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Kluge Antworten auf die großen Fragen unserer Zeit In einem Band versammelt liefern die Denkanstöße 2025 aufschlussreiche Gedanken und Erkenntnisse eines ganzen Jahres. So greift der Philosoph Julian Nida-Rümelin die hitzige Debatte um die soganannte »Cancel Culture« auf und beschreibt die Gefährdungen der Demokratie. Die Politologin Daniela Schwarzer analysiert die innen- und außenpolitischen Krisen, die unser Land erschüttern und mutiges Handeln erfordern. Die großen Publizisten Stefan Aust und Alexander Kluge beleuchten die Wirkmacht der Medien und untersuchen das Konstrukt der Öffentlichkeit. Ein wichtiges Buch, übersichtlich und kompakt, zum Mitdenken und Mitreden! »Eine wertvolle Orientierungshilfe.« FAZ Online
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Veröffentlichungsjahr: 2024
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Cover & Impressum
Vorwort
ERKENNTNISSE
Aus Politik und Wirtschaft
Daniela SchwarzerKrisenzeit. Sicherheit, Wirtschaft, Zusammenhalt – Was Deutschland jetzt tun muss
Deutschlands politische 180-Grad-Wende
Sicherheit und Verteidigung
Erste Bilanz der Zeitenwende
Energiepolitik ohne Russland
Druck auf Deutschlands Wirtschaftsmodell
Janka OertelEnde der China-Illusion. Wie wir mit Pekings Machtanspruch umgehen müssen
Warum unsere Annahmen auf den Prüfstand müssen
Schein und Wirklichkeit
Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten
Salami satt
Der X(i)-Faktor
Die kommunistische Führung setzt auf wirtschaftliche Dominanz
Ronen SteinkeVerfassungsschutz. Wie der Geheimdienst Politik macht
Gestatten: Ein Geheimdienst gegen »Demokratie-Gefährder«
Agenten-Humor
Die Idee von 1949: Ein Geheimdienst, strikt getrennt von der Polizei
Der größte Verfassungsschutz, den es je gab
Der Staat spioniert Bürger aus, die keine Gesetze verletzen
Der Schülersprecher Niema
»Islamischer Staat«, »Oldschool Society«, RAF: Manchmal unterstützt der Verfassungsschutz die Polizei
Legale Zeitungen, legale Protestgruppen im Visier: das Kerngeschäft
ERFAHRUNGEN
Aus Gesellschaft und Zeitgeschehen
Natasha A. KellySchwarz. Deutsch. Weiblich. Warum Feminismus mehr als Geschlechtergerechtigkeit fordern muss
»Bin ich etwa keine Frau?«
Internalisierter Rassismus und Colorism
Von Schwarzen Prinzessinnen und anderen Leitfiguren
C. Bernd SucherUnsichere Heimat. Jüdisches Leben in Deutschland von 1945 bis heute
Die Shoah ist Vergangenheit – der Antisemitismus ist Gegenwart
Jüdischer Protest im Rampenlicht
Stefan Aust und Alexander KlugeBefreit die Tatsachen von der menschlichen Gleichgültigkeit. Gespräche und Projekte
Das Blut der Welt
Was heißt Aktualität?
Jeder Irrtum hat seinen Grund – Die Gründe für Irrtümer sind ein wertvolles Material der Erkenntnis
Wirklichkeitsverlust
Gedächtnis, Vergessen, Rekonstruktion
Auf dem Weg zu einer Straßenkarte der Irrtümer
Zum Umgang mit Furcht und Angst
EINSICHTEN
Aus Philosophie und Wissenschaft
Julian Nida-Rümelin»Cancel Culture« – Ende der Aufklärung? Ein Plädoyer für eigenständiges Denken
Cancel Culture in unterschiedlichen Theorien
Zum Begriff »Cancel Culture«
Platon: Der Ursprung aller Cancel Culture?
Demokratietheoretische Aspekte der Cancel Culture
Was ist Demokratie?
Der arco costituzionale
Strategische Kommunikation in der Demokratie
Thomas MetzingerBewusstseinskultur. Spiritualität, intellektuelle Redlichkeit und die planetare Krise
Selbstachtung, intellektuelle Redlichkeit und die planetare Krise
Optimismus ist keine Option
Gesellschaftliche Kipppunkte
Intellektuelle Redlichkeit
Kerstin DeckerEine kleine Geschichte des Windes
Der Westwind – meteorologisch und kulturell betrachtet
»A popular treatise on the winds«
Am Nordpol
Der Jetstream I
Die erste Interkontinentalwaffe 風船爆弾, die Windschiff-Bombe
Arktische Kälte in Berlin und die Flut im AhrtalDer Jetstream II
Höhenwind und das Beinahe-Ende der Menschheit
Vom Tempelhofer Feld in die Stratosphäre!
Westwindzone und bürgerliche Gesellschaft
Autorinnen und Autoren
Quellen
Anmerkungen
Stichwortverzeichnis
Anmerkungen
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Register
»Nur wer nicht sucht, ist vor Irrtum sicher«, schrieb Albert Einstein und wies so vor nunmehr neunzig Jahren auf zwei Aspekte des Denkens hin, die heute aktueller denn je erscheinen: Denken erfordert Flexibilität, und es erfordert Mut.
Denn Denken bedeutet oft, in die falsche Richtung zu galoppieren und am Ende womöglich nie auf den Pfad zur Wahrheit zu treffen. Zugleich kann es passieren, dass wir auf diesem Irrweg irgendwann Ballast abwerfen und alte Gewissheiten zurücklassen, nur um später neue, ähnlich zweifelhafte Ansichten aufzugreifen. Vielleicht drehen wir uns im Kreis, und vielleicht geraten wir auf Abwege.
Doch das alles sollte uns nicht schrecken und davon abhalten, geistig in Bewegung zu bleiben. Zur echten Gefahr wird das Denken nämlich nur, wenn es erstarrt. Dann verfestigt es sich zu Dogmen, die jede Form von Kritik und Reflexion ausschließen. Dogmatisches Denken schafft eine Welt, in der Nuancen verloren gehen, und führt zu Intoleranz gegenüber abweichenden Meinungen. Unsere Geschichte ist reich an Beispielen, in denen dogmatisches Denken zu Leid, Unterdrückung und Kriegen geführt hat.
Aus diesem Grund gilt es, nicht träge im Denken zu werden. Wir sollten immer wieder aufs Neue unser Wissen hinterfragen und Gelerntes korrigieren. Zugleich müssen wir dafür Sorge tragen, dass unsere Wissenschaften in unterschiedlichste Richtungen schauen, wie der Philosoph Julian Nida-Rümelin mahnt:
»Wahre Wissenschaft ist vielfältig, sie respektiert den Streit der Hypothesen und Theorien, die beständige Abwägung von Argumenten, die nie enden wollende Suche nach den richtigen Überzeugungen. Sie führt eben nicht zu der einheitsstiftenden Schau des Guten, sondern bleibt auf dem Weg. Sie bezieht alle ein, auch diejenigen, die sich irren.«
Das Zitat stammt aus Nida-Rümelins Beitrag zu den Denkanstößen 2025, in dem er für unabhängiges, eigenständiges Denken wirbt. Auch die weiteren Beiträgerinnen und Beiträger des vorliegenden Bandes – Janka Oertel, Daniela Schwarzer, Ronen Steinke, Natasha A. Kelly, C. Bernd Sucher, Stefan Aust, Alexander Kluge, Thomas Metzinger und Kerstin Decker – wollen mit ihren Erläuterungen und Betrachtungen dazu anregen, kritisch zu denken und unangenehmen Fragen nicht aus dem Weg zu gehen.
Als Wissenschaftlerinnen, Publizisten, Journalistinnen und Experten liefern sie Analysen, benennen Probleme, decken Missstände auf und nehmen ungewöhnliche Standpunkte ein. Sie versorgen uns mit neuem Wissen und animieren uns gleichzeitig dazu, flexibel und mutig im Denken zu bleiben.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine anregende und bewegende Lektüre!
Isabella Nelte
Drei Tage nach Beginn des russischen Großangriffs auf die Ukraine trat an einem eiskalten Sonntagvormittag der Deutsche Bundestag zu einer Sondersitzung zusammen, »in einer historischen Ausnahmesituation«, wie Bundestagspräsidentin Bärbel Bas die Lage treffend benannte. Der Plenarsaal war voll, neben vielen anderen saß auch Altbundespräsident Joachim Gauck auf der Ehrentribüne. Bundeskanzler Olaf Scholz erklärte, dass 33 Jahre nach dem Fall der Mauer europäische Geschichte neu geschrieben werde: »Mit dem Überfall auf die Ukraine will Putin nicht nur ein unabhängiges Land von der Weltkarte tilgen. Er zertrümmert die europäische Sicherheitsordnung, wie sie seit der Schlussakte von Helsinki fast ein halbes Jahrhundert Bestand hatte.« Als »Zeitenwende-Rede«[1] werden die Worte des Bundeskanzlers in die Annalen eingehen, und vieles von dem, was seither in Deutschland und Europa politisch umgesetzt wird, fußt auf folgender Einschätzung: »Am Donnerstag hat Präsident Putin mit seinem Überfall auf die Ukraine eine neue Realität geschaffen. Diese neue Realität erfordert eine klare Antwort.«[2]
Scholz kündigte eine 180-Grad-Wende in der deutschen Russlandpolitik an, die in ihrer bisherigen Form seit Langem massiv von befreundeten und verbündeten Staaten kritisiert worden war. Oberste Priorität der Ampelkoalition, die erst wenige Monate zuvor ins Amt gekommen war, wurde nichts weniger als die Neuausrichtung der deutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik sowie seiner Energie- und wenig später auch seiner Wirtschaftspolitik. Auch über Russland hinaus begannen Deutschland und Europa in Reaktion auf Moskaus Angriff ihre Abhängigkeiten und Verwundbarkeiten zu analysieren; das Verhältnis zu Peking und damit auch immer stärker Europas Positionierung zwischen China und den USA rückten in den Mittelpunkt. Russlands Krieg in Europa erschütterte Deutschland, Europa und weitere Teile der Welt nicht nur deshalb so sehr, weil der Angriff an sich eine tiefe Zäsur ist. Er brachte auch viele Gewissheiten ins Wanken, auf denen Deutschland mit gusseiserner Sturheit über Jahre sein Handeln gründete, trotz so vieler Anzeichen, dass sich die Welt verändert hatte.
Die Zeitenwende, die Kanzler Scholz am 27. Februar 2022 beschrieb, hatte nicht mit der neuen Phase des Krieges drei Tage zuvor begonnen. Zu diesem Zeitpunkt wurde allerdings klar, dass bereits sehr viel ins Rutschen gekommen war. Deutschland hatte sich nie konkret selbst auf seine äußere Sicherheit vorbereitet, obwohl es schon seine geografische Lage dazu hätte zwingen müssen. Selbstzufriedenheit, falsche Annahmen und vermeintliche Gewissheiten standen dem im Weg – neben nackten wirtschaftlichen Interessen. Russlands Aggressionen in Europa ließen dann im europäischen Haus gleichsam erste Mauerteile einstürzen, der Sturm wurde stärker und zerstörerischer. Eiliges Sandaufschütten und Flicken half zunächst; aber immer deutlicher wird, dass eine ganz neue Statik gebraucht wird, um in unruhiger Zeit eine Bastion der Stärke zu sein – denn ruhiger werden wird es nicht.
Es gehört seit Jahren zum guten Ton in Berlin, in außen- und sicherheitspolitischen Reden auf Deutschlands Verantwortung international und in Europa einzugehen. Das tat auch Olaf Scholz vor dem Deutschen Bundestag: Deutschland als führende Wirtschaftsmacht und Exportnation trage Verantwortung für die Sicherheit und Stabilität in der Welt. Vor ihm hatten seine Amtsvorgängerin Angela Merkel oder auch die Bundespräsidenten Joachim Gauck und Frank-Walter Steinmeier, noch in seiner Rolle als Außenminister, sich über die Jahre hinweg immer wieder mit Deutschlands internationaler Rolle auseinandergesetzt. Diese Reden blieben allerdings im Wesentlichen folgenlos.
Scholz’ Regierungserklärung hingegen beinhaltete konkrete Schritte, wie Deutschland seiner Verantwortung endlich besser gerecht werden würde. Die größte Überraschung war seine Ankündigung eines 100 Milliarden Euro schweren Sondervermögens für Verteidigungsausgaben. Deutschlands Alliierte rieben sich die Augen: Wollte der verteidigungspolitische Zwerg Deutschland, der sich Macht und Einfluss weltweit durch seine Wirtschaftskraft sicherte, nun tatsächlich auch militärisch eine ernst zu nehmende Rolle spielen? Scholz erklärte sich: »Die Mittel werden wir für notwendige Investitionen und Rüstungsvorhaben nutzen. Wir werden von nun an Jahr für Jahr mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in unsere Verteidigung investieren.«[3]
Diese Ausgabenhöhe bis 2024 zu erreichen, hatten sich die NATO-Staaten in Reaktion auf Russlands Annexion der Krim bereits im März 2014[4] als Ziel gesetzt. Deutschland gehört zu den Mitgliedern der Allianz, die dem seither und auch 2023 nicht gerecht wurden und die Verteidigungsausgaben seit dem NATO-Zwei-Prozent-Beschluss nicht linear steigerten: Deutschlands Verteidigungsetat stieg zwischen 2019 und 2023 von 1,26 Prozent auf lediglich 1,6 Prozent des BIPs.[5] Der Anteil der Militärausgaben am Bruttoinlandsprodukt (BIP) soll unter Einbeziehung des in der Scholz’schen Rede angekündigten Sondervermögens nun auf zwei Prozent oder mehr ansteigen. Gegenüber den anderen Mitgliedern der NATO war diese Absichtserklärung, auch wenn sich später Umsetzungsprobleme zeigten, wichtig. Denn Deutschland ist nach den USA das wirtschaftsstärkste Mitglied der Allianz. Die Geduld mit Berlin, das die Verantwortung für seine Sicherheit über Jahrzehnte unter vergleichsweise geringen Kosten an die Allianz ausgelagert hatte, war bereits überstrapaziert.
Mit dem Sondervermögen avancierte Deutschland zum Staat mit dem größten Verteidigungsetat in der Europäischen Union. Scholz machte klar, wohin die große Summe fließen sollte. Er kündigte konkrete Beschaffungsentscheidungen an, etwa den Kauf von bewaffneten Heron-Drohnen aus Israel ebenso wie von amerikanischen F-35-Kampfjets als Trägerflugzeuge für Nuklearsprengköpfe. Damit bekräftigte er Deutschlands Beitrag zur nuklearen Teilhabe und unterstrich die Bedeutung der NATO als Sicherheitsgaranten Europas. Die Beschaffung des amerikanischen Kampfjets würde, das war Scholz klar, seinen engsten europäischen Partner, Frankreich, verärgern. Berlin und Paris investieren seit Jahren gemeinsam in die Entwicklung des Kampfjets FCAS (Future Combat Air System), und auf französischer Seite besteht die Sorge, dass Berlin die transatlantische Zusammenarbeit wieder stärker in den Vordergrund schieben könnte. Deshalb signalisierte Scholz im gleichen Atemzug mehr Investitionen in künftige europäische Rüstungsprojekte: »Wir werden technologisch auf der Höhe der Zeit bleiben. Darum ist es mir zum Beispiel so wichtig, dass wir die nächste Generation von Kampfflugzeugen und Panzern gemeinsam mit europäischen Partnern und insbesondere mit Frankreich hier in Europa bauen.«
Der Bundeskanzler blieb in seiner Rede nicht nur bei der konventionellen Verteidigung. Er arbeitete mit einem breiten Sicherheitsbegriff, der auch der neuen Sicherheitsstragie von Juni 2023 zugrunde liegt.[6] Der breite Sicherheitsbegriff trägt den neuen Bedrohungsformen Rechnung und damit auch der Tatsache, dass Deutschland von Russland und anderen autoritären Staaten auf neue Art seit Jahren angegriffen wird. Scholz kündigte an, dass die Bundesregierung besondere Aufmerksamkeit darauf verwenden würde, Deutschlands »Resilienz [zu] stärken, technisch und gesellschaftlich, zum Beispiel gegen Cyberangriffe und Desinformationskampagnen, gegen Angriffe auf unsere kritische Infrastruktur und Kommunikationswege«. Mit anderen Worten: Deutschland bereitet sich besser auf hybride Angriffe vor, die auch ins Mark der zivilen Infrastruktur gehen können.
Dass der Begriff der Resilienz dabei so zentral ist, charakterisiert die neue Sicherheitslage: Durch die neue Art, wie Konflikte ausgetragen werden, sind wir nicht nur nach außen hin, sondern auch im Inneren des Landes verwundbar. Vollständigen Schutz kann der Staat nicht gewährleisten, und es ist wichtig, die Gesellschaft und die Wirtschaft darauf vorzubereiten. Es geht darum, die Fähigkeit zu stärken, sich von einem möglichen Angriff zu erholen, also nach einem Schock zurück in ein neues Gleichgewicht zu kommen, in der Versorgung, der Wirtschaft, im Gesundheitswesen, in der Gesellschaft. Diese neue Realität ist keine Folge von Russlands Krieg in der Ukraine, denn seit Jahren sind Deutschland, seine europäischen Nachbarn und auch die USA hybriden Bedrohungen ausgesetzt. Die Politik muss die schwierige Aufgabe meistern, zwischen Beruhigung und Warnung die richtige Balance zu finden; ohne Panik zu verbreiten muss sie die Bevölkerung auf eine neue Sicherheitslage einstellen und die Aufmerksamkeit für Bedrohungen und die Fähigkeit zur besonnenen Reaktion darauf entwickeln.
In Deutschland hatte sich seit Ende des Kalten Krieges ein Gefühl von Sicherheit eingestellt, das für die Gesellschaft und die Politik angenehm war, aber in der heutigen Situation selbst zum Risiko geworden ist. Denn es muss wieder zur Selbstverständlichkeit werden, dass für Sicherheit im breitesten Sinne mehr getan werden muss – durch höhere Staatsausgaben für Verteidigung, innere Sicherheit und resiliente Infrastruktur und durch mehr Investitionen seitens der Wirtschaft, etwa in Cyberabwehr und kritische Infrastruktur, und durch eine bessere Vorbereitung der Gesellschaft auf neue Risiken.
Die Zeitenwende, die Bundeskanzler Scholz in seiner Regierungserklärung am 27. Februar 2022 konstatierte, veränderte aufgrund ihrer Klarheit zur russischen Invasion die außen- und sicherheitspolitische Debatte in Deutschland. Seine Rhetorik hat Eingang gefunden in die Sprache der demokratischen Parteien im Bundestag und der einflussreichsten Stimmen in der Gesellschaft. Das ist ein nicht zu unterschätzender politischer Erfolg in einem Land, in dem Sicherheitsthemen über Jahre zu wenig Aufmerksamkeit bekamen und Russland nicht als der aggressive Nachbar gesehen wurde, der es ist.
Die Ankündigung höherer Verteidigungsausgaben war ein einschneidender Kurswechsel, und zwar für alle drei Koalitionsparteien. Dies gilt besonders für die Grünen, die allerdings seit Beginn des Krieges keine Zweifel daran gelassen haben, dass die Ukraine von Deutschland entschieden und schnell militärisch unterstützt werden sollte und dass Deutschland mehr für seine Sicherheit ausgeben muss. Schwieriger gestaltet sich die Lage innerhalb der Sozialdemokratischen Partei: Die SPD hat in der Vergangenheit als Regierungskoalitionspartner bei der Steigerung der Verteidigungsausgaben häufig gebremst, sodass Deutschland sich dem NATO-Zwei-Prozent-Ziel nur sehr, sehr langsam annäherte. Die FDP stellt in der Ampelkoalition den Finanzminister, der sich einer Konsolidierung des Staatshaushalts nach COVID-Ausnahmejahren verschrieben hat. Kaum im Amt, sah er sich neben dem Sonderfonds und der Zusage zu laufend höheren Verteidigungsausgaben auch noch mit maßgeblichen Ausgabepaketen zur Kompensation der hohen Energiepreise konfrontiert. Der möglicherweise lang andauernde Krieg und die Notwendigkeit, dass Deutschland weiter stark unterstützt, vielleicht bald sogar noch stärker, sollte das US-Engagement angesichts der dortigen Präsidentschaftswahl 2024 sinken, dürften zu schwierigen Abwägungsentscheidungen führen. Sie betreffen die Einhaltung der Schuldenbremse und die Frage, in welchen anderen Bereichen gekürzt wird, zugunsten von nötigen Mehrausgaben für die eigene Verteidigung und die Unterstützung der Ukraine.
Nicht nur die Ampelkoalition, Deutschland insgesamt erkannte Schritt für Schritt den Preis, den Sicherheit in einer veränderten Welt hat. In der politischen Debatte wird zum ersten Mal ernsthaft thematisiert, welche Abwägungsentscheidungen künftig getroffen werden müssen, etwa zwischen Sozial- und Verteidigungsausgaben, wenn Deutschland angesichts größerer Unsicherheiten mehr zum eigenen Schutz und für Stabilität in seiner Nachbarschaft wird tun müssen. Diese Entscheidungen sind auch deshalb so schwierig, weil es auch aus sicherheitspolitischen Erwägungen nicht darum gehen kann, Mittel etwa von Sozial- zu Verteidigungsausgaben umzuschichten. Denn der wichtigste Faktor für eine Resilienz der Gesellschaft in diesen Zeiten ist der innere Zusammenhalt.
So klar die Zeitenwende-Rede die Notwendigkeit der militärischen Unterstützung der Ukraine benannte, so schleppend begann allerdings ihre Umsetzung im ersten Kriegsjahr. 2022 wurde kein Euro aus dem Sondervermögen in die Bundeswehr investiert, und das Ziel, mindestens zwei Prozent des Haushalts für Verteidigung auszugeben, wurde auch mit dem Haushalt 2023 nicht erreicht.[7] Anfang Dezember 2022 veröffentlichte das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) eine Studie, nach der das Zwei-Prozent-Ziel mit dem Sondervermögen nur in den Jahren 2024 und 2025 erreicht werden könne.[8] Dass dies nicht früher geschehen konnte, liegt daran, dass die Beschaffungen nicht schnell genug vorankommen. Ab 2026 ist laut IW wiederum im Vergleich zum Zwei-Prozent-Ziel mit einer Finanzierungslücke von 9,7 Milliarden Euro zu rechnen, die sich in den Jahren danach weiter vergrößern würde.
Zum zentralen Thema wurde in der deutschen und europäischen Debatte die Lieferung von Panzern wie dem Gepard oder dem Marder sowie besonders den Kampfpanzern Leopard 1 und 2. Unterschiedliche Begründungen und immer neue Bedingungen, wie etwa die Abstimmung mit europäischen Alliierten oder auch den Amerikanern, wurden von deutscher Seite vorgebracht und sorgten im In- und Ausland für Verwirrung. Berlins Zögern dauerte trotz des offensichtlich dringenden Bedarfs in der Ukraine so lange, dass Deutschlands Entschiedenheit, das Land im Krieg effektiv zu unterstützen, von Kiew und von NATO-Partnern besorgt infrage gestellt wurde.
Plötzlich sagten dann Frankreich und Deutschland im Januar 2023 im Abstand weniger Tage die Lieferung von Schützenpanzern nach Kiew zu. Der französische Präsident Macron machte gänzlich unabgestimmt unilaterale Zusagen im Gespräch mit dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj, Berlin zog nach und versprach, Marder zu liefern. Die beiden größten EU-Staaten versäumten es so, diese wichtige Unterstützungsentscheidung koordiniert zu treffen, sie gemeinsam zu kommunizieren und umzusetzen. Eine verpasste Chance in einer Zeit, in der das deutsch-französische Verhältnis immer wieder von gegenseitigen Verärgerungen, Interessenskonflikten und wenig weitsichtigem, kaum gemeinsamem Handeln geprägt war und beide Regierungen längst an Führungskraft in der EU eingebüßt hatten.
Erst im zweiten Jahr nach der Zeitenwende-Rede, als nicht mehr von der Hand zu weisen war, dass der Konflikt in der Ukraine lang andauern und die Veränderungen im europäischen und internationalen Sicherheitsumfeld langfristig ein entschiedeneres Engagement Deutschlands und Europas erfordern würden, beschleunigte sich die Umsetzung von den angekündigten Veränderungen. Kurz nach seinem Amtsantritt kündigte der neue Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) an, das NATO-Zwei-Prozent-Ziel ab dem Jahr 2024 aus dem allgemeinen Haushalt erreichen zu wollen.[9] Die Lieferung von Leopard-Kampfpanzern sagte die Bundesregierung im Januar verbindlich zu, nach intensivstem Druck der Ukraine und Deutschlands östlicher EU-Nachbarn. Über Monate hatte Olaf Scholz erklärt, dass Deutschland Kampfpanzer nur in Koordination mit den NATO-Alliierten liefern würde. Zwischenzeitlich schien es so, als ob der Bundesregierung ein politisches Plazet der USA, ohne eigene Kampfpanzer-Lieferungen, reichen würde, zumal der deutsche Leopard 2 aus militärischer Sicht für die Ukraine als deutlich besser verwendbar erscheint. Schließlich bestätigte die US-Regierung, parallel zu den deutschen Leoparden Abrams-Panzer zu liefern. Präsident Bidens Nationaler Sicherheitsberater Jake Sullivan erklärte, dass Biden mit der US-amerikanischen Kampfpanzerlieferung ein Zugeständnis an Scholz gemacht habe, um die Einheit des Bündnisses sicherzustellen und um zu gewährleisten, dass die Ukraine am Ende das bekomme, was sie auf dem Schlachtfeld eigentlich brauche – nämlich Leopard-Panzer.[10] Überzeugt davon, dass auch die US-Panzer für die Ukraine von großem Nutzen sein könnten, zeigte er sich nicht. Der Präsident habe sich »zunächst gegen die Entsendung von Abrams-Panzern entschieden«, weil »sie auf dem Schlachtfeld in diesem Kampf nicht nützlich sein würden.«[11] Die Bundesregierung ließ durch einen Regierungssprecher klarstellen, Deutschland habe nicht gedrängt, und die Entscheidung sei im Konsens gefallen. Wie die Motivlage der USA tatsächlich war, ist nicht abschließend geklärt, aber deutlich ist zweierlei: Deutschland hat seine Entscheidung, Leopard-Panzer zu liefern, erst verkündet, als die USA bereit waren, Abrams-Panzer zuzusagen. Das Kalkül des Kanzlers scheint über den direkten Nutzen, den die jeweiligen Panzer auf dem Schlachtfeld bringen, hinauszugehen: Sollte Russland der Unterstützung der Ukraine mit westlichen Kampfpanzern mit Eskalation begegnen, steht es nicht nur den Europäern gegenüber, sondern auch den USA. Ein möglichst enger Schulterschluss mit Washington wird in dieser Logik zur wichtigen Rückversicherung.
Neben der verteidigungspolitischen Neuausrichtung ist die größte Konsequenz aus Russlands Angriff auf die Ukraine für Deutschland eine Energiekrise mit weitgehenden innenpolitischen, aber auch geopolitischen Folgen. In der Zeitenwende-Rede kündigte Bundeskanzler Scholz an, Deutschlands über Jahre aufgebauter Importabhängigkeit von Russland ein Ende zu bereiten: »Eine verantwortungsvolle, vorausschauende Energiepolitik ist nicht nur entscheidend für unsere Wirtschaft und unser Klima, sondern entscheidend auch für unsere Sicherheit.« Was Deutschlands Partner über Jahre, und mit besonderem Nachdruck seit der Annexion der Krim, eingefordert hatten, nämlich die Energieversorgung Deutschlands und der EU auch unter sicherheitspolitischen Gesichtspunkten zu gestalten, wurde nun sehr abrupt zur zentralen Aufgabe der Ampelkoalition.
Die Erkenntnis darüber, dass enge Verflechtungen mit Russland vom Stabilitätsinstrument zur Bedrohung geworden waren, erfolgte in einer Situation, in der die Preise für fossiles Gas bereits seit einem Jahr in die Höhe geschossen waren. Über Jahrzehnte hatte sich die deutsche Industrie auf billige Energieimporte aus Russland verlassen und die Regierungspolitik unterstützt, die Deutschland in eine einseitige Abhängigkeit von einem zunehmend totalitären Staat gebracht hat. Sehr schnell wurde nun deutlich, dass die wirtschaftlichen und innenpolitischen Kosten dieser Abhängigkeit Berlin erpressbar machten und seinen außenpolitischen Handlungsspielraum massiv einschränkten. Deutschland ist ein rohstoffarmes Land und deckt bislang rund 70 Prozent seines Energieaufkommens durch Importe diverser Energieträger. Zu Kriegsbeginn bezog es mit 55 Prozent mehr als die Hälfte seines Erdgases und ein Drittel seines Öls aus Russland.[12]
Die Zahlen machen klar, wie groß die Aufgabe war, die Energieabhängigkeit von Russland zu reduzieren. Umso größer wurde sie, als Deutschland kurz vor der endgültigen Umsetzung seines Atomausstiegs stand. Nach schwierigen Verhandlungen innerhalb der Ampelkoalition bekannte sich die Bundesregierung im November 2022 trotz der Energiekrise zum Ende der Nuklearenergie, das schließlich nur um einige Monate, von Ende 2022 bis Mitte April 2023, hinausgezögert wurde. Deutschland verabschiedete sich also von einer signifikanten Energiequelle, obwohl es in Rekordzeit und früher als geplant eine grundlegende Energietransformation durchführen muss.
Die völlige Abkehr von den engen Lieferbeziehungen mit Russland erschien angesichts seines großen Anteils an Gas- und Ölimporten zunächst unmöglich und teuer. Entsprechend abwehrend reagierten Vertreterinnen und Vertreter der Bundesregierung, als Expertinnen und Experten forderten, den Import von fossilen Energien aus Russland einzustellen, um das Land finanziell unter Druck zu setzen.[13] Zudem bestand die Gefahr, dass Russland selbst seine Lieferungen an Deutschland und andere Unterstützer der Ukraine reduzieren könnte, bevor dies seitens der Importländer geschehen würde. In Berliner Entscheiderkreisen hielt sich lange die Annahme, dass Russland diese Option nicht nutzen würde – zu wichtig seien die Einkünfte für das Land, und Putin sei, trotz allem, ein rationaler Staatslenker. Im Sommer 2022 wurden sie eines Besseren belehrt: Im Zuge einer Wartung der Ostsee-Pipeline Nord Stream 1 schützte Russland technische Probleme vor und reduzierte die Lieferungen Schritt für Schritt, bevor es sie im September ganz einstellte.
Dass die energiepolitische Entkopplung von Russland relativ schnell möglich war und nicht mit verheerenden Folgen für die deutsche Wirtschaft einherging, ist einer der großen politischen Erfolge des Jahres 2022. Ganz konkret ließ dieser sich im Winter 2022/23 an zu über 90 Prozent gefüllten Gasspeichern messen. Deutschlands Antwort auf den fossilen Energiekrieg zu Zeiten des Atomausstiegs hat vier Komponenten: Lieferquellen diversifizieren, Energie sparen, Speicher füllen und – am wichtigsten und langwierigsten – erneuerbare Energien ausbauen. Nach dem Erfolg im ersten, glücklicherweise milden, Winter nach Kriegsbeginn müssen die Bemühungen in diesen Bereichen indes unermüdlich weitergehen, denn für den folgenden Winter könnten neue Unsicherheiten entstehen, ob die Gasspeicher ausreichend gefüllt sind, um gemeinsam mit alternativen Energiequellen eine ausreichende Versorgung zu gewährleisten.
Kurzfristig entscheidend für die Versorgungssicherheit war die Diversifizierung von Energiequellen durch die Erhöhung der Liefermengen aus europäischen Ländern sowie neue Zulieferverträge mit anderen Staaten. Es ging darum, die Versorgungsrisiken und den Energiepreisanstieg, sowohl für die Bevölkerung als auch für die Wirtschaft, so schnell wie möglich zu begrenzen. Der wichtigste Beitrag dazu: Seit Dezember 2022 landet in Brunsbüttel und Wilhelmshaven Flüssiggas an. Nur knapp zehn Monate dauerten die Planung und die Inbetriebnahme des ersten LNG[14]-Terminals – so schnell, dass Kanzler Scholz vom neuen »Deutschland-Tempo« sprach. Weitere Terminals sollen folgen, und Ende 2023 soll LNG rund ein Drittel des deutschen Gasverbrauchs ausmachen. Den Bedarf decken unter anderem langfristige Verträge mit der katarischen Regierung für einen Zeitraum von 15 Jahren mit Lieferungen ab 2026. Um die Lieferbeziehungen weiter zu diversifizieren, wird mit Australien, Algerien und Nigeria verhandelt.[15] Gas durch Fracking oder in der Nordsee zu fördern, sind weitere, jedoch kontrovers diskutierte Optionen im Zuge des Versuchs, Risiken durch Lieferbeziehungen mit nicht demokratischen Staaten weitgehend zu reduzieren.
Während die Terminals aktuell für das Anlanden von fossilem Flüssiggas gebaut werden, sollen sie in Zukunft auch für nachhaltigere Energiequellen wie grünen Wasserstoff genutzt werden können,[16] so hat es der zuständige Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz Robert Habeck versprochen. Das Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung stellt allerdings klar, dass die Umstellung nicht ohne erhebliche Anpassungen möglich ist und teuer wird. Bei einer Umrüstung auf Wasserstoff würden sich nur »etwa 50 Prozent der ursprünglich in das LNG-Terminal investierten Kosten übertragen lassen.«[17]
Eine Versorgungsnot trat trotz Russlands Beendigung seiner Lieferungen nicht ein, und die Strom- und Gaspreisbremsen konnten die wirtschaftlichen Folgen für die meisten Menschen bereits im ersten Kriegsjahr abschwächen. Um die hohen Energiepreise zu kompensieren, beschloss die Bundesregierung bereits zu Beginn der russischen Invasion ein Entlastungspaket, das die Abschaffung der EEG-Umlage, eine Erhöhung der Pendlerpauschale, einen Heizkostenzuschuss für Geringverdiener, Zuschüsse für Familien und steuerliche Entlastungen beinhaltete. Die Speicherkapazität für Erdgas wurde um zwei Milliarden Kubikmeter erhöht. Der befürchtete und von radikalen Kräften herbeigewünschte »Wutwinter« trat nicht ein, auch dank der milden Temperaturen im Herbst und Winter 2022/2023. Doch der Ausbau der erneuerbaren Energien geht bisher zu langsam voran, da sich etwa Planungs- und Investitionsversäumnisse der vorherigen Jahre nicht so schnell beheben lassen. Besonders der Ausbau der Windenergie liegt weit hinter Plan.
In einer Zeit, in der Deutschland und Europa an einem Weg zur Klimaneutralität bis 2045, beziehungsweise 2050 in der EU, arbeiten wollten und russisches Gas entscheidend für den Übergang sein sollte, waren der Preisanstieg und die Versorgungsunsicherheit ein enormer Schock. Schlimmer noch: Kohle und Öl in Deutschlands und Europas Energiemix haben wieder zugenommen.[18] So vermeldete das statistische Bundesamt 2022 für das dritte Quartal im Vergleich zum Vorjahreszeitraum 13,3 Prozent mehr Kohlestrom und 4,5 Prozent mehr Strom aus Erdgas[19], obwohl auch der Beitrag von Energiequellen wie Windkraft und Fotovoltaik zur Deckung des Energiebedarfs in Deutschland stieg.[20] Bis zum Jahr 2030 sollen in Deutschland mindestens 80 Prozent des Energiebedarfs durch erneuerbare Energien gedeckt werden, was eine entschiedenere Politik erfordert.[21] Um erneuerbare Energien schneller auszubauen, hat der Bundestag im Februar 2023 vereinfachte Verfahren beschlossen. In diesem Zusammenhang betonte Wirtschaftsminister Habeck, die erneuerbaren Energien seien zentral für den Klimaschutz und den Standort Deutschland: »Die Bundesländer und die Genehmigungsbehörden haben nun die gesetzlichen Grundlagen, um den Windkraftausbau mit voller Kraft voranzutreiben und Anlagen zügig zu genehmigen.«[22] Im Einklang mit einer Notfallverordnung der EU-Energieminister:innen von Dezember 2022 können aufwendige Umwelt- und Artenschutzprüfungen entfallen, wenn das betroffene Gebiet bereits eine strategische Umweltprüfung durchlaufen hat. Eine beschleunigte Installation von Solarenergieanlagen und der Wärmepumpenausbau sind weitere dringende Prioritäten.[23]
Mit anderen Worten: In der Energiekrise hat die Bundesregierung nicht nur die Folgen von Russlands Krieg in der Ukraine zu managen, sondern muss gleichzeitig die ohnehin notwendige und geplante Energiewende beschleunigen. Bis 2045 strebt die Bundesregierung CO2-Neutralität an, bis 2050 die gesamte Europäische Union. Dass notwendige Investitionen in die Energiewende von der Vorgängerregierung trotz des beschlossenen Atomausstiegs nicht getätigt wurden, erhöht die Kosten, mit denen Deutschland sich jetzt konfrontiert sieht, gewaltig. Gleichzeitig aber kann der Energiekrieg mit Russland zu einer Beschleunigung der ökologischen Wende führen, was mittel- bis langfristig positive Auswirkungen haben wird.
Vor dem Hintergrund der dreifachen Herausforderung, CO2 zu reduzieren, die Importabhängigkeit von Russland zu beenden und gleichzeitig nicht andere Abhängigkeiten zu schaffen, hat die Diskussion um Wasserstoff an Bedeutung gewonnen. Herkömmlicher sogenannter grauer Wasserstoff wird aus fossilen Brennstoffen gewonnen, vor allem aus Erdgas, wobei rund zehn Tonnen CO2 pro Tonne Wasserstoff anfallen und in die Atmosphäre abgegeben werden. Grüner Wasserstoff dagegen entsteht durch die CO2-neutrale Wasserelektrolyse, möglichst mittels Strom aus erneuerbaren Energien, und wird von der Bundesregierung als eine der wichtigsten Energiequellen der Zukunft betrachtet, da er Klimaneutralität in der Industrie, im Verkehr sowie in der Wärmeversorgung verspricht.[24] Da die Herstellung von grünem Wasserstoff noch sehr kosten- und energieintensiv ist, wird heute aber größtenteils Wasserstoff aus anderen, nicht nachhaltigen Herstellungsverfahren verwendet.[25] Zwischen Deutschland und Frankreich ist ein erbitterter Streit entbrannt, der am Beispiel des Wasserstoffs die konträren energiepolitischen Strategien und Risikoeinschätzungen illustriert: Frankreich, das zunehmend auf Atomenergie setzt, befürwortet die Verwendung von Wasserstoff, der durch Wasserelektrolyse mittels Atomstrom entsteht, und fordert dessen Bewertung als »grün«. Für Deutschland ist dies keine Option: »Kernenergie ist keine erneuerbare Energie und Wasserstoff aus Kernenergie ist kein grüner Wasserstoff«, zitiert die Financial Times das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz.[26] Die neuen Vorschriften, die die Europäische Kommission im Februar 2023 vorlegte und die als Sieg für Frankreich gelten, sehen vor, dass Wasserstoff, der aus Stromnetzen mit hohem Kernenergieanteil stammt, als »grün« gelten darf, wenn der herstellende Konzern einen langfristigen Vertrag über den Einsatz erneuerbarer Energien unterzeichnet. So soll kurzfristig die Menge des aus fossilen Brennstoffen hergestellten Wasserstoffs reduziert und langfristig ein Anreiz für Investitionen in erneuerbare Energien geschaffen werden.[27] Dass Frankreich sich dafür eingesetzt haben soll, dass Uran-Importe aus Russland nicht sanktioniert werden und Europa und insbesondere Frankreich somit weiterhin Uran aus Russland beziehen, findet in dieser Debatte bisher wenig Beachtung[28], ist aber aus sicherheitspolitischer Sicht sehr wichtig. Auch die Frage, welche Abhängigkeiten von neuen Lieferpartnern entstehen, ist von höchster Relevanz. Die Diversifizierung von politischen Risiken muss in Einklang gebracht werden mit der Stabilität von Lieferbeziehungen und einem akzeptablen Lieferpreis. Kleinere Partnerschaften helfen vor allem beim ersten Kriterium.[29] An der Tatsache, dass 2022 auch Katar und die Vereinigten Arabischen Emirate stärker mit Deutschland ins Geschäft kamen, zeichnen sich schwierige Abwägungsentscheidungen ab. Nicht nur wirtschafts- und energiepolitische Kriterien sollten eine Rolle spielen, sondern auch die Frage, wie Deutschland künftig mit autoritären Staaten umgeht und der menschenrechtsorientierten Außenpolitik der Ampelkoalition gerecht werden kann.
Für die deutsche Wirtschaft sind die hohen Energiepreise die offensichtlichste Konsequenz des Krieges. Bereits vor Kriegsbeginn erhöhten sich nicht nur die Preise für Gaslieferungen aus Russland, auch viele andere Rohstoffe und Vorprodukte wurden teurer oder ihre Lieferung unzuverlässig. Dies gefährdete vielerorts Just-in-time-Produktionen, was wiederum die Herstellungskosten mancher Produkte in die Höhe trieb. Unternehmenschef:innen stehen seither vor immer neuen, drängenden Fragen, die sie in der Vergangenheit, als Lieferketten stabil waren, nicht kannten. Im Unternehmensalltag sind die Folgen der veränderten geopolitischen Lage also längst Realität geworden: »Moment, ist denn alles verfügbar – nicht nur technologisch, sondern auch bei den Rohstoffen? Haben wir genügend Kupfer? Haben wir genügend Aluminium? Haben wir genügend Nickel?«[30], fragt etwa Bosch-Chef Stefan Hartung. Er zeigt damit, dass heute ganz anders und sehr viel kurzfristiger an die unternehmerische Planung herangegangen werden muss.
Weitere Veränderungen werden dazukommen, auch wenn diese Entwicklung nicht grundsätzlich neu ist, denn bereits seit einigen Jahren fordert die Zunahme von geopolitischen Risiken viele deutsche Unternehmen heraus. Der Krieg und seine Folgen haben aber diese Veränderungen deutlich verschärft, und es wird immer klarer: Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert unter den neuen Rahmenbedingungen nicht mehr so einfach wie früher, und eine Rückkehr zu einer geopolitisch vergleichsweise ruhigen, berechenbaren, wirtschaftlich offenen Welt wird es in absehbarer Zeit nicht geben. Neben Russland sind daher auch China und andere Staaten, die mit Deutschland im Systemkonflikt stehen, ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Die wirtschaftlichen Abhängigkeiten sind über Jahre weiter gefördert worden und entsprechend gewachsen, obwohl die Interessenskonflikte und unterschiedlichen Wertevorstellungen sichtbar waren. Die Aufgabe für die Ampel-Regierung war also von Anfang an weit umfassender als eine Energieentkopplung von Russland. Obwohl die Risiken früh analysiert und sogar politisch benannt wurden, sorgten gute Deals und das Prinzip Hoffnung dafür, dass Deutschland in einer geopolitischen, konflikthaften Welt seine Versorgungssicherheit vernachlässigt hat und politisch erpressbar geworden ist. »Egal welchen Deckel wir hochheben, wenn wir in den Topf gucken, wollen wir am liebsten nicht sehen, was drin ist«, seufzte ein Mitglied der Bundesregierung bereits drei Monate nach Amtsantritt erschöpft. Das große Aufräumen, das eingesetzt hat, kostet politisch viel Kraft und erfordert von Politik wie Unternehmen neue Herangehensweisen.
Deutschland steht auch deshalb unter großem Druck, weil industriepolitische Eingriffe unserer wichtigsten Handelspartner für eine Verzerrung der Wettbewerbsfähigkeit sorgen. Der Weltwirtschaft droht also nicht nur eine Desintegration, weil die Risiken allgemein wachsen, sondern zudem auch wegen eines protektionistischen Subventionswettlaufs. Plötzlich ist es nicht mehr nur der chinesische Markt, in dem der Staat für Wettbewerbsverzerrungen sorgt und dessentwegen Europa einfordern muss, dass die gegenseitige Marktöffnung von einem fairen »level playing field« begleitet wird. Nun setzt seit August 2022 das US-amerikanische Subventionspaket IRA, der Inflation Reduction Act, Deutschland und Europa unter Druck – mit Maßnahmen, die in einem politisch höchst angespannten Umfeld die USA auf Kurs für ihre grüne Transformation bringen und dabei Arbeitsplätze und Wachstum fördern sollten. Die USA schützen sich mit dem IRA primär vor grüner Technologie und Sicherheitsrisiken aus China und richten die Maßnahmen nicht gezielt gegen die Europäer. Wegen ihres protektionistischen Effekts hat das Gesetz jedoch große Auswirkungen auf die europäische Wirtschaft. Für Europa ist das ein weiteres warnendes Beispiel, dass es die Folgen der nationalen, protektionistischen Politik der beiden Großmächte direkt zu spüren bekommt. Deutschland und Europa müssen sich noch viel intensiver damit befassen, wie sie in einer zunehmend protektionistischen Welt ihre Interessen und ihre Wettbewerbsfähigkeit verteidigen können – ohne in einen protektionistischen Subventionswettlauf mit den wichtigsten Wirtschaftspartnern einzusteigen.
Deutsche Unternehmen müssen sich längst an die neuen Rahmenbedingungen anpassen. Der notwendige Strukturwandel betrifft Millionen von Menschen: Im Arbeitsalltag gibt es neue Herausforderungen, Qualifikationsanforderungen ändern sich. Produktionsabläufe müssen durch Anforderungen des Klimaschutzes und der Digitalisierung oder zur Energieeinsparung neu gestaltet werden, manche Anlagen können nicht mehr genutzt werden und müssen abgeschrieben werden. Mit dem notwendigen Wandel sind für die Menschen und Organisationen Unsicherheiten und auch Verluste verbunden. Dies kann sich in Bitterkeit und Frustration über die Politik niederschlagen und möglicherweise den Druck hin zu einem protektionistischeren Modell erhöhen – obwohl Deutschlands Wachstumsgarant immer noch die wirtschaftliche Offenheit in Europa und in der Welt ist.