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Das Tagebuch der Anne Frank ist weltberühmt als Dokumentation des unmenschlichen Alltags unter der Nazi-Herrschaft in den Niederlanden. Aber Anne Frank war nicht nur eine hellwache und überaus reife Chronistin ihres Alltags. Ihr größter Wunsch war es, Schriftstellerin zu werden, ein Aspekt, den "Denn schreiben will ich!" eindrucksvoll zeigt. Im Versteck hatte Schreiben in ihrem Tagesablauf einen festen Platz, war für sie lebenswichtig. Ihr berühmtes Tagebuch schrieb sie auch im Hinblick auf eine spätere Veröffentlichung. Darin und in anderen ihrer Texte zeigt sich, wie genau die junge Frau ihre Umwelt beobachten und sprachlich fassen konnte. Ihr Werk muss man deshalb nicht nur als wichtiges zeithistorisches Dokument, sondern auch als Ausweis einer großen literarischen Begabung lesen. Die ausgewiesene Anne-Frank-Expertin und Übersetzerin Simone Schroth hat aus der niederländischen kritischen Ausgabe von 1986 eine Auswahl zusammengestellt, die alle Schaffensbereiche von Anne Frank abdeckt. Sie enthält die berühmtesten Stellen aus den Tagebüchern und vermeidet dabei alle früheren Mischeinträge aus mehreren Fassungen. Zum Teil werden verschiedene Varianten desselben Geschehens direkt hintereinander gestellt. Nun endlich lässt sich nachvollziehen, um welche Version des Textes es sich jeweils handelt. Zusätzlich wurden Kurzgeschichten und Teile aus ihrem Fragment gebliebenen Romanentwurf "Cadys Leben" hinzugenommen. Anne Franks Werk ist, so zeigt sich hier, mehr als das Anne-Frank-Tagebuch. "Denn schreiben will ich!" kann man als Anne Franks Lebensmotto verstehen, das ihr außergewöhnliches Werk prägt. E-Book mit Seitenzählung der gedruckten Ausgabe: Buch und E-Book können parallel benutzt werden.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 304
Anne Frank
Denn schreiben will ich!
Aus den Tagebüchern und anderen Werken
Aus dem Niederländischen übersetzt und kommentiert von Simone Schroth
Reclam
2016 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
Covergestaltung: Stefan Schmid Design, Stuttgart
Gesamtherstellung: Reclam, Ditzingen
Made in Germany 2017
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-960880-8
Ich werde dir, hoffe ich, alles anvertrauen können, so wie ich es noch bei niemandem gekonnt habe, und ich hoffe, dass du mir eine große Stütze sein wirst.
Anne Frank12. Juni 1942
[a]
Ich habe bisher eine große Stütze an dir gehabt, und auch an unserem lieben Club, dem ich nun regelmäßig schreibe; diese Art, mein Tagebuch zu führen, finde ich viel schöner, und jetzt kann ich es fast nicht erwarten, bis ich Zeit habe, in dich zu schreiben.
28. September 1942Anne Frank
Ich bin oh so froh, dass ich dich mitgenommen habe.
Sonntag, 14. Juni 1942 [a]
Die Seiten, die hierauf folgen, werden, denke ich, alle vom selben Datum sein, denn ich muss dich noch über alles informieren.
Ich fange mal bei dem Augenblick an, als ich dich bekommen habe, also als ich dich auf meinem Geburtstagstisch habe liegen sehen (denn das Kaufen, bei dem ich auch dabei gewesen bin, zählt nicht mit).
Am Freitag, dem zwölften Juni, war ich schon um sechs Uhr wach, und das ist sehr begreiflich, da ich Geburtstag hatte.
Aber um sechs Uhr durfte ich noch nicht aufstehen, also [10]musste ich meine Neugierde noch bis Viertel vor sieben bezwingen. Dann hielt ich es nicht länger aus; ich ging ins Esszimmer, wo ich von Moortje (der Katze) mit Kopfstupsern willkommen geheißen wurde.
Die Zwischentüren machte ich natürlich zu. Um kurz nach sieben ging ich zu Papa und Mama und dann ins Wohnzimmer, um meine Geschenke auszupacken; an erster Stelle warst du es, was ich zu sehen bekam und was wohl eines meiner schönsten Geschenke ist. Dann einen Strauß Rosen, zwei Zweige Pfingstrosen, eine Pflanze, das waren an diesem Morgen Floras Kinder, die auf meinem Tisch standen, aber es kamen noch viel mehr.
[…]
Dann kam Hanneli mich abholen, und wir gingen in die Schule. In der Pause verteilte ich Butterkekse an Lehrer und Schüler, und dann wieder an die Arbeit.
Als ich nach Hause kam, war es fünf Uhr, denn ich war mit beim Turnen gewesen (obwohl ich nie mitmachen darf, weil ich mir dann Arme und Beine ausrenke) und hatte für meine Klassenkameraden Volleyball als Geburtstagsspiel ausgesucht. Später tanzten sie alle im Kreis um mich herum und sangen »Lang soll sie leben«. Als ich nach Hause kam, war Sanne Ledermann schon da, und Ilse Wagner, Hanneli Goslar und Jacqueline van Maarsen habe ich vom Turnen mitgebracht, denn sie sind in meiner Klasse. Hanneli und Sanne waren früher meine beiden besten Freundinnen, und wer uns zusammen sah, sagte immer, da gehen Anne, Hanne und Sanne. Jacqueline van Maarsen habe ich erst auf dem Jüdischen Lyzeum kennengelernt, und sie ist nun meine beste Freundin. Ilse ist die beste Freundin von Hanneli, und Sanne geht auf eine andere Schule und hat dort ihre Freundinnen. […]
[11]20. Juni 1942 [b]
Es ist für jemanden wie mich ein sehr eigenartiges Gefühl, in ein Tagebuch zu schreiben. Nicht nur, dass ich noch nie geschrieben habe, es kommt mir auch so vor, als würde später weder ich noch jemand anders die Herzensergüsse eines dreizehnjährigen Schulmädchens für wichtig halten. Nun gut, eigentlich kommt es darauf nicht an; ich habe Lust zu schreiben, und noch viel mehr, mein Herz, was allerlei Dinge betrifft, einmal gründlich und ganz und gar zu erleichtern. »Papier ist geduldiger als Menschen«, diese Redensart fiel mir ein, wenn ich an einem meiner eher melancholischen Tage gelangweilt mit dem Kopf in den Händen dasaß und vor Antriebslosigkeit nicht wusste, ob ich ausgehen oder zu Hause bleiben sollte, und deshalb letzten Endes auf demselben Fleck sitzen blieb und grübelte. Ja, tatsächlich, Papier ist geduldig, und da ich nicht vorhabe, jemals jemanden dieses in Karton eingebundene Heft, das den prunkvollen Namen »Tagebuch« trägt, lesen zu lassen, es sei denn, ich finde noch einmal im Leben einen Freund oder eine Freundin, der oder die dann »der« Freund oder »die« Freundin ist, interessiert es wahrscheinlich niemanden.
Nun bin ich an dem Punkt angekommen, an dem die ganze Tagebuchidee angefangen hat: Ich habe keine Freundin.
Um noch deutlicher zu werden, ist hier eine Erklärung nötig, denn niemand wird verstehen, dass ein Mädchen von dreizehn Jahren ganz allein auf der Welt dasteht, und das ist auch nicht so: Ich habe liebe Eltern und eine Schwester von sechzehn, ich habe alles zusammengenommen sicher an die 30 Bekannte und was man so Freundinnen nennt, ich habe eine ganze Menge Verehrer, die mir jeden Wunsch von den Augen ablesen und, wenn es nicht [12]anders geht, in der Klasse mit dem Stück eines Taschenspiegels noch einen Blick auf mich zu erhaschen versuchen; ich habe Familie, liebe Tanten und ein gutes Zuhause; nein, so auf den ersten Blick fehlt es mir an nichts, außer an »der« Freundin. Ich kann mit keiner meiner Bekannten etwas anderes tun als Spaß haben, ich komme nie dazu, einmal über etwas anderes als über alltägliche Dinge zu sprechen oder etwas Vertraulicheres anzusprechen, und genau das ist das Problem. Vielleicht liegt dieser Mangel an Vertraulichkeit bei mir, jedenfalls ist es eine Tatsache und lässt sich, so schade das auch ist, nicht aus der Welt schaffen. Darum dieses Tagebuch. Um nun die Vorstellung der so lange ersehnten Freundin in meiner Fantasie noch lebendiger werden zu lassen, werde ich nicht wie jeder andere einfach so die Tatsachen in dieses Tagebuch schreiben, sondern ich will dieses Tagebuch die Freundin selbst sein lassen, und diese Freundin heißt Kitty.
Da niemand etwas von meinen Geschichten für Kitty verstehen würde, wenn ich einfach so mit der Tür ins Haus falle, muss ich kurz meine Lebensgeschichte wiedergeben, so ungern ich das auch tue. Mein Vater, der liebste Schatz von einem Vater, den ich kenne, heiratete erst im Alter von 36 Jahren meine Mutter, die damals 25 war. Meine Schwester Margot wurde 1926 geboren, in Frankfurt am Main in Deutschland. Am 12. Juni 1929 folgte ich, und weil wir Vollblut-Juden sind, emigrierten wir 1933 in die Niederlande, wo mein Vater als Direktor der niederländischen Opekta Gesellschaft zur Marmeladenherstellung angestellt wurde. Unser Leben verlief nicht ohne einige Aufregung, da die restliche Familie in Deutschland nicht von Hitlers Judengesetzen verschont blieb. 1938, nach den Pogromen, flüchteten meine beiden Onkel, [13]Brüder von Mutter, und kamen sicher in Nordamerika an; meine alte Großmutter zog zu uns; sie war damals 73 Jahre alt. Nach Mai 1940 ging es bergab mit den guten Zeiten; erst der Krieg, die Kapitulation, der Einmarsch der Deutschen, und das Elend für uns Juden begann. Judengesetz folgte auf Judengesetz, und unsere Freiheit wurde sehr eingeschränkt, aber es ist noch zu ertragen, trotz des Sterns, der Trennung der Schulen, der Zuhausezeit usw. usw.
Oma starb im Januar 1942, Margot und ich mussten im Oktober 1941 auf das Jüdische Lyzeum wechseln. Sie in die vierte, ich in die erste Klasse. Unserer Viererfamilie geht es immer noch gut, und so bin ich dann beim heutigen Datum angelangt, wo die feierliche Einweihung meines Tagebuchs beginnt.
Amsterdam
20. Juni 1942
Anne Frank
20. Juni 1942 Samstag [b]
Liebe Kitty,
dann fange ich gleich an; es ist gerade so schön ruhig, Vater und Mutter sind ausgegangen, und Margot ist mit ein paar jungen Leuten bei ihrer Freundin Trees, zum Pingpong. Pingpong spiele ich in letzter Zeit auch sehr viel, sogar so viel, dass wir mit fünf Mädchen einen Club gegründet haben. Der Club heißt »Der Kleine Bär minus zwei«; das ist natürlich ein sehr verrückter Name, aber er geht auf einen Irrtum zurück. Wir wollten einen ganz besonderen Namen für unseren Club und dachten alle fünf an die Sterne. Wir glaubten, dass der Große Bär aus sieben und der Kleine Bär aus fünf Sternen besteht, fragten aber nach und fanden heraus, dass [14]sie alle beide sieben haben. Darum »minus zwei«. Ilse Wagner hat ein Pingpong-Spiel, und das große Esszimmer der Wagners steht uns jederzeit zur Verfügung; Susanne Ledermann ist unsere Vorsitzende, Jacqueline van Maarsen Sekretärin, Elisabeth Goslar, Ilse und ich sind die übrigen Mitglieder. Da wir fünf Pingpong-Spielerinnen vor allem im Sommer sehr gern Eis essen und man beim Pingpong ins Schwitzen kommt, läuft es meistens darauf hinaus, dass wir zu einer der nächsten Eisdielen gehen, die Juden besuchen dürfen, in die Oase oder ins Delphi. Nach Portemonnaies oder Geld suchen wir schon gar nicht mehr; in der Oase ist meistens so viel los, dass sich unter den ganzen Leuten immer einige großzügige Herren aus unserem großen Bekanntenkreis oder der eine oder andere Verehrer finden lassen, und die bieten uns mehr Eis an, als wir in einer Woche essen können.
Ich denke, du wirst ein bisschen erstaunt darüber sein, dass ich, so jung wie ich bin (die Jüngste im Club), von Verehrern spreche. Leider, oder in manchen Fällen auch wieder nicht leider – dieses Übel scheint bei uns auf der Schule unvermeidbar zu sein. Sobald ein Junge fragt, ob er mich mit dem Fahrrad nach Hause begleiten darf, und ein Gespräch begonnen wird, kann ich in neun von zehn Fällen davon ausgehen, dass der betreffende Jüngling die lästige Angewohnheit hat, sofort Feuer und Flamme zu sein, und mich nicht mehr aus den Augen lässt. Wenn einige Zeit vergeht, nimmt diese Verliebtheit natürlich wieder ab, vor allem, weil ich mir aus den feurigen Blicken nicht viel mache und fröhlich weiterradle. Wenn es mir zu bunt wird und sie davon zu brabbeln anfangen, dass sie mit Vater sprechen wollen, lasse ich mein Fahrrad ein bisschen wackeln, meine Tasche fällt runter, der junge Mann muss anstandshalber absteigen, und nachdem er die Tasche [15]wieder abgeliefert hat, habe ich längst wieder ein anderes Gesprächsthema gefunden. Das sind noch die Harmlosesten; es gibt natürlich auch welche, die mir Küsschen zuwerfen oder versuchen, einen Arm zu ergattern, aber da sind sie bei mir ganz und gar an der falschen Adresse; ich steige ab und weigere mich, weiter in der Gesellschaft des Jungen zu bleiben, oder ich bin angeblich beleidigt und lasse ihn in deutlichen Worten wissen, dass er nach Hause gehen kann.
Siehst du, der Grundstein für unsere Freundschaft ist gelegt, bis morgen.
Deine Anne
21. Juni 1942Sonntag [b]
Liebe Kitty,
unsere ganze 1LII bibbert; der Anlass ist natürlich die in Aussicht gestellte Lehrerkonferenz. Die halbe Klasse schließt Wetten darüber ab, wer es in die nächste schafft und wer sitzenbleibt. G. Z., meine Tischnachbarin, und ich lachen uns kaputt über unsere beiden Hintermänner, C. N. und Jacques Kokernoot, die ihr gesamtes Ferienkapital in Wetten gegeneinander eingesetzt haben. »Du schaffst es«, »Niemals«, »Doch, klar«; von morgens früh bis abends spät, und selbst G. Z.s um Ruhe flehende Blicke und meine bösen Bemerkungen können die zwei nicht zur Ruhe bringen. Meiner Ansicht nach müsste ein Viertel der ganzen Klasse sitzenbleiben, solche Dummköpfe sitzen da drin, aber Lehrer sind die unberechenbarsten Menschen, die es gibt; vielleicht sind sie jetzt, ausnahmsweise, einmal auf die richtige Weise unberechenbar.
[16]Um meine Freundinnen und mich selbst mache ich mir keine so großen Sorgen, ein paar Zusatzaufgaben und Nachprüfungen, und damit müssten wir eigentlich durchkommen. Nur in Mathematik bin ich unsicher. Nun ja, wir müssen abwarten. Bis dahin sprechen wir einander Mut zu.
Ich komme mit all meinen Lehrern und Lehrerinnen ziemlich gut aus; insgesamt sind es neun an der Zahl, davon sieben männlich und zwei weiblich. Herr Keesing, der alte Mathematik-Mensch, war eine Zeitlang sehr böse auf mich, weil ich so viel schwätzte; eine Ermahnung folgte der anderen, bis ich eine Strafarbeit bekam. Einen Aufsatz zum Thema »Eine Quasseltante«. Eine Quasseltante, was soll man denn da schreiben? Darum würde ich mich später kümmern; ich trug es in meinen Kalender ein, steckte ihn in die Tasche und versuchte still zu sein.
Am Abend zu Hause, als die anderen Aufgaben erledigt waren, fiel mein Blick auf die Notiz über den Aufsatz. Mit dem Ende meines Füllfederhalters im Mund begann ich über das Thema nachzudenken; einfach so etwas faseln und die Wörter so weit wie möglich auseinanderschreiben, das kann jeder, aber einen überzeugenden Beweis für die Notwendigkeit des Schwätzens zu finden, das war die Kunst. Ich überlegte und überlegte; dann hatte ich plötzlich eine Idee, schrieb die mir aufgegebenen drei Seiten voll und war zufrieden. Als Gründe hatte ich angeführt, dass Schwätzen weiblich ist, dass ich wirklich mein Bestes tun würde, um es ein wenig einzuschränken, aber ganz abgewöhnen würde ich es mir sicher nie, da meine Mutter genauso viel redete wie ich, wenn nicht noch mehr, und dass man bei vererbten Eigenschaften nun einmal wenig machen kann.
Herr Keesing musste über meine Argumente sehr lachen, aber [17]als ich meine Plauderrunde in der nächsten Stunde doch wieder aufnahm, folgte auch der zweite Aufsatz. Diesmal sollte es um »eine unverbesserliche Quasseltante« gehen. Auch der wurde abgeliefert, und Keesing hatte zwei Stunden lang keinen Grund zur Klage. In der dritten Stunde wurde es ihm allerdings wieder zu bunt. »Anne Frank, als Strafarbeit fürs Reden einen Aufsatz zum Thema ›Queck, queck, queck, sagte Fräulein Schnatterbeck‹.« Die Klasse brach in lautes Gelächter aus. Ich musste mitlachen, obwohl mein Erfindungsreichtum auf dem Gebiet von Quasselaufsätzen erschöpft war. Ich musste etwas anderes, ganz Originelles als Antwort finden. Der Zufall kam mir zu Hilfe; meine Freundin Sanne, eine gute Dichterin, bot mir ihre Unterstützung dabei an, den Aufsatz von vorne bis hinten in Reimen abzugeben. Ich jubelte. Keesing wollte mich mit diesem blödsinnigen Thema hochnehmen; ich würde ihn mit meinem Gedicht gleich dreifach hochnehmen.
Das Gedicht wurde verfasst, und es war prächtig! Es handelte von einer Mutter Ente und einem Vater Schwan, mit drei kleinen Entchen, die wegen zu viel Quaken vom Vater totgebissen wurden. Keesing verstand den Spaß zum Glück gut; er las das Gedicht mit Kommentar in der Klasse vor und in verschiedenen anderen Klassen auch noch. Seitdem durfte ich schwätzen und bekam nie wieder eine Strafarbeit; im Gegenteil, Keesing macht jetzt immer seine Witzchen.
Deine Anne
[18]Mittwoch, 24. Juni 1942 [b]
Liebe Kitty,
es ist brütend heiß, jeder schnauft und brät vor sich hin, und in dieser Hitze muss ich alle Wege zu Fuß gehen. Jetzt sehe ich erst, was für eine schöne Sache eine Straßenbahn doch ist, vor allem eine offene, aber die dürfen wir Juden nicht mehr genießen; für uns sind die eigenen Füße gut genug. Gestern musste ich mittags zum Zahnarzt in die Jan Luikenstraat; von unserer Schule am Stadtgarten aus ist das ein langer Weg; in der Schule schlief ich dann nachmittags auch fast ein. Ein Glück, dass die Leute einem von selbst etwas zu trinken anbieten; die Schwester beim Zahnarzt ist wirklich freundlich. Das Einzige, was wir noch benutzen dürfen, ist die Fähre; an der Jozef-Israëls-Kade gibt es ein kleines Boot, dessen Fährmann uns sofort mitnahm, als wir ihn baten, uns überzusetzen. An den Holländern liegt es wirklich nicht, dass wir Juden so eine schreckliche Zeit haben. Ich wollte nur, ich müsste nicht zur Schule; mein Fahrrad ist in den Osterferien gestohlen worden, und das von Mutter hat Vater bei christlichen Bekannten in Aufbewahrung gegeben. Aber zum Glück stehen die Ferien schon fast vor der Tür; noch eine Woche, und alles ist überstanden. Gestern Morgen ist mir etwas Schönes passiert; ich ging am Fahrradständer vorbei, als jemand nach mir rief. Ich wandte mich um und sah einen netten Jungen hinter mir stehen, den ich am Abend zuvor bei Wilma kennengelernt hatte. Er kam ein wenig verlegen näher und stellte sich als Hello Silberberg vor. Ich war ein bisschen erstaunt und wusste nicht genau, was er wollte, aber das stellte sich bald heraus. Hello wollte meine Gesellschaft genießen und mich zur Schule bringen. »Wenn du sowieso in dieselbe Richtung musst, gehe ich gerne mit«, [19]antwortete ich, und so gingen wir zusammen. Hello ist schon sechzehn und kann über allerlei Dinge nett erzählen; heute Morgen hat er wieder auf mich gewartet, und in Zukunft wird das nun wohl so bleiben.
Anne
Mittwoch, 1. Juli 1942 [b]
Liebe Kitty,
bis heute habe ich wirklich keine Zeit finden können, wieder zu schreiben. Am Donnerstag war ich den ganzen Nachmittag bei Bekannten, am Freitag hatten wir Besuch, und so ging es immer weiter bis heute.
Hello und ich haben einander in dieser Woche gut kennengelernt, er hat mir viel über sein Leben erzählt; er kommt aus Gelsenkirchen und ist ohne seine Eltern bei seinen Großeltern hier in den Niederlanden. Seine Eltern sind in Belgien; für ihn gibt es keine Möglichkeit, auch dort hinzukommen. Hello hatte ein Mädchen namens Ursula, ich kenne sie sogar; ein Muster an Sanftheit und Langeweile; seit er mich getroffen hat, ist Hello zu der Erkenntnis gekommen, dass er an Ursuls [sic] Seite einschläft. Ich bin also eine Art Wachhaltemittel für ihn; ein Mensch weiß nie, wozu er im Leben gebraucht wird!
Am Montagabend war Hello bei uns zu Hause, um Vater und Mutter kennenzulernen; ich hatte Torte und Süßigkeiten geholt, Tee und Kekse, alles gab es, aber weder Hello noch ich hatten Lust dazu, so nebeneinander auf einem Stuhl zu sitzen; wir sind spazieren gegangen, und erst um zehn nach acht wurde ich daheim abgeliefert. Vater war sehr böse, fand es keine Art, dass ich zu spät [20]zu Hause war; ich musste versprechen, in Zukunft schon um zehn vor acht drinnen zu sein. Am kommenden Samstag bin ich bei ihm eingeladen. Meine Freundin Jacque zieht mich immer mit Hello auf; ich bin aber wirklich nicht verliebt; oh nein, ich darf doch wohl Freunde haben, niemand findet da etwas dabei.
Vater ist in letzter Zeit viel zu Hause; in der Firma hat er nichts mehr zu suchen; es muss ein grässliches Gefühl sein, sich so überflüssig vorzukommen. Herr Kleiman hat Opekta übernommen, und Herr Kugler Gies & Co., die Gesellschaft für (Ersatz-)Kräuter, die erst 1941 gegründet wurde. Als wir vor ein paar Tagen zusammen in der Nachbarschaft spazieren waren, fing Vater an, über Verstecken zu sprechen; er sprach davon, dass es sehr schwierig für uns sein würde, ganz abgeschnitten von der Welt zu leben. Ich fragte ihn, warum er denn nun schon darüber sprach. »Ja, Anne«, sagte er daraufhin, »du weißt, dass wir schon seit mehr als einem Jahr Kleidung, Lebensmittel und Möbel zu anderen Leuten bringen; wir wollen unseren Besitz nicht in die Hände der Deutschen fallen lassen, aber noch weniger wollen wir selbst aufgegriffen werden. Wir werden darum aus eigener Entscheidung weggehen und nicht warten, bis wir abgeholt werden.«
»Aber Vater, wann denn?«
Ich bekam Angst, weil Vater das mit so großem Ernst sagte.
»Keine Sorge, das regeln wir schon; genieße du dein sorgloses Leben, solange das noch geht.«
Das war alles. Oh, wenn es bis zur Erfüllung dieser ernsten Worte nur noch lange dauert.
Deine Anne
[21]Mittwoch, 8. Juli 1942 [a]2
Ich muss jetzt eine ganze Menge in mein Tagebuch schreiben; am Sonntag war Hello bei mir; am Samstag waren wir mit Freddie Weiss unterwegs, natürlich u. a. auch in der Oase. Am Sonntagmorgen lagen Hello und ich auf unserem Balkon in der Sonne; am Sonntagnachmittag sollte er wiederkommen, aber ungefähr um drei Uhr kam ein Polizist zu Mutter, der unten an der Tür nach Frl. Margot Frank rief; Mutter ging nach unten und bekam von dem Polizisten eine Karte, auf der stand, dass Margot Frank sich bei der SS zu melden hätte.
Mutter war völlig außer sich und ging sofort zu Herrn van Pels; er kam sofort mit zu uns, und mir wurde gesagt, dass Papa einen Aufruf bekommen hatte. Die Tür wurde abgeschlossen, und niemand durfte mehr in unsere Wohnung. Papa und Mama hatten schon lange Maßnahmen getroffen, und Mutter versicherte mir, dass Margot nicht gehen würde und dass wir am folgenden Tag alle zusammen weggehen würden. Ich fing natürlich sehr an zu weinen, und es war eine schreckliche Unruhe bei uns im Haus. Papa und Mama hatten schon lange sehr viele Sachen aus unserer Wohnung geschafft, aber wenn es darauf ankommt, vergisst man doch so vieles.
Miep Gies und ihr Mann Jan kamen dann bis um elf Uhr abends, um noch Sachen abzuholen. Wir gingen am folgenden Tag schon um Viertel vor acht aus dem Haus, und ich hatte eine [22]kombineschen an, dann zwei Hemden und zwei Hosen, außerdem ein Kleid und einen Rock, dann eine Wollweste und eine Jacke; es goss, also setzte ich ein Kopftuch auf, und Mama und ich nahmen jede eine Schultasche unter den Arm. Margot stieg auch mit einer Schultasche aufs Fahrrad, und wir mussten zum Büro laufen.
Papi und Mami erzählten mir jetzt eine ganze Menge. Wir würden in Papis Büro gehen, und da oben war eine Etage für uns freigemacht worden. Die van Pels’ würden auch kommen, dann wären wir also zu siebt, die Katze der van Pels’ würde auch mitkommen, dann hätten wir ein bisschen Abwechslung.
Wir kamen gut im Büro an, und dann gingen wir sofort nach oben, da war erst das WC und dann ein kleines Badezimmer mit einem neuen Waschtisch, daran grenzte ein kleines Zimmer mit zwei Diwanbetten, das war das Zimmer von Margot und mir. Da waren drei Wandschränke, daran grenzte wieder ein Zimmer, das von Papa und Mama, da standen wieder zwei Diwanbetten und zwei kleine Tische mit einem Rauchertischchen und ein Bücherregal und auch ein Wandschrank, darin standen 150 Dosen Gemüse und allerlei andere Vorräte, dann kamen wir in einen kleinen Gang, und dann waren da wieder zwei Türen, die eine führte in den Flur, und dann konnte man nach unten und in Papas Büro. Und eine führte wieder in unser Badezimmer, dann führte eine sehr steile Treppe nach oben, und da ist eine große Wohnküche, von den van Pels’, mit einem kleinen Zimmer für Peter, und dann kam ein Dachboden mit einem Oberboden.
Es ist hier alles gar nicht so schlimm, denn wir können selbst kochen und unten in Papis Büro Radio hören.
Ich kann jetzt ganz offen alle Namen und alles in mein [23]Tagebuch schreiben. Herr Kleiman und Miep und auch Bep Voskuijl haben uns so geholfen; wir haben schon Rhabarber, Erdbeeren und Kirschen gehabt, und ich glaube nicht, dass wir uns hier vorläufig langweilen werden.
Herr van Pels erzählt herum, dass Papa mit einem Hauptmann aus der Armee befreundet ist und der ihm geholfen hat, nach Belgien zu kommen; diese Geschichte kennt nun jeder, und wir amüsieren uns darüber. Zu lesen haben wir auch, und wir kaufen noch ganz viele Spiele.
Aus dem Fenster schauen oder nach draußen gehen dürfen wir natürlich nie. Außerdem müssen wir leise sein, denn unten dürfen sie uns nicht hören.
Jetzt höre ich auf, denn ich habe noch viel zu tun.
Mittwoch, 8. Juli 1942 [b]
Liebe Kitty,
zwischen Sonntagmorgen und jetzt scheint ein Abstand von Jahren zu liegen; es ist so viel passiert, dass es ist, als hätte sich die ganze Welt plötzlich umgedreht, aber Kitty, du merkst, dass ich noch lebe, und das ist die Hauptsache, sagt Vater.
Ja, tatsächlich, ich lebe noch, aber frag nicht, wo und wie. Ich glaube, dass du heute gar nichts von mir begreifst, darum werde ich damit anfangen, dir zu erzählen, was am Sonntagnachmittag passiert ist.
Um drei Uhr (Hello war kurz weggegangen und wollte später zurückkommen) klingelte jemand an der Tür; ich hörte es nicht, da ich faul im Liegestuhl auf der Veranda in der Sonne lag und las. Ein wenig später erschien Margot in aufgeregtem Zustand an der [24]Küchentür. »Für Vater ist ein Aufruf von der SS gekommen«, flüsterte sie, »Mutter ist schon zu Herrn van Pels gegangen.«
Ich bekam einen entsetzlichen Schreck, ein Aufruf, jeder weiß, was das bedeutet, Konzentrationslager und einsame Zellen sah ich schon vor meinem geistigen Auge erscheinen, und dorthin würden wir Vater ziehen lassen müssen. »Er geht natürlich nicht«, erklärte mir Margot, als wir im Zimmer saßen und auf Mutter warteten, »Mutter ist zu Herrn van Pels, um zu fragen, ob wir morgen in unser Versteck können. Die van Pels’ werden sich mit uns verstecken. Wir sind dann da zu siebt.« Stille. Wir konnten nicht mehr sprechen; der Gedanke an Vater, der, nichts Böses ahnend, jemanden im Jüdischen Krankenhaus besuchte, das Warten auf Mutter, die Hitze, die Anspannung, das alles ließ uns schweigen.
Plötzlich klingelte es wieder. »Das ist Hello«, sagte ich. »Nicht aufmachen«, hielt Margot mich zurück, aber das war überflüssig; wir hörten Mutter und Herrn van Pels unten mit Hello sprechen; dann kamen sie herein und schlossen die Tür hinter sich ab. Bei jedem Klingeln mussten Margot und ich nun leise nach unten gehen, um nachzuschauen, ob es Vater war; sonst ließen wir niemanden herein.
Margot und ich wurden aus dem Zimmer geschickt; Herr van Pels wollte mit Mutter allein sprechen. (Herr van Pels ist ein Bekannter und Teilhaber in Vaters Firma.) Als Margot und ich in unserem Schlafzimmer saßen, erzählte sie, dass der Aufruf nicht für Vater, sondern für sie gewesen war. Ich erschrak wieder und fing an zu weinen. Margot ist sechzehn; so junge Mädchen wollen sie also allein weggehen lassen; aber ein Glück, sie würde nicht gehen, Mutter hatte es selbst gesagt, und sicher hatte das auch Vater mit seinen Worten gemeint, als er mit mir über das Verstecken sprach.
[25]Verstecken, wo würden wir uns verstecken, in der Stadt, auf dem Land, in einem Haus, in einer Hütte, wann, wie, wo? … Das waren viele Fragen, die ich nicht stellen konnte und die doch immer wieder zurückkamen. Margot und ich fingen an, das Nötigste in eine Schultasche zu packen; das Erste, was ich hineinstopfte, war dieses gebundene Heft; danach Lockenwickler, Taschentücher, Schulbücher, einen Kamm, alte Briefe; ich dachte ans Verstecken und stopfte dadurch den verrücktesten Blödsinn in die Tasche, aber es tut mir nicht leid, Erinnerungen sind mir wichtiger als Kleider.
Um fünf Uhr kam Vater endlich nach Hause; wir riefen Herrn Kleiman an und fragten, ob er noch am selben Abend würde kommen können. Herr van Pels ging weg und holte Miep. Miep kam, nahm einige Schuhe, Kleider, Jacken, Unterwäsche und Strümpfe in einer Tasche mit und versprach, abends wiederzukommen. Danach war es still in unserer Wohnung; keiner von uns vieren wollte essen; es war noch warm und alles war sehr seltsam. Unser großes Zimmer im Oberstock hatten wir an einen gewissen Herrn Goldschmidt vermietet, einen geschiedenen Mann in den Dreißigern, der an diesem Abend anscheinend nichts zu tun hatte; darum saß er bis um zehn bei uns herum und war einfach nicht wegzukriegen.
Um elf Uhr kamen Miep und Jan Gies; Miep ist seit 1933 bei Vater in der Firma angestellt und eine sehr gute Bekannte geworden, genauso ihr frischgebackener Ehemann Jan. Wieder verschwanden Schuhe, Strumpfhosen, Bücher und Unterwäsche in Mieps Tasche und Jans tiefen Manteltaschen; um halb zwölf waren auch sie verschwunden.
Ich war todmüde, und obwohl ich wusste, dass es die letzte [26]Nacht in meinem Bett sein würde, schlief ich sofort ein und wurde erst um halb sechs in der Früh von Mutter geweckt. Zum Glück war es weniger heiß als am Sonntag; den ganzen Tag fiel ein warmer Regen. Wir zogen uns alle vier so dick an, als müssten wir in einem Eisschrank übernachten, und das nur, um noch ein paar Kleidungsstücke mitzunehmen. Kein Jude würde es in unserem Zustand gewagt haben, mit einem Koffer voller Kleidung aus dem Haus zu gehen. Ich hatte zwei Unterhemden, drei Hosen, ein Kleid, darüber einen Rock, eine Jacke, eine Sommerjacke, zwei Paar Strümpfe, geschlossene Schuhe, eine Mütze, einen Schal und noch viel mehr an; ich erstickte zu Hause schon, aber danach fragte niemand. Margot stopfte ihre Schultasche mit Schulbüchern voll, holte ihr Fahrrad aus dem Ständer und fuhr hinter Miep her, in eine mir unbekannte Ferne. Ich wusste nämlich immer noch nicht, wo unser geheimnisvoller Bestimmungsort sein würde.
Um halb acht schlossen wir die Tür hinter uns; die Einzige, von der ich Abschied nehmen musste, war Moortje, meine kleine Katze, die ein gutes Zuhause bei den Nachbarn bekommen sollte, wie auf einem Zettel stand, der an Herrn Goldschmidt adressiert war.
Die abgezogenen Betten, die Frühstückssachen auf dem Tisch, ein Pfund Fleisch für die Katze in der Küche, das alles erweckte den Eindruck, als wären wir Hals über Kopf weggegangen. Eindrücke waren uns egal, weg wollten wir, einfach nur weg, sicher ankommen, sonst nichts.
Morgen Fortsetzung.
Deine Anne
[27]Donnerstag, 9. Juli 1942 [b]
Liebe Kitty,
so liefen wir dann durch den strömenden Regen, Vater, Mutter und ich; jeder mit einer Schul- und einer Einkaufstasche, bis oben hin vollgestopft mit lauter durcheinanderliegenden Dingen. Die Arbeiter, die früh auf dem Weg zur Arbeit waren, schauten uns voller Mitleid nach; auf ihren Gesichtern war deutlich das Bedauern darüber zu lesen, dass sie uns keinerlei Fahrzeug anbieten konnten; der auffällig gelbe Stern sprach für sich selbst.
Erst als wir auf der Straße waren, erzählten mir Vater und Mutter häppchenweise den ganzen Versteckplan. Schon monatelang hatten wir so viel von unserem Hausrat und unserer Leibwäsche wie möglich weggeschafft, und nun waren wir gerade so weit, dass wir uns freiwillig am 16. Juli verstecken wollten. Durch diesen Aufruf war dieser Versteckplan um zehn Tage vorgezogen worden, sodass wir uns mit weniger gut geordneten Wohnungen würden zufriedengeben müssen.
Der Versteckplatz selbst würde sich in Vaters Bürogebäude befinden. Das ist für Außenstehende ein bisschen schwer zu verstehen, darum werde ich es näher erklären. Vater hat nicht viel Personal gehabt, Herrn Kugler, Kleiman und Miep, außerdem noch Bep Voskuijl, die dreiundzwanzigjährige Stenotypistin, die alle wussten, dass wir kommen würden. Im Lager der Lagerverwalter, Herr Voskuijl, der Vater von Bep, dem wir nichts gesagt hatten, und zwei Arbeiter.
Das Gebäude ist wie folgt aufgeteilt: Im Parterre ist ein großes Magazin, das als Lagerraum benutzt wird, das ist wieder unterteilt in verschiedene kleinere Räume, zum Beispiel die Mahlkammer, wo Zimt, Nelken und Pfefferersatz gemahlen werden; die [28]Vorratskammer und die Veranda. Neben der Tür zum Lager befindet sich die normale Haustür, die über eine Zwischentür den Zugang zu einer Treppe ermöglicht. Oben an der Treppe erreicht man eine Tür aus Halbmattglas, auf der früher in schwarzen Buchstaben »Kontor« stand. Das ist das große vordere Büro, sehr groß, sehr hell, sehr voll. Tagsüber arbeiten dort Bep, Miep und Herr Kleiman. Über einen kleinen Raum mit Panzerschrank, Garderobe und großem Vorratsschrank kommt man in das kleine, muffige, dunkle Direktorenzimmer. Da saßen früher Herr Kugler und Herr van Pels, jetzt nur noch der Erstgenannte. Man kann auch durch den Flur Kuglers Büro erreichen, aber nur durch eine Glastür, die man zwar von innen, von außen jedoch nicht ohne weiteres öffnen kann. Von Kuglers Büro aus führt der lange schmale Flur an der Kohlenecke vorbei, vier Stufen, das Prunkstück des ganzen Gebäudes, das Privatbüro. Vornehme dunkle Möbel, Linoleum und Teppiche auf dem Boden, Radio, schicke Lampe, alles prima-prima; daneben eine große, geräumige Küche mit Warmwasserbereiter und zwei Gaskochern und daneben das WC. Das ist der erste Stock.
Vom unteren Flur aus führt eine gewöhnliche Holztreppe nach oben. Oben ist ein kleiner Vorplatz, den wir Flur nennen. Rechts und links davon gibt es eine Tür, die linke führt ins Vorderhaus mit der Gewürzkammer, dem Zwischenzimmer, dem Vorzimmer, dem vorderen Dachboden und dem vorderen Oberboden. Von diesem vorderen Gebäudeteil geht auf der anderen Seite auch noch eine lange, übersteile, echte holländische Beinbrechtreppe zur zweiten Haustür.
Rechts vom Flur befindet sich »das Hinterhaus«. Kein Mensch würde vermuten, dass sich hinter der einfachen, graubemalten [29]Tür so viele Zimmer verbergen. Vor der Tür gibt es eine Schwelle, und dann ist man drin. Rechts gegenüber der Eingangstür eine steile Treppe, links ein kleiner Flur und ein Zimmer; dieses Zimmer sollte das Wohnzimmer und Schlafzimmer der Familie Frank werden, daneben noch ein kleineres Zimmer, Schlaf- und Arbeitszimmer der beiden jungen Damen Frank. Rechts von der Treppe ein Zimmer ohne Fenster, mit Waschtisch und separatem WC, auch wieder eine Tür zu Margots und meinem Zimmer. Wenn man die Treppe hochgeht und die Tür oben öffnet, ist man völlig überrascht, dass in so einem alten Grachtenhaus so ein großes, helles und geräumiges Zimmer existiert. In diesem Zimmer steht ein Ofen (das haben wir der Tatsache zu verdanken, dass es früher Kuglers Labor war) und ein Spülstein. Die Küche also und zugleich auch das Schlafzimmer des Ehepaars van Pels, allgemeines Wohnzimmer, Esszimmer und Arbeitszimmer. Ein ganz kleines Durchgangszimmer wird die Behausung von Peter van Pels werden. Dann genau wie vorne ein Boden und ein Oberboden. Siehst du, ich habe dir unser ganzes schönes Hinterhaus vorgestellt!
Deine Anne
Freitag, 10. Juli 1942 [b]
Liebe Kitty,
es ist sehr wahrscheinlich, dass ich dich mit meiner langwierigen Wohnungsbeschreibung gewaltig gelangweilt habe, aber ich finde es doch notwendig, dass du weißt, wo ich gelandet bin; wie ich gelandet bin, wirst du dann aus allen folgenden Briefen vernehmen.
[30]Nun erst mal die Fortsetzung meiner Geschichte, denn dass ich noch nicht fertig war, weißt du. Als wir an der Prinsengracht 263 angekommen waren, nahm Miep uns schnell mit den langen Flur hinunter, die Holztreppe hoch, geradewegs nach oben ins Hinterhaus. Sie schloss die Tür hinter uns, und wir waren allein. Margot war mit dem Fahrrad viel früher da gewesen und wartete schon auf uns. Unser Wohnzimmer und alle anderen Zimmer waren so voller Zeug, dass es nicht zu beschreiben ist; alle Pappschachteln, die im Laufe der vorangegangenen Monate ins Büro geschickt worden waren, standen auf dem Boden und auf den Betten; das kleine Zimmer war bis zur Decke mit Bettzeug gefüllt.
Wenn wir abends auf ordentlich gemachten Betten schlafen wollten, mussten wir uns sofort an die Arbeit machen und alles aufräumen. Mutter und Margot waren nicht imstande, auch nur ein Glied zu rühren; sie lagen auf den unbezogenen Betten, waren müde, antriebslos und ich weiß nicht was sonst noch, aber Vater und ich, die beiden Aufräumer in der Familie, wollten gleich anfangen.
Wir packten den ganzen Tag hindurch Schachteln aus, Schränke ein, hämmerten und räumten auf, bis wir abends todmüde in die sauberen Betten fielen. Den ganzen Tag hatten wir kein warmes Essen gehabt, aber das störte uns nicht; Mutter und Margot waren zu müde und zu überreizt, um zu essen, Vater und ich hatten zu viel Arbeit.
Am Dienstagmorgen fingen wir dort an, wo wir am Montag aufgehört hatten, Bep und Miep kauften mit unseren Lebensmittelmarken ein, Vater verbesserte die unzureichende Verdunkelung, wir schrubbten den Küchenboden und waren wieder von morgens bis abends beschäftigt. Zeit, um viel über die große [31]Veränderung nachzudenken, die in mein Leben gekommen war, hatte ich beinahe nicht, bis Mittwoch; da hatte ich zum ersten Mal seit unserer Ankunft im Hinterhaus die Gelegenheit, dir die Ereignisse mitzuteilen und gleichzeitig mir richtig darüber klar zu werden, was da nun eigentlich mit mir passiert war und was noch passieren würde.
Deine Anne
Sonntag, 12. Juli 1942 [a]
Heute vor einem Monat waren sie alle so nett zu mir, weil ich Geburtstag hatte, aber ich spüre nun jeden Tag mehr, wie ich mich von Mutter und Margot entferne; ich habe heute hart gearbeitet, und jeder hat mich sehr gelobt, und fünf Minuten später werde ich wieder ausgeschimpft.
Man kann deutlich den Unterschied sehen, wie sie mit Margot umgehen und mit mir. Margot hat zum Beispiel den Staubsauger kaputtgemacht, und dadurch haben wir den ganzen Tag kein Licht. Mutter sagte: »Aber Margot, man sieht das du keine Arbeit gewöhnt bist, sonst hätest du das wissen, das man einen Staubzauger nicht am Contact raussieht.«
Margot sagte etwas, und damit war die Sache erledigt.
Aber heute Vormittag wollte ich etwas von Mutters Einkaufsliste abschreiben, denn Mutters Schrift kann man so schlecht lesen; sie wollte das nicht, und ich wurde sofort wieder tüchtig ausgeschimpft, wobei sich die ganze Familie einmischte.
Ich passe nicht zu ihnen, und das spüre ich vor allem in letzter Zeit deutlich. Sie sind so sentimental zusammen, und das will ich lieber sein, wenn ich allein bin. Und dann sagen sie, wie gemütlich [32]wir es hier doch mit uns zu viert haben und dass wir so harmonisch zusammengehören, aber daran, dass ich das nicht so empfinde, denken sie überhaupt nicht.