Denn die Gier wird euch verderben - Åsa Larsson - E-Book
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Denn die Gier wird euch verderben E-Book

Åsa Larsson

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Beschreibung

»Nicht nur eine der besten Krimischriftstellerinnen Skandinaviens, sondern auch weltweit.« Antje Deistler, WDR

Eine Frau namens Sol-Britt wird in der Nähe Kirunas mit einer Heugabel grausam ermordet. Zunächst wird ihr Liebhaber verdächtigt. Doch Staatsanwältin Rebecka Martinsson und Polizistin Anna-Maria Mella setzen sich näher mit Sol-Britts Familienverhältnissen auseinander – und stoßen auf verdächtig viele tödliche Unglücksfälle unter den Vorfahren ihrer Familie. Die Spur führt ins Kiruna von 1914: Sol-Britts Großmutter kam damals als junge, bildhübsche Lehrerin mit riesigen Erwartungen in die frisch gegründete Eisenerz-Stadt. Als sie mit dem mächtigsten Mann Kirunas, dem Bergwerksdirektor, eine Liaison eingeht, kann sie ihr Glück kaum fassen. Doch der einflussreiche Mann, von allen nur »König von Lappland« genannt, hat in den politisch unruhigen Zeiten ganz anderes im Sinn, als seiner jungen Liebhaberin eine sichere Zukunft zu bieten …

»Knorrige Figuren, präzise Milieus, packender Plot – Åsa Larsson schreibt derzeit die besten Skandinavien-Krimis.« Hörzu

Entdecken Sie die weiteren Bände der Rebecka-Martinsson-Reihe:

1. Sonnensturm

2. Weiße Nacht

3. Der schwarze Steg

4. Bis dein Zorn sich legt

5. Denn die Gier wird euch verderben

6. Wer ohne Sünde ist

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Seitenzahl: 455

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ÅSA LARSSON

DENN DIE GIERWIRD EUCHVERDERBEN

THRILLER

Aus dem Schwedischen

von Gabriele Haefs

C. Bertelsmann

Die Originalausgabe erschien 2012unter dem Titel »Till offer åt Molok« bei Albert Bonniers Förlag, Stockholm

1. Auflage

Copyright © 2012 Åsa Larsson

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2012

beim C. Bertelsmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlag: R·M·E Roland Eschlbeck/Rosemarie Kreuzer

Autorenfoto: Emanuela Danielewicz

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-08370-0

www.cbertelsmann.de

DASS EIN HUND SO SCHREIEN KANN! Noch nie hat Samuel Johansson solche Laute von einem Hund gehört.

Da steht er in seiner Küche und schmiert sich ein Butterbrot. Sein Elchhund ist an einer Laufleine draußen im Hof angebunden. Ringsum Ruhe und Frieden.

Dann fängt der Hund an zu bellen. Anfangs scharf und aufgeregt.

Was bellt er da an? Jedenfalls kein Eichhörnchen. Das für Eichhörnchen reservierte Gebell kennt Samuel. Ein Elch? Nein, das Elchsgebell ist dumpfer und gleichmäßiger.

Dann passiert etwas. Der Hund schreit. Jault, als hätten sich die Tore der Hölle aufgetan. Bei diesem Jaulen läuft es Samuel Johansson eiskalt den Rücken hinunter.

Und dann ist plötzlich alles still.

Samuel stürzt aus dem Haus. Ohne Jacke. Ohne Schuhe. Ohne einen klaren Gedanken.

Er stolpert durch die herbstliche Dunkelheit zur Garage und zur Hundehütte.

Und da, im Licht der Garagenlampe, steht der Bär. Er zerrt am Hundekörper, um ihn mitzunehmen, aber der leblose Hund hängt an der Laufleine fest. Der Bär kehrt Samuel seine blutige Schnauze zu und brüllt los.

Samuel taumelt kurz rückwärts. Dann sammelt er fast überirdische Kräfte und rennt so schnell wie noch nie in seinem Leben zum Haus zurück, um das Gewehr zu holen. Der Bär bleibt stehen. Trotzdem spürt Samuel den heißen Tieratem im Nacken.

Mit feuchten Händen lädt er das Gewehr, ehe er vorsichtig die Tür öffnet. Er muss ruhig sein und ins Ziel treffen. Sonst kann alles sehr schnell gehen. Einen angeschossenen Bären kann er in Sekundenschnelle über sich haben.

Er schleicht hinaus in die Dunkelheit, setzt einen Fuß vor den anderen. Seine Nackenhaare stehen ab wie Nadeln.

Der Bär steht immer noch da. Verschlingt, was von dem Hund übrig ist. Als Samuel die Waffe entsichert, schaut er auf.

Noch nie hat Samuel so gezittert. Es eilt jetzt. Er versucht stillzuhalten, schafft es aber nicht.

Drohend schwenkt der Bär den Kopf hin und her. Knurrt. Keucht wie ein Blasebalg. Dann macht er gelassen einen Schritt nach vorn. Und Samuel schießt. Der Schuss dröhnt. Der Bär fällt um. Springt aber rasch wieder auf. Und verschwindet im Dunkeln.

Jetzt ist er irgendwo im nachtschwarzen Wald. Die Garagenlampe reicht nicht weit.

Samuel geht rückwärts zum Haus zurück. Schwenkt das Gewehr von einer Seite zur anderen. Lauscht die ganze Zeit in Richtung Wald. Der Scheißbär kann jederzeit angestürzt kommen. Samuel kann ja nur wenige Meter weit sehen.

Noch zwanzig Schritte bis zur Tür. Sein Herz hämmert. Fünf. Drei. Drinnen.

Jetzt zittert er. Er bebt am ganzen Leib, muss sein Mobiltelefon auf den Küchentisch legen und die rechte Hand mit der linken festhalten, um die Nummer einzugeben. Der Leiter der Jagdgesellschaft antwortet beim ersten Klingelton. Sie beschließen, sich bei Tagesanbruch zu treffen. In der Dunkelheit können sie ja doch nichts unternehmen.

Im ersten Morgengrauen versammeln sich die Männer vom Dorf auf Samuels Hof. Es ist zwei Grad unter Null. Reif an den Bäumen. Das Laub ist gefallen. Die Vogelbeeren leuchten rostrot vor dem grauen Hintergrund. Etwas Glitzerndes fliegt durch die Luft. Die Sorte Schnee, die nicht liegen bleibt.

Bei der Hundehütte bietet sich ihnen ein trauriger Anblick. Nur der Schädel hängt noch an der Laufleine. Vom Rest ist nicht mehr viel übrig.

Es ist ein Trupp harter Burschen. Sie tragen karierte Hemden, Hosen mit vielen Taschen, Messer am Gürtel und grüne Jacken. Die jungen haben Bart und Schirmmütze. Die älteren rasieren sich sorgfältig und tragen Fellmützen mit Ohrenklappen. Es sind Männer, die ihre eigenen Transportanhänger bauen. Männer, die Autos mit Vergasern vorziehen, an denen sie selbst herumbasteln können, um nicht von den Werkstätten abhängig zu sein, wo die Autos heutzutage ja nur noch an Computerterminals angeschlossen werden.

»So war das also«, konstatiert der Jagdleiter, während die Jungs sich einen neuen Priem unter die Oberlippe stopfen und zu Samuel hinüberschielen, der sich bemüht, seine Gesichtszuckungen unter Kontrolle zu halten. »Samuel hat den Hund jaulen gehört. Er nahm die Büchse und ging raus. Wir haben ja seit einiger Zeit Bären hier, und da war ihm schon klar, dass es einer sein könnte.«

Samuel nickt.

»Also. Du gehst mit der Büchse raus. Der Bär frisst gerade den Hund und will dich angreifen. Du schießt in Notwehr. Der Bär kam auf dich zu. Du bist nicht ins Haus gegangen, um das Gewehr zu holen. Du hattest es die ganze Zeit dabei. So einfach ist das. Hier wird niemand wegen Wilderei verurteilt werden, stimmt’s? Ich habe gestern Abend die Polizei angerufen. Sie haben sofort beschlossen, eine Abschussgenehmigung für den Bären zu erteilen.«

»Wer soll ihn holen?«, will jemand wissen.

»Patrik Mäkitalo.«

Als sie das hören, wird es still – alle legen erst einmal eine Denkpause ein. Patrik Mäkitalo kommt aus Luleå. Es wäre ja schön gewesen, wenn jemand von ihrer eigenen Jagdgesellschaft auf den Bären angesetzt worden wäre. Aber keiner von ihnen hat so scharfe Hunde wie Patrik. Und insgeheim überlegen sie, ob sie selbst denn scharf genug wären.

Der Bär ist angeschossen. Da besteht Lebensgefahr. Sie brauchen einen Hund, der den Mut hat, ihn zu stellen, und nicht den Schwanz einkneift und gefolgt vom Bären zu Herrchen zurückrennt.

Und der Jäger darf nicht das große Zittern bekommen. Wenn Meister Petz im finsteren Wald angewetzt kommt, dann hat man vielleicht ein paar Sekunden. Der Bereich, in dem ein Bär tödlich getroffen werden kann, ist nicht größer als der Boden eines Kochtopfs. Man zielt stehend, ohne irgendeine Stütze. Es ist, wie einen fliegenden Tennisball abzuschießen. Trifft man ihn nicht gleich, ist fraglich, ob die Zeit für einen weiteren Schuss reicht. Bärenjagd ist nichts für Leute mit zittrigen Händen.

»Wenn man vom Teufel spricht«, sagt der Jagdleiter und schaut den Weg entlang.

Patrik Mäkitalo steigt aus seinem Auto und nickt zum Gruß. Er ist um die fünfunddreißig, hat schräg stehende Augen und ein langes schmales Ziegenbärtchen. Ein Mongolenkrieger aus Norrbotten.

Patrik sagt nicht viel, hört dem Jagdleiter zu, fragt Samuel nach dem Schuss. Wo er gestanden habe. Und wo der Bär. Welche Munition Samuel benutzt habe.

»Oryx.«

»Gut«, sagt Patrik Mäkitalo. »Hohes Restgewicht. Mit etwas Glück ist das voll durchgegangen. Dann verliert er mehr Blut. Ist leichter aufzuspüren.«

»Was benutzt du?«

Einer der Alten wagt diese Frage.

»Vulkan. Bleibt meistens gleich unter der Haut stecken.«

War ja klar, denken die alten Männer. Der schießt seine Beute nicht an. Braucht keine Fährten aufzunehmen. Kann das Bärenfell schonen.

Patrik Mäkitalo entsichert das Gewehr und geht zum Waldrand. Ist kurz darauf mit Blut an den Fingern wieder da.

Er öffnet die Hecktür seines Wagens. Im Hundekäfig drinnen stehen seine hechelnden Jagdhunde mit frohem Hundegrinsen. Außer ihrem Herrchen würdigen sie niemanden auch nur eines Blickes.

»Bestimmt können wir feststellen, in welche Richtung er gegangen ist«, sagt Patrik Mäkitalo. »Aber wenn er gegen den Wind und durch die Schonung läuft, dann besteht durchaus das Risiko, dass er hier irgendwo rüberkommt.«

Er zeigt auf den Bach, der zum Lainioälv weiterfließt.

»Vor allem, wenn es ein älterer Gauner ist, der gelernt hat, wie man Hunde überlistet. Ihr müsst ein Boot besorgen und euch bereithalten, falls nötig. Meine Hunde haben keine Scheu, sich die Pfoten nasszumachen, aber Herrchen ist nicht ganz so hart im Nehmen.«

Alle lächeln ein wenig, um sich vor dieser gemeinsamen Aufgabe zu verbrüdern.

Der Jagdleiter gibt sich einen Ruck und fragt: »Soll jemand mit dir kommen?«

»Nein. Wir suchen erst mal eine Runde, dann sehen wir weiter. Wenn er in die Richtung da und weiter zum Moor läuft, müsst ihr euch bereithalten, loszugehen und Posten zu beziehen. Wir wollen erst mal sehen, welche Richtung er eingeschlagen hat.«

»Er müsste doch leicht aufzuspüren sein, jedenfalls wenn er blutet«, sagt einer der Männer.

Ohne ihn auch nur anzusehen, antwortet Patrik Mäkitalo: »Tja, oft hören sie ja nach einer Weile mit Bluten auf. Und dann verkriechen sie sich im Dickicht und ziehen gerne eine Schleife und schleichen sich von hinten an ihre Verfolger an. Wenn ich also Pech habe, dann findet er mich.«

»Verdammter Mist aber auch«, sagt der Jagdleiter und bedenkt den redseligen Kameraden mit einem strafenden Blick.

Patrik Mäkitalo lässt seine Hunde los. Sie verschwinden wie zwei braune Striche, die Nasen am Boden. Er folgt mit dem GPS in der Hand.

Einfach drauflosstapfen. Er schaut zum Himmel auf und hofft, dass sich der Schneefall nicht verdichtet.

Es geht schnell voran, über Stock und Stein. Flüchtig denkt er an die Jäger, mit denen er eben zusammen war. Solche, die auf der Pirsch saufen und einnicken. Die könnten nie mit ihm Schritt halten. Und die Jagd würden sie schon gar nicht schaffen.

Er kommt am Schotterweg vorbei. Auf der anderen Seite gibt es einen sandigen Abhang. Den ist der Bär hochgelaufen. Breitbeinig und schwerfällig. Patrik Mäkitalo legt seine Hand in die unverkennbaren Bärenspuren.

Die Leute in Lainio haben schon seit längerem Angst vor Bären. Sie wissen, dass dieser manchmal in der Nähe war. Abfälle bei einer umgestoßenen Mülltonne, dampfend in der Morgenkälte, rot wie Grütze aus Blaubeeren und Preiselbeeren. Es wird viel über Bären geredet. Alte Geschichten werden wieder aufgewärmt.

Patrik betrachtet die Reißspuren im Boden, wo der Bär sich abgestemmt hat, um den Hang zu bewältigen. Er muss messerscharfe Krallen an den Tatzen haben. Im Ort haben sie die Abdrücke gemessen. Haben Streichholzschachteln neben die Spuren gelegt und mit ihren Mobiltelefonen fotografiert.

Frauen und Kinder mussten im Haus bleiben. Niemand hat gewagt, im Wald Beeren zu sammeln. Eltern holen ihre Kinder mit dem Auto vom Schulbus ab.

Das ist bestimmt ein großer Gangster, denkt Patrik und betrachtet die Spur. Ein alter Fleischfresser. Sicher hat er sich deshalb den Hund geholt.

Jetzt ist er in einem Wald aus hohen Kiefern angekommen. Der Boden ist leicht begehbar und eben. Die Kiefern stehen weit auseinander, ein Säulengang, gerade Stämme, keine Zweige, nur weit oben rauschende Wipfel. Das Moos, das im Sommer unter den Schritten knistert, ist aufgeweicht und verschluckt jeden Laut.

Gut, denkt er. Lautlos und gut.

Er durchquert ein altes Heumoor. In der Mitte ist eine Hütte eingestürzt. Das Dach liegt in morschen Resten umher. Es ist noch nicht so lange kalt, dass der Boden gefroren wäre. Patriks Schritte sinken im Torfboden ein, ihm bricht der Schweiß aus. Es riecht nach Verwesung und eisenreichem Wasser.

Bald schwenkt die Spur ab. Zieht sich zum Krüppelwald bei Vaikkojoki hin.

Einige Raben krächzen und schreien weiter weg in den grauen Morgen. Die Vegetation wird dichter. Die Bäume schrumpfen. Kämpfen um Platz. Krüppelkiefern. Struppige graue Fichtenzweige. Hagere junge Birken, bei denen das nicht weggewehte Laub vor dumpfem Grün und Grau gelb leuchtet. Weiter als fünf Meter kann man nicht sehen. Und meistens nicht einmal so weit.

Dann hört er die Hunde, hört sie dreimal scharf anschlagen. Danach ist alles still.

Er weiß, was das bedeutet. Sie haben den Bären gestellt. Ihn von seinem Krankenlager aufgescheucht. Wenn sie den scharfen Geruch eines verletzten Bären wittern, bellen sie immer einige Male.

Nach ungefähr zwanzig Minuten hört er die Hunde abermals bellen. Diesmal ausdauernd. Sie haben den Bären eingeholt. Er wirft einen Blick auf das GPS. Anderthalb Kilometer weiter. Sie bellen, während sie weiterlaufen, nehmen bellend die Verfolgung auf. Immer weitergehen. Es bringt nichts, sich jetzt schon abzuhetzen. Er hofft, dass die junge Hündin nicht zu nahe an den Bären herangeht. Sie ist ein wenig hitzig. Die andere arbeitet ruhiger. Schlägt im Stehen an und arbeitet auf sichere Entfernung. Selten geht sie näher als drei Meter an die Beute heran. Jetzt bleibt sie sicher auf vier, fünf Meter. Ein waidwunder Bär kennt keine Geduld.

Nach einer halben Stunde schlägt das Bellen in Standgebell um. Jetzt stehen Bär und Hunde still.

Klar doch. Im wildesten Dickicht. Nichts als Gestrüpp und Elend und überhaupt keine Sicht. Er geht weiter und ist jetzt nur noch zweihundert Meter entfernt.

Der Wind kommt von der Seite. Das macht nichts. Der Bär kann seine Witterung eigentlich nicht aufnehmen. Er entsichert das Gewehr. Geht weiter. Sein Herz klopft.

Schon okay, denkt er. Er wischt sich die Hand am Hosenbein ab. Ein wenig Adrenalin gehört dazu.

Noch fünfzig Meter. Er kneift die Augen zusammen, starrt aus dem Dickicht zu den Hunden hinüber. Beide tragen Westen, die auf der einen Seite neongrün sind, auf der anderen neonorange. Um sie vom Bären unterscheiden zu können, wenn es drauf ankommt. Und um zu sehen, in welche Richtung der Hund blickt.

Jetzt sieht er da vorn etwas Orangenes aufleuchten. Welcher Hund mag das sein? Das ist nicht zu erkennen. Der Bär steht gewöhnlich zwischen den Hunden. Patrik hält Ausschau, kneift die Augen zusammen, geht so leise wie möglich zur Seite. Bereit zu schießen, zu laden, wieder zu schießen.

Der Wind schlägt um. Im selben Moment entdeckt er den zweiten Hund. Die beiden stehen zehn Meter auseinander. Irgendwo dort muss der Bär sein. Aber den sieht er nicht. Muss näher heran. Doch jetzt hat er den Wind schräg im Nacken. Das ist nicht gut. Er hebt das Gewehr.

In zehn Metern Entfernung sieht er den Bären. Schießen kann er hier nicht. Zu viele Bäume und Gestrüpp dazwischen. Plötzlich richtet der Bär sich auf. Er wittert Menschengeruch.

Und dann kommt er angestürzt. Es geht so schnell. Patrik hat kaum Luft geholt, als der Bär auch schon die halbe Strecke hinter sich gebracht hat. Es knackt und kracht wie wild, wenn er unterwegs Zweige und Äste bricht.

Patrik schießt. Der erste Schuss lässt den Bären ein wenig zur Seite schlingern. Aber er läuft weiter. Der zweite Schuss sitzt perfekt. Drei Meter vor ihm kippt der Bär um.

Die Hunde machen sich sofort darüber her. Beißen ihn ins Ohr. Kauen an seinem Fell herum. Patrik lässt sie gewähren. Das ist ihre Belohnung.

Sein Herz schlägt wie eine offene Tür bei Sturm. Zwischen den Lobesworten an seine Hunde holt er Luft. Gut gemacht. Braves Mädchen. Herrchens feiner Hund.

Er zieht das Telefon hervor. Ruft die Jagdgesellschaft an.

Es hätte schiefgehen können. Sehr leicht hätte es schiefgehen können. Kurz denkt er an seinen Jungen und seine Freundin. Verscheucht den Gedanken gleich wieder. Sieht den Bären an. Der ist groß. Richtig groß. Fast schwarz.

Jetzt kommt die Jagdgesellschaft. Kalter Herbst, blutverschmierter Bär und tiefer Respekt liegen in der Luft. Sie fesseln den Bärenkadaver und legen sich die Riemen so um den Nacken und unter den Armen durch, dass sie ihn durch den Wald zu einer näher bei der Straße gelegenen Lichtung ziehen können, die der Geländewagen erreicht. Sie legen sich ins Zeug wie die Ochsen, es ist ein schwerer Gauner, stellen sie fest.

Der Tierbeschauer vom Bezirksamt trifft ein. Er inspiziert den Schussort, um sich davon zu überzeugen, dass niemand das Köderverbot missachtet hat. Danach nimmt er alle nötigen Proben, während die Männer eine Verschnaufpause einlegen. Er schneidet ein Haarbüschel ab, trennt eine Hautprobe heraus, schneidet die Hoden ab, stemmt mit dem Messer einen Zahn zur Altersbestimmung aus.

Dann schneidet er dem Bären den Bauch auf.

»Wollen wir mal nachsehen, was der Teddy verspeist hat?«, fragt er.

Patrik Mäkitalo hat die Hunde an einen Baum gebunden. Leise fiepend zerren sie an der Leine. Es ist doch ihr Bär.

Der Mageninhalt dampft und stinkt einfach grauenhaft.

Einige Männer weichen unwillkürlich einen Schritt zurück. Sie wissen, was der Magen enthält. Die Überreste von Samuel Johanssons Elchhund. Das weiß auch der Tierbeschauer.

»Sieh an«, sagt er. »Beeren und Fleisch. Haut und Fell.«

Er stochert mit einem Zweig im Matsch herum. Seine Mundwinkel ziehen sich ungläubig nach unten.

»Aber das hier ist doch verdammt noch mal kein …«

Er verstummt. Hebt mit der rechten Hand, die in einem Plastikhandschuh steckt, einige Knochenstücke hoch.

»Was zum Teufel hat das Vieh denn gefressen?«, murmelt er und stochert ein wenig weiter.

Die Männer sind näher getreten. Kratzen sich am Hinterkopf, dass ihnen die Mützenschirme in die Stirn rutschen. Einige setzen ihre Brille auf.

Der Tierbeschauer richtet sich auf. Eilig. Tritt zurück. Er hält ein Knochenstück zwischen den Fingern.

»Wisst ihr, was das hier ist?«, fragt er.

Er ist ganz grau geworden. Sein Blick jagt ihnen kalte Schauer über den Rücken. Im Wald herrscht Stille. Kein Windhauch. Kein Vogel. Der Wald scheint ein Geheimnis zu wahren.

»Von einem Hund ist das hier jedenfalls nicht. So viel steht fest.«

Sonntag, 23. Oktober

DER HERBSTFLUSS SPRACH noch immer mit ihr über den Tod. Aber auf andere Weise. Früher war er schwarz. Er sagte: Du kannst der Sache ein Ende machen. Kannst auf das dünne Eis hinauslaufen, so weit du kommst, ehe es bricht. Jetzt sagte der Fluss: Du, mein Mädchen, bist nichts weiter als ein Blinzeln. Das kam ihr tröstlich vor.

Staatsanwältin Rebecka Martinsson schlief tief in der Wolfsstunde. Sie wurde nicht mehr davon wach, dass die Angst in ihr wühlte, grub, herumscharrte. Keine Schweißausbrüche, kein Herzklopfen.

Sie stand nicht in der Toilette, starrte in schwarze Pupillen und wollte sich die Haare abschneiden oder irgendetwas anzünden, am liebsten sich selbst.

Es ist gut, sagte sie stattdessen. Zu sich oder dem Fluss. Ab und zu auch zu anderen, wenn jemand zu fragen wagte.

Es war gut. Dass sie ihre Arbeit verrichten konnte. Ihr Haus in Ordnung halten. Nicht immerzu einen trockenen Mund und Ausschlag von den vielen Medikamenten bekam. Nachts schlief.

Und ab und zu lachte sie sogar. Während der Fluss dahinfloss, wie er es durch viele Generationen vor ihr getan hatte und wie er es auch tun würde, wenn sie nicht mehr da wäre.

Nur gerade jetzt, für einen kurzen Hauch von Leben, konnte sie lachen und ihr Haus in Ordnung halten, ihre Arbeit verrichten und in der Sonne auf der Vortreppe eine Zigarette rauchen. Danach würde sie sehr lange nichts sein.

Oder was?, fragte der Fluss.

Es gefiel ihr, das Haus in Ordnung zu halten. Es in der Zeit ihrer Großmutter zu erhalten. Sie schlief im Alkoven auf der lackierten Ausklappbank. Auf dem Boden lagen Flickenteppiche, die ihre Großmutter gewebt hatte. Die Brettchen hingen an bestickten Bändern.

Der Ausziehtisch und die Stühle waren blau gestrichen und überall blank gescheuert, wo Hände geruht, wo Füße sich abgestemmt hatten. Im Hängeregal drängten sich die Postillen des Læstadius mit dem Gesangbuch und dreißig Jahre alten Nummern der Illustrierten Hemmets Journal, Allers und Land. Im Wäscheschrank stapelten sich gemangelte Leintücher, schon fast durchsichtig vom Gebrauch.

Auf Rebeckas Füßen lag der junge Hund Jasko und schnupperte. Den hatte ihr der Polizist Krister Eriksson anderthalb Jahre zuvor geschenkt. Ein feiner Schäferhund. Bald ein ganzer Kerl, jedenfalls wenn es nach ihm ging. Beim Pinkeln hob er das Bein so hoch, dass er fast das Gleichgewicht verlor. In seinen Träumen war er der König von Kurravaara.

Seine Pfoten zuckten, wenn er im Schlaf diese lästigen Nagetiere packte, die seine Tage mit verlockendem Geruch füllten, sich aber nie schnappen ließen. Er bleckte die Zähne, und seine Lefzen zuckten, wenn er träumte, dass er ihnen mit einem Knacken das Rückgrat brach. Vielleicht träumte er auch, dass sämtliche Hündinnen der Umgebung die schönen Liebesbriefe beantworteten, die er tagsüber an jeden Grashalm pinkelte.

Aber wenn der König von Kurravaara erwachte, wurde er immer nur »Rotzwelpe« genannt. Und keine Hündin ließ von sich hören.

Rebeckas anderer Hund lag nie in ihrem Bett. Saß nie auf ihrem Schoß, wie Rotzwelpe es so gern tat. Die Mischlingshündin Vera ließ sich vielleicht kurz übers Fell fahren, aber von längeren Streicheleinheiten konnte bei ihr keine Rede sein.

Sie schlief unter dem Küchentisch. Alter und Rasse waren unbekannt. Früher hatte sie mit ihrem Herrchen tief im Wald gewohnt, einem Eigenbrötler, der sein eigenes Mückenöl kochte und im Sommer nackt herumlief. Als der Mann ermordet worden war, war sie zu Rebecka Martinsson gekommen. Sonst wäre sie eingeschläfert worden. Die Vorstellung hatte Rebecka nicht ertragen können. Vera war mit zu ihr nach Hause gekommen. Und geblieben.

Gewissermaßen jedenfalls. Sie war eine Hündin, die ihre eigenen Wege ging. Und sich von Rebecka suchen ließ, wenn sie auf der Straße zur Stadt verschwand oder das Kartoffelfeld bei den Bootshäusern durchstöberte.

»Dass du dich traust, sie laufen zu lassen«, sagte Rebeckas Nachbar Sivving. »Du weißt doch, wie die Leute sind. Sie könnte erschossen werden.«

Beschütze sie, betete Rebecka dann. Zu einem Gott, auf den sie manchmal hoffte. Und wenn nicht, lass es schnell gehen. Denn sie einsperren, das kann ich nicht. Das würde sie mir nie verzeihen.

Veras Pfoten zuckten nicht, wenn sie schlief, sie jagte im Traum keinen trügerischen Düften hinterher. Wovon Rotzwelpe nur träumte, das machte sie in wachem Zustand. Im Winter lauschte sie Wühlmäusen unter dem Schnee, tauchte mit der Schnauze ein und fing sie wie ein Fuchs oder nahm Anlauf und zertrampelte sie mit den Vorderpfoten. Im Sommer grub sie Mäusenester aus, verschlang die nackten Jungen, fraß in den Gärten Pferdedung. Sie wusste, um welche Höfe und Häuser sie einen Bogen machen musste. Da rannte sie vorbei, geduckt im Straßengraben. Und sie wusste, wo sie zu Zimtschnecken und Rentierfleischresten eingeladen wurde.

Ab und zu blieb sie stehen und schaute nach Nordosten. Dann bekam Rebecka eine Gänsehaut. Denn dort lag das alte Zuhause der Hündin, jenseits des Flusses, oben bei Vittangijärvi.

»Fehlt er dir?«, fragte Rebecka dann.

Und war dankbar dafür, dass nur der Fluss sie hörte.

Jetzt wachte Vera auf, setzte sich am Kopfende auf den Boden und starrte Rebecka an. Als Rebecka die Augen aufschlug, klopfte Vera aufmunternd mit dem Schwanz auf den Boden.

»Das soll wohl ein Witz sein«, stöhnte Rebecka. »Es ist Sonntagmorgen. Ich schlafe.«

Sie zog sich die Decke über den Kopf. Vera legte den Kopf auf die Bettkante.

»Verschwinde«, sagte Rebecka unter der Decke, obwohl sie wusste, dass es zu spät war, sie war jetzt hellwach.

»Musst du pissen?«

Beim Wort »pissen« lief Vera sonst immer zur Tür. Aber jetzt nicht.

»Kommt Krister?«, fragte Rebecka. »Ist Krister unterwegs?«

Vera schien zu spüren, wenn Krister Eriksson sich in der Stadt, fünfzehn Kilometer entfernt, in sein Auto setzte.

Als Antwort auf Rebeckas Frage lief Vera zur Tür, legte sich hin und wartete.

Rebecka schnappte sich die Kleidungsstücke, die über einem Holzstuhl neben der Ausklappbank lagen, und legte sich kurz darauf, ehe sie sie unter der Decke anzog. Nach der Nacht war das Haus ausgekühlt, es war unerträglich, aufzustehen und in eiskalte Kleider zu steigen.

Als sie auf der Toilette saß, drängten sich beide Hunde vor ihr zusammen. Rotzwelpe legte ihr den Kopf auf die Knie und wollte unbedingt gekrault werden.

»Jetzt gibt es Frühstück«, sagte Rebecka und streckte die Hand nach dem Toilettenpapier aus.

Die Hunde stürzten in die Küche. Bei ihren Fressnäpfen schien ihnen einzufallen, dass die Leithündin noch immer auf der Toilette saß, und sie schlitterten zu Rebecka zurück. Die wusch sich gerade eilig die Hände unter kaltem Wasser.

Nach dem Frühstück kehrte Rotzwelpe in die Bettwärme zurück.

Vera legte sich auf den Flickenteppich neben der Eingangstür, drückte ihre schmale Schnauze auf die Pfoten und stieß einen sehnsüchtigen Seufzer aus.

Zehn Minuten später war ein Auto zu hören, das auf den Hofplatz fuhr.

Rotzwelpe sprang so rasant aus dem Bett, dass die Decke in die Ecke flog. Er jagte unter den Esstisch, dann weiter zu Rebecka, zur Tür, und das gleiche Spiel von vorn. Die Flickenteppiche wurden zusammengeschoben, er rutschte über den lackierten Holzboden. Die Küchenstühle kippelten bedenklich.

Vera war aufgestanden, wartete geduldig und wollte ebenfalls aus dem Haus gelassen werden. Ihr Schwanz schlug freudig hin und her, aber sie neigte nicht dazu, die Dinge zu überstürzen.

»Ich begreife wirklich nicht, was ihr meint«, sagte Rebecka treuherzig. »Das müsst ihr mir näher erklären.«

Worauf Rotzwelpe fiepte und winselte, auffordernd zur Tür hinüberblickte, hinrannte und zu Rebecka zurückkehrte.

Die ging unendlich langsam zur Tür. Bewegte sich im Schneckentempo. Sah immer wieder Rotzwelpe an, der vor Aufregung zitterte und bebte. Vera setzte sich auf die Hinterläufe. Bitte, wenn Frauchen es so haben wollte. Dann drehte Rebecka den Schlüssel um und öffnete die Tür. Die Hunde schossen die Treppe hinunter.

»Aha, das wolltet ihr also«, lachte Rebecka.

Der Polizist und Hundeführer Krister Eriksson hielt vor Rebecka Martinssons Haus. Schon von Weitem hatte er in ihrem Küchenfenster im ersten Stock Licht gesehen und gespürt, wie ihn die Freude durchzuckte.

Nun öffnete er die Autotür, und im selben Moment kamen Rebeckas Hunde angeschossen.

Als Erste die schwanzwedelnde Vera mit freundschaftlich gekrümmtem Rücken.

Kristers eigene Hunde, Tintin und Roy, waren zwei fleißige, schöne, disziplinierte und reinrassige Schäferhunde. In der Truppe und in der Stadt wurde von seinen Hunden geredet. Rebeckas Rotzwelpe war Tintins Sohn. Aus dem würde mal ein Spitzenhund werden.

Und mitten in dieser Bande die Landstreicherin Vera. Wie ein Strich in der Landschaft. Ihr eines Ohr stand aufrecht nach oben, das andere war abgeknickt. Um das eine Auge hatte sie einen schwarzen Fleck.

Anfangs hatte er versucht, sie zu erziehen. »Sitz«, hatte er befohlen. Sie hatte ihm in die Augen geschaut und den Kopf schräg gelegt. »Wenn ich nur verstehen könnte, was du meinst, aber wenn du dieses Leber-Leckerli da nicht selber essen magst …«

Er war daran gewöhnt, dass Hunde ihm gehorchten. Aber Vera ließ sich nicht einmal bestechen.

»Hallo, Dorfköter!«, sagte er jetzt, zog sie an den weichen Ohren und streichelte ihren schmalen Kopf. »Wie kannst du so dünn sein, wo du doch ununterbrochen frisst?«

Ganz kurz ließ sie sich streicheln. Dann machte sie Rotzwelpe Platz. Der jagte wie ein Troll mit Senf im Hintern zwischen Kristers Beine, drehte sich um sich selbst, konnte nicht lange genug stillhalten, dass Krister ihn wirklich streicheln konnte, warf sich in totaler Unterwürfigkeit zu Boden, sprang wieder auf, stupste Krister mit den Vorderpfoten an, legte sich abermals auf den Rücken, drehte sich um, stürzte davon und holte einen Tannenzapfen, mit dem sie vielleicht spielen könnten, ließ ihn vor Kristers Füße fallen, leckte ihm die Hand und gähnte am Ende laut, um etwas von den vielen Gefühlen loszuwerden, die ihn einfach überwältigten.

Rebecka trat auf die Vortreppe. Er sah sie an. Sie war so schön. Die Arme verschränkt, die Schultern gegen die Kälte bis zu den Ohren hochgezogen. Die kleinen Brüste, die sich unter dem Militärunterhemd abzeichneten. Die langen dunklen Haare noch verstrubbelt vom Schlaf.

»Hallo«, rief er ihr zu. »Wie schön, dass du schon so früh munter bist!«

»Von wegen schon so früh munter«, rief Rebecka zurück. »Das kommt von diesem Tier. Ihr steckt irgendwie unter einer Decke. Sie weckt mich, wenn du auf dem Weg hierher bist.«

Er lachte. Freude und Schmerz nah beieinander. Sie hatte schon einen Freund. Diesen Anwalt in Stockholm.

Aber ich gehe mit ihr durch den Wald, dachte er. Ich kümmere mich um ihren Hof und um ihre Hunde. Natürlich nur, wenn sie zu ihm fährt. Aber was macht das schon.

Ich nehme, was ich kriegen kann, sagte er sich wie ein Mantra. Ich nehme, was ich kriegen kann.

»Gut so, Mädel«, murmelte er Vera zu. »Weck sie ruhig. Und diesen Anwalt kannst du ins Bein beißen.«

Rebecka erwiderte Kristers Blick und schüttelte leicht verwundert den Kopf. Er sagte nicht offen, dass er in sie verliebt war. Er drängte sich auch nicht auf. Aber er sah sie immer lange und ausgiebig an. Er konnte lächeln und sie ansehen, als wäre sie ein Weltwunder. Ohne lange zu fragen, kam er zu ihr und zog mit ihr los in den Wald. Natürlich nur, wenn nicht gerade Måns zu Besuch war. Dann ließ er sich überhaupt nicht blicken.

Måns konnte Krister Eriksson nicht leiden.

»Der sieht aus wie ein Wesen aus dem Weltraum«, sagte er immer.

»Ja«, sagte Rebecka dann.

Denn es stimmte ja auch. Eine schlimme Brandverletzung in Kristers jungen Jahren hatte ihn entstellt. Er hatte keine Ohrmuscheln, seine Nase bestand eher aus zwei Löchern im Gesicht. Seine Haut war wie trockenes Pergament in Rosa und Braun.

Aber er hat einen starken, geschmeidigen Körper, dachte sie, während Rotzwelpe ihm das Gesicht leckte. Die Hunde wussten, wie diese Haut sich anfühlte.

»Nur damit du’s weißt«, sagte sie und lächelte fröhlich. »Gestern hat er den ganzen Nachmittag auf Larssons Misthaufen verbracht, alte Kuhfladen zerbröselt und die weißen Maden daraus geschlürft.«

»Hmmpff«, antwortete Krister, kniff den Mund zusammen und versuchte, Rotzwelpe wegzuschieben.

Vera schaute auf, sah zur Straße hinüber und bellte einmal.

Kristers Hunde im Auto bellten ebenfalls los. Jetzt hatten sich alle außer ihnen schon so verdammt lange so köstlich amüsiert.

Gleich darauf tauchte Rebeckas Nachbar Sivving bei den Briefkästen auf.

»Hallo«, rief er. »Und hallo, Krister, hab mir doch gedacht, dass ich dein Auto gehört hab.«

»Himmel«, murmelte Rebecka. »Vorhin hatte ich noch einen ruhigen Sonntagmorgen.«

Vera lief los, um Sivving zu begrüßen. Er kam ihr, so schnell er konnte, entgegen, aber es ging nicht so gut. Seine linke Seite wollte nicht recht. Er schleppte den Fuß hinterher. Der Arm hing kraftlos herab.

Rebecka sah Vera an, die Sivving den Handschuh auszog und eine langsame Runde um ihn drehte, gerade so langsam und so nah, dass er sich den Handschuh zurückerobern konnte.

»Hundebiest«, hörte sie ihn mit warmer Stimme sagen.

Aber mit mir spielt sie nie, dachte Rebecka.

Jetzt hatte Sivving sie erreicht. Er war noch immer ein kräftiger Mann. Groß. Respekteinflößender Leibesumfang, die Haare weiß und flauschig wie eine Pusteblume.

»Können wir zu Sol-Britt Uusitalo fahren?«, fragte er unvermittelt. »Ich habe versprochen, vorbeizufahren und nach ihr zu sehen. Ihre Arbeitskollegin hat angerufen und macht sich Sorgen. Sie wohnt drüben bei Lehtiniemi.«

Rebecka knirschte innerlich mit den Zähnen.

Immer will er irgendwas von mir, dachte sie. Erst verspricht er anderen was. Und dann kommt er her, obwohl es früher Sonntagmorgen ist.

Aber Krister öffnete die Beifahrertür.

»Steig einfach ein«, sagte er zu Sivving und schob den Sitz zurück, damit Sivving sich leichter setzen konnte.

Wie nett er ist, dachte Rebecka. Aufmerksam und fürsorglich. Ihr schlechtes Gewissen versetzte ihr einen Stich.

»Ann-Helen Alajärvi, du weißt doch, wer das ist, die Tochter von Gösta Asplund«, sagte Sivving und kämpfte mit dem Sicherheitsgurt über seinem dicken Bauch. »Sie macht mit Sol-Britt das Frühstücksbüfett im Winterpalast. Hat angerufen und macht sich Sorgen. Sol-Britt hätte heute Morgen um sechs bei der Arbeit sein sollen. Ich habe versprochen, mal bei ihr nachzusehen. Ich muss ja doch mit Bella raus. Aber dann habe ich Kristers Auto entdeckt. – Gut, dass ihr auch mitkommt«, fügte er hinzu. »Falls man die Tür aufbrechen muss.«

Zufrieden sah er die beiden an. »Eine Staatsanwältin und ein Polizist.«

»So läuft das aber nicht«, sagte Rebecka.

»O doch«, sagte Krister und lachte. »So läuft das. Rebecka klettert auf das Dach und steigt durch das Fenster, und ich werfe mich gegen die Tür.«

Sie fuhren in Richtung Lehtiniemi los.

»Ist das eine Bekannte von dir, diese Sol-Britt?«, fragte Krister.

Rebecka saß auf dem Rücksitz, mit Vera und Sivvings Vorstehhündin Bella. Rotzwelpe durfte den Hundekäfig mit Kristers Hunden teilen.

Das Auto roch nach Hund. Bella, der im Auto schlecht wurde, sabberte lange Speichelfäden.

»Na ja, Bekannte wäre vielleicht übertrieben«, antwortete Sivving. »Sie wohnt ja ein wenig ab vom Schuss. Ist auch jünger als ich. Aber Sol-Britt hat immer schon hier gelebt, also grüßt man sich natürlich, wenn man sich begegnet. Vor einigen Jahren hatte sie ein wenig Probleme mit dem Alkohol. Damals war das also nicht so unbegreiflich, wenn sie manchmal nicht zur Arbeit kam. Dann wussten die Kollegen Bescheid. Einmal stand sie bei mir auf der Matte und wollte Geld leihen. Ich sagte Nein, aber ich kann dir was zu essen geben, wenn du das willst. Wollte sie aber nicht. Wie auch immer. Vor drei Jahren wurde ihr Sohn totgefahren. Er war fünfunddreißig, arbeitete in der Eiswerkstatt in Jukkasjärvi, früher ein vielversprechender Skiläufer, hat mit siebzehn die Juniorenmeisterschaft hier im Bezirk gewonnen. Hinterließ einen Sohn. Der war damals so an die drei, vier Jahre alt. Wie heißt er doch gleich …«

Sivving verstummte und schüttelte den Kopf, wie um den Namen des Jungen herauszuschütteln. Man konnte doch einen Bericht nicht fortsetzen, ohne die Namen parat zu haben.

Großer Gott, was kann der reden, dachte Rebecka und schaute aus dem Autofenster.

Am Ende fiel es ihm ein.

»Marcus! Das war auch so eine Geschichte. Seine Mutter war schon längst nach Stockholm gegangen. Sie hatte einen neuen Mann und zwei Kinder. Hals über Kopf. Sie hat sich nach Stockholm abgesetzt, als Marcus gerade ein Jahr alt war. War sofort mit diesem Neuen zusammengezogen und hatte sich diese neuen Kinder angeschafft. Und sie hat wohl kein großes Interesse gezeigt, sich um den Kleinen zu kümmern. Sol-Britt war so wütend. Aber sie war ja auch froh, dass Marcus bei ihr blieb. Und es war wie ein neuer Anfang. Sie ging zu den AA und hörte ganz mit Trinken auf. Ich habe Ann-Helen heute Morgen am Telefon gefragt, ob sie meint, dass Sol-Britt vielleicht rückfällig geworden ist. Aber Ann-Helen sagt, nie im Leben. Und das muss man ihr ja wohl glauben. So vieles kann passieren. Man stolpert über die Teppichkante und knallt mit dem Kopf auf den Tisch. Es kann doch Tage dauern, bis man gefunden wird.«

Rebecka verkniff sich ein »Ich schaue immerhin mindestens einmal am Tag bei dir herein«. Sie sah, wie Krister ihr im Rückspiegel rasch einen Blick zuwarf.

»Sag mal, hast du in diesem Jahr Moltebeeren gepflückt?«, fragte er.

»Das sieht nicht gut aus. Nein, niemand hat in diesem Jahr welche gefunden. Zu wenig Insekten. Ich kenne da einige Moore bei Rensjön. Da gibt es sonst immer Moltebeeren. Aber nein, nicht in diesem Jahr. Ich war stundenlang unterwegs, und nicht einmal der Boden im Eimer war bedeckt. Aber am See gibt es ein Birkenwäldchen. Vor drei, vier Jahren war ich mal da, und es war ein gutes Moltebeerenjahr, und da dachte ich, in diesem Birkenwäldchen muss es doch welche geben, aber keine einzige Beere. Und in diesem Jahr, wo es doch nirgendwo Moltebeeren gab, dachte ich, ich könnte mal in diesem Wäldchen nachsehen. Und jede Menge Beeren! Die waren wie ein Teppich. Nur vielleicht fünfzehn Meter breit und hundert Meter lang. Ich habe zwei Stunden lang gepflückt und hatte am Ende sieben, acht Liter. Aber das war dann auch alles.«

»Wow!«, sagte Krister beeindruckt.

Rebecka ließ ihren Gedanken freien Lauf. Schön, dass Krister fröhlich und interessiert war. Damit Sivving sich aussprechen konnte. Nicht nur die Hunde brauchten Auslauf.

»Na ja, aber mit dem Arm ist das ja nicht mehr so leicht«, fuhr Sivving fort. »Früher, weißt du. Als ich und Maj-Lis in Pauranki Blaubeeren gepflückt haben. Kann das fünfundneunzig gewesen sein? In acht Stunden habe ich hundertfünfundvierzig Liter Blaubeeren gepflückt. Sie wuchsen überall. Am Rand der Moore und auf den trockenen Flächen und dort, wo Holzschlag war. Sie waren so schwer, dass die Stengel sich bogen, zuerst sah man nur grün, musste die Stengel heben, um pflücken zu können. Große Beeren. Und total von der Sonne gesättigt und süß. Hier ist es! Du brauchst nicht auf den Hof zu fahren. Bleib einfach hier stehen.«

Endlich, dachte Rebecka.

Sivving zeigte auf ein Haus am Straßenrand. Es war ein einstöckiges Holzhaus, irgendwann in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts errichtet. Ein schmiedeeiserner Balkon vorn über der Haustür schien in einem Zustand zu sein, dass man ihn besser nicht betrat. Es gab keine Vortreppe. Zwei Holzkisten aufeinander führten zur Haustür. Vermutlich war die alte Vortreppe abgerissen worden, und es war nie zum Bau einer neuen gekommen. Es gab keinen Rasen, das Haus stand auf einer dürftigen Wiese, wie sie auf Sandboden wächst. Eine Sonnenuhr und eine Fahnenstange, von der die Farbe abgeblättert war, standen mitten auf dem Hofplatz und sahen verlassen aus. Gefrorene Bettbezüge und Laken an einer Wäscheleine zeugten davon, dass die Frostnächte eingesetzt hatten.

»Ich frage mich, ob es nicht dasselbe Jahr war, in dem ich so viel Moosbeeren gepflückt habe«, sagte Sivving, den die Erinnerung an die Beeren in gute Laune versetzt hatte und der noch lange nicht aufhören wollte. »Das war im Spätherbst. Man musste mitten am Tag pflücken, ehe die Nachtkälte einsetzte, denn morgens waren die Beeren dann am Boden angefroren.«

Rebecka rutschte auf dem Rücksitz hin und her. Wenn er nur aussteigen und nach dieser Sol-Britt schauen wollte, damit sie danach in den Wald gehen könnten.

Natürlich muss er sich aussprechen, mahnte sie sich. Nun lass ihn doch einfach reden.

»Eines Tages habe ich vierundzwanzig Liter gepflückt«, machte Sivving weiter. »Zwei davon habe ich Maj-Lis’ Schwester in Pajala gegeben. Und sie hatte Verwandte aus Finnland zu Besuch, die fünf Liter gepflückt hatten. Sie waren so zufrieden. Gunsan sagte: ›Ich kenne einen, der hat vierundzwanzig Liter gepflückt.‹ – ›Sitä ei voi‹, sagten die anderen. ›Das kann man nicht.‹ – ›Der schon‹, sagte Gunsan.«

Er verstummte und sah das Haus an. Dort war alles still.

»Na, da geh ich wohl mal nachsehen«, sagte er dann. »Ihr wartet doch sicher?«

SIVVING ÖFFNETE DIE HAUSTÜR, ohne anzuklopfen, wie es in der Gegend üblich war.

»Hallo«, rief er, bekam aber keine Antwort.

Die Diele war zur Küche hin offen. Drinnen war alles sauber und ordentlich. Der Spültisch aus Stahl glänzte. Darauf lag ein Deckchen mit einer leeren Vase. Das Spülbecken war leer. Die weißen Fliesen waren mit Aufklebern dekoriert, abwechselnd vier Früchte und vier große Blumen in Gelb und Braun.

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