Den letzten Weg in Würde gehen - Henry Fersko-Weiss - E-Book

Den letzten Weg in Würde gehen E-Book

Henry Fersko-Weiss

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Beschreibung

Ein Meilenstein in der Sterbebegleitung Der Tod ist wie ein dunkles und schmerzhaftes Geheimnis – er fordert uns heraus und zeigt uns unsere Verletzlichkeit. Doch wenn wir ihm ehrlich begegnen, kann er sowohl für Sterbende als auch für die, die sie begleiten, ein Geschenk werden. Henry Fersko-Weiss schildert einen neuen Weg in der Sterbebegleitung: den Weg der Doula. Eine Doula, ursprünglich ein Begriff aus der Geburtsvorbereitung, bietet Sterbenden, Angehörigen und Pflegenden emotionale und spirituelle Unterstützung – angefangen bei der Planung der letzten Tage über hilfreiche Fertigkeiten wie aktives Zuhören bis zur Gestaltung einer Rund-um-die-Uhr-Begleitung. Mit inspirierenden Erzählungen und praktischen Anleitungen ist dieser Ratgeber unverzichtbar für alle, die Sterbende auf ihrer letzten Reise begleiten. Ein Buch nicht nur über den Tod, sondern vor allem über das Leben.

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Die US-amerikanische Ausgabe dieses Buches erschien 2017 unter dem Originaltitel Caring for the Dying: The DOULA APPROACH to a MEANINGFUL DEATH bei Conari Press, an imprint of Red Wheel/Weiser, LLC, Newburyport, USA.

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eBook-Ausgabe 2018

© 2017 by Henry Fersko-Weiss

© der deutschsprachigen Ausgabe 2018

Scorpio Verlag GmbH & Co. KG, München

Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München

Umschlagmotiv: © Pingwin/istock/thinkstock

Layout und Satz: Danai Afrati & Robert Gigler, München

Konvertierung: Bookwire

ePub-ISBN: 978-3-95803-226-2

Das eBook einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Nutzer verpflichtet sich, die Urheberrechte anzuerkennen und einzuhalten.

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HENRY FERSKO-WEISS

Den letzten Weg in Würde gehen

Ein neuer Weg in derSterbebegleitung

Aus dem Englischen von Jochen Lehner

Für alle Verstorbenen und ihre Familien, die mich auf einem der intimsten und persönlichsten Wege des Lebens mit sich haben gehen lassen. Ich habe es als große Freude und Bereicherung erlebt, euch dienen und von euch lernen zu können. Ihr habt mein Leben verwandelt und ihm einen Sinn gegeben. Ich hoffe, dieses Buch wird eurem Leben und Sterben gerecht und kann durch euer Beispiel vielen anderen den tiefen Sinn und Trost schenken, den der Doula*-Weg der Sterbebegleitung vermittelt.

*Der aus dem Altgriechischen stammende Begriff doula, der so viel wie »Dienerin« oder »Magd« bedeutet, bezeichnet ursprünglich eine Geburtsbegleiterin, das heißt »eine Frau, die einer werdenden Mutter vor, während und nach der Geburt als emotionale und physische Begleiterin zur Seite steht« (Stichwort »Doula« in Wikipedia). Näheres unter https://doulas-in-deutschland.de.

Seit einigen Jahren wird der Begriff zunehmend auch im deutschen Sprachraum für – männliche wie weibliche – Sterbebegleiter verwendet. Der besseren Lesbarkeit wegen heißt es im Folgenden jeweils stellvertretend für beide Geschlechter der Sterbebegleiter bzw. die Doula, wenn es allgemein um Themen der Sterbebegleitung geht. Bei den konkreten Beispielen dagegen heißt es je nachdem der bzw. die Doula oder der Sterbegleiter bzw. die Sterbebegleiterin. (Anm. d. Übers.)

Inhalt

Vorwort

1. Eine Geschichte zweier Tode

2. Der Doula-Ansatz der Sterbebegleitung

3. Sterbe- und Todesmythen

4. Ehrlichkeit am Lebensende

5. Aktives Zuhören

6. Lebensrückblick und Sinnfindung

7. Die Vermächtnisarbeit

8. Die Planung der letzten Tage

9. Visualisationen

10. Rituale

11. Die Sterbewache

12. Verarbeitung und Trauer

Nachwort

Dank

Vorwort

Der Tod ist wie ein dunkles, schmerzliches Geheimnis, das wir gern im Verborgenen halten würden. Beim Gedanken an den Tod fühlen wir uns oft schutzlos und ausgeliefert. Dagegen wähnen wir uns einigermaßen in Sicherheit, solange wir nicht an den Tod denken, als könnten wir uns damit vor der Tatsache unserer Sterblichkeit, der Unvermeidlichkeit des Todes bewahren.

Unser westliches Gesundheitssystem verbündet sich hier insgeheim mit uns, es versteckt den Tod in Hospitälern und Altenheimen und erlaubt uns so, das Thema »totzuschweigen«. Um die 70 Prozent aller Sterbefälle ereignen sich nach wie vor in der sterilen, unpersönlichen Umgebung eines Krankhauses oder einer Pflegestation. Und etwa ein Viertel dieser Menschen stirbt, an diversen Tropfflaschen hängend, im Gepiepse der Überwachungsapparaturen auf Intensivstationen. Medienberichte zur medizinischen Forschung und zu wissenschaftlichen Durchbrüchen, die neue Behandlungsmethoden versprechen, lassen uns glauben, es könnten jederzeit neue Heilverfahren für selbst die schlimmsten Krankheiten gefunden oder entwickelt werden. Ein Beispiel für extreme Realitätsblindheit auf diesem Gebiet ist der amerikanische Arzt, der ein Preisgeld von einer Million Dollar für denjenigen aussetzte, dem es gelingt, »den Code des Lebens zu knacken« und den Tod endgültig zu besiegen.

Unsere kollektive Todesangst ist so stark, und unsere Abwehrstrategien funktionieren so gut, dass wir bei der Diagnose einer tödlichen Krankheit meist völlig unvorbereitet sind und uns in einer Hoffnungs-Seifenblase zu verstecken versuchen: Vielleicht bleibt uns ja doch noch mehr Zeit, vielleicht kommt es zu einer Spontanremission oder noch rechtzeitig zu einem medizinischen Durchbruch. Viele Ärzte unterstützen solche Illusionen, indem sie nicht über das Sterben sprechen, und zwar weit über den Zeitpunkt hinaus, bis zu dem noch Hoffnung besteht. Sie haben im Studium nicht gelernt, wie sie das Gespräch auf andere Hoffnungen lenken sollen, die den Umständen gemäß wären. Und sie wissen nicht, wie sie mit den Gefühlsausbrüchen umgehen sollen, die mit einer klar geäußerten realistischen Einschätzung der Erkrankung und ihres voraussichtlichen Verlaufs verbunden sein könnten. Sogar bei offensichtlich tödlichem Krankheitsverlauf und rapidem Verfall der Körperfunktionen klammern sich der Kranke und seine Familie weiterhin an das Nichtwahrhabenwollen. Sie konzentrieren sich auf Symptome und deren Behandlung, versuchen, stets positiv zu denken und eine Art Normalität aufrechtzuerhalten.

In diesem Unvermögen, den Tod anzunehmen, bleibt der Austausch zwischen den Sterbenden und ihren Lieben oberflächlich und irgendwie kraftlos. Alle Chancen, der Frage nach dem Sinn des Lebens nachzugehen, bleiben ungenutzt. Gefühle werden nicht angesprochen, Wünsche bleiben unerfüllt. So wird das Sterben ein unaufhaltsamer Niedergang, bei dem Angst und Erschöpfung das Bild bestimmen, da die Familien nicht selten mit der Pflege und Versorgung ihrer Kranken überfordert und sich nicht einmal sicher sind, ob sie überhaupt das Richtige tun. In die Leere und erdrückende Traurigkeit nach dem Tod des Angehörigen mischen sich Schuldgefühle: Haben wir zu lange geschwiegen und so getan, als wäre nichts?

Dabei muss das Sterben nicht derart trostlos und für alle Beteiligten quälend sein. Unsere Zeit erlebt hier ein Umdenken hin dazu, den Sterbenden und ihren Lieben Mut zu machen, sich ihren Ängsten zu stellen, die Mauern des Verschweigens einzureißen und sich auf eine offene Auseinandersetzung mit Tod und Sterben einzulassen.

Die Kruste des Leugnens und Ausweichens, die uns keine direkte Auseinandersetzung mit dem Tod erlaubt, soll aufgebrochen werden. Aber es geht noch weiter. Darüber hinaus sollen die Menschen Gelegenheit bekommen, nach dem Sinn des Lebens zu fragen und ihre Antworten darauf als Erinnerungsbücher, Videos, Schriftrollen oder auch als Schmuckschachteln zu gestalten, die besondere Geschichten oder Gegenstände enthalten. So kann sich ein Gefühl von Heiligkeit mit dem Sterbeprozess verbinden, und die Menschen können sichtbar machen, wie sie sich ihre Umgebung für die letzten Tage ihres Lebens wünschen. Vielleicht entstehen dabei auch Ideen zu Ritualen, die in diesen letzten Tagen tiefen Sinn zu stiften vermögen. Und es wird vermittelt, wie tröstend geführte Visualisationen, Berührungen und Musik in dieser Zeit wirken können.

Und schließlich können die Hinterbliebenen im Rahmen dieses neuen Ansatzes lernen, den Tod ihres Angehörigen anschließend zu verarbeiten und die Gedanken und Bilder neu einzuordnen, die sie womöglich im Wachzustand wie im Traum verfolgen. Es versteht sich fast von selbst, dass der Kranke und seine Familie den Sterbeprozess auf diese Weise besser in ihrem Sinne gestalten können.

Was ich hier jetzt grob umrissen habe, können Sterbende und ihre Familien lernen und auf mancherlei Art in den Prozess einbeziehen. Den Anstoß für diesen Ansatz gab die Arbeit, die Geburts-Doulas oder Geburtsbegleiterinnen für Schwangere und Gebärende leisten. Inzwischen finden sich immer mehr Menschen bereit, Sterbende und ihre Familien durch die »Wehen« des Sterbeprozesses zu begleiten. Sie werden als Lebensende-Doulas, Sterbe-Doulas oder Sterbeammen bezeichnet. Ähnlich den Geburts-Doulas begleiten Sterbe-Doulas die Sterbenden und ihre Familien durch den gesamten Prozess. Sie helfen bei der Planung für die letzten Lebenstage und unterstützen die Menschen emotional, spirituell, aber auch ganz praktisch, und betreuen schließlich die Angehörigen auch nach dem Tod weiter.

Meine Arbeit als Sterbe-Doula begann 2003 mit der Einrichtung des ersten vom Hospiz-Gedanken getragenen Lebensende-Doula-Programms in den Vereinigten Staaten. Ich war damals erst sechs Jahre als Hospiz-Sozialarbeiter tätig gewesen. Nach vier Jahren als ehrenamtlicher Hospizhelfer und einer Hochschulausbildung zum Sozialarbeiter spezialisierte ich mich erst mit Ende vierzig auf die Arbeit mit Sterbenden und Trauernden, nachdem ich erkannt hatte, dass ich mich aufgrund meiner bisherigen Erfahrungen zu dieser Tätigkeit berufen fühlte.

Immer wieder wurde ich bei meiner Arbeit für Schwerkranke und ihre Familien in einem großen New Yorker Hospiz Zeuge von Sterbeprozessen, die ich als nicht ideal empfand. Mal wurde jemand Hals über Kopf in die Klinik gefahren, obwohl er oder sie lieber zu Hause gestorben wäre. Eheleute verschliefen den Tod ihres Partners im Nebenzimmer, weil sie von der Pflege vollkommen erschöpft waren oder die Anzeichen des nahenden Todes nicht erkannten. Erwachsene Kinder wurden häufig nicht zum sterbenden Elternteil gerufen, weil bezahlte Pflegekräfte sie vor der angeblich schmerzlichen Erfahrung bewahren wollten, Zeugen der letzten Atemzüge ihrer Lieben zu werden. Ich könnte viele weitere Beispiele dafür anführen, wie sinnentleert das Ende eines Lebens für alle Betroffenen sein kann und wie das den Hinterbliebenen den inneren Frieden raubt, weil selbst in der aufgeklärten Hospiz-Atmosphäre niemand wusste, wie man sich angemessen auf den Tod vorbereitet.

Mir machte die Beobachtung dieser unseligen Tode schwer zu schaffen, und ich überlegte, wie ich als Sozialarbeiter bessere Arbeit leisten oder zusammen mit der Hospizleitung eine andere Form des Umgangs mit Sterbenden erarbeiten konnte. Es war nicht so, dass man in der Verwaltung nicht um diese Dinge gewusst oder Veränderungen gescheut hätte. Aber der ganze Aufbau der Hospizarbeit und die Logistik der häuslichen Versorgung so vieler über die ganze Stadt verteilter Menschen ließen einfach die Art der Zuwendung nicht zu, die uns allen vorschwebte.

In dieser Zeit, Anfang 2003, hatte ich eine Freundin, die ihre Promotion in Anthropologie abbrach, um Geburtsbegleiterin zu werden. Sie hatte eine akademische Laufbahn angestrebt, stellte jetzt aber fest, dass sie lieber ganz direkt mit Menschen arbeiten wollte, um ihnen ein anderes Geburtserlebnis zu ermöglichen. Als sie mir von den Lerninhalten dieser Ausbildung und von ihrem Umgang mit Schwangeren und Gebärenden erzählte, ging mir auf, dass die Tätigkeit einer Geburts-Doula ganz gut als Vorbild auch für die Versorgung am Lebensende dienen konnte. Geburt und Tod haben so viel miteinander gemein, dass man die Philosophie und sogar die Verfahren und Techniken der Geburtsvorbereitung relativ mühelos für die Betreuung am Lebensende abwandeln kann. Schließlich absolvierte ich selbst die Ausbildung zum Geburtsbegleiter. Ich wollte genau wissen, was man da lernte, um es dann so anpassen zu können, dass es sich für die Sterbebegleitung eignete.

Ich recherchierte eingehend, ob nicht schon andere auf diesen Gedanken gekommen waren, und fand heraus, dass tatsächlich noch niemand diesen Ansatz ausprobiert hatte. Ich erörterte die Idee mit der Leiterin meines Hospizes und konnte mit ihrem Segen ein Doula-Programm für werdende Sterbebegleiter aufbauen. Mein erster Kurs, den ich Ende 2003 gab, hatte siebzehn Teilnehmer. Schon im folgenden Jahr waren wir die ersten Sterbe-Doulas in den Vereinigten Staaten, die Menschen in den letzten Tagen ihres Lebens Begleitung und Hilfe boten. Seitdem habe ich mit Hunderten Sterbenden gearbeitet und an die zweitausend Menschen ausgebildet, die entweder als Sterbebegleiter arbeiten oder einfach für Angehörige, Freunde und andere in ihrer näheren Umgebung bereitstehen wollten. Die Geschichten, die ich hier erzähle, stammen aus diesen Jahren der zunehmenden Erfahrung.

Es mag sein, dass die ganze Fülle dieses Ansatzes am besten in der Arbeit von speziell ausgebildeten Doulas zum Ausdruck kommt, aber grundsätzlich kann sich jeder die Prinzipien und Techniken aneignen. Dieses Buch möchte die Grundzüge eines neuen Umgangs mit dem Sterben vermitteln und zugleich den Geist spürbar machen, der in den hier wiedergegebenen Geschichten zum Tragen kommt. Wer jedoch auch außerhalb des Freundes- und Familienkreises als Sterbe-Doula wirken möchte, braucht dazu eine entsprechende Ausbildung. Natürlich gilt auch für alle, die lediglich im engeren Kreis vertrauter Menschen in diesem Sinne aktiv werden möchten, dass die Ausbildung zum Sterbebegleiter ihr Wissen vertiefen und ihr Können erweitern würde.

Dieses Buch wird Sie nicht nur mit dem Doula-Weg der Sterbebegleitung vertraut machen, sondern Ihnen hoffentlich auch vermitteln, dass Sie den Tod nicht fürchten müssen. Sie können sich so auf das Ende Ihres Lebens oder des Lebens eines geliebten Menschen vorbereiten, dass es ein tiefes und zugleich sinnhaftes Erlebnis wird.

Ich wünsche Ihnen alles Gute für Ihre persönliche Reise zu einem angstfreien Umgang mit Sterben und Tod.

Ihr

Henry Fersko-Weiss

1. Eine Geschichte zweier Tode

»Nicht dass ich Angst hätte zu sterben – ich möchte nur nicht dabei sein, wenn es passiert.« Mit dieser witzigen und pointierten Bemerkung bringt der US-amerikanische Regisseur Woody Allen auf einen kurzen Nenner, was sicher viele Menschen empfinden: Nicht der Tod selbst schreckt uns, sondern das Sterben. Und das ist nur zu berechtigt. Wir haben es im Westen zwar geschafft, das Sterben hinauszuzögern – aber nicht so, dass uns mehr sinnerfüllte Zeit bliebe, sondern auf eine Art, die meist nur unsere Leiden verlängert und unsere Würde untergräbt. Natürlich wollen wir dann nicht dabei sein, wenn wir sterben. Hinter Allens Pointe steht die bittere Wahrheit von Schmerz und Leid.

Das muss aber nicht so sein. Die folgenden beiden Geschichten zeigen, wie unterschiedlich die Erfahrung des Todes sein kann. Zuerst die traurige Geschichte von Sam, die uns beispielhaft vor Augen führt, wie auch heute noch viel zu viele Menschen sterben. Und nachfolgend die von seiner Frau Gloria, die sechs Jahre nach ihm, aber ganz anders starb. Ihr Tod steht für eine neue Art zu sterben, die tiefen Sinn offenbart und im vollendeten Frieden der letzten Tage gipfelt.

Bei Sam wurde kurz nach seinem siebzigsten Geburtstag Zungenkrebs festgestellt. Seitlich unter der Zunge spürte er etwas wie einen verhakten Speiserest oder ein Bläschen. Das verging aber nicht wieder, sondern wurde immer schlimmer. Schließlich ging Sam zum Arzt, der eine Gewebeprobe nahm, und dann stand die Krebsdiagnose schnell fest.

Über zwölf Jahre kämpfte er gegen die Krankheit an. Er bekam Chemotherapie und Bestrahlungen, um dann zu alternativen Behandlungsansätzen überzugehen, für die er mehrmals nach Deutschland reiste. Zeitweise verlangsamte sich der Krankheitsverlauf, doch zuletzt wurde der Krebs immer aggressiver und war durch nichts mehr aufzuhalten.

Gegen Ende ließ sich Sam von seiner Frau und dem Arzt zu einem Luftröhrenschnitt überreden; das Wachstum des Tumors machte die Maßnahme erforderlich. Danach war ihm das Sprechen sehr unangenehm und mühsam, und er war oft schwer zu verstehen. Außerdem konnte er nur noch über eine Sonde ernährt werden, was Tag für Tag langwierige und umständliche Prozeduren mit sich brachte. Es ging in Sams Leben zunehmend um die für das Überleben notwendigen Grundfunktionen, und da blieb nicht viel Raum für Sinn oder gar Freude.

Dann kam der Vormittag, an dem wie üblich die Angestellte des privaten Pflegedienstes erschien, um Sam zu waschen und anzukleiden, aber feststellen musste, dass er nicht ansprechbar war. Auf ihr Drängen rief seine Frau den Notarzt, und Sam wurde sofort in die Notaufnahme der nächsten Klinik gebracht. Während der Arzt einige Untersuchungen vornahm, rutschte Sam immer tiefer ins Koma. Am Abend sprach der Arzt kurz mit Sams Frau Gloria. Er teilte ihr mit, er sehe nur eine letzte Chance, nämlich einen riskanten chirurgischen Eingriff, der vielleicht die vom Tumor ausgelöste innere Blutung eindämmen konnte. Gloria hatte zwölf Stunden in der überfüllten Notaufnahme gewartet und ließ sich von der Schwester überreden, nach Hause zu gehen und sich ein wenig auszuruhen. Die Operation war für den nächsten Morgen angesetzt, dann solle sie wiederkommen.

Im Laufe der Nacht wurden weitere Notfallpatienten aufgenommen, und eine Helferin schob Sam auf den Gang. In den Morgenstunden wurde er schließlich in einem regulären Zimmer untergebracht, in dem ein weiterer Patient lag, der vor Schmerzen laut stöhnte. Als die Tagesschwester um sieben ihren Rundgang machte, sah sie sich ihren neuen Patienten an und stellte fest, dass seine Lebenszeichen ziemlich schwach waren. Sie aktualisierte sein Krankenblatt und setzte dann ihre Runde fort.

Sams Frau kam gegen acht, da die Operation um halb neun stattfinden sollte und sie ihn vorher noch sehen wollte. Als sie den Vorhang zwischen den beiden Krankenbetten zurückzog, sah sie gleich, dass Sam nicht mehr lebte.

Der letzte Tag in Sams Leben verging mit sinnlosen Tests, vorgenommen von einem Arzt, der weder ihn noch seine Frau kannte, gefolgt von einer ganzen Weile allein auf einem leeren Gang und schließlich dem Stöhnen eines unbekannten Zimmernachbarn. Er hatte in diesen letzten Stunden keinerlei persönliche Gegenstände oder Bilder um sich, hatte keine Gelegenheit, die liebevolle Gegenwart seiner Frau oder seiner beiden Kinder zu spüren. Er bekam das Beste, was an medizinischer Behandlung möglich war, und starb einen furchtbar einsamen, unpersönlichen Tod.

Bei Sams Frau wurde viereinhalb Jahre nach seinem Tod Eierstockkrebs diagnostiziert. Fast ein Jahr lang konnte Gloria ihr Leben nach dieser Diagnose noch wie gewohnt fortsetzen, allein in dem Haus, das sie gekauft hatten, als das erste Kind kam. Sie ließ zwei Runden Chemotherapie über sich ergehen, aber als der Krebs sich trotzdem weiter ausbreitete, brach sie die Behandlung ab – zu deutlich stand ihr noch vor Augen, wie sehr Sam unter der kontinuierlich fortgesetzten Behandlung gelitten hatte.

Als die Kräfte nachzulassen begannen, wurde ihr klar, dass sie Hilfe brauchte. Ihre Tochter nahm sich ein Sabbatjahr und zog bei ihr ein. Es dauerte dann nicht mehr lange, bis sie sich um Hospizbegleitung bemühten, und sie hatten großes Glück, denn das örtliche Hospiz bot einen Lebensende-Doula-Service an, ausgeführt von ausgebildeten ehrenamtlichen Helfern.

Als die Sterbebegleiterin, die vorrangig für Gloria zuständig sein würde, ein wenig Bekanntschaft mit Mutter und Tochter geschlossen hatte, begann sie Gespräche über wichtige Ereignisse in Glorias Leben einzuleiten. Dabei kam auch zur Sprache, was das Leben ihr über die Jahre vermittelt hatte und wie die Wertvorstellungen aussahen, nach denen sie zu leben versuchte. Bei den meisten Menschen, erklärte die Doula, streben die Gedanken am Lebensende ganz von selbst in Richtung Vergangenheit. Sie möchten sich vergewissern, ob es ein gutes Leben war, sie fragen sich nach Fehlern, die sie vielleicht gemacht haben. Viele, die sich aktiv auf solche Phasen des Rückblicks einlassen, gelangen schließlich zu einem Resümee, das ihnen erlaubt, einen Sinn in ihrem Lebensweg zu erkennen.

Gloria wusste anfangs nicht so recht, was wohl mit Resümee und Sinn gemeint sein mochte. Sie bestätigte jedoch, dass sie manchmal in Erinnerungen eintauchte, wenn sie allein auf der Couch saß oder im Bett lag. Meist waren es Erinnerungen an wichtige Dinge, die ihr ein gutes Gefühl gaben, aber manchmal stellten sich auch unangenehme und peinliche Erinnerungen ein. Unvermittelt stiegen Gerüche oder Farben oder Sams liebevoller Blick auf eines der Kinder oder irgendwelche anderen Bruchstücke ihres Lebens an die Oberfläche ihres Bewusstseins, um dann wieder zu verschwinden. Die Sterbebegleiterin ermunterte sie zu solchen Streifzügen durch ihre Vergangenheit; auf diese Art, erklärte sie, könnten die tieferen Sinnbezüge ihres Lebens erkennbar werden.

Einmal fielen Gloria die Schuhkartons ein, in denen sie die vielen Karten aufhob, die sie von Sam zu Hochzeitstagen, Geburtstagen, Muttertagen und Valentinstagen bekommen hatte. Sie bat ihre Tochter, diese Kartons mit Sams Grußkarten und ihren eigenen an ihn aus dem Kleiderschrank zu holen, und dann lasen sie sie gemeinsam. Die Lektüre nahm etliche Tage in Anspruch und beeindruckte Mutter und Tochter so tief, dass die Sterbebegleiterin ihnen die Anregung gab, die Karten zu einer Art Vermächtnis zusammenzustellen.

Solch ein Vermächtnis dient dazu, etwas Wichtigem im Leben eines Menschen sichtbaren Ausdruck zu geben. Zunächst einmal bekommt der oder die Betreffende selbst Gelegenheit, sich diese Seite seines oder ihres Lebens so intensiv zu vergegenwärtigen, dass es eine zutiefst befriedigende, ja erneuernde Erfahrung werden kann. Darüber hinaus lässt solch ein Vermächtnis bei den Angehörigen ein so prägnantes Bild des verstorbenen Menschen entstehen, dass sie sehr gut erkennen, welche Bedeutung er für ihr Leben hatte. Selbst künftige Generationen können sich so vergegenwärtigen, wer dieser Mensch war und was ihm wichtig war.

Mit Unterstützung der Doula schufen Gloria, ihre beiden Kinder und das älteste Enkelkind aus den Bildern und Worten der Grußkarten zwei große Collagen, die für die Familien der beiden Kinder gedacht waren. Sie waren wunderschön anzusehen und fingen für immer die Worte der Liebe ein, die zwischen Gloria und Sam von der Zeit ihres Kennenlernens an bis zu seinem Tod hin und her gegangen waren. Das Beste daran aber war, dass Gloria dabei mit ihren Kindern ganz direkt über die zentralen Werte sprechen musste, von denen ihre Beziehung zu Sam über die Jahre getragen war und die ihre Liebe immer weiter vertieft hatte. So waren die Collagen nicht nur Andenken an die kostbare gemeinsame Bastelzeit mit ihren Kindern, sondern würden auch die Erinnerung an die in ihnen repräsentierten Werte wachhalten.

Aus dieser Arbeit erwuchs die entscheidende Erkenntnis, dass Glorias Vermächtnis sehr eng mit Sams verknüpft war. Sam hatte zwar keine Gelegenheit zu einem solchen Lebensrückblick gehabt, aber Gloria und die Kinder hatten das eigentlich durch ihr kreatives Projekt stellvertretend für ihn mit vollzogen. Sein Tod lag zu dem Zeitpunkt schon einige Jahre zurück, aber die Collagen bildeten eine Art Gegengewicht zu den traurigen Erinnerungen an die Umstände seines Sterbens.

Die Sterbebegleiterin stellte bei ihren Besuchen auch die Technik der geführten Visualisation vor und erläuterte, dass diese bei Gloria eine Steigerung des subjektiven Wohlbefindens bewirken oder auch die Symptome etwas abmildern könne. Sie machte Glorias Schilderung eines von ihr geliebten Strandabschnitts auf der Insel Martha’s Vineyard zur Vorlage einer solchen Visualisation. Zusammen mit Sam und den Kindern hatte Gloria mehrmals die Sommerferien dort verbracht. Schließlich besprach die Doula auch noch mit der Familie, wie man in dem Zimmer, in dem Gloria sterben würde, eine Atmosphäre des Heiligen schaffen könne und was für ein Ritual unmittelbar an den Augenblick ihres Todes anschließen solle.

Ein halbes Jahr nach dem Einzug der Tochter setzte bei Gloria die letzte Lebensphase ein. Sie blieb auf ihren eigenen Wunsch zu Hause, umgeben von Fotos, die ihre Angehörigen und Freunde oder auch Szenen von Reisen mit Sam zeigten. Nachts brannten Lavendelkerzen und füllten das Zimmer mit ihrem warmen Licht und mit Glorias Lieblingsduft. Die Sterbebegleiter waren jetzt abwechselnd rund um die Uhr anwesend und saßen mit Glorias Kindern sowie Freunden und anderen Familienmitgliedern an ihrem Bett. Sie sorgten für die Befeuchtung von Glorias Lippen und Mund, streichelten ihr über Gesicht und Kopf, erzählten vom Strand unterhalb des Waldes auf Martha’s Vineyard und spielten ihre Lieblings-CDs von James Taylor. Dann und wann las jemand eine der Grußkarten vor, die für die Collagen verwendet worden waren oder in den in der Nähe des Bettes stehenden Schuhkartons lagen. Auch Glorias Kindern und dem Enkelkind boten die Doulas seelischen und spirituellen Rückhalt. Auf ihren Zuspruch hin kuschelte sich die Tochter für ein, zwei Stunden zu Gloria ins Bett und streichelte ihr das Gesicht und den Arm. Der Sohn ließ sich dazu ermutigen, besonders bewegende Geschichten von seinen Eltern zu erzählen. Als er weinte, nahm ihn die Doula in den Arm. Die Familie wurde darüber aufgeklärt, dass Sterbende noch hören können, wenn die anderen Sinne bereits versiegt sind, also versicherten die Anwesenden Gloria weiterhin ihrer Liebe und ließen sie wissen, wie viel sie von ihr gelernt hatten – und dass sie sich getrost von ihrem Körper lösen könne, wenn sie bereit sei.

In der vierten Nacht erkannte die anwesende Doula, dass das Ende offenbar nahe war. Sie weckte Glorias Tochter und verständigte den Sohn, der auch sofort vom Nachbarort herüberkam, um an der Seite seiner Mutter zu sein. Alle waren da, als Gloria eineinhalb Stunden später ihre letzten Atemzüge tat.

Wie schon vor Monaten mit den Doulas besprochen worden war, wusch Glorias Tochter den Körper ihrer Mutter mit Lavendelwasser und deckte ihn wieder zu, sodass Glorias Sohn ihr das Haar waschen und auskämmen konnte. Anschließend legten die Doula und die Tochter ihr die Kleidung an, die sie sich für diesen Anlass ausgesucht hatte. Danach versammelten sich alle um das Bett, hielten einander bei den Händen und schwiegen eine ganze Weile. Gloria hatte sich erbeten, dass jeder sagen solle, was er oder sie gerade auf dem Herzen hatte, und so geschah es jetzt im Rahmen dieses kleinen Abschiedsrituals.

Zum Abschluss las die Sterbebegleiterin eine Grußkarte vor, die Gloria eigens für diesen Augenblick geschrieben hatte. Darin bat Gloria die Anwesenden, sich mit der Liebe im eigenen Herzen zu verbinden, auch mit der bedingungslosen Liebe, die sie und Sam ihnen tagtäglich entgegengebracht hatten, einer Liebe, die nicht nur ein Band zwischen den Geschwistern geknüpft hatte, sondern auch den Menschen galt, die sie in die Familie hineingebracht hatten. Liebe, hatte Gloria geschrieben, sei das Wichtigste, was man schenken oder empfangen könne, und dies sei die tiefste Wahrheit, die sie mitzuteilen habe.

Glorias Tod war in mancher Hinsicht das Gegenteil dessen, was Sam durchlitten hatte. Sie war im Unterschied zu Sam mit einem Denken in Berührung gekommen, durch das sie nicht nur ihr eigenes Lebensende tiefer erleben konnte, sondern auch die Möglichkeit bekam, diese letzte Phase selbst zu gestalten. Die Doulas waren dabei eine Art vermittelnde Instanz, die eine Tür zu einem anderen Umgang mit dem Tod öffneten; aber entscheidend war dabei, dass sich die Familie darauf einließ und die Anregungen umsetzte.

An dieser Geschichte zweier Tode zeigt sich sehr deutlich der Unterschied zwischen einem von medizinischer Intervention, Beschwichtigung und Angst geprägten Sterbeprozess und der Bereitschaft, sich offenen Auges, in liebevoller Präsenz und mit der Ausrichtung auf ein würdiges Vermächtnis ganz auf das Sterben einzulassen. Einen solchen Tod, sei es Ihr eigener oder der eines geliebten Menschen, können auch Sie nach den Prinzipien und mit den Techniken des Doula-Ansatzes gestalten. Dazu brauchen Sie nur offen zu sein und die in diesem Buch aufgezeigten Leitlinien auf die jeweils gegebenen Umstände abzustimmen. Sollten Sie sich berufen fühlen, für andere in diesem letzten Abschnitt des Lebens da zu sein, finden Sie hier alles, was Sie brauchen, um sich auf diesen Weg zu machen.

2. Der Doula-Ansatz der Sterbebegleitung

Tödlich verlaufende Krankheiten können sich über Monate, oft auch Jahre hinziehen. Je weiter die Körperfunktionen abnehmen, desto höher werden die Anforderungen an die Pflegenden. Wenn es schließlich dem Ende zugeht, ist die Familie meist bereits seelisch und körperlich erschöpft – obwohl dies ja gerade die Zeit ist, in der es besonders wichtig wäre, voll da zu sein. Mehr Unterstützung wäre hier zwar erwünscht, aber professionelle medizinische Hilfe ist nicht durchgehend zu haben – und oft gerade in Krisenmomenten nicht, wenn neue Symptome auftauchen oder bereits vorhandene sich so sehr verschlimmern, dass die Familie nicht weiß, wie sie damit umgehen soll. Bekommt der oder die Sterbende heimische Hospizpflege, wird im Krisenfall eine Pflegekraft, ein Sozialarbeiter oder ein Seelsorger zwar anrufen oder sogar vorbeizukommen versuchen. Doch da so viele Patienten zu versorgen sind und immer erst Wege zurückgelegt werden müssen, ist es vielfach so, dass im entscheidenden Moment niemand sofort da sein kann. Von ihrer Anlage und Logistik her erlaubt die häusliche Hospizpflege am Lebensende nicht immer die bestmögliche Versorgung.

Ähnliches gilt für den Tod in einer Klinik oder Pflegeeinrichtung. Innerhalb eines Hauses sind die Wege zwar kürzer, sodass man schneller bei einem Sterbenden ist, aber die Vielzahl der Patienten macht es auch hier schwierig, im Krisenfall immer sofort einzugreifen, vor allem nachts und an den Wochenenden, wenn die Schichten schwächer belegt sind.

In den letzten Tagen und Stunden eines Lebens kann es also sein, dass der sterbende Mensch und seine Familie die Last dieser Herausforderung weitgehend allein tragen müssen und kaum Hilfe bekommen. Da fühlt man sich schnell allein gelassen und überfordert. Es geht fast nur noch um die körperliche Pflege, man stellt die Gefühle zurück, so gut man eben kann, und das Ganze rauscht irgendwie an einem vorbei, ohne dass man einen echten Bezug dazu findet. Ich habe das in so vielen Familien erlebt und bin auch selbst nicht davon verschont geblieben, als mein Vater vor fünfzehn Jahren starb.

Meine Mutter hatte zwar für die Versorgung meines Vaters während seiner letzten Monate eine Pflegekraft eingestellt, doch da sie die Bedürfnisse meines Vaters so direkt vor Augen hatte, fand sie nachts kaum Schlaf und stand auch tagsüber ständig unter Spannung. Sie war damals siebenundsiebzig Jahre alt, mein Vater neunzig. Bis etwa eine Woche vor seinem Tod führte sie den Haushalt und ging ihrem Beruf nach; sie arbeitete in der Verwaltung eines vierzigstöckigen Geschäftsgebäudes mitten in Manhattan. Meine Schwester wohnte am anderen Ende der Stadt und konnte an vielen Tagen aushelfen. Mein Wohnort war eineinhalb Autostunden entfernt, sodass ich nur einmal, höchstens zweimal die Woche bei meinen Eltern sein konnte.

Bei diesen Besuchen übernachtete ich während der letzten Wochen neben meinem Vater im Ehebett und ließ meine Mutter auf der Couch im Wohnzimmer schlafen, damit sie nicht in der Nacht von jeder Regung und jedem leisesten Laut meines Vaters geweckt wurde. Trotz all der kleinen Hilfen im Alltag war sie über alle Maßen erschöpft.

Mein Vater starb, Jahre bevor ich mein Konzept der Sterbebegleitung formulierte, aber ich war damals immerhin schon als Hospiz-Sozialarbeiter tätig. Trotzdem agierten meine Familie und ich bei der Pflege meines Vaters und in unserem Alltag wie hinter schweren Vorhängen von Bewusstseinsverweigerung – wir wollten seinen bevorstehenden Tod nicht wahrhaben. Meine Schwester klammerte sich eine Zeit lang an die Hoffnung, eine neue Technik der Punktbestrahlung könne vielleicht die Heilung bringen. Lange redeten wir uns ein, der Tod lasse sich vielleicht in Schach halten, sodass uns der Vater noch lange erhalten bliebe. Es gab auch Phasen, in denen die Krankheit zum Stillstand zu kommen schien. Zwar war zu erkennen, dass die Körperfunktionen immer mehr nachließen, aber in bestimmten Phasen schien sich mein Vater doch gegen den Tod behaupten zu können, und das gab unserem Nichtsehenwollen wieder Auftrieb. Prompt trat dann jedoch eine Verschlechterung ein, und es war klar, dass wir uns nicht länger darüber hinwegtäuschen konnten, dass er starb.

Vier Tage vor dem Tod meines Vaters war uns allen bewusst, dass er sterben würde. Er aß schon seit Wochen nichts mehr. Er »schlief« die ganze Zeit. Es ließ sich nicht mehr übersehen, dass sein Körper vor dem endgültigen Zusammenbruch stand und alle Systeme zunehmend ausfielen.

Der ganze Ablauf lastete schwer auf uns. Wir sprachen nicht viel über unsere Gefühle, aber sie standen meiner Mutter und meinen Schwestern ins Gesicht geschrieben – mir sicher auch. Da ich über den Verlauf des Sterbeprozesses Bescheid wusste, konnte ich meiner Familie manche der sichtbaren Zeichen und Symptome erklären. Dennoch wünschte ich mir die Anwesenheit einer unbeteiligten und wirklich kenntnisreichen Person, die die Zeichen klar übersetzen und uns seelischen Rückhalt bieten konnte. Natürlich stützten wir uns gegenseitig, so gut es ging, doch das genügte nicht. Ich weiß noch, wie allein ich mich fühlte. Und an den letzten Tagen tauchte die Hospizbegleiterin meiner Erinnerung nach nur für höchstens eine Stunde pro Tag auf.

Die ganze Nacht vor dem Todestag meines Vaters lag ich im Bett neben ihm. Die Nachttischlampe tauchte das Bett zur Hälfte in fahles gelbliches Licht, das übrige Zimmer lag größtenteils im Dunkeln. Mein Vater war etwas unruhig, und immer wenn ich kurz vor dem Einschlafen war, schreckten mich kleine Regungen und Laute von ihm wieder hoch. Ich vermochte nicht genau einzuschätzen, wie nah er dem Tod war, aber dass es nicht mehr weit sein konnte, das wusste ich. In meinem Kopf drehten sich die Gedanken. Wie würde das Leben ohne ihn sein? Seine milde, gutherzige Art prägte mein ganzes bisheriges Leben, eine Welt ohne ihn war für mich unvorstellbar.

Um sechs Uhr früh machte ich mich auf den Heimweg. Es war ein Donnerstag. In der Klasse meines Sohns fand an dem Vormittag eine Veranstaltung statt, die ich nicht versäumen wollte. Zu Hause angekommen, erfuhr ich von meiner Frau, dass meine Mutter inzwischen angerufen und mitgeteilt hatte, es sei eine plötzliche Verschlechterung eingetreten. Ich küsste meine Frau und meine Kinder und machte mich gleich wieder auf den Weg, ohne mir auch nur das Gesicht zu waschen oder die Zähne zu putzen.

Beim Betreten des Schlafzimmers fiel mir sofort auf, dass mein Vater ganz steif wirkte und keinerlei körperliche Bewegung zu erkennen war, nur das leichte Heben und Senken der Brust bei seinen flachen Atemzügen. Nach dem Ausatmen dauerte es immer eine ganze Weile, bis er wieder einatmete.

Ich setzte mich auf die Bettkante direkt neben ihm und betrachtete ihn. Im Laufe der nächsten drei Stunden wurde sein Atem immer langsamer, und es entstanden immer größere Pausen zwischen den Atemzügen. Am späteren Vormittag erschien die Pflegekraft und setzte sich ebenfalls ins Schlafzimmer. Gelegentlich kamen meine Mutter und meine Schwester herein, um eine Weile still am Bett zu sitzen. Vom langen Sitzen steif geworden, stand ich einmal auf und ging in die Küche, um einen Schluck Wasser zu trinken und mich ein wenig zu strecken. Ich war höchstens drei Minuten weg, und in dieser Zeit saßen meine Schwester und die Pflegekraft am Fenster und sprachen miteinander.

Als ich wieder ins Schlafzimmer kam, sah ich, dass mein Vater nicht atmete. Ich blieb in der Tür stehen, um zu beobachten, ob die Brust sich wieder heben würde. So wartete ich eine Minute, und dann war klar, dass kein weiterer Atemzug folgen würde. Als meine Schwester und die Pflegekraft bemerkten, dass ich nicht eintrat, blickten sie auf und fragten mich, ob er gestorben sei.

Ich sagte: »Es sieht so aus.« Dann ging ich meine Mutter holen. Eng zusammengedrängt und einander haltend, betrachteten wir meinen Vater noch einige Minuten, bevor wir die Hospizschwester anriefen, um ihr zu sagen, dass er gestorben war. Sie hatte ihn drei Tage zuvor zum letzten Mal besucht.

Soweit ich mich erinnere, hat es mich nicht von Anfang an belastet, dass ich beim letzten Atemzug meines Vaters in der Küche war. Er hatte nie gesagt, dass er uns im Augenblick seines Todes um sich haben wollte. Wie ich meinen Vater kannte, beschäftigte ihn eher der Wunsch, seinen Tod für uns so leicht wie möglich zu machen. Sicher hätte er gesagt, wir sollten das tun, was für uns das Beste war. Als ich jedoch seinen Tod zu realisieren begann und die Vorbereitungen für seine Bestattung zu treffen waren, schlichen sich doch Gewissensbisse ein, die mir klarmachten, dass ich diese Frage wichtiger nahm, als mir zunächst bewusst gewesen war.

Er wurde drei Tage darauf, an einem Sonntag, im Schneegestöber beigesetzt. Es war empfindlich kalt für Anfang April, und wir standen alle fröstelnd um das offene Grab. Ich erinnere mich noch, dass meine Frau sich in der dicht gedrängten Gruppe der engsten Angehörigen förmlich an mich klammerte. Der Rabbiner verlas Gebete, die ich nicht verstand, aber der rhythmische melancholische Klang der Worte war mir sehr vertraut. Jüdische Gebete haben für mich immer etwas von einem Schrei aus der Mitte des Herzens, einem Schrei, der von großer, unerfüllter Sehnsucht kündet. Ich fühlte diesen Schrei in mir, während ich zusah, wie sich erste Flecken von Schnee auf dem Haufen ockerfarbener Erde neben dem Grab bildeten. Dann hörte ich die Gebete nicht mehr, als ich mich ganz nach innen wandte und meinen Vater um Vergebung dafür bat, dass ich bei seinem letzten Atemzug nicht an seiner Seite gewesen war, um ihm die Hand zu halten.

Die nächsten Tage entschuldigte ich mich immer wieder, konnte mich aber nicht von den Schuldgefühlen lösen. Immer wenn der Gedanke wieder aufkam, warf ich mir erneut vor, dass ich gerade in diesem entscheidenden Augenblick in die Küche gegangen war. Es schien mir, als hätte ich ihn im Stich gelassen in diesem Augenblick, in dem jemand hätte da sein müssen, der ihn liebte.

Erst Monate später konnte ich die Dinge für mich so einordnen, dass ich Erleichterung fand. Ich hielt diesen Moment meiner Abwesenheit gegen die vielen Stunden, die ich in den vorausgehenden Monaten für ihn da gewesen war. Außerdem hatte ich ihn immer wieder wissen lassen, wie sehr ich ihn liebte und bewunderte. So konnte ich mir schließlich sagen, dass meine Abwesenheit beim letzten Atemzug meines Vaters nicht wirklich schlimm war, aber viel lieber wäre ich natürlich da gewesen.