche und warf Constance den Autoschlüssel zu, »damit wir die Kaution bezahlen können.«

Constance blickte dem Polizeiwagen hinterher, der mit quietschenden Reifen von der Bordsteinkante losfuhr und die Main Street entlangraste, während sie ihre Atmung beruhigte und wartete, dass dieser rote Schleier vor ihren Augen verschwand. Erst als der Wagen nicht mehr zu sehen war, wurde ihr bewusst, dass sie Pendergasts Spyder ja gar nicht fahren konnte.

5

Die Exmouther Polizeistation war in einem altmodischen Backsteingebäude am anderen Ende der Stadt untergebracht.

»Bitte achten Sie darauf, den Wagen innerhalb der Parkfläche abzustellen«, sagte Constance zu dem jungen Mann, den sie rekrutiert hatte, damit er sie durch die Stadt chauffierte. Er hatte den Wagen bewundernd angeschaut, während sie dastand und überlegte, was zu tun war, und sie hatte ihm angeboten, ein Stück damit zu fahren. Diese Gelegenheit hatte er sich nicht entgehen lassen. Erst als er schon hinterm Steuer saß, war ihr aufgefallen, dass er nach Fisch roch.

Er lenkte den Wagen auf die Parkfläche und riss die Handbremse hoch.

»Wow, ich fasse es nicht. Was für eine Fahrt!« Er schaute sie an. »Woher haben Sie den Wagen?«

»Er gehört mir nicht. Vielen Dank, dass Sie so ein Gentleman waren. Sie können jetzt gehen.«

Er zögerte, und sie hatte das Gefühl, dass er sie zum ersten Mal wahrnahm, denn er ließ den Blick über ihren Körper schweifen. Er war der Typus des sonnengebräunten, ehrlichen Landmanns und trug einen Ehering. »Wenn Sie später frei haben –«

»Habe ich nicht, und Sie auch nicht.« Dabei nahm sie ihm den Schlüssel aus der Hand, stieg aus dem Wagen und ging Richtung Polizeistation. Der Mann blieb auf dem Parkplatz stehen und blickte ihr hinterher.

Sie betrat einen überraschend sauberen Warteraum. Die Stirnwand zierten Porträts des Gouverneurs und des Vize-Gouverneurs, in einer Ecke stand eine amerikanische Nationalfahne mit Goldrand, eine holzgetäfelte Wand war voll von Ehrentafeln und offiziellen Auszeichnungen. Am Empfang saß eine sehr kleine Frau, führte Telefonate und versuchte, geschäftig zu wirken. Hinter ihr, durch die offene Tür, hörte Constance das Geplärre aus einem Fernseher, in dem irgendeine Gameshow lief.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte die Frau.

»Ich bin hier, um – wie sagt man? – für Mr. Pendergast eine Kaution zu stellen.«

Die Frau blickte sie neugierig an. »Er wird gerade erkennungsdienstlich behandelt. Bitte nehmen Sie Platz. Dürfte ich Ihren Namen erfahren?«

»Constance Greene.« Sie nahm Platz und strich ihr langes Kleid glatt.

Aus den hinteren Räumen erschien ein junger Polizist, blieb stehen und schaute sie an. Constance erwiderte seinen Blick. Hatte diese Stadt etwas Eigenartiges an sich, oder war sie eigenartig? Der Polizist war ein dunkelhäutiger Typ, italienisch aussehend, mit brütendem Gesichtsausdruck. Er errötete, als sie ihn ansah, wandte sich ab, reichte der Dame am Empfang ein Blatt Papier, sprach kurz mit ihr und drehte sich anschließend wieder zu ihr um. »Sind Sie wegen Pendergast hier?«

»Ja.«

Kurzes Zögern. »Das kann ein paar Stunden dauern.«

Warum um alles in der Welt hatte Pendergast immer noch nicht seine Autorität spielen lassen? »Ich warte.«

Er ging. Sie merkte, dass auch die Dame am Empfang sie neugierig musterte. Sie wollte offenkundig reden, und Constance, die normalerweise mit so einer Person kein Wort gewechselt hätte, rief sich in Erinnerung, dass sie ja ermitteln sollte und sich jetzt eine gute Gelegenheit dazu bot. Sie schenkte der Dame ein, wie sie hoffte, einladendes Lächeln.

»Und woher kommen Sie?«, fragte die Frau.

»New York.«

»Ich wusste gar nicht, dass es auch in New York Amische gibt.«

Constance sah sie ungläubig an. »Wir sind keine Amische.«

»Oh, verzeihen Sie! Ich hatte das nur angenommen, weil der Mann so einen schwarzen Anzug trug und Sie in diesem Kleid …« Sie ließ den Satz unvollendet. »Ich hoffe, ich habe Sie nicht gekränkt.«

»Nicht im Geringsten.« Constance sah sich die Frau genauer an. Um die Fünfzig. Ihre eifrige Miene ließ auf einen langweiligen Routinejob und einen Hunger nach Klatsch schließen. Die Frau wusste sicherlich alles darüber, was sich in der Stadt abspielte.

»Wir sind einfach nur altmodisch«, sagte sie, abermals mit gezwungenem Lächeln.

»Machen Sie Urlaub hier?«

»Nein. Wir ermitteln in dem Einbruch in Percival Lakes Weinkeller.«

Stille. »Der Mann im schwarzen Anzug ist ein Privatermittler?«

»Gewissermaßen. Ich bin seine Assistentin.«

Die Frau wurde nervös. »Ah ja.« Sie griff nach irgendwelchen Papieren auf ihrem Schreibtisch und schob sie hin und her, plötzlich geschäftig.

Vielleicht hätte sie ja nicht so schnell enthüllen sollen, zu welchem Zweck sie in die Stadt gekommen waren. Am besten, sie änderte ihre Taktik. »Wie lange sind Sie schon hier tätig?«, fragte Constance.

»Seit sechsundzwanzig Jahren.«

»Und gefällt Ihnen Ihre Arbeit?«

»Es ist eine hübsche Stadt. Die Leute sind freundlich.«

»Gibt es hier viel Kriminalität?«

»O nein. Nur kleinere Gesetzesverstöße. Den letzten Mord hat es hier 1978 gegeben.«

»Andere Straftaten?«

»Die üblichen. Hauptsächlich von Jugendlichen verübt. Vandalismus, Ladendiebstahl, Alkoholkonsum Minderjähriger – das war’s dann aber auch.«

»Dann ist das hier also ungewöhnlich – jemanden wegen Herumlungerns und Ruhestörung festzunehmen?«

Die Frau richtete sich nervös die Frisur. »Dazu darf ich mich nicht äußern. Verzeihen Sie, aber ich muss zurück an die Arbeit.« Sie widmete sich wieder ihrem Papierkram.

Constance ärgerte sich. Wie um alles in der Welt bekam Pendergast so etwas hin? Sie würde seinen Methoden mehr Beachtung schenken müssen.

 

Es war später Nachmittag, als der junge Polizist aus den hinteren Räumen zurückkehrte und der Dame am Empfang irgendwelche Papiere aushändigte.

»Miss Greene?«, fragte die Frau.

Constance stand auf.

»Die Kaution ist festgelegt worden. Fünfhundert Dollar.«

Während Constance den Scheck ausschrieb, erklärte ihr die Frau die Bedingungen und schob ihr die Formulare hin. Constance unterschrieb sie.

»Es wird nicht mehr allzu lange dauern«, versprach die Frau.

Und tatsächlich, keine fünf Minuten später erschien Pendergast in der Tür; er war verblüffend guter Laune. Die Einkaufstüte mit den Hawaii-Hemden war verschwunden.

»Ausgezeichnet, ganz ausgezeichnet«, sagte er. »Lass uns gehen.«

Constance schwieg, während sie zum Auto gingen.

»Wie hast du den Wagen hergeschafft?«, fragte Pendergast, als er ihn an der Bordsteinkante stehen sah.

Sie erklärte es ihm.

Pendergast runzelte die Stirn. »Ich bitte dich, im Kopf zu behalten, dass sich in dieser kleinen Stadt gefährliche Charaktere verborgen halten.«

»Vertrau mir, er war keiner von denen.«

Als sie in den Wagen einstiegen, spürte Constance ihre zunehmende Verärgerung.

Pendergast streckte seine Hand aus, damit sie ihm den Autoschlüssel gab, aber sie machte keinerlei Anstalten, ihm den Schlüssel auszuhändigen.

»Aloysius.«

»Ja.«

»Was in Gottes Namen glaubst du, was du hier tust?«

»Wie meinst du das?«

»Du hast den Polizeichef absichtlich provoziert und dich festnehmen lassen. Vor mehreren Stunden. Und ich nehme mal an, du hast ihm verschwiegen, dass du FBI-Agent bist.«

»Stimmt.«

»Und wie genau soll uns das bei unseren Ermittlungen helfen?«

Pendergast legte ihr die Hand auf die Schulter. »Übrigens, ich möchte dir für deine Zurückhaltung dem Polizeichef gegenüber danken. Er ist ein höchst unangenehmer Mensch. Und um deine Frage zu beantworten: Es hat unmittelbar mit unseren Ermittlungen zu tun.«

»Möchtest du mir das bitte erklären?«

»Nein. Alles wird deutlich werden, das verspreche ich dir.«

»Deine Undurchschaubarkeit bringt mich noch um den Verstand.«

»Gemach! Also? Wollen wir zum Inn zurückfahren? Ich bin dort mit Percival Lake verabredet. Hättest du vielleicht Interesse, mit uns zu Abend zu essen? Du musst doch umkommen vor Hunger.«

»Ich esse auf meinem Zimmer, danke.«

»Wie du willst. Hoffen wir, dass das Abendessen nicht so enttäuschend ausfällt wie das Frühstück.«

Sie waren auf einer Landstraße zwischen alten Neuengland-Natursteinmauern gefahren. Jetzt lichteten sich die Bäume, und zum Vorschein kam das Captain Hull Inn. Das Hotel, ein wuchtiges viktorianisches Kapitänshaus, war mit grauen Schieferschindeln gedeckt, weiß gestrichen und stand frei auf einer großen Wiese, umgeben von einer dichten Wildrosenhecke voll mit Hagebutten. Auf der breiten umlaufenden Veranda mit weißen Säulen standen ein Dutzend Schaukelstühle, die aufs Meer ausgerichtet waren und einen Blick auf den Exmouther Leuchtturm boten, der etwa achthundert Meter entfernt Richtung Süden die Küste überragte. Auf dem mit zerstoßenen Austernschalen bestreuten Parkplatz standen mehrere Autos. Constance hatte ihr Zimmer, in das sie am Vorabend eingecheckt hatte, angenehm altmodisch gefunden.

»Wann findet dein Prozess statt?«, fragte sie. »Wie ich höre, legt man in Kleinstädten wie diesen großen Wert auf schnelle Rechtsprechung.«

»Es wird keinen Prozess geben.« Pendergast sah sie an, ergründete ganz offensichtlich ihre Miene. »Constance, ich will dich nicht absichtlich ärgern. Es ist für deine Schulung in meiner Vorgehensweise einfach besser, wenn du erlebst, wie sich die Dinge natürlich entwickeln. Also? Wollen wir?« Und damit legte er seine Hand auf den Türrahmen des Spyder, stieg aus und hielt Constance die Tür auf.

6

Percival Lake blieb in der Tür zum Hotelrestaurant Chart Room stehen und erkannte Pendergast sofort zwischen den Grüppchen der Gäste.

Der ganz in Schwarz und Weiß gekleidete Mann fiel auf wie ein bunter Hund zwischen dem Neuengland-Völkchen in Madras-Jacketts und Seersucker-Hemden. Lakes Erfahrung nach legten selbst exzentrische und unkonventionelle Leute Wert auf Selbstinszenierung. Nur sehr wenige scherten sich tatsächlich darum, was andere dachten. Pendergast war so einer.

Lake gefiel das ziemlich gut.

Stirnrunzelnd betrachtete Pendergast die Kreidetafel – im Chart Room des Captain Hull Inn gab es keine gedruckten Speisekarten. Während Lake sich zwischen den Tischen hindurchschlängelte, sah Pendergast hoch, dann stand er auf. Sie gaben sich die Hand.

»Ich liebe diesen Raum«, sagte Lake, während sie sich setzten. »Die alten Pitchpine-Dielen, die nautischen Geräte, der Natursteinkamin. Der Raum ist sehr behaglich, zumal jetzt im Herbst. Wenn es kühler wird, machen sie Feuer im Kamin.«

»Ich fühle mich eher wie in einem Sarg«, sagte Pendergast.

Lake lachte und warf einen Blick auf die Kreidetafel. »Der Wein hier ist von zweifelhafter Qualität, aber sie haben eine hübsche Auswahl an gezapften Bieren. Es gibt ein lokales Bier, das ich sehr empfehlen –«

»Ich bin kein Biertrinker.«

Die Kellnerin – eine junge Frau mit kurzgeschnittenem Haar, das fast so blond war wie Pendergasts – kam, um ihre Bestellungen entgegenzunehmen, und fragte keck: »Was kann ich den Herren bringen?«

Stille. Pendergast ließ den Blick über die Flaschen schweifen, die hinter dem Bartresen aufgereiht standen. Plötzlich ruckten seine blassen Brauen hoch. »Wie ich sehe, haben Sie Absinth.«

»Ist so eine Art Experiment, glaube ich.«

»Ich nehme den Absinth, wenn ich bitten darf. Und achten Sie bitte darauf, dass das Wasser, das Sie dazu servieren, frisches Mineralwasser ist, kein Leitungswasser, und absolut eiskalt, aber ohne Eis, dazu ein paar Zuckerwürfel. Und wenn Sie auch einen Sieblöffel und ein Reservoirglas besorgen könnten, wäre ich Ihnen sehr dankbar.«

»Ah ja, ein Reservoirglas.« Die Kellnerin notierte sich alles. »Ich werde mein Bestes geben.«

»Wollen wir Essen bestellen?«, fragte Lake. »Die frittierten Muscheln sind eine Spezialität des Hauses.«

Pendergast warf einen zweiten Blick auf die Kreidetafel. »Später vielleicht.«

»Für mich bitte ein großes Riptide Indian Pale Ale.«

Die Kellnerin ging; Lake wandte sich zu Pendergast um. »Bildhübsches Mädchen, oder? Sie ist neu hier.«

Aber Pendergast hatte kein Interesse, er schien die Bemerkung einfach ignoriert zu haben.

Lake räusperte sich. »Wie ich höre, hat man Sie heute Vormittag festgenommen. Ist natürlich Stadtgespräch. Sie haben einen ziemlichen Wirbel verursacht.«

»In der Tat.«

»Sie hatten Ihre Gründe, nehme ich an.«

»Selbstverständlich.«

Die junge Kellnerin kam mit ihren Getränken zurück und stellte alles vor Pendergast ab: Glas, Löffel – kein Sieblöffel –, ein Teller mit Zuckerwürfeln, eine kleine Glaskaraffe mit Wasser und der Absinth in einem hohen Glas. »Ich hoffe, das geht in Ordnung.«

»Eine glaubwürdige Bemühung«, antwortete Pendergast. »Vielen Dank.«

»Sieht so aus, als wollten Sie ein Chemie-Experiment durchführen«, sagte Lake, während Pendergast alles sorgfältig arrangierte.

»Es ist tatsächlich ein wenig Chemie beteiligt«, sagte Pendergast, legte ein Stück Würfelzucker auf den Löffel, legte diesen auf das Absinthglas und ließ das Wasser vorsichtig darüber tröpfeln.

Lake sah, wie sich die grüne Flüssigkeit milchig verfärbte. Der Geruch von Anis wehte über den kleinen Tisch; er schüttelte sich.

»Es gibt bestimmte ölbasierte Kräuterextrakte, die sich zwar in Alkohol lösen, in Wasser aber eine schlechte Löslichkeit aufweisen«, erklärte Pendergast. »Sie fallen aus, sobald man Wasser hinzufügt, und rufen so die milchige Trübung hervor, die louche.«

»Wenn mir Lakritz nicht ein Greuel wäre, würde ich ein Glas probieren. Aber führt Wermut denn nicht zu Hirnschäden?«

»Das Leben führt zu Hirnschäden.«

Lake lachte und hob sein Glas. »In dem Fall: Auf Exmouth und das Geheimnis des eingemauerten Skeletts.«