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Was ist nur los im idyllischen Bokau am Passader See? Da wirft jemand Hunde und Katzen von einer Brücke, ein Verrückter attackiert Frauen, schließlich gerät sogar "Private Eye" Hanna Hemlokk in sein Visier – und das ist erst der Anfang. Doch die Detektivin der etwas anderen Art lässt sich auch von ihrem bisher gefährlichsten Auftrag nicht schrecken...
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Seitenzahl: 482
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Ute Haese, geboren 1958, promovierte Politologin und Historikerin, war zunächst als Wissenschaftlerin tätig. Seit 1998 arbeitet sie als freie Autorin und widmet sich inzwischen ausschließlich der Belletristik im Krimi- und Satirebereich sowie zusätzlich der Fotografie. Mit Kurzgeschichten ist sie auch in verschiedenen Anthologien vertreten. Wie ihre Protagonistin Hanna Hemlokk schreibt sie daneben sogenannte abgeschlossene Liebesromane für diverse Frauenzeitschriften. Die Autorin lebt mit ihrem Mann am Schönberger Strand bei Kiel. Sie ist Mitglied bei den Mörderischen Schwestern– Vereinigung deutschsprachiger KrimiAutorinnen und im Syndikat, der Autorengruppe deutschsprachige Kriminalliteratur.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
©2016 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: photocase.com/designritter Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch Lektorat: Dr.Marion Heister eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-96041-102-4 Küsten Krimi Originalausgabe
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Für Mutterherz
Glossar norddeutscher L-Wörter
labberig
weich, flau, fade, geschmacklos
Labskaus
Eintopfgericht aus eingesalzenem Fleisch, Fisch, Kartoffeln und verschiedenen anderen Zutaten
lütt
klein
lummerig
schwül, drückend
luschern
neugierig und heimlich gucken
PROLOG
Die erste Kugel zischte nur einen Millimeter an meinem rechten Ohr vorbei. Die Wucht der Detonation ließ mein Trommelfell vibrieren wie ein Spinnennetz im Taifun. Ob es nun daran lag oder daran, dass man in Bokau gemeinhin nicht auf Leute ballert wie in Chicago, Schanghai oder Johannesburg– ich brauchte eine gefühlte Ewigkeit, bis ich mich bäuchlings auf die Erde geschmissen hatte. Und da lag ich nun, am ganzen Körper zitternd, das Gesicht halb in eine matschige Pfütze gepresst, und glaubte es nicht. Jemand schoss auf mich! Jemand trachtete mir, Hanna Hemlokk, nach dem Leben! Denn dass mich am helllichten Tag ein schwachsichtiger Waidmann für ein Reh im rot-weißen Ringelshirt oder für ein zweibeiniges Wildschwein hielt, war mehr als unwahrscheinlich. Nein, die Kugel galt mir, und hinter den Büschen und Bäumen lauerte ein Verrückter.
So schnell mich Arme und Beine trugen, robbte ich im Kriechgang einer Riesenechse über den Weg, der Silvias Wiese von meinem Mini-Garten trennte, auf meine rettende Villa zu. Ich kam bis zur Gartenpforte. Da war Ende, denn die war geschlossen und verriegelt und daher nur im Stehen zu öffnen. Ich überlegte fieberhaft. Mich hochzuwuchten kam natürlich nicht in Frage. Ein besseres Ziel konnte ich dem Irren gar nicht bieten. Also schlängelte ich mich seitwärts weiter am Zaun entlang, begleitet von Silvias nachdenklichem Muhen.
EINS
Dabei hatte alles so harmlos angefangen. Mord und Totschlag lagen anfangs in weiter Ferne, stattdessen sah es lediglich nach ein bisschen Hilfe für engagierte junge Leute aus, denen ich mit meiner langjährigen Erfahrung als Privatdetektivin unter die Arme greifen sollte. Das war auch schon alles. Der Fall schien weder besonders knifflig zu sein noch irgendwelche ermittlungstechnischen Raffinessen zu erfordern. Nein, mit Geduld und Spucke sowie einer einigermaßen soliden Ermittlungsarbeit würde man schon ans Ziel kommen. Genau so sah es aus. Ein Klacks also eigentlich. Tja, so kann man sich täuschen. Denn in diesem Fall ging es um alles: um Geld, viel Geld, um einen Beinahe-Mord, um Hinterlist und Heimtücke sowie um ein gerütteltes Maß an Verzweiflung, sodass es kein Wunder war, dass ich dabei körperlich und seelisch an meine Grenzen stieß. Doch das alles wusste ich natürlich nicht, als Krischan, Jana und Philipp an einem sonnigen Septembernachmittag bei mir hereinschneiten und die Geschichte ihren Anfang nahm.
Ich fütterte gerade den noch verbliebenen vierköpfigen Nachwuchs meines griechischen Landschildkrötenpaares– zwei Minis hatte ich kürzlich mit gemischten Gefühlen in die vertrauenswürdigen Hände einer Bekannten aus meiner Feuer-&-Flamme-Kochgruppe gegeben–, während ich angestrengt darüber nachgrübelte, wie man heutzutage wohl Blaublüter korrekt anredet. Baronesse? Herr Graf? Eure Fürstliche Hoheit? Oder sagt man im 21.Jahrhundert ganz einfach Herr von Schlagmichtot zu so einem Erlauchten? Keine Ahnung. Alles klang in meinen bürgerlichen Ohren verdammt nach Courths-Mahler, wo das Antlitz der liebreizenden Unschuld vom Lande stets hold und süß ist, die roten Rosen glühen und blühen, bis das Blattwerk qualmt, und sich der adlige Held an ihren Lippen satt küsst. Himmel, Arsch und Wolkenbruch, was für ein Gesülze!
Ich warf sicherheitshalber nach den ausnahmsweise spendierten leckeren, aber ungesunden Bananenstückchen doch noch ein paar verdauungsfördernde Blätter Löwenzahn, die ich frisch von Silvias Wiese geklaut hatte, in das Terrarium der Lütten. Wer es noch nicht weiß: Silvia ist eine Kuh und, seit ich in meiner Anderthalb-Zimmer-Villa lebe, meine Nachbarin von gegenüber. Wir kommen wunderbar miteinander aus. Keine überhängenden Zweige gefährden unser freundschaftliches Verhältnis, keine nächtliche Blasmusik entzweit uns. Sie muht hin und wieder wie ein asthmatischer Trecker über den Passader See. Na und? Mich stört es nicht, ich finde es schön.
Nachdenklich betrachtete ich Marga, Theo, Johannes und Harry, die nach ihren Paten genannten mittlerweile knödelgroßen Kröten, die sich so eifrig auf das Grünzeug stürzten, als hätten sie nicht soeben ihre Banane verschlungen, sondern seit Monaten gedarbt. Hieß so ein waschechter Freiherr oder Herzog heute eigentlich immer noch zwingend mit Vornamen Clemens Otto oder Eberhard Johannes? Oder existierten auf den Schlössern, Burgen und Herrenhäusern Europas mittlerweile schon ein paar Dennisse, Bens und Tims?
»Graf Tim«, sagte ich probehalber laut. »Baron Dennis, Edle von Mandy.«
Na ja, wohl eher nicht. Aber ich hatte auch in diesem Fall keine Ahnung, obwohl ich bekanntlich im Nebenjob als Tränenfee arbeite und Liebesgeschichten– ich, und nur ich!, nenne sie wahlweise Schmalzheimer oder Sülzletten– für die Yellow Press fabriziere. Davon kann und muss man leben, wenn man im Detektivgewerbe immer noch nicht zu den absoluten Spitzenkräften gehört. Damit hier keine Missverständnisse aufkommen: Ich bin gut, sehr gut sogar, doch was das Finanzielle angeht, sahnt man bei den dicken Fischen in Berlin, Hamburg oder München nun einmal ein klitzekleines Stück mehr ab als im ländlichen Bokau mit doch eher bescheidenen Einkommensverhältnissen. Da gibt es kein Vertun. Und weil das so ist, hatte ich den Vorschlag meiner Agentin, es doch einmal mit einem Adelsroman zu versuchen, zähneknirschend angenommen. Zumal sie mir in den höchsten Tönen von dem nach wie vor ziehenden Glamourfaktor der Aristokratie vorgeschwärmt hatte. Noblesse oblige, hatte sie gezwitschert. Adel verpflichtet, immer noch.
Worauf mir prompt dieser ehemalige Bundeswehr-Baron einfiel, der keine Talkshow ausgelassen und als ungemein cool, volksnah und gewandt gegolten hatte. Was zählt da schon so eine stinkbürgerliche Doktorarbeit, bei der er nach Strich und Faden getürkt hat? Nix offenbar.
Oder dieser immer mal wieder austickende, um sich schlagende und an öffentliche Pavillons pinkelnde Hohenzollernprinz. Der hieß auch so erdenschwer-doppelnamig. Ich wedelte in Gedanken versunken mit einem weiteren Löwenzahnblatt im Terrarium herum. Genau, Ernst August. Na ja, dafür konnte der Arme ja nichts, was für sein rabaukiges Verhalten allerdings nicht galt.
Auf jeden Fall beschloss ich, meinen adligen Papierhelden mit einem Vornamen zu versehen, der in direkter Linie auf Siegfried und die Nibelungen zurückging. Sicher ist schließlich sicher, ein Grundsatz, der nicht nur im Ermittlungs-, sondern auch im Sülzheimer-Gewerbe gilt.
Als ich an diesem Punkt meiner Überlegungen angekommen war, quietschte die Gartenpforte. Ich erwartete niemanden und ging deshalb neugierig zur Tür. Eine leibhaftige Gräfin, die ich nur stotternd und ohne formvollendeten Knicks begrüßen konnte, würde es schon nicht sein.
»…er heißt Gustav und sie Hannelore. In diesem Sommer hat sie sechs Eier gelegt, und aus allen ist etwas geschlüpft. Oh, hallo, Hanna. Wir stören doch hoffentlich nicht?«
Krischan bewohnte mit meiner Freundin Marga zusammen das Haupthaus, das etwa hundert Meter von meiner Villa entfernt Richtung Bokauer City lag. Der Junge war um die zwanzig und lebte dort allein. Seinen Lebensunterhalt verdiente er als »Mann für alle Fälle«, was kein anrüchiges Gewerbe war, sondern ein eher bodenständiges. Im Sommer schnitt er für jedermann Hecken, mähte Rasen, grub Beete um, und im Winter beseitigte er Schnee und Eis von Bürgersteigen und Zufahrten. Krischan war groß, knochig und schlaksig und kam mir manchmal vor wie ein verwaister Welpe. Ich kannte ihn lediglich flüchtig, trotzdem mochte ich ihn.
»Moin, Krischan«, begrüßte ich ihn daher freundlich. »Und nee, ihr stört nicht. Ich habe gerade die Krötenbrut gefüttert.« Meinen Kampf mit dem Adel verschwieg ich, da ich nicht annahm, dass mir einer von dem Trio in dieser Hinsicht weiterhelfen konnte. Denn Krischan war, wie gesagt, nicht allein gekommen. Ein blutjunges Mädchen und ein vielleicht Siebzehn-, Achtzehnjähriger begleiteten ihn. Ich kannte beide nicht näher, hatte sie jedoch bereits im Dorf, in Inge Schiefers Restaurant oder bei Bäcker Matulke, gesehen. Sie mussten im Neubaugebiet wohnen.
»Das sind Jana und Philipp«, stellte Krischan die beiden vor.
»Hallo«, grüßten sie höflich.
Ich nickte ihnen zu.
»Hanna Hemlokk. Kommt rein. Ihr wollt bestimmt einen Blick auf die kleinen Schildkröten werfen, stimmt’s?«
Natürlich wollten sie das. Deshalb waren sie schließlich hier, denn meine Zucht erfreute sich in Bokau einer gewissen Berühmtheit. Dachte ich zumindest.
»Ja, danke«, sagte Krischan brav.
Während das Trio sich vor dem Terrarium postierte, zauberte ich rasch einen Earl Grey. Mit den Besuchern war meine zweiundvierzig Quadratmeter große Villa rappelvoll, ein weiterer Gast hätte auf dem Klo Platz nehmen müssen. Doch dafür stand mein Heim allein und direkt am Passader See. Klein, aber fein halt. Ich hätte mit niemandem tauschen mögen. Als der Tee fertig war, dirigierte ich die drei auf mein rotes Sofa, schenkte ihnen ein und setzte mich selbst in den Schaukelstuhl.
»Äh… möchte einer von euch vielleicht einen Spritzer Zitronensaft zum Tee? Oder Süßstoff?«, fragte ich irritiert, als niemand etwas sagte. Was war denn mit der Jugend von heute los? Ich genoss zwar als Privatdetektivin im Dorf und in der Umgebung mittlerweile einen Ruf wie Donnerhall, doch derart furchteinflößend, dass es einem in meiner Gegenwart komplett die Sprache verschlug, war ich eigentlich nicht.
»Süßstoff wäre schön«, murmelte das Mädchen zögernd.
Ich holte das Gewünschte, setzte mich wieder und wartete stumm. Irgendetwas war hier eindeutig faul im Staate Dänemark, aber ich hatte nicht vor, den ersten Schritt zu tun oder sie tantenhaft zu umflattern. Wenn die drei etwas von mir wollten, sollten sie gefälligst den Mund aufmachen. Die Jungs waren alt genug, und ich hatte Zeit, denn ich war erst am späten Nachmittag mit meiner Freundin Marga verabredet, um an einer »ganz großen Sache« teilzuhaben. Ihre Worte, natürlich.
Bis dahin blieben uns noch fast zwei Stunden. Unauffällig betrachtete ich Krischans Kumpane, während ich meinen Tee schlürfte. Das Mädchen, Jana, schien mir noch sehr jung zu sein. Zwölf vielleicht, na gut, höchstens dreizehn, aber keinen Tag älter. Ihr Gesicht war jugendlich glatt. Kein Schicksalsschlag hatte bislang eine Spur als Kerbe oder Falte hinterlassen. Trotzdem wirkte sie intelligent und, ja… eigensinnig und selbstbewusst.
Hier saß ganz klar ein Mensch, der bereits wusste, was er wollte. Ich hatte keine Ahnung, ob dieser Eindruck an dem wachen Ausdruck ihrer Augen lag oder an ihrer Körperhaltung und der Art, wie sie den Tee trank. Auf jeden Fall war sie winzig. Also, sie war nicht bloß klein, sondern wirklich sehr kurz geraten. Ich veranschlagte ihre lichte Höhe auf einen Meter zehn oder zwanzig, mehr auf keinen Fall.
Dagegen gehörten die beiden Jungs in das Reich der Riesen. Wie ein Schluck Wasser saß dieser lange Lulatsch von Philipp da, den Rücken krumm, die Schultern nach vorn gebeugt, den Teebecher mit Händen so groß wie Pastateller umklammernd. Auf seiner flaumigen Oberlippe prangte ein Prachtexemplar von Pickel. Trotz der spätsommerlichen Temperaturen– tagsüber brachten wir es immerhin noch auf satte zwanzig Grad– trug der Junge ein langärmeliges teures Hemd, gegen das Krischans ausgeleiertes T-Shirt schmuddelig und ausgesprochen billig wirkte. Und auch an den Hosen sah man den Unterschied deutlich: Während Philipps Jeans eine porentiefe Reinheit ausstrahlte, hatte Krischans Beinkleid eindeutig schon bessere Tage gesehen.
Es war Jana, die sich endlich ein Herz fasste.
»Wir haben zwar kein Geld, aber trotzdem möchten wir Sie um etwas bitten. Weil Sie doch Privatdetektivin sind und das Ganze einfach eine Riesensauerei ist.«
Sie schätzte meine Reaktion ab, während die beiden Helden bei ihren Worten unruhig auf der Couch hin und her zu ruckeln begannen. Ich lächelte sie aufmunternd an. Die Kleine wurde mir von Minute zu Minute sympathischer.
»Über Geld können wir später immer noch reden«, beschwichtigte ich sie. »Zunächst einmal würde ich nur gern wissen, wo euer Problem liegt.«
»Marga hat mir den Tipp gegeben«, erklärte Krischan nun und stellte seinen Teebecher ab. »Sie meinte, was es auch sei, du wüsstest vielleicht einen Rat und außerdem würdest du gerade frei sein.«
Er wurde rot. Ich griente in mich hinein.
»Sie hat es einen Tick anders formuliert, nehme ich an.« Ich kannte doch meine Freundin Marga. Zurückhaltung in der Wortwahl gehörte nicht zu ihren Stärken. Wahrscheinlich hatte sie zu Krischan gesagt, dass einem das Schmalzheimer-Gewerbe verdammt leicht aufs Hirn schlage. Da sei es geradezu ein Akt der Barmherzigkeit, wenn meine liebesverkleisterten grauen Zellen etwas auf Trab gebracht würden.
»Na ja.« Der Junge zögerte. »Also ja, sie hat es ein bisschen anders gesagt. Aber trotzdem ist sie voll in Ordnung.«
»Das ist sie. Keine Frage«, stimmte ich ihm zu und ließ das Thema fallen. Wenn wir in diesem Schneckentempo weitermachten, würden wir noch gemeinsam Ostereier suchen. »Um was geht es denn nun genau?«
Jetzt war es Philipp, der antwortete. »Um die Tiere, die von den Schweinen einfach aus dem Auto geworfen werden, als seien sie nichts weiter als Müll.«
Schweine? Tiere? Müll? Ich begriff nicht. Was man mir offenbar ansah.
»Wir sind alle drei Mitglieder von Anima«, informierte mich Jana mit einem genervten Seitenblick auf Philipp. »Anima ist lateinisch und bedeutet Seele.«
»Das kommt von dem Wort Animismus«, assistierte Krischan eifrig. »Wir glauben nämlich daran, dass die gesamte Natur beseelt ist. Also auch die Pflanzen und die Tiere. Ja, die Tiere auf jeden Fall.«
»Gut«, sagte ich ungeduldig. »Und weiter?«
Für die Klärung von philosophischen Fragen benötigt man gemeinhin keine Privatdetektivin. Da belegt man einen Volkshochschulkurs, begibt sich ins Philosophische Seminar einer Universität oder liest ein hochgelehrtes Buch. Oder, wenn’s nicht so kompliziert sein soll, googelt sich sein Weltbild zusammen.
»Anima ist ein Verein zum Schutz von Tieren«, klärte die praktische Jana mich auf. »Er besteht hier in Bokau seit ungefähr zwei Jahren.«
»Ah«, brummte ich, denn langsam dämmerte es mir. Ich hatte von diesem Verein bereits gehört. Allerdings nicht unbedingt Gutes. Im letzten Frühjahr hatte die örtliche Presse ausführlich von irgendwelchen Querelen zwischen zwei Mitgliedern berichtet. Es war um die Verteilung von Spendengeldern und Macht gegangen, das Übliche eben. Was daraus geworden war, wusste ich nicht.
»Im Sommer haben wir uns ganz neu aufgestellt«, teilte mir Jana, die mein Mienenspiel beobachtet hatte, trotzig mit. »Renate Wurz ist jetzt unsere Vorsitzende, und die ist in Ordnung.«
»Okay?«, murmelte ich, um eine jugendliche Ansprache bemüht, in dem fragenden Tonfall, in dem mittlerweile alle Welt und nicht nur die synchronisierten amerikanischen Serienhelden reden. »Ich nehme das zur Kenntnis. Wenn du dann jetzt bitte zum Punkt kommen würdest.« Das war nun eher erwachsen ungeduldig, aber der Zeiger der Uhr wanderte unerbittlich auf vier.
»Kennen Sie den Reitstall in Neuschönberg?«, fragte Jana.
»Ja.« Den kannte ich tatsächlich, weil ich im Sommer liebend gern im Hinterland mit dem Rad unterwegs bin, statt mich durch die Touristenmengen auf dem proppenvollen Deich zu schieben.
»Dort geht von der Straße, die von Schönberg zum Strand führt, rechts ein Treckerweg ab, wenn man aus dem Ort kommt.« Ich nickte.
»Gut«, fuhr Jana fort. »Wenn man da ein Stück weit entlangradelt, muss man unter einer Brücke durch.« Ich nickte erneut, denn auch die kannte ich. »Oben, also auf der Brücke, führt eine Bundesstraße längs–«
»Die502, auf der man nach Lütjenburg und in der anderen Richtung nach Kiel kommt«, ergänzte Krischan eilfertig.
Jana schüttelte leicht den Kopf.
»Das ist doch jetzt völlig egal«, wies sie ihn zurecht.
»Von dieser Brücke schmeißen die Leute immer wieder Tiere aus dem Auto«, platzte Philipp dazwischen. »Katzen und Hunde, alte und kranke.« Der Junge umklammerte seinen Teebecher jetzt so fest, dass seine Fingerkuppen weiß wurden. »Schweine sind das. Arschlöcher.«
»Philipp«, mahnte Jana sanft.
»Aber es ist doch wahr!«, schnaubte er. »Mindestens dreimal in der Woche fahren welche von uns da vorbei, um die Tiere einzusammeln, die verletzt, hungrig und durstig auf dem Hang und den angrenzenden Feldern herumkrabbeln. Und das nimmt einfach kein Ende. Ich finde das so zum Kotzen!«
Draußen schickte Silvia ein keuchendes Röhren über den See, das hörbar aus den Tiefen ihrer fünf Mägen kam. Das Geräusch war mir so vertraut wie das Plätschern der Wellen. Unvorstellbar, dass jemand Silvia wie ein Stück Müll entsorgte– ungeachtet der Tatsache, dass sie durch kein Autofenster passte. Ihre tonnenförmige Gestalt überforderte transport- und auswurftechnisch sogar die beliebten SUV-Riesenschlitten. Aber davon abgesehen war Silvia vielleicht nicht gerade ein intellektuelles, jedoch immer noch fühlendes Wesen, das zweifellos eine gehörige Portion Seele besaß. Ich konnte Philipps Empörung deshalb gut nachvollziehen.
»Das ist wirklich eine riesige Schweinerei«, knurrte ich.
Wer machte bloß so etwas? Ich war ehrlich ratlos. Denn die Orte rund um die Kieler Förde wurden nach meiner Einschätzung eher von den Rudeltouristen beherrscht. Der Hang zum Dritt- bis Fünfthund war mittlerweile nicht mehr zu übersehen, und bei Deichspaziergängen sirrte die Luft oftmals von zärtlichem Gebrabbel. Es handelte stets von Leckerlis, Kackerlis sowie menschlichen Hunde-»Mamis« und -»Papis«, bei denen der begründete Verdacht bestand, dass die Anzahl der Fiffis in irgendeiner Form mit dem Absterben der Hirnzellen korrespondierte.
Die Tiere schleckten Zitroneneis, Irish Cream und Stracciatella aus der Tüte mit Frauchen, nachdem sie den vollgepinkelten Laternenpfahl nebenan nicht nur beschnuppert hatten, saßen eingewickelt in thermodynamischen wetterfesten Decken neben Herrchen im Strandkorb oder teilten sich mit ihm eine Currywurst. Kurzum, sie wurden behandelt wie ein Sohn, eine Enkelin oder ein menschlicher Lebensgefährte– dessen Ersatz sie ja wohl auch waren.
Und nun behauptete dieses jugendliche Trio das genaue Gegenteil. Konnte das überhaupt stimmen? Doch, ja, konnte es, entschied ich, ohne zu zögern. Denn zu den Ferienzeiten berichtete die Presse schließlich immer wieder darüber, dass es an Autobahnraststätten von ausgesetzten Hunden nur so wimmelte. Weihnachten war Bello noch so klein und niedlich gewesen, im Sommer näherte sich das Ungetüm bereits der Ein-Meter-Marke und fraß einem die Haare vom Kopf. Außerdem wurde das tägliche Gassigehen zunehmend lästig, und zu Ferienbeginn war der Ofen dann ganz aus.
Weshalb benötigte so ein Viech auch einen teuren Impfpass, wenn man ins Ausland reisen wollte, und wieso zahlte der Köter die Hundepension gefälligst nicht aus eigener Tasche? Selbst schuld. Und tschüss. Sollte sich doch irgendeine milde Seele, wie etwa eine von den Anima-Leuten, um den blöden Kläffer kümmern. Ich schnalzte mit der Zunge wie immer, wenn mir ein helles Kerzlein aufging. Das Tier als Konsum- und Wegwerfartikel, wie mittlerweile praktisch alles in unserer schönen Umtausch-Warenwelt. Nein, keine Frage, die drei erzählten mir nicht irgendeine erfundene Schauergeschichte, sondern die entsorgten Lebewesen an der Neuschönberger Brücke gab es wirklich.
»Ihr sammelt sie also ein«, sagte ich trotzdem ruhig. »Und was passiert dann mit ihnen?«
»Wir lassen sie von Renate untersuchen. Sie ist nämlich nicht nur die Vorsitzende von Anima, sondern auch eine Top-Tierärztin, sodass wir die meisten wieder aufpäppeln können. Nur in ganz schlimmen Fällen…« Philipp schluckte.
Der Junge schien eine ausgesprochen sensible Seele zu sein.
»…kriegen sie eine Spritze«, vollendete Jana den Satz. Sie sagte das ruhig und emotionslos. »Weil es einfach besser für sie ist. Wir wollen kein Tier unnötig leiden lassen.«
»Nein, natürlich nicht«, pflichtete ich ihr bei. »Und ihr habt wirklich nicht den Schimmer einer Ahnung, wer hier bei uns so etwas tun könnte?« Ich hatte den Satz kaum ausgesprochen, als mir auch schon klar war, wie blöd das in den Ohren meiner Gäste klingen musste. »Nein, sonst wäret ihr nicht hier«, schob ich deshalb rasch hinterher.
»Gestern haben Philipp und ich drei Kätzchen gefunden.« Krischan ballte unwillkürlich beide Hände zu Fäusten. »Die waren so mager, dass sie sich kaum auf den Pfoten halten konnten. Die Raubvögel kreisten schon über ihnen.«
»Letzte Woche waren es vier Welpen«, ergänzte Philipp dumpf.
»Einen hat Renate einschläfern müssen«, murmelte Jana.
Ich hob beide Hände.
»Stopp«, befahl ich. »Wir kommen nicht weiter, wenn ihr mir jetzt von jedem einzelnen Drama erzählt. Also, was genau wollt ihr von mir?«
»Wir wollen, dass das aufhört«, sagte Krischan langsam. »Und zwar so schnell wie möglich. Und wir wollen, dass die Leute eine saftige Strafe bekommen. Magst du Hunde, Hanna?«
»Schon, ja«, gab ich vorsichtig zu.
Der Junge wollte mir doch wohl jetzt nicht auf die Tour kommen, die Sekten bei ihren Von-Tür-zu-Tür-Missionierungen bevorzugen? »Sind Sie für das Gute?« Klar, wer ist das nicht. Bis auf ein paar Psychopathen wünscht sich wohl jeder Mensch eine bessere Welt. »Sehen Sie, und in der Bibel steht nichts anderes.« Und schwupps, kriegt man eine auf unterstem Amateurniveau bebilderte Ausgabe des Buches der Bücher in die Hand gedrückt, in der es von glückselig strahlenden, innerlich erleuchteten Menschen nur so wimmelt. Die gucken alle so enthusiasmiert und zugewandt wie dieser geschasste Limburger Badewannenbischof Tebartz-van Elst, den sie vorsichtshalber in den Katakomben des Vatikans entsorgt haben. Och nö. Ich wollte weder in einem der zahlreichen Archive hinter, unter oder neben dem Petersdom verschwinden noch mein aufregendes Leben als Private Eye mit einem Fiffi teilen.
»Du könntest dir einen Hund aussuchen, weil wir doch nichts zahlen können«, bot Krischan auch schon eifrig an.
Immerhin drückte er mir keinen winselnden Welpen in die Hand.
»Danke, nein«, lehnte ich freundlich, aber bestimmt ab. Mir reichten meine Kröten. Die waren zwar nicht direkt etwas fürs Herz, trotzdem liebte ich Gustav, weil wir zusammen aufgewachsen waren. Hannelore nahm ich hingegen eher emotionslos in Kauf. Sie war als Erbstück aus meinem zweiten Fall zu uns gestoßen. Um ehrlich zu sein, hielt ich sie für eine ziemlich hohle Nuss. Dessen ungeachtet schmiss sie niemand aus irgendwelchen Autofenstern, genauso wenig wie Silvia. Und Gustav tat man so etwas schon gar nicht an! Was für eine makabre Vorstellung.
»Ich kümmere mich auch so um euren Fall«, versprach ich. »Ohne Bezahlung, weil ich nämlich ganz eurer Meinung bin. Die Sache gehört abgestellt, und zwar so fix wie möglich.«
»Seht ihr«, triumphierte Krischan, »was habe ich gesagt? Ein geldgeiler Raffzahn ist Hanna wirklich nicht. Da hat Marga recht gehabt.«
Ehe ich auf dieses zweifelhafte Kompliment eingehen konnte, fing Elvis, der King, höchstpersönlich an zu schmettern. Die unverwechselbaren Klänge von »Love Me Tender« füllten meine Hütte, was ich irgendwie rührend fand.
Krischan klaubte rasch das Handy aus seiner ausgebeulten Hosentasche, warf einen Blick aufs Display und seufzte.
»Ach Gott, der alte Paustian. Hat wahrscheinlich schon wieder sein Gebiss geschreddert.« Er zupfte verlegen an seinem Ohrläppchen herum, während er mir einen entschuldigenden Blick zuwarf. »Eigentlich mähe ich nur einmal in der Woche den Rasen bei ihm, aber er mag mich. Deshalb ruft er immer an, wenn etwas anliegt. Er ist ziemlich alt und hat sonst niemanden.« Er sah auf die Uhr. »Aber es ist gleich halb fünf. Da kommt die Schwester vom Pflegedienst, macht ihm Abendbrot und kümmert sich um ihn. Die wird ihm helfen.« Und damit verstaute er das Handy erleichtert wieder in seiner Hosentasche.
»Du bist wirklich ein echter ›Mann für alle Fälle‹, mhm?«, sagte ich und stand auf.
Krischan tat es mir nach. Es gab nichts mehr zu besprechen, bevor ich mir nicht ein paar Gedanken über meinen neuen Fall gemacht hatte. Außerdem wartete Marga bekanntlich mit ihrer »ganz großen Sache« auf mich. Und ich war neugierig, das gebe ich gern zu.
»Die alten Leute nutzen seine Gutmütigkeit manchmal ganz schön aus«, bemerkte Jana und erhob sich ebenfalls. Nur Philipp blieb sitzen.
»Wir haben doch noch gar nichts richtig geklärt«, protestierte er, als wir ihn fragend ansahen. »Ich meine, wir müssten doch besprechen, wie wir nun konkret vorgehen wollen. Ob Hanna uns vielleicht braucht oder so. Wir müssten uns doch so eine Art Falle ausdenken, um–«
»Darüber will Hanna sicher erst einmal allein nachdenken«, meinte Jana bestimmt. »Sie ist der Profi. Und wenn sie einen Plan hat, wird sie uns Bescheid geben. Nun komm schon, Phil, erheb dich.«
Er rührte sich nicht. Stattdessen verschränkte er demonstrativ die Arme vor der Brust. Dem Jungen ging das Schicksal der Tiere wirklich nahe.
»Die Sache duldet meiner Meinung nach keinen Aufschub. Ihr könnt ja abhauen, aber ich würde lieber mit Hanna–«
Ich schüttelte den Kopf.
»Um fünf habe ich einen Termin, Philipp. Tut mir leid.«
»Aber es ist doch erst Viertel vor fünf. Da könnten wir noch schnell–«
»Philipp Alexander Krisoll.« Jana sprach seinen Namen derart drohend aus, dass wir alle drei zusammenzuckten.
Ich musterte die beiden unauffällig. Philipp war blass, Jana hingegen rot. Sie schien vor Wut innerlich regelrecht zu brodeln. Irgendetwas lief da zwischen den beiden, von dem ich keine Ahnung hatte. Und Krischan auch nicht, wie mir sein ratlos hin und her irrender Blick verriet.
Schließlich gab Philipp nach und stand umständlich auf. Dieses Mal war es mein Telefon, das die lastende Stille mit einem schrillen Klingeln unterbrach. Ich zögerte kurz, weil ich spät dran war, dann nahm ich ab. Es konnte sich schließlich stets um einen potenziellen Kunden handeln, der mir den Fall meines einundvierzigeinhalb Jahre langen Lebens antragen wollte.
Es war meine Freundin Marga Schölljahn.
»Wo bleibst du denn, Schätzelchen? Wir sind vollzählig, bis auf dich.«
»Wir hatten fünf gesagt«, erinnerte ich sie. »Ich habe Besuch.«
»Liegst du etwa mit Harry auf der Matratze?«, dröhnte Margas tiefe Stimme gut hörbar durch meine Villa. »Treibt es bloß nicht zu doll. Das ist ungesund im Alter.«
In einer weinseligen schwachen Stunde hatte ich ihr von meinem sommerlichen Trip nach Helgoland erzählt– inklusive meiner Bettfete mit Harry, die das Verhältnis zu meinem alten Freund und Kumpel zwar durchaus verschönt, aber auch verkompliziert hatte.
»Krischan ist hier. Mit seinen Freunden Jana und Philipp«, entgegnete ich, so würdevoll ich es vermochte. »Sie–«
»Krischan?«, echote Marga begeistert. »Na, das trifft sich ja gut. Den hab ich die ganzen letzten Tage nicht zu Gesicht gekriegt. Du kannst ihn gleich mitbringen. Und die anderen beiden auch.«
»Wofür denn, Marga? Ich meine, sollte ich ihnen nicht zumindest eine Andeutung machen können, weshalb sie ihre Zeit–«
»Schätzelchen«, unterbrach sie mich gut gelaunt, »nun halt mal die Luft an und mach nicht alles komplizierter, als es ist. Setzt euch einfach in Bewegung und kommt hoch. Dann werdet ihr schon sehen.«
Und– zack– hatte sie den Hörer auf die Gabel geschmettert. Marga besaß immer noch so ein altes cremefarbenes Tastentelefon mit Schnur, weil sie diese »Funkunterbrechungen« bei schnurlosen Apparaten, Handys und den ganzen ultramodernen Eipötten, wie sie iPhone, iPad und Co. nannte, nicht ausstehen konnte. Trotzdem war ihr Verhalten nicht okay, fand ich. Wir waren keine Rekruten, die der Feldwebel scheuchen konnte, wie es ihm beliebte.
»Ihr habt es gehört«, wandte ich mich an das Trio. »Marga erteilt gern hin und wieder Befehle, die man allerdings nicht befolgen muss. Wenn ihr also keine Lust oder auch keine Zeit habt–«
»Ich komme mit«, unterbrach mich Philipp eifrig.
Krischan lachte.
»Ich auch. Marga ist schon eine echte Nummer. Langweilig ist es mit ihr auf keinen Fall. Ich bin gespannt, was sie jetzt wieder vorhat.«
Das war ich, wie gesagt, ebenfalls. Denn bei meiner Freundin musste man von der Unterwassermission zur Rettung des Ostseeherings bis hin zur Sprengung irgendwelcher Bohrinseln in der Nordsee jederzeit mit allem rechnen.
Wir schauten Jana an. Das Mädchen schwieg, doch ihr Gesichtsausdruck glich einer Gewitterwolke.
»Du brauchst uns nicht zu begleiten«, meinte ich freundlich zu ihr, während wir auf die Tür zustrebten. »Fühle dich durch Margas Art nicht unter Druck gesetzt.«
Aber Jana beachtete mich gar nicht. Stattdessen wanderte ihr finsterer Blick kurz zu Krischan und blieb dann an Philipp hängen.
»Es wird ja hoffentlich nicht allzu lange dauern«, meinte sie knapp, als ich die Tür zuschloss.
Ich registrierte, dass Philipp sich nicht wohl in seiner Haut zu fühlen schien, doch er erwiderte nichts, sondern senkte nur den Kopf. Herrgott, war ich froh, seit Ewigkeiten aus dem Teenager-Liebesgeplänkel-Zeitalter heraus zu sein und mit Harry Gierke eine vernünftige, erwachsene Beziehung zu pflegen. Na ja, vielleicht nicht immer, aber manchmal schon.
Zum Abschied klopfte ich Gustav und Hannelore, die vereint unter dem Salbeibusch dösten und die letzten wärmenden Sonnenstrahlen dieses Jahres genossen, in alter Tradition auf die Panzer. Sie zuckte stets schreckhaft zusammen, er hingegen ignorierte mich schnöselhaft. Dann marschierten wir im Gänsemarsch den schmalen Pfad zum Haupthaus hinauf. Marga wohnte im oberen Stockwerk, in den unteren, kleineren Räumen hauste Krischan. Die beiden anderen Zimmer standen leer, was unserem gemeinsamen Vermieter, dem drei Gehöfte weiter residierenden Bauern Fridjof Plattmann, verständlicherweise gar nicht gefiel. Doch er fand offensichtlich keine Mieter, die seinen Vorstellungen entsprachen. Marga und Krischan war das nur recht.
Als wir an Krischans Wohnungstür vorbeigingen, blieb mein Blick unwillkürlich an dem schiefen, handgemalten Schild unter der Klingel hängen. Bislang hatte ich es nicht zur Kenntnis genommen. »Krischan« stand in riesigen Lettern darauf und darunter– weitaus kleiner– »Christian Langguth«. So hieß er also mit bürgerlichem Namen. Ich hatte es nicht gewusst und mir auch nicht die Mühe gemacht, Marga zu fragen. Krischan war einfach Krischan, das hatte mir bislang gereicht. Ich verspürte den Anflug eines schlechten Gewissens wegen meiner Gleichgültigkeit und meines Desinteresses an dem Jungen.
Obwohl– war ich vielleicht die Mutter Teresa Bokaus, die sich um alle Beladenen und Gestrauchelten zu kümmern hatte? Nö.
Margas Wohnungstür stand weit offen. Lebhaftes Gemurmel und Gelächter schallte uns entgegen. Ich ging voran, das jugendliche Trio folgte.
»Hallo zusammen«, begrüßte uns Marga aufgeräumt, als wir eintraten. »Prima, jetzt sind wir komplett.« Komplett? Außer ihr erblickte ich lediglich Theo Keller, Margas Freund und Kampfgefährten, wenn es um ihr Leib- und Magenthema, die Rettung der Meere, ging. Marga griente mich an. »Die anderen konnten nicht persönlich erscheinen, sind aber in Gedanken bei uns.« Meine Freundin giggelte. »Traute zum Beispiel.«
Aha. Das hätte ich mir ja denken können. Traute war Margas beste Freundin– und zufällig meine Mutter. Die beiden hatten sich bei meinem letzten Fall kennen- und nach diversen Startschwierigkeiten auch schätzen gelernt. Seitdem waren sie ein Herz und eine Seele.
»Nun setzt euch doch erst einmal, Kinder«, forderte uns Marga ungeduldig auf. »Im Stehen besprechen sich solche Sachen nicht gut.«
Wir gehorchten, doch ich verhehle es nicht: Ich wurde immer nervöser. In was hatte ich die drei jungen Leute da bloß hineingezogen? Denn Margas Ideen waren manchmal nicht nur hirnverbrannt und lagen ein bisschen neben der Spur, sie konnten auch gefährlich sein. Da kannte sie nichts.
Nachdem ich Jana und Philipp mit unserer Gastgeberin und Theo bekannt gemacht und wir Platz genommen hatten sowie die Getränkefrage gelöst war– Wasser für alle–, blickte Marga streng in Theos Richtung. Der stand zwar brav wieder auf, räusperte sich gewichtig und lehnte sich mit dem Achtersteven ans Fensterbrett, doch dann verschränkte er die Arme vor der Brust. Die typische Lass-mich-in-Ruhe-Haltung. Oha.
»Ja, also«, begann er vorsichtig, »Marga hat da so eine Idee.«
Exakt das hatte ich befürchtet. Ich linste zu dem Trio hinüber. Krischan und Philipp blickten den älteren Herrn erwartungsvoll an. Die Jungs waren sichtbar ganz Ohr, während Jana immer noch mit etwas zu hadern schien, wie ihre skeptische Miene verriet.
»Wie ihr bestimmt alle wisst, geht es den Meeren dieser Welt nicht gut.«
»Beschissen geht es ihnen«, korrigierte Marga ihn freundlich. »Das trifft es eher.«
Als alter Hase ließ Theo sich nicht aus der Ruhe bringen und beachtete den Einwurf überhaupt nicht.
»Sowohl im Atlantik als auch im Pazifik kreiseln mittlerweile Millionen Tonnen von Müll, den der Mensch produziert hat. Müll, der immer mehr wird, weil niemand etwas unternimmt, und an dem die Tiere qualvoll verenden, weil sie Plastiktüten, Gummilatschen und alte Farbdosen für essbar halten. Die Natur hat ihre Gehirne auf so einen Dreck nicht programmiert.«
»Nee, ganz sicher nicht«, stimmte Krischan inbrünstig zu, was ihm ein beifälliges Nicken von Marga einbrachte.
»Direkt vor unserer Haustür, auf der Ostsee, die eines der am meisten belasteten Meere der Welt ist«, fuhr Theo fort, ohne die beiden zu beachten, »nimmt der Schiffsverkehr immer mehr zu, und die Anrainerstaaten können sich weder auf angemessene Schutzzonen für Tiere und Pflanzen noch auf wirklich vernünftige Fangquoten für die Fischereiindustrie einigen. Alle schauen nur, wie es ihnen kurzfristig– und das heißt in der Regel bis zur nächsten Wahl– in den Kram passt. In der Nordsee ist es hingegen nur noch eine Frage der Zeit, da sind sich alle Experten einig, dass eine der zahlreichen maroden Bohrinseln den Geist aufgibt. Explosionen, Gaslecks und eine weitere Verschmutzung der See mit Öl wären die Folge.«
»Ja, das habe ich auch letztens gelesen«, murmelte Philipp.
Theo nickte.
»Die Menschheit ist ja bereits mehrmals haarscharf an einigen Katastrophen dieser Art vorbeigeschrammt. Denn mit Sicherheitsfragen geht man bei den Betreiberfirmen ziemlich lax um. Sicherheit kostet nun einmal Geld, was man selbstverständlich irgendwo anders gewinnbringender investieren kann. Dort tickt eine Bombe, die in wenigen Jahren garantiert hochgehen wird.« Krischan, Philipp und Jana gaben mit dem heiligen Ernst ihrer jugendlichen Empfindsamkeit Laute der Zustimmung von sich. Theo legte eine Kunstpause ein, bevor er feierlich schloss: »Es ist also allerhöchste Zeit, dass endlich etwas geschieht und Nägel mit Köpfen gemacht werden.«
»Richtig«, bestätigte Krischan kämpferisch.
»Genau«, pflichtete auch Philipp ihm kernig bei.
Jana klopfte mit der Hand auf den Tisch.
Ich enthielt mich einer wie auch immer gearteten Reaktion, weil ich überlegte. Das stimmte ja alles. Theo hatte zweifellos recht. Und trotzdem… Weder war Margas Einpack-Aktion der Schönberger Seebrücke nach dem Vorbild Christos im letzten Herbst mit dem erwünschten Erfolg belohnt worden, noch hatten ihre Einsätze nach dem Modell der somalischen Piratenkollegen am Horn von Afrika im Sommer in dieser Hinsicht viel gebracht. Kurzzeitige Aufmerksamkeit, ja. Aber es hatte in beiden Fällen nicht lange gedauert, bis eine andere mediale Sau durchs Dorf getrieben worden war, die lauter, größer und schriller daherkam. Doch war das wirklich ein ernst zu nehmendes Gegenargument?
»Langer Rede kurzer Sinn: Wir gründen eine Partei.« Margas Wangen leuchteten, als sie ihre Ankündigung mit einem flachen Hieb auf den Tisch unterstrich. »Damit verlassen wir den außerparlamentarischen Bereich und unterwandern das System von innen her.«
Donnerwetter. Die Augen der drei Halbwüchsigen wurden groß und kreisrund.
»Planst du eine Revolution?«, erkundigte ich mich freundlich.
Mit diesem megaveralteten Vokabular lockte man doch heutzutage niemanden mehr hinter dem Ofen vor. Der moderne Mensch dachte in Apps und Flats, versuchte sich zu optimieren, lauschte ergriffen dem Wohlfühlgesummsel der Wellness- und Psycho-Branche und fand Automarken mit dem sinnfreien Zusatz »SX4S-Cross limited« je nach gerade geltender Sprachmode stark, cool oder geil. Der plante im Leben nicht so etwas Unsicheres und Anstrengendes wie eine Revolution.
»Vielleicht nach dem Motto: Alle Macht den Quallen?«, stichelte ich weiter, Margas zunehmend finsteren Gesichtsausdruck souverän ignorierend. Sie ging auf die siebzig zu, und manchmal schien sie mir wie aus der Zeit gefallen. Jana, Philipp und Krischan beobachteten uns ebenso schweigend wie Theo.
»Blödsinn«, fauchte Marga jetzt. »Red nicht so ein dummes Zeug daher, Schätzelchen. Du warst und bleibst ein alter Jammerpott. Aber wenn wir etwas erreichen wollen– und ich will das auf jeden Fall–, dann müssen wir dicke Bretter bohren. Sonst bleibt alles Flickwerk, und die Ozeane gehen mit mir in die Kiste.« Sie beugte sich vor. Den Ausdruck in ihren Augen kannte ich gut. Es war ihr bitterernst. »Wir werden den alten Säcken in den Parlamenten Feuer unterm Steiß machen, du wirst schon sehen. Denen brennt der Pürzel, wenn ich meine erste Rede im Bundestag halte.«
Ich schwieg. Gut, es war in diesem Staat nicht gerade gefährlich, eine Partei zu gründen, doch einen langen Atem, besser einen sehr langen Atem benötigte man schon dafür; einmal ganz abgesehen davon, dass die alten Säcke bis auf wenige Ausnahmen deutlich jünger waren als Marga.
»Und wie wollen Sie sie nennen?«, rettete Philipp die Situation fürs Erste. »Die Partei, meine ich.«
Marga kniff ein Auge zu und lächelte ihn milde an.
»Junge, nun lass das mal mit dem albernen Sie. Wenn wir Partei… äh …genossen und Verbündete werden wollen, sollten wir uns duzen. Ich bin Marga.«
»Philipp«, sagte er und errötete dabei auf eine geradezu niedliche Art und Weise. An Janas Stelle hätte ich ihn auch im Auge behalten.
»Jana.« Die Stimme des Mädchens klang fest.
»Theo.« Freundlich.
»Krischan.« Belustigt.
»Hanna.« Neutral– hoffte ich zumindest. Das Ganze hatte schwer was von einem indianischen Verbrüderungsritual, bevor die Krieger in die Schlacht zogen. Na ja, so daneben war der Vergleich ja auch nicht.
»Das wäre also geklärt«, nahm Marga den Faden wieder auf. »Und du hast natürlich vollkommen recht, Philipp. Der Name einer Partei ist total wichtig. Er muss einprägsam und aussagekräftig sein. Wir sollten–«
»Wie Anima zum Beispiel.« Philipp lachte. »Das hat auch ewig gedauert, bis wir den Namen hatten. Wir haben damals überlegt und überlegt, nicht?« Er blickte zu Krischan und Jana hinüber.
Die beiden nickten bestätigend.
»Bestimmt eine Woche oder sogar noch länger«, murmelte das Mädchen düster.
»Aber es hat sich gelohnt«, meinte Philipp. »Anima, die Seele, das hat doch etwas und drückt genau das aus, wofür wir stehen. Nämlich für–«
»Zweifellos«, sagte Marga, ohne offenkundig auch nur den Hauch einer Ahnung davon zu haben, um was es dabei genau ging. Ich wusste, es war ihr momentan völlig gleichgültig. Sie war total auf ihre Partei fixiert. »Wir sollten uns also überlegen–«
»Nein«, würgte ich sie barsch ab. »Das geht mir zu schnell, Marga. Erst einmal müssen wir uns darüber unterhalten, ob Krischan, Jana und Philipp überhaupt mitmachen wollen. Ihr müsst nämlich nicht«, wandte ich mich an die drei.
Marga starrte mich verdutzt an. Der Gedanke, dass jemand ihrem grandiosen Plan nicht zustimmen könnte, war ihr offenbar noch nicht gekommen, was wiederum typisch für sie war.
»Ich sehe das wie Hanna«, meldete sich nun auch Theo zu Wort. »Wir sollten das wirklich einmal in aller Ruhe durchdiskutieren.«
»Das müssen wir nicht. Ich bin dabei«, sagte Jana. Als sie unsere erstaunten Blicke sah, fuhr sie erklärend fort: »Also, wir hatten das mit der Verschmutzung der Meere gerade in der Schule. In Bio. Und ich finde es wirklich vollkommen verantwortungslos, was die Menschen mit der Erde machen und was sie den Tieren antun. Kompletter Wahnsinn. Deshalb bin ich ja auch bei Anima. Und genau deshalb haben wir Hanna beauftragt…«, sie warf mir ein entschuldigendes Lächeln zu und korrigierte sich hastig, »ich meine natürlich, gebeten, der Sache an der Brücke auf den Grund zu gehen und ihr endlich ein Ende zu bereiten. Tiere sind nämlich keine Wegwerfartikel. Und je eher die Leute das begreifen, desto besser.«
Jetzt sah Marga doch fragend zu mir herüber. Krischan hatte sie augenscheinlich nicht eingeweiht.
»Später«, formte ich mit den Lippen eine lautlose Antwort.
Sie nickte.
»Philipp.« Ich sprach ihn direkt an, weil er dann Farbe bekennen musste. Er zögerte und schielte zu Jana hinüber.
»Du bist ebenfalls Mitglied bei Anima und sitzt in der Schule direkt neben mir, Philipp Krisoll«, erinnerte sie ihn. Es klang ein bisschen spitz. »Hören kannst du gut, und dein Verstand ist auch okay, also stimm zu.«
Jana war eine Klassenkameradin von Philipp? Wie viele Stufen hatte sie denn übersprungen? Egal. Jedenfalls zeigte auch das, wie verdammt tough das Mädchen war. Dagegen waren die beiden langen Kerle an ihrer Seite richtige Weicheier.
»Tue ich ja«, sagte Philipp und seufzte leise. »Ich finde es ja auch wichtig mit dem Schutz der Meere und mit Anima und so. Und mein Vater wird begeistert sein, wenn ich ihm davon berichte. Er hält nämlich rein gar nichts von diesen Couch-Potatoes, die nur abhängen, chillen und die Welt nicht verändern wollen. Deshalb spendet er auch immer für unseren Verein. Weil er es klasse findet, dass ich da mitmache.« Der Junge stieß einen bellenden Ton aus, der nur bei genauem Hinhören wie ein Lachen klang. »Bei jedem Frühstück erzählt er mir, dass man den Aufbau der Zeitungen endlich ändern müsse. Die Politik habe heute gar nicht mehr viel zu sagen, meint er. Deshalb solle die Berichterstattung über sie auch ehrlicherweise von den ersten Seiten verschwinden. Er ist der Auffassung, dass der Wirtschaftsteil an den Anfang gehöre. Das sei viel realistischer im Zeitalter des totalen Kapitalismus und der Globalisierung.« Philipp verzog das Gesicht. »Er findet das alles zum Kotzen, deshalb wird er froh sein, dass ich politisch etwas bewegen will. Außerdem macht es sich natürlich total gut im Lebenslauf. Von wegen außerschulisches Engagement und so. Ja, also ich trete auf jeden Fall bei.«
»Dein Vater scheint ein Mann nach meinem Geschmack zu sein«, brummte Marga.
Ich war mir da nicht so sicher.
»Ja, das ist er bestimmt«, meinte Philipp.
In diesem Moment war der Junge nichts weiter als ein Knirps, der bombenstolz auf seinen Papa war. Denn der war zweifellos der Größte, Beste und Klügste im ganzen Land.
»Und was ist mit dir, Krischan?« Jana klang ungeduldig.
»Och, meinem Alten ist es scheißegal, ob ich mir nun die Nächte unter der Neuschönberger Brücke um die Ohren schlage, den Mistkerlen anschließend die Nase breche und dafür in den Knast wandere oder ob ich bei den Neonazis mitmache und Flüchtlingsheime anzünde«, lautete die grummelige Antwort. Er bemühte sich zwar um einen lässigen Tonfall, doch es gelang ihm nicht. »Der interessiert sich nicht mehr sonderlich für mich, seit meine Eltern geschieden sind und er eine neue Familie hat. Und meine Mutter auch nicht. Die hat kaum Ahnung von meinem Leben, von meinem ›Mann für alle Fälle‹-Job, geschweige denn davon, dass ich bei Anima mitmache und was ich für Überzeugungen habe. ›Ach, du rettest in deiner Freizeit Tiere, Krischi? Das ist aber schön.‹« Seine Stimme war eine Oktave hochgerutscht. »Nein, die ist mit ihrem tollen Robert voll ausgelastet. Das hat den Vorteil, dass ich alles machen kann, was ich will. Ab einem gewissen Alter sind Eltern ja auch nicht mehr so wichtig. Das ist ganz normal. Ich bin jedenfalls dabei.«
»Prima«, sagte Marga herzlich und bedachte mich mit einem Blick der Marke »Siehst du! Was habe ich dir gesagt?«. »Damit ist dann also alles geklärt.«
»Nee«, meinte Theo gemütlich. »Hanna hat sich noch nicht geäußert.«
Alle schauten mich an.
»Äh«, stotterte ich überrumpelt.
»Sehr profund, deine Stellungnahme. Das muss ich schon sagen«, frotzelte Marga. »Wir lauschen, Schätzelchen. Gib deinen Senf dazu. Hier ist nämlich alles freiwillig. Aber bilde dir bloß nicht ein, dass ich auch nur noch einen Ton mit dir rede, wenn du nicht mitmachst. Und deine Mutter auch nicht.«
»Marga«, wies Theo sie nur halb im Scherz zurecht.
»Das ist Erpressung«, gluckste Krischan entzückt. Der Junge fühlte sich in unserer Mitte sichtbar wohl.
»Nicht doch«, widersprach Marga. »Bei uns wird keiner erpresst. Das gehört sich nicht. Aber das Schätzelchen hier braucht manchmal als Entscheidungshilfe einen sanften Tritt in den verlängerten Rücken.«
Ich maß sie mit einem kühlen Blick. Das war frech.
»Wie du gehört hast, habe ich einen neuen Fall, Marga. Und der geht selbstverständlich vor. Aber wenn es meine Zeit erlaubt, werde ich mitmachen«, hörte ich mich blasiert antworten. »Weil es mir um die Sache geht.«
»Na, das war’s dann also erst mal«, meinte Jana nicht nur zu meiner Überraschung und sprang auf. »Philipp und ich müssen los. Kommst du?«
Doch er blieb sitzen. Was immer sie mit ihm vorhatte, es schien nicht sein Ding zu sein.
»Aber wir haben noch keinen Namen«, protestierte auch Krischan.
»Und anstoßen müssen wir auf die neue Partei ebenfalls«, erklärte Marga. »Ist es denn so wichtig? Könnt ihr euren Termin nicht verschieben?«
»Ja«, sagte Philipp.
»Nein«, sagte Jana.
Die beiden blickten sich an. Krieg oder Frieden, das war hier die Frage. Sie prusteten gleichzeitig los, und Jana setzte sich wieder. Marga wies Theo an, die Flasche Sekt, die sie im Kühlschrank für diesen Anlass bereitgelegt hatte, zu öffnen, während sie selbst die Gläser holte. Wenig später prosteten wir uns zu, wobei ich meine Bedenken Janas Alter und den Alkohol betreffend hinunterschluckte. Wie gesagt, das Mädchen wirkte, als wüsste es genau, was es tat.
»Auf Hannas neuen Fall, den sie todsicher bald lösen wird, und auf die neue Partei!«, schmetterte Marga enthusiastisch. »Auf dass wir die alten Säcke in den Parlamenten das Fürchten lehren.«
»Und auf die Säckinnen«, assistierte ich akribisch, nicht einen Moment ahnend, was wir an diesem Nachmittag mit dieser Geburt auslösten. Es war zwar nur ein weiteres, eher kleines Puzzleteil, das das Ganze in seiner Schrecklichkeit befeuerte. Doch ohne die Gründung dieser Partei wäre vielleicht noch so manches zu verhindern gewesen, wäre es möglicherweise nicht so weit gekommen. Aber auch in diesem Moment herrschte in meiner Blase absolute Funkstille, das heißt, ich spürte nichts, rein gar nichts im Urin, der sonst ein zuverlässiger Indikator für drohendes Unheil war. Deshalb setzte ich gut gelaunt hinzu: »Denn von nun an gilt es, immer schön politisch korrekt zu formulieren, sonst können wir uns gleich beerdigen.«
»Und Säckinnen«, wiederholte Marga brav, machte den willigen Eindruck jedoch sofort wieder kaputt, indem sie hinzufügte: »Mann, klingt das bescheuert.«
Die Parteimitglieder begannen in schöner Harmonie zu kichern.
»…möchte ich allen Säckinnen und Säcken draußen im Lande und vor den Bildschirmen daheim ganz herzlich danken, dass sie uns ihr Vertrauen geschenkt und uns ihre Stimme gegeben haben«, krähte Krischan in bestem Politsprech. Sein Sektglas war leer.
»Oh Mann. Depp!«, schrie Philipp ohne Vorwarnung, wobei er mit dem Perlgetränk zu fuchteln begann, dass mir angst und bange wurde. Gut, das mit den Säckinnen und Säcken war nicht sonderlich originell, aber Krischan gleich dafür zu beschimpfen ging ein bisschen zu weit.
»Hör mal, Philipp«, begann ich also.
Aber er nahm überhaupt keine Notiz von mir.
»Depp«, wiederholte er begeistert. »Und wisst ihr, wofür das steht? Nein? Könnt ihr auch nicht. Passt auf!« Und dann sagte er sehr betont: »Die echte Piraten-Partei. Dee Pe Pe.«
»DePP«, murmelte Marga versonnen, während sich ein breites Grinsen auf ihrem Gesicht ausbreitete. »In Großbuchstaben.«
»Bis auf das ›e‹. Genau.« Philipp lachte. »Das wirkt immer noch komisch und erregt gerade deshalb Aufmerksamkeit. Und man kann sich den Namen garantiert merken. Und wenn wir den Leuten erst einmal erklärt haben, worum es uns geht, wird man uns ›echte Piraten‹ immer sofort mit dem Meer und nicht mit diesen Computerfreaks verbinden. Perfekt, wie Anima. Da ist ebenfalls alles drin.«
Er freute sich wie ein Schneekönig über seinen Einfall. Krischan haute ihm anerkennend auf die Schulter, Jana puffte ihn in die Seite und hob den Daumen.
»Ja, der Name hat Witz«, sagte auch Marga, beugte sich vor, nahm Philipps Kopf in beide Hände, zog ihn zu sich heran und versetzte dem Jungen einen Schmatzer auf die Stirn. Philipp war sichtlich gerührt.
»Marga for president!«, brüllte Krischan.
ZWEI
Am nächsten Morgen beschloss ich, mich mit einem kräftigen Frühstück bei unserem Bäcker Matulke zu stärken, bevor ich mich um meinen neuen Fall kümmerte und mit der gezielten Fragerei begann. Denn das war zweifellos der erste Schritt, um diesem widerlichen Treiben an der Brücke ein Ende zu setzen. Was waren das bloß für Menschen, die nichts dabei fanden, ein Lebewesen wie Müll zu entsorgen? Oder schlimmer noch– genossen sie es vielleicht sogar, den Herrscher über Leben und Tod zu spielen, und fühlten sie sich dabei so ein bisschen wie die römischen Kaiser im Kolosseum, die in ihrer Loge zwischen gebratenen Schnepfenbrüstchen und Unmengen von Wein gelangweilt den Daumen senkten, wenn ihnen ein Gladiator nicht gefiel?
Kopfschüttelnd holte ich mein betagtes Velo aus dem Schuppen und schob es zum Haupthaus hinauf, denn erstens war das Wetter warm und sonnig. Wir hatten Ostwind, und nur ein paar Wölkchen huschten über den ansonsten blauen Himmel. Und zweitens orientierte sich Matulkes Frühstück noch an jener Zeit, als die Dorfbevölkerung kollektiv auf dem Acker malochte, Alarmvokabeln wie Cholesterin und Blutzuckerwerte Fremdwörter für den medizinischen Laien waren und sich Firmen wie die FettKillerKompagnie die Zähne am Essverhalten der Eingeborenen ausgebissen hätten.
Oben bei Marga standen alle Fenster weit offen, und Töne quollen heraus. Anders kann man es nicht nennen. Ihr sängerisches Können lag irgendwo zwischen einer laufenden Kreissäge und einer knarrenden Tür. Trotzdem meinte ich so etwas wie »La donna è mobile« herauszuhören. Es wunderte mich nicht die Bohne, dass ein verschreckter Starenschwarm das Haus weiträumig umflog. Vielleicht sah meine Freundin sich ja bereits als eine Art Superministerin in einem neu geschaffenen Ministerium zum Schutz von Plankton, Pinguin und Pottwal mit einem satten Stimmenanteil von fünfundsechzig Komma drei Prozent bei der Sonntagsfrage. DePP als Volksbewegung, während bei den etablierten Parteien mehr und mehr die Lichter ausgingen.
Marga war eben eine unverbesserliche Optimistin. Noch sah ich allerdings niemanden von uns in irgendeiner Talkshow sitzen und den Leuten mit staatstragenden Binsenweisheiten die Ohren zukleistern.
Ich schwang mich aufs Rad und strampelte los. Der alte Gehrmann hing wie immer in den wärmeren Monaten über der Gartenpforte, und ich hob grüßend die Hand. Man kennt sich in Bokau, was bei etwa dreihundert Einwohnern kein echtes Wunder ist. Das Dorf besitzt eine Hauptstraße, Inge Schiefers Restaurant, Matulkes Bäckerei und ein Neubaugebiet, das niemanden architektonisch vom Hocker reißt. Das war’s im Großen und Ganzen. Nach hypermodernen Villen mit viel Stahl und noch mehr Glas sucht man bei uns vergebens. Dafür wohnen hier keine Leute, die die Gartenzwerge durch liegende, lächelnde oder sinnende Baumarkt-Buddhas ersetzen und sich deshalb tierisch plietsch bis intellektuell vorkommen. Bei uns bevölkern Plastikrehe und gefällige bis kitschige Vogeltränken die Vorgärten, wie es sich für ein stinknormales Dorf inmitten des ländlich-sittlichen Schleswig-Holsteins gehört.
Ich schwitzte und hatte mindestens gefühlte tausend Kalorien verbrannt, als ich mein Rad vor dem Bäckerladen abstellte. Deshalb bestellte ich ohne den Anflug eines schlechten Gewissens bei Edith das große Frühstück mit allem Pipapo. Sie ließ mich in Ruhe essen und nachdenken. Wie lange Jana und Philipp wohl schon was miteinander hatten? Und wie hieß doch gleich die neue Vorsitzende von Anima? Ach ja, Wurz, wie der Furz, das war eigentlich leicht zu merken. Und so verspachtelte ich nach und nach drei Scheiben Räucherlachs, zwei Eier, ein bisschen Schinken, eine köstliche selbst gemachte Orangenmarmelade, zwei Tomaten und eine Scheibe Käse, verteilt auf drei Brötchen. Samt einer Kanne Tee.
Einmal im Monat, da hatte ich eine Vereinbarung mit mir selbst getroffen, durfte ich mir so eine Orgie leisten, ohne dass der Hosenbund gesprengt, die Adern verklebt oder– am allerwichtigsten– meine Fitness als Privatdetektivin beeinträchtigt wurde.
Die Räume von Anima befanden sich gleich um die Ecke, in einem alten Schuppen, der ganz hinten auf einem riesigen Grundstück stand. Das dazugehörige Bauernhaus sah verlottert aus und gehörte einer im Dorf nicht sehr beliebten, weil mit einem bitterbösen Mundwerk ausgestatteten Witwe, die dort mit ihrer hochbetagten Mutter wohnte.
Die alte Dame sei ebenfalls »eine olle Spinatwachtel«, hatte Edith mir mitgeteilt, als ich sie unauffällig zwischen Tomate und Tee über die beiden Frauen ausgeholt hatte. Sie habe an allem etwas zu meckern, und die Tochter tue ihr deshalb trotzdem ein bisschen leid. Andererseits beteiligten sich die Bathuns überhaupt nicht am sozialen dörflichen Leben, sondern blieben lieber für sich. Was nicht nur in Bokau als unverzeihlicher Fehler und keineswegs als lässliche Sünde gilt.
Ich umrundete das Haus, das viel zu groß für zwei Personen war, so vorsichtig, als befände ich mich auf dem Kriegspfad. Das isolierte Gespann besaß sicher einen Hund, und wenn der auf mich zustürzte, um sich völlig enthemmt in meiner Wade zu verbeißen, weil er dies für seine Pflicht als Hüter von Haus und Hof hielt, wollte ich gewappnet sein.
»Was machen Sie hier?«
Die Frage traf mich wie ein Schuss. Ich blieb verdattert stehen. Eine kleine, verschrumpelte Frau war aus dem Garten getreten und versperrte mir den Weg. Sie war so alt, dass sie nur noch aus Haut und Knochen bestand und ihr Schädel mit den dünnen weißen Haaren wie ein Totenkopf wirkte. Nur ihre Augen funkelten giftig und ließen keinen Zweifel daran, dass dieses Persönchen lebte. Und wie.
»Das ist Privatbesitz.«
»Ich möchte zu Anima.«
»Dort hinten.« Sie deutete mit einem gichtigen Finger auf den Schuppen in ihrem Rücken. »Die Wurz ist da. Und der Junge auch.«
Das klang entschieden missbilligend. Ob die Tochter Mutti nicht gefragt hatte, als sie den Schuppen an die Tierschützer vermietete? Ich betrachtete die Greisin näher. Die Frau musste mindestens hundert sein, wenn nicht sogar hundertzehn. Dann war die Tochter so um die sechzig bis siebzig– und hatte bei jedem Pups immer noch bei Mama zu fragen?
»Danke, ich finde den Weg allein«, sagte ich barsch.
Und damit war unser Verhältnis ein für alle Mal geklärt. Ich mochte sie nicht, und sie mochte mich nicht. Sie machte keinerlei Anstalten, zur Seite zu treten, als ich mein Rad an ihr vorbeischob und sie fast mit dem Lenker touchierte.
Die Tür des Schuppens stand offen, trotzdem klopfte ich höflich an den wurmstichigen Holzrahmen, bevor ich eintrat. Im Dämmerlicht erkannte ich Krischan, der sich angeregt mit einer rustikal gewandeten Frau unterhielt. Die beiden saßen an einem schiefen Tisch auf zwei wackeligen Klappstühlen. Ansonsten war der Raum leer.
»Hanna!«, rief der Junge überrascht und sprang auf, als er mich sah. Hinter einer zweiten Tür, die in seinem Rücken lag, erklang ein Geräusch, das ich nicht sofort zuordnen konnte. Erst bei genauerem Hinhören identifizierte ich es als eine Mischung aus Bellen, Wimmern und Heulen. Dort waren also die bedauernswerten Tiere untergebracht.
»Moin zusammen«, grüßte ich.
Die gummistiefelbewehrte Frau in der nicht ganz sauberen Latzhose verzog keine Miene. Ich schätzte sie auf Mitte fünfzig. Renate Wurz zweifellos.
»So schnell haben wir dich nicht erwartet«, stieß Krischan hervor und rang die Hände. Du meine Güte, war der Junge ein nervöses Hemd. »Aber es ist natürlich supertoll, dass du gleich kommst. Das ist Renate, also Dr.Wurz, unsere Chefin und Tierärztin. Sie muss gleich los.«
Das erklärte natürlich ihr Äußeres. Denn im Ballkleid oder auch nur in frisch gewaschenen Normalklamotten zu einer ferkelnden Sau oder einem magenkranken Pferd zu eilen machte wenig Sinn. Renate Wurz erhob sich. Ein Begrüßungslächeln sparte sie sich zwar, doch ihr Händedruck war fest und angenehm. Richard, der Dauerheld meiner Schmalzheimer, wäre zweifellos vor Neid erblasst.
Um das Eis zu brechen, erwog ich einen flüchtigen Moment ernsthaft, ihr von der liebreizenden Camilla zu erzählen, die ich am Anfang jeder Sülzlette immer so nenne, bevor ich ihr und Richard im letzten Arbeitsgang einen individuellen Namen verpasse, doch dann entschied ich mich dagegen. Frau Dr.Wurz schien mir nicht der Typ Frau zu sein, dem das Leben einsam, öd und leer vorkommt, nur weil George Clooney wieder unter der Haube ist.
»Sie sind die Privatdetektivin.«
Ihre Stimme war hell, fast ein bisschen quiekig, und es war keine Frage, sondern eine Feststellung. »Krischan hat mir von Ihnen erzählt.« Sie zog eine Schnute und ähnelte in diesem Moment auf teuflische Weise einer empörten Maus. »Damit Sie es gleich wissen: Ich war dagegen, Sie zu konsultieren. Wir hätten es auch allein geschafft. Aber jetzt sind Sie nun mal da. Also, was wollen Sie von mir?«
Kein Gelaber, kein Drumherum, sondern Sätze wie Peitschenhiebe, das schien das Wurz’sche Markenzeichen zu sein. Auf der anderen Seite war natürlich mit lahmenden Pferden, kalbenden Kühen und schlecht gelaunten Ebern nicht gut zu diskutieren. Trotzdem hätte sie einen Tick netter sein können, fand ich. Schließlich wollte ich helfen und verlangte noch nicht einmal Geld dafür.
»Zunächst benötige ich so viele Informationen wie möglich, um eine sachgerechte Strategie entwickeln zu können«, gab ich hochtrabend zurück.
Krischan fasste in seine Hosentasche und beförderte ein Riesentrumm von Taschentuch heraus, um sich damit geräuschvoll die Nase zu putzen. Frau Doktor deutete ein gnädiges Nicken an.
»Das leuchtet ein. Schießen Sie los.«
Bumm, bumm, bumm. Ob ich der Dame bei Gelegenheit einmal beipulen sollte, dass ich kein tierischer Patient war, sondern ein Mensch mit Sprachgefühl und Verstand? Krischan schob mir hastig seinen Stuhl hin und lehnte sich gegen die Wand. Ich setzte mich.
»Sie hegen keinerlei konkreten Verdacht?«, fing ich an, als in Krischans Hose Elvis »Love Me Tender« zu singen begann. Der Junge grimassierte kurz entschuldigend in unsere Richtung, nahm das Gespräch dann jedoch an.
»Ah, Frau Starncke. Was…? Keine Sorge, das kriegen wir hin«, hörten wir ihn beruhigend murmeln, bevor er hinausging und die Tür hinter sich schloss.
»Nein«, sagte die Wurz und schaute mich dabei so unbewegt an, als sei ich ein Versuchstier in einem Labor, dem sie irgendetwas gespritzt hatte, um zu sehen, ob es von dem Chemiecocktail einen Herzkasper bekam. »In diesem Fall hätte ich ihn geäußert und natürlich etwas unternommen.«
Natürlich, wie dumm von mir. Ich blieb jedoch eisern höflich, was allerdings nicht nur an meiner heroischen Selbstbeherrschung, sondern auch an dem Matulke’schen Frühstück lag. Mit drei Kilo Brötchen im Magen regt sich niemand so leicht auf.
»Ist Ihnen vielleicht eine Regelmäßigkeit aufgefallen? Werden die Tiere zum Beispiel nur an bestimmten Tagen von der Brücke geworfen?«, bohrte ich weiter, als sich die Tür öffnete und Krischan wieder erschien.
Er hatte meine Worte gehört.
»Du meinst, wir suchen Typen, die Donnerstagabend freihaben?«, fragte er eifrig. »Oder hier irgendwo im Schichtdienst arbeiten und deshalb jeden Montagvormittag über die Brücke fahren?«