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"Die sieben Raben" stand auf dem Cover, das mit düster aussehenden schwarzen Vögeln verziert war. "Ich bin der achte Rabe", sagte er. Seit fünf Jahren hat Alexandra nichts mehr von ihrem Sohn Falko gehört. Er verschwand einen Tag nach seinem achtzehnten Geburtstag und hinterließ seiner Familie nur wenige Wörter: Sucht nicht nach mir! All ihre Hoffnungen auf ein Wiedersehen werden auf grausame Art vernichtet, als sie erfährt, dass Falko ganz in der Nähe seines Elternhauses im Stadtpark Zuffenhausen brutal erschlagen wurde. Nun will Alexandra dem Menschen auf die Spur kommen, der die Schuld an seinem Tod trägt. Doch damit stößt sie zunehmend auf Unverständnis bei ihrem Mann und ihrer Tochter. Sie entdeckt Dinge, die sie lieber nicht erfahren sollte und Stück für Stück bricht ihre bisherige Welt zusammen.
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Seitenzahl: 471
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Sucht nicht nach mir! Das war die letzte Nachricht, die Alexandra von ihrem Sohn Falko bekommen hat, seit er kurz nach seinem achtzehnten Geburtstag verschwunden war. Falkos Bitte zum Trotz setzt Alexandra alles daran, ihn ausfindig zu machen. Leider ohne Erfolg. Mühsam und nur ganz langsam gelingt es ihr, mit der neuen Familiensituation zurechtzukommen. Fast fünf Jahre später geschieht das Unfassbare: Falkos Leiche wird ganz in der Nähe seines Elternhauses im Waldgebiet bei Zuffenhausen gefunden und die Zeichen stehen eindeutig auf Mord. Zutiefst verzweifelt erfährt Alexandra Halt von ihrer Familie und ihrer Freundin Judith, die sie dabei unterstützt, die verlorenen Jahre ihres Sohnes zu rekonstruieren. Was hat ihn damals bewegt, spurlos zu verschwinden und wo war er all die Jahre? Vor allem aber will Alexandra dem Menschen auf die Spur kommen, der die Schuld an Falkos Tod trägt. Doch damit stößt sie zunehmend auf Unverständnis bei ihrem Mann und ihrer Tochter. Im Gegensatz zu früher gibt Alexandra dieses Mal jedoch nicht nach und setzt ihre Suche fort. Sie entdeckt Dinge, die sie lieber nicht erfahren sollte und Stück für Stück bricht ihre bisherige Welt zusammen. Wem kann sie überhaupt noch vertrauen?
Marion Henneberg (*1966) ist als Betriebswirtin in einem gemeinnützigen Unternehmen in Stuttgart angestellt und bereits seit 2008 als erfolgreiche Autorin tätig. Bisher veröffentlichte sie bei Ullstein die historischen Romane »Die Entscheidung der Magd« (2008), »Die Tochter des Münzmeisters« (2009), »Das Amulett der Wölfin« (2011) und zuletzt »Schwert und Lilie« (2014).
»Der achte Rabe« ist ihr erster Kriminalroman. Mit diesem komplexen Familiendrama zeigt sie anhand der Protagonistin, wieviel ein Mensch an Leid erfahren kann, sich auch teilweise selbst schuldig fühlt, fast daran zerbricht und am Ende doch wieder Hoffnung und Lebensmut verspüren kann.
Marion Henneberg lebt mit ihrer Familie in Marbach.
www.marion-henneberg.de
MARION HENNEBERG
der achte rabe
STUTTGART-KRIMI
Anmerkung der Autorin:
Handlung und Personen in dieser Geschichte sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit real existierenden oder auch bereits verstorbenen Personen sind daher rein zufällig.
Impressum
Die deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter www.dnb.de abrufbar.
© 2016 Der Kleine Buch Verlag | Lauinger Verlag, Karlsruhe
Projektmanagement und Lektorat: Julia Barisic
Korrektorat: Anja Winckler
Umschlaggestaltung: Sonia Lauinger
Umschlagabbildung: CUTWORLD | fotolia.com
Satz: Beatrice Hildebrand
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes (auch Fotokopien, Mikroverfilmung und Übersetzung) ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt auch ausdrücklich für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen jeder Art und von jedem Betreiber.
ISBN: 978-3-7650-2137-4
Dieser Titel ist auch als Printausgabe erschienen:
ISBN: 978-3-7650-8814-8
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Für Sina und Sven – dieses Mal anders herum,
aber immer für mich an erster Stelle …
Und wie der siebente Rabe auf den Grund des Bechers kam, rollte ihm das Ringlein entgegen. Da sah er es an und erkannte, dass es ein Ring von Vater und Mutter war, und sprach: »Gott gebe, unser Schwesterlein wäre da, so wären wir erlöst.« Wie das Mädchen, das hinter der Türe stand und lauschte, den Wunsch hörte, so trat es hervor, und da bekamen alle die Raben ihre menschliche Gestalt wieder. Und sie herzten und küssten einander, und zogen fröhlich heim.
Die sieben Raben
Ein Märchen der Brüder Grimm
Freitag, 30. Oktober
Der Schmerz zerriss ihm fast den Schädel. Er hatte dem Angriff nicht mehr ausweichen können, als der dicke Ast völlig unerwartet von der Seite auf ihn zugeflogen war. Die Wucht, mit der seine Schläfe getroffen wurde, riss ihn für den Bruchteil eines Augenblicks von den Füßen, bevor er am Rand des hartgefrorenen Waldwegs aufschlug. Sein Handy, das er kurz davor noch in der Hand gehalten hatte, landete im trockenen, halb gefrorenen Laub.
Die abgestorbene, knochenharte Wurzel direkt unter seiner Hüfte nahm er dabei kaum wahr, die explosionsartigen Wellen, die aus seinem Kopf auszubrechen versuchten, überdeckten jegliche Empfindungen. Für einen kurzen Augenblick wurde ihm schwarz vor Augen und er ließ sich in die tiefe Dunkelheit fallen. Versprach sie doch Erlösung von den Qualen.
Ein dumpfer Knall löste ihn aus seinem Wegdämmern heraus und nur widerwillig öffnete der schwer verletzte Mann die Augen.
Mühsam und unter großer Anstrengung erfasste sein Gehirn, dass der Ast unweit von ihm auf den Boden gefallen war. Sein Blick war dabei seltsam verschwommen. Schlierig. Es dämmerte ihm schließlich, dass das von dem Blut kommen musste, das ihm über das linke Auge tropfte.
Äußerst schwerfällig versuchte er seine Gedanken zu sortieren, aber das Hämmern in seinem Kopf nahm an Stärke zu, schwoll an bis zu einem schier unerträglichen Maß. Nicht mehr lange und seine Schädeldecke würde nachgeben, aufbrechen und die Qualen hätten ein Ende, dachte er. Seltsamerweise machte ihm dieser Gedanke keine Angst.
Die Lippen des jungen Mannes formten ein Wort, aber er brachte nicht einmal mehr ein Flüstern zustande: »Hilfe.«
Schnelle Schritte, die leiser wurden und bald darauf ganz verschwanden.
Der Mann wusste in diesem Moment, dass er verloren hatte. Alles hatte er sich ausgemalt, jede denkbar mögliche Wendung vorher gründlich durchgespielt. Aber das hatte er nicht bedacht. Darauf wäre er in seinen schlimmsten Träumen nicht gekommen.
Aus, dachte er, aus und vorbei.
Doch inmitten des Schmerzes tauchte ein Gedanke auf und automatisch versuchte er zu grinsen, was ihm allerdings misslang. Sein blutiges Gesicht bekam mit einem Mal einen entspannten Ausdruck. Vielleicht war doch nicht alles umsonst gewesen.
Wieder baute sich das tiefe schwarze Loch vor ihm auf. Es wurde größer, gleichwie das Hämmern in seinem Kopf an Stärke gewann. Als der Schmerz seine Schädeldecke durchbrach, verschlang er den Sterbenden und erlöste ihn endlich von seinen Qualen.
Unvermittelt schreckte Alexandra hoch. Ruhe herrschte um sie herum. Neil Diamond war verstummt und das Teelicht in dem schönen Glas, das sie von ihrem Bretagne-Urlaub mitgebracht hatten, war verloschen. Sie musste eingeschlafen sein, doch was hatte sie so abrupt aufgeweckt?
Alexandras laut pochendes Herz beruhigte sich, als sie hörte, wie die Haustür aufgeschlossen wurde.
Steffen!
Ein schneller Blick zur Uhr zeigte der Zweiundvierzigjährigen, dass sie fast zwei Stunden geschlafen hatte. Dabei hatte sie sich eigentlich auf einen gemütlichen Abend mit einem Glas Wein und ihrem Lieblingsautor auf der Couch gefreut. Immer noch ziemlich verschlafen setzte sich Alexandra auf und betrachtete verschämt das Buch, das in der letzten Stunde unbeachtet auf dem Boden unter dem Wohnzimmertisch gelegen hatte.
»Du bist ja noch wach!« Ihr Mann trat zu ihr und küsste sie leicht auf den Mund. Dann lachte er leise auf und strich seiner Frau mit dem Zeigefinger über die rechte Wange. »Oder sollte ich eher sagen: wieder wach? Dein Gesicht sieht ganz zerknittert aus!«
»Ich war eben ziemlich müde«, antwortete Alexandra noch immer verschlafen, rieb sich die Augen und fuhr dabei unbewusst übers Gesicht. Tatsächlich konnte sie einen langen Streifen ertasten, der sich von der Schläfe bis zum Mundwinkel zog. »Du kommst spät«, fügte sie leise hinzu und rümpfte fast gleichzeitig die Nase. »In welchem Imbiss habt ihr euch denn getroffen? Du riechst, als hättest du in altem Frittierfett gebadet.«
Steffen ließ sich neben seiner Frau aufs Sofa fallen und schnüffelte an seinem Hemd, während Alexandra ihre Beine unter der warmen Fleecedecke ein Stück hochzog, um ihrem Mann mehr Platz zu lassen.
»Du hast recht, ich werde gleich noch unter die Dusche springen. Ist mir vorhin gar nicht aufgefallen.« Er griff nach dem Glas, das auf dem Tisch stand, und leerte den Rest Rosé in einem Zug. »Außerdem ist es doch noch gar nicht so spät. Allerdings muss ich zugeben, dass der Abend sich ewig hingezogen hat. Man bin ich froh, dass diese Essen nicht so oft stattfinden.«
Liebevoll strich Alexandra ihrem Mann über den Arm, dann über die Schläfe. Seine kurzen, dunkelblonden Haare waren von grauen Strähnen durchzogen. Während Alexandra mit regelmäßigen Färbungen gegen ihre grauen Haare ankämpfte, verliehen sie ihrem Mann einen gewissen Reiz, den er als junger Mann nicht besessen hatte.
Steffen arbeitete als Staatsanwalt in Stuttgart und hatte gerade eines seiner Essen im Kollegenkreis hinter sich. Alexandra kannte die Abneigung ihres Mannes gegenüber diesen Terminen, denn eigentlich war er ein richtiger Familienmensch und ging, wenn überhaupt, am liebsten nur mit seiner Frau und seiner Tochter essen. Und obwohl er ihr manchmal deswegen fast ein wenig leid tat, amüsierte sie sich immer schon im Stillen, wenn Steffen ihr einen neuen Termin nannte,
»Kommst du auch gleich nach?«
Alexandra wandte sich zu ihrem Mann um, der sich von seinem Platz erhoben hatte und bereits an der Tür zum Flur stand. Für den Bruchteil eines Augenblicks hatte sie das Gefühl, als quälte ihn etwas. Doch der Eindruck verschwand sofort wieder, als Steffen seiner Frau ein warmes Lächeln schenkte, bevor er aus ihrem Blickfeld verschwand. Gleich drauf hörte Alexandra das gewohnte Pfeifen, das ihn fast überall begleitete. Mit einem Seufzen schlug sie die Decke zurück und stand auf. Sie fing an zu frösteln und schüttelte sich leicht. Dann löschte sie das Licht der Stehlampe und warf erneut einen Blick zur Uhr. Kurz nach elf! Sie hatte sich doch tatsächlich vorhin um eine ganze Stunde vertan! Ihr Mann hatte recht. Es war wirklich noch nicht so spät.
Samstag, 31. Oktober
Hauptkommissar Körschner fluchte verhalten. Die Ausbuchtung am Ende der engen Straße, die kurz vor dem Waldstück endete, war mit Autos dermaßen vollgestellt, dass er entnervt aufgab, den Rückwärtsgang einlegte und sich mit seinem Golf in eine Lücke am anderen Ende der Reihe quetschte. Vorwiegend waren es Fahrzeuge der Polizei, die hier im absoluten Parkverbot standen.
»Müssen wir eben den restlichen Weg zu Fuß zurücklegen«, brummte er, während er den Schlüssel herauszog und die Tür öffnete.
Beate Friesing schmunzelte. Sie arbeitete erst seit einigen Monaten mit Gerhard Körschner zusammen und war darüber sehr glücklich. Auf den ersten Blick wirkte er mürrisch, aber wie so oft im Leben täuschte der Eindruck. Körschner war sicher nicht gerade der Gesprächigste, aber genau diese Eigenschaft gefiel seiner jüngeren Kollegin. Schließlich war sie selbst ebenfalls eher wortkarg.
»Ist doch kein Problem bei dem herrlichen Wetter«, gab sie zurück und erhielt als Antwort das erwartete Brummen, das sie nun so oder so deuten konnte. Es hatte zwar empfindlich abgekühlt und gab schon seit ein paar Tagen Nachtfrost aber der heutige Sonnenschein entschädigte die sommerverliebte Beate für die bevorstehende kalte Jahreszeit.
Körschner hatte den Wagen so dicht neben einem der Bäume geparkt, die sich zwischen dem Waldheim und dem Weg befanden, dass seine Kollegin Mühe hatte, aus dem Auto zu steigen. Zum Glück hatte sie nicht nur einen sehr schlanken, sondern auch sportlichen Körper. Trotzdem entschlüpfte ihr ein leichtes Ächzen, als sie sich aus dem Wageninneren nach draußen schob und die Tür hinter sich zuschlug. Während sie die Tennisplätze linker Hand passierte, folgte sie den leicht schlurfenden Schritten ihres älteren Kollegen. Gleich darauf hatte sie ihn eingeholt.
»Martens und Brenniger können sicher nichts dafür, dass sie mit Magen- und Darmgrippe im Bett liegen. Außerdem sind wir schon zu schlimmeren Uhrzeiten gerufen worden.«
Am Wochenende waren eigentlich die Kollegen vom Kriminaldauerdienst zuständig, aber da aufgrund einer ungewöhnlich hohen Zahl von Erkrankungen Personalmangel herrschte, waren Beate und ihr Kollege zum Tatort gerufen worden. Körschner nickte einem entgegenkommenden Kollegen zu, der in der Hand eine Rolle Absperrband hielt und fragte ihn nach der Entfernung, die vor ihnen lag.
»Noch ungefähr fünfhundert Meter«, gab der Streifenbeamte zurück und zeigte dabei mit seiner freien Hand auf den Weg, der sich vor ihnen in den Wald fraß.
Körschner bedankte sich und sie setzten ihren morgendlichen Gang fort.
»Natürlich ist es nicht ihre Schuld. Aber mussten die beiden auch zusammen Muscheln essen gehen? So hätte wenigstens nur einer von uns heute hier raus gemusst«, antwortete er noch immer leicht verärgert.
Beate grinste und zuckte unbeeindruckt mit den Schultern. Sie sah den unglücklichen Zustand, dass ihre beiden Kollegen wegen der gleichen Ursache ausfielen, sodass sie ihren Dienst übernehmen mussten, relativ locker. Was vielleicht aber auch daran lag, dass sie noch nicht so viele Dienstjahre hinter sich hatte wie ihr Kollege, der die Fünfzig bereits deutlich überschritten hatte.
»Was wissen wir denn bereits?«, erkundigte sie sich und blinzelte kurz, als ein Sonnenstrahl den Weg durch die Baumwipfel direkt in ihre Augen fand.
»Männliche Leiche. Wurde gegen sieben Uhr von einem Jogger gefunden. Ist wohl fast darüber gestolpert«, informierte Körschner sie, wobei Beate erfreut feststellte, dass sein Tonfall langsam wieder freundlicher wurde. Ein Blick zur Uhr zeigte ihr, dass sie gut in der Zeit lagen, denn seit dem Auffinden des Toten war noch keine Stunde vergangen.
Den restlichen Weg legten sie schweigend zurück.
Dass der Ausdruck des Stolperns wörtlich gemeint war, erkannte die Oberkommissarin sofort, als sie den abgesperrten Tatort erreichten. Die Spurensicherung war bereits an der Arbeit, daher hielten die beiden den nötigen Abstand, bis die Kollegen ihnen grünes Licht geben würden. Der Tote lag seitlich am Wegrand, wobei sein Oberkörper auf den vertrockneten Blättern lag und seine Beine in den Weg ragten und somit eine tückische Stolperfalle darstellten. Zumindest für einen gedankenverlorenen Jogger.
Der rechte Arm des Toten lag seltsam verdreht halb unter seinem Körper und an der linken Schläfe war eine hässliche Wunde zu sehen, deren Blut nicht nur die Gesichtshälfte grotesk verschmiert, sondern auch die halblangen, brauen Haare verklebt hatte.
»Kümmerst du dich um den Jogger?«, fragte Körschner seine Kollegin und nickte in Richtung des Mannes, der ein Stück abseits auf einem Baumstumpf saß und ziemlich blass aussah.
»Könnt ihr schon etwas zur Todesursache sagen?«
Während Beate Friesing zu dem vor sich hinstarrenden Sportler ging, wandte sich Körschner an seinen Kollegen Ernst Molltner von der Spurensicherung. Die beiden kannten sich schon gefühlte zwanzig Jahre, wobei die tatsächliche Zeit gar nicht so weit davon entfernt war.
»Klar! Dieses Mal hat es uns der Täter einfach gemacht! Ein paar Meter von der Leiche entfernt fanden wir einen dicken Ast, den ich für die Tatwaffe halte. An dem einen Ende ist ein kleiner Fleck, der allerdings noch genau untersucht werden muss. Ich verwette jedoch mein Weihnachtsgeld, dass es sich dabei um Blut handelt.«
Körschner schmunzelte, was seinem faltigen Gesicht einen großväterlichen Ausdruck verlieh. Weihnachtsgeld erhielten sie schon seit Jahren nur noch in stark gekürzter Form!
»Er wurde also erschlagen. Habt ihr sonst noch was für mich?«, hakte Körschner nach.
»Nun sei mal zufrieden damit und warte einfach unsere Ergebnisse ab«, wies Molltner ihn zurecht. Wie Körschner gehofft hatte, schob er trotzdem gleich darauf noch weitere Informationen nach. »Der Boden ist sautrocken und teilweise sogar schon gefroren. Wir haben daher keine halbwegs brauchbaren Schuhabdrücke gefunden. Wegen möglicher Fingerabdrücke würde ich mir auch keine großen Hoffnungen machen. Bei der Kälte tragen die meisten Handschuhe. Aber vielleicht haben wir ja doch Glück.«
Körschner ließ seinen Blick über den Ort des Geschehens schweifen. Dabei versuchte er, sich jede noch so unbedeutende Kleinigkeit zu merken, denn oft waren es gerade Nebensächlichkeiten, die zum Täter führten. Zu dieser Erkenntnis war Körschner in den vielen Jahren seiner Tätigkeit beim Dezernat für Kapitaldelikte nicht nur einmal gekommen.
»Wo habt ihr den Ast gefunden?«
Molltner, der sich bereits wieder seiner Arbeit zugewandt hatte, sah kurz auf und wies mit der Hand auf eine markierte Stelle, ungefähr zwei Meter von der Leiche entfernt.
Wieso hast du die Mordwaffe nicht weiter weg geworfen? Bei den vielen Ästen hier war die Chance nicht gering, dass gerade dieser Ast übersehen worden wäre! Warst du in Panik? War es eine Tat im Affekt, sodass du total kopflos davongelaufen bist?
Mit der Antwort auf die nächste Frage, die er Molltner stellte, konnte Gerhard Körschner seine Gedanken gleich wieder neu sortieren.
»Nein, wir haben keinerlei Papiere bei dem Opfer gefunden. Außer einem Schlüsselbund und einem Blatt Papier, auf dem sich eine seltsame Zeichnung befindet, trug er nichts bei sich. Auch kein Handy, falls das eine weitere Frage gewesen wäre.«
Körschner klappte seinen Mund wieder zu, nahm das in Folie verpackte Papier entgegen und runzelte die Stirn. Das Blatt war eigentlich mehr ein Fetzen und stammte vermutlich aus einem Heft, denn die lange Abrisskante war sehr ungleichmäßig. So, als hätte es jemand in großer Eile herausgerissen. Der große schwarze Rabe, der anscheinend auf einen deutlich kleineren Mann wartete, dessen Gesicht im Profil nicht zu erkennen war, war hervorragend skizziert. Leider hatte Gerhard Körschner nicht die geringste Ahnung, was er damit anfangen sollte.
Mittwoch, 04. November
Alexandra verpasste der Eingangstür einen leichten Tritt, sodass diese mit einem dumpfen Ton hinter ihr ins Schloss fiel. Anschließend entledigte sie sich ihrer Pumps, die in der Ecke des Flures landeten.
»Tut das gut!«, stöhnte sie erleichtert auf und rieb sich die Zehen ihres linken Fußes. »Nie wieder ziehe ich neue Schuhe an, wenn ich einen langen Tag vor mir habe!«
Ihre eigene Ermahnung verhallte ungehört, ganz offensichtlich befand sie sich allein in ihrem Haus. Verwundert war sie darüber nicht. Seit ihre Tochter Carolin in Tübingen Jura studierte, verbrachte Alexandra ihre Zeit bis zum Abend oft allein. Steffen kam in der Regel nicht vor sieben Uhr nach Hause.
Mit einem wohligen Seufzer ließ sie ihre Tasche auf den Boden gleiten und schlüpfte aus ihrem Trenchcoat, um ihn anschließend über die Garderobenstange zu werfen. Dabei streifte ihr Blick den Anrufbeantworter, dessen Lämpchen hektisch blinkte. Ein kurzer Tastendruck entlockte dem Gerät seine Nachricht. Wie erwartet stammte sie von ihrem Mann. Obwohl seine langen Arbeitszeiten seit vielen Jahren zum Alltag ihres Ehelebens gehörten, rief er meistens am späten Nachmittag an, um wenigstens ein paar Worte mit Alexandra zu wechseln.
»Hallo Alex, Carolin hat mich im Büro überrascht und wir zwei gehen jetzt noch eine Kleinigkeit essen. Ich schätze, ich bin so gegen acht zu Hause. Kuss und bis später!«
Die Empfängerin der Nachricht trocknete sich ihre Hände ab, als der Piepton das Ende des Anrufs ankündigte. Alex, kaum jemand nannte sie bei ihrem vollständigen Vornamen, erledigte gern mehrere Dinge gleichzeitig, obwohl sie im Grunde genommen kein rastloser Mensch war, dem die Zeit davonlief. Im Gegenteil. Seit Carolin dem Kindesalter entwachsen war, verfügte sie manchmal sogar über zu viel Zeit. Vor gut vier Jahren, als sich Alexandras Selbstwertgefühl gegen null geschoben hatte, suchte sie sich einen Vierhundert-Euro-Job und nahm mehrere Ehrenämter an. So gelang es ihr nicht nur, die Entwicklung zu einer unsicheren, von Minderwertigkeitsgefühlen geplagten Frau eines erfolgreichen Staatsanwaltes, aufzuhalten, sondern ihn sogar ins Gegenteil zu kehren. Hätte sie sich damals entschlossen, nicht zu dem Vorstellungsgespräch mit der bekannten Künstlerin Judith Felsmann zu gehen, wäre sie sicher an dem furchtbaren Ereignis, das ihre Familie so unerwartet getroffen hatte, zerbrochen. So aber hatte Alexandra sich in die Arbeit gestürzt und die Tatsache, dass ihr Sohn Falko einfach von einem Tag auf den anderen verschwunden war, erfolgreich verdrängt.
Verdrängt, nicht verwunden.
»Na dann, viel Spaß«, murmelte sie leise und ging in die Küche.
Die Scheibe Brot, die bereits seit zwei Tagen in der Frischhaltetüte lag, sah nicht gerade verlockend aus. Sicher lassen es sich die beiden gerade bei Luigi schmecken, Steffens Lieblingsitaliener, der sich in der Nähe der Stuttgarter Staatsanwaltschaft befand. Plötzlich, ohne dass Alexandra sich dessen bewusst wurde, machte sich ein Gefühl in ihr bemerkbar, das immer mal wieder auftauchte, wenn es um Steffen und Carolin ging. Neid. Wie so oft fühlte sich Alexandra aus dem Leben ihres Mannes und ihrer Tochter ausgeschlossen. Das war nicht immer so gewesen, obwohl die Beziehung der beiden von Anfang an sehr eng gewesen war. Früher hatte Alexandra keine Probleme damit gehabt, dass Carolin mehr an ihrem Vater hing und er ihr großes Vorbild, ja, fast schon Idol war. Aber damals konnte Alexandra ihre Liebe über Falko ausschütten, der mit Steffen ständig aneinandergeriet.
Seit Falko nicht mehr bei ihnen lebte, fühlte sich Alexandra oft einsam.
Entschieden verdrängte Alexandra das aufkommende Gefühl. Eigentlich kann ich froh sein, dass sich Carolin so gut mit ihrem Vater versteht, dachte sie, während sie das kleine Bild ihres Sohnes anschaute. Seit Jahren hing das Passfoto nun schon an der Pinnwand. Das Lächeln des damals Vierzehnjährigen versetzte seiner Mutter noch immer einen Stich, auch wenn der Schmerz mit den Jahren nachgelassen hatte.
»Ach, was soll’s! Was ihr könnt, kann ich schon lange!«
Alexandra öffnete die Tür des Gefrierschranks und entnahm ihm mit knurrendem Magen eine Thunfischpizza. Nachdem sie den Backofen vorgeheizt und die Pizza auf das Blech gelegt hatte, ging sie in den Keller und kehrte gleich darauf mit einer Flasche Wein zurück. Alexandra sog genussvoll den Geruch ein, der ihr in der Küche aus dem Backofen entgegenströmte.
Die schmerzhaften Gedanken hatte sie wie gewöhnlich erfolgreich verdrängt.
Kommissar Körschner setzte den Blinker und scherte langsam auf die Überholspur aus. Normalerweise hielt er sich an die angegebenen Geschwindigkeitsbegrenzungen, aber der Fahrer des Opel Rekords gehörte offensichtlich zu der Gruppe Autofahrer, die lieber auf Nummer sicher gingen und knapp darunter blieben. Körschner wollte ganz einfach nicht länger hinter dem Wagen hertuckern. Selbst im Vorbeifahren erkannte Beate die angespannte Haltung des Rekord-Fahrers, der förmlich an der Windschutzscheibe klebte. Kopfschüttelnd wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder ihrem Kollegen zu.
»Was wissen wir über diesen Falko Thalinger?«
Kurz bevor Beate sich bei ihrem Kollegen in den Feierabend verabschieden wollte, waren die neuesten Erkenntnisse zur Identität des Toten hereingeflattert. Ein Serverausfall am Samstag mit anschließenden längerfristigen Wartungsarbeiten hatte eine Datenbankabfrage erst am Montagabend möglich gemacht. Der Abgleich mit den Fingerabdrücken und der Vermisstendatei fiel dann aber leider negativ aus. Eine polizeiinterne Veröffentlichung eines der Fotos, die von dem Toten angefertigt wurden, brachte dann den Durchbruch. So sparten sie sich glücklicherweise eine Veröffentlichung in der örtlichen Zeitung. Ein Kollege des Drogendezernats, Walter Supfinger, hatte den Mann wiedererkannt, auch wenn er sich nicht mehr genau an den Zeitpunkt erinnern konnte, wann er ihn das letzte Mal gesehen hatte. Er wusste nur noch, dass es mit den Kontrollen bei einigen Junkies zusammenhing und wohl auch bei ihm selbst einmal Joints gefunden wurden.
Da Beate und er in der Datenbank nicht fündig geworden waren, musste es mehr als drei Jahre zurückliegen. Der Name war bei Supfinger hängengeblieben, weil sie zum einen nach der Überprüfung der Personalien ziemlich schnell darauf gestoßen waren, dass es sich um den Sohn eines Stuttgarter Staatsanwalts handelte. Zum anderen hatte Supfinger seinerzeit ein paar Portraitzeichnungen des Toten bewundert. Er fand sie sensationell.
»Wäre er nicht ermordet worden, könnte er in der nächsten Woche seinen 23. Geburtstag feiern«, erwiderte Körschner, der keinen Hehl daraus gemacht hatte, wie froh er über Beates Begleitung war. Seine Abneigung gegen das Überbringen von Todesnachrichten war im Kollegenkreis bekannt, ebenso wie sein Pflichtgefühl, diese Aufgabe trotzdem zu übernehmen und nicht an jüngere Beamte abzuschieben.
Obwohl Beate sich die Antwort eigentlich schon denken konnte, erkundigte sie sich bei ihrem Partner, warum nicht die Kollegen vom Ludwigsburger Revier diese Aufgabe übernehmen sollten.
»Der Mord liegt nun schon einige Tage zurück. Durch die erschwerte Identifizierung haben wir wertvolle Zeit verloren«, erklärte Körschner und runzelte die Stirn, als der Radiosprecher von den neuesten Entwicklungen beim umstrittenen Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 berichtete.
»Wenn ich die Eltern des Toten erst zur Befragung einbestellt hätte, hätte das einen weiteren Zeitverlust von mindestens ein bis zwei Tagen bedeutet.«
»Na, dann warten wir mal ab, welche Informationen wir noch von seinen Eltern erhalten«, sagte Beate und stellte das Radio ab. Sie war das Thema Stuttgart 21 so unendlich leid.
Beate Friesing rieb sich ihre Hände, die trotz der warmen Luft, die aus der Lüftung ins Wageninnere strömte, immer noch eisig kalt waren. Kein Wunder bei dem miesen Wetter, dachte sie grimmig und starrte hinaus in den dunklen Novemberabend. Es nieselte leicht und die Anzeige auf dem Display warnte vor Glatteis. Ihr Kollege hatte die Scheibenwischer auf Intervall eingestellt und jedes Mal, wenn die Wischer sich ihren Weg über die Scheibe bahnten, quietschten sie leise – fast so, als würden sie sich ebenfalls über das nasskalte Wetter beklagen, das ihren Einsatz erforderlich machte.
»Ist er eigentlich noch unter der Adresse der Eltern gemeldet?«, fragte Beate und gab den Versuch auf, ihren Händen einen Hauch von Wärme zuzuführen. Sie würde sich nachher zu Hause in die Badewanne legen.
»Nein. Hausermann hat in aller Schnelle herausgefunden, dass Falko Thalinger seit vier Jahren in Berlin registriert war. Ich habe bereits veranlasst, dass sich die Kollegen dort in seiner Wohnung umsehen sollen.«
Beate rümpfte die Nase. Hausermann war zwei Jahre älter als sie und machte keinen Hehl daraus, dass er sie nicht leiden konnte. Wann seine Abneigung gegen sie begonnen hatte, wusste Beate nicht zu sagen. Zumindest aber konnte sie den genauen Zeitpunkt nennen, ab wann dieses Gefühl von ihr erwidert wurde.
Michael Hausermann hatte kurz nach seinem zweiwöchigen Urlaub auf Mallorca im Mai ein paar unschöne Witze über Lesben gerissen. Anscheinend hatte es an seinem Nachbartisch im hoteleigenen Restaurant ein verliebtes gleichgeschlechtliches Pärchen gegeben, das seine Fantasie in diesem Urlaub ordentlich angeregt hatte. Beate war aus verständlichen Gründen nicht in das schallende Gelächter der Kollegen eingefallen und hatte kurz danach den Raum verlassen. Später hatte Maren, die andere Kollegin in der Abteilung, ihr berichtet, dass Hausermanns Gesicht eine knallrote Färbung angenommen hatte, nachdem er erfahren hatte, dass Beate mit ihrer Lebensgefährtin zusammenwohnte. Entschuldigt hatte er sich jedoch nicht.
»Die Spuren auf der Mordwaffe helfen uns auch nicht sonderlich weiter. Es wurden kleinste Partikel gefunden, die auf dunkle Fleecehandschuhe schließen lassen«, unterbrach Körschner ihre Gedanken. Beate riss sich zusammen und schüttelte die Erinnerung an Hausermann ab. »Falko Thalinger hat sich nicht gewehrt. Dr. Krieger hat keinerlei Hinweise bei ihm entdeckt, die darauf schließen lassen. Entweder wurde er von dem Täter überrascht oder er kannte seinen Mörder und hat deshalb nicht rechtzeitig reagiert«, mutmaßte Körschner mit einem verstohlenen Seitenblick auf Beate, die ihm jetzt aber wieder hoch konzentriert zuhörte.
»Tja, leider kann er es uns nicht mehr erzählen. Bis jetzt wissen wir nicht viel über den Toten. Mal sehen, was die Eltern sagen«, meinte Beate nachdenklich und betrachtete im Vorbeifahren das Wüstenrot-Hochhaus. Gleich darauf rauschte das Ortschild an ihnen vorbei und Körschner bremste ab, als die Ampel vor ihnen auf Gelb umschaltete.
Die Kriminalkommissarin kannte Ludwigsburg nicht besonders gut. Außer einem Sommerausflug ins Blühende Barock, dem Schloss mit seinen herrlichen Gartenanlagen, brachte sie damit nichts in Verbindung.
Kurze Zeit später hielten sie vor einem älteren Einfamilienhaus. In einem der Zimmer brannte Licht, der Rest des Hauses lag im Dunkeln. Die beiden stiegen aus und gingen auf den Eingang zu, der augenblicklich von einer Außenlampe erhellt wurde.
»Es gibt Pizza«, sagte Körschner und drückte auf den Klingelknopf. Durch das gekippte Fenster drang das Geräusch eines scheppernden Blechs zu ihnen, dem ein leiser Fluch folgte, bevor das Rauschen von Wasser zu hören war.
Beate nickte stumm. Höchstwahrscheinlich wird diese Pizza nicht gegessen werden, dachte sie und schlang die Arme um sich.
Alexandra stöhnte leise auf, als das kalte Leitungswasser über ihre Hand lief und langsam seine Wirkung zeigte. Als es an der Tür geklingelt hatte, war sie erschrocken zusammengezuckt und hatte sich mit ihrer Handkante am Backblech verbrannt. Die Klingel ertönte ein zweites Mal. Mit einer ruckartigen Handbewegung drückte sie den Wasserhahn zu und ging zur Tür. Sie erwartete niemanden. Vielleicht hatte Carolin mal wieder etwas bei eBay ersteigert, ging es Alexandra durch den Kopf, und vergessen, ihre neue Adresse anzugeben. Allerdings sah das Paar, das ihr beim Öffnen der Eingangstür gegenüber stand, nicht nach dem Hermes-Paketdienst aus.
»Ja bitte?«, fragte Alexandra und hielt sich die verbrannte Stelle ihrer Hand, da der Schmerz sich wieder zurückmeldete.
Der grauhaarige Mann, Alexandra schätzte ihn auf Mitte fünfzig, streckte ihr einen Ausweis entgegen und stellte sich gleichzeitig mit »Körschner, Kripo Stuttgart« vor. Mit einer flüchtigen Handbewegung in Richtung der jüngeren Frau neben ihm übernahm er auch deren Vorstellung und fragte im Anschluss: »Sind Sie Frau Alexandra Thalinger?«
Alexandra wurde blass und ihr Magen krampfte sich zusammen. Sofort war alles wieder da! Die Ängste, die sie ausgestanden hatte, wenn wieder einmal die Polizei wegen ihres Sohnes an der Tür geklingelt hatte, ergriffen von ihr Besitz und nahmen sie in die Zange.
»Ist was mit Falko?«, flüsterte sie, ohne auf seine Frage einzugehen. »Ist meinem Sohn was passiert?«
»Können wir bitte reinkommen, Frau Thalinger?« Die Frau hatte die Antwort übernommen, indem sie Alexandras Frage mit einer Gegenfrage beantwortete und damit schon genug gesagt hatte. Trotz ihrer angenehm dunklen Stimme, die gut zu ihrer interessanten Erscheinung passte, lief es Alexandra eiskalt den Rücken hinunter. Mit einer Hand griff sie zum Türrahmen und starrte die Polizistin wortlos an.
»Bitte Frau Thalinger, können wir das drinnen besprechen?«
Beate Friesing startete einen erneuten Versuch und jetzt endlich gelang es Alexandra, sich aus ihrer Erstarrung zu lösen.
»Ja, na …«, Alexandra räusperte sich, um den Kloß in ihrem Hals loszuwerden. »Natürlich, entschuldigen Sie bitte«, sagte sie und trat zur Seite.
Nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, ging sie an den beiden Wartenden vorbei, die drei Stufen hoch und lud sie mit einer Handbewegung ins Wohnzimmer ein. Der Pizzageruch erfüllte mittlerweile auch diesen Raum, da Alexandra vergessen hatte, die gegenüberliegende Küchentür hinter sich zu schließen. Sie hatte sich immer noch nicht wieder völlig im Griff, aber das Gefühl der Schwäche, das sie vor wenigen Minuten unvermittelt überfallen hatte, wich allmählich.
»Bitte setzen Sie sich doch.«
Während sich Alexandra in den Sessel fallen ließ, beobachtete sie ihre Besucher. Beide waren ihr auf Anhieb nicht unsympathisch. Das von tiefen Falten gezeichnete Gesicht des Mannes wirkte besorgt und verstärkte damit Alexandras Vorahnung, dass etwas Schlimmes geschehen sein musste.
»Es tut uns sehr leid, Frau Thalinger«, begann die Frau, deren Namen Alexandra vergessen hatte, »dass wir Ihnen eine traurige Nachricht überbringen müssen. Ihr Sohn Falko wurde am Samstagmorgen tot aufgefunden.«
Reglos, die Hände wie zum Gebet ineinander verschränkt, vernahm Alexandra die schrecklichen Worte, ohne sie wirklich zu verstehen. Ein dumpfer Druck breitete sich in ihrem Inneren aus und schien sämtliche Organe zusammenzudrücken. Mit starrem Blick fixierte sie ihre Besucherin, deren Mund sich immer wieder wie in Zeitlupe öffnete.
Seltsamerweise hörte Alexandra keinen Ton. Als sich eine schwere Hand auf ihre Schulter legte, zuckte Alexandra wie bei einem leichten Stromschlag zusammen, sodass die Last wieder herabrutschte.
»Ist alles in Ordnung, Frau Thalinger? Sollen wir jemanden benachrichtigen? Ihren Mann vielleicht?«
Wenigstens konnte sie ihn hören! Alexandras Kopf ruckte nach rechts. Ihr Gesicht hatte sich zu einer Grimasse verzogen und ihre Unterlippe bebte. Obwohl sie den Polizisten nur verschwommen erkennen konnte, registrierte sie das Mitleid in seiner Miene. Dass ihr unaufhaltsam die Tränen über die Wangen liefen, fiel ihr jedoch ebenso wenig auf, wie das Taschentuch, das er ihr entgegenhielt. Sie hatte mit einem Mal das Gefühl zu ersticken, denn ihre Kehle war wie zugeschnürt. Plötzlich schluchzte Alexandra laut auf.
»Ruf den Notarzt!«
Wie durch dichten Nebel drangen die Worte des Mannes zu ihr und Alexandra begann um sich zu schlagen. Gleich darauf wurde sie an beiden Armen festgehalten. Es war, als ob sie sich selbst dabei beobachtete, wie sie total hysterisch gegen den Kommissar ankämpfte, der mit ruhigen Worten auf sie einredete. Panisch japste Alexandra zwischen den Schluchzern nach Luft.
»Ganz ruhig atmen! Tief einatmen, so ist es gut!«
Endlich verstand Alexandra die monotonen Worte des Mannes und rang nach Atem. Es war kein gleichmäßiges, tiefes Einatmen, sondern ähnelte mehr den panischen Bewegungen eines Fisches, der auf dem Trockenen langsam verendet. Das ruckartige Einsaugen der Luft hatte etwas Beängstigendes an sich, das mindestens ebenso fremd in Alexandras Ohren klang, wie kurz zuvor ihr eigenes, jammervolles Klagen.
»Kripo Stuttgart, Beate Friesing. Wir benötigen dringend einen Notarzt! Salonallee 33 in Ludwigsburg. Schwerer Schock!«
Alexandra hatte das Kämpfen aufgegeben. Kraftlos lehnte sie sich gegen die Brust des Kommissars, der ihren Körper noch immer fest umfangen hielt, während sie lautlos weinte. Der Schmerz, der ihren Körper bis vor Kurzem noch ausgefüllt hatte, war vergangen und hatte einer Leere Platz gemacht, die kaum weniger zu ertragen war. Noch nicht einmal die vertraute Stimme, die in dem Augenblick aus dem Flur zu ihr ins Wohnzimmer drang, vermochte daran etwas zu ändern.
»Hallo Liebes! Ich bin wieder da!«
Eine seltsame Ruhe erfüllte Alexandras Körper. Der Arzt, der keine fünfzehn Minuten nach ihrem Mann eingetroffen war, hatte ihr eine Beruhigungsspritze gegeben. Ein Schlafmittel hatte sie vehement abgelehnt. Sie wollte nicht schlafen, sondern den Schmerz spüren. Auch wenn er fast unerträglich war. Alles andere käme ihr wie Verrat an ihrem toten Sohn vor. Steffens Nähe tat ihr gut. Schützend hatte er seinen Arm um sie gelegt und sie schmiegte sich an ihn. Als er den Kommissar und seine Kollegin gebeten hatte, sie allein zu lassen, hatte Alexandra dagegen aufbegehrt. Sie musste unter allen Umständen wissen, warum Falko gestorben war!
Der Gedanke an ihn schmerzte so sehr, dass ihr die Tränen in die Augen schossen. Alexandra senkte ihre Lider und fuhr sich mit einer müden Handbewegung über die Wange.
»Sind Sie sicher, dass Sie in der Lage sind, uns ein paar Fragen zu beantworten, Frau Thalinger? Ansonsten können Sie auch gern morgen zu uns ins Präsidium kommen.«
Den prüfenden Blick des Kommissars erwiderte Alexandra zwar mit müden Augen, aber dennoch standhaft.
»Ich schaffe das schon.«
»Was können Sie uns alles über den Tod unseres Sohnes sagen?«, mischte sich Steffen ein und zog damit die Aufmerksamkeit auf sich. Er besaß eine natürliche Autorität, die Alexandra schon immer an ihm bewundert hatte. Nicht selten hatte sie sich nur ein klein wenig davon gewünscht.
»Ein Jogger hat die Leiche Ihres Sohnes am Samstag früh in der Nähe der Schlotwiese in Zuffenhausen gefunden. Er trug keine Papiere bei sich, deshalb hat es mit seiner Identifizierung etwas länger gedauert«, begann der Kommissar mit seinen Ausführungen, die sofort von Steffen unterbrochen wurden.
»Schlotwiese? Sie meinen den Greutterwald?«
»Nicht so weit. Bei den Sportanlagen, nur ein kleines Stück in den Wald hinein. Das gehört noch zum Schützenwiesenwald«, erwiderte Körschner mit einem knappen Nicken.
»Wie?«, brachte Alexandra mühsam hervor. »Wie ist mein Sohn gestorben?«
Falls die beiden Kommissare darüber irritiert waren, dass Alexandra nicht von »unserem« Sohn sprach, so zeigten sie es nicht.
»Er wurde erschlagen.«
Die Blicke des Ehepaars wanderten zur Kommissarin, die sich bisher nicht an der Unterredung beteiligt hatte. Dann drehte Alexandra ihren Kopf zur Seite und schloss die Augen. Sofort erschien in ihrer Vorstellung das schmerzverzerrte Gesicht ihres Sohnes, und voller Panik riss sie die Augen wieder auf. Steffen drückte kurz ihren Arm. Für ein dankbares Lächeln fehlte ihr jedoch die Kraft.
»Wussten Sie, dass er sich in Stuttgart aufhielt?«
Alexandra schüttelte den Kopf. »Wir haben seit fast fünf Jahren keinen Kontakt mehr zu ihm«, antwortete sie kaum hörbar. »Falko ist einen Tag nach seinem achtzehnten Geburtstag verschwunden. Wir haben seitdem nichts mehr von ihm gehört.«
»Dann wissen Sie gar nicht, dass er in Berlin gelebt hat?«, fragte Körschner.
Ist es Ungläubigkeit darüber, dass wir Eltern nichts von unserem Sohn wissen, oder reine berufliche Neugier?, fragte sich Alexandra, bevor sie stumm den Kopf schüttelte.
»Nein«, antwortete Steffen. »Falko hatte kein besonders gutes Verhältnis zu mir und war wohl froh, als er endlich volljährig war. Er hinterließ uns nur ein paar Zeilen, dass wir nicht nach ihm suchen sollen. Mehr nicht.«
Für Außenstehende klang ihr Mann ziemlich gefasst, aber Alexandra wusste, wie schwer ihm diese Worte fielen. Steffen fühlte sich an Falkos jähem Verschwinden mitschuldig. Vielleicht hatte Alexandra deshalb das Gefühl, dass sie ihren Mann verteidigen musste.
»Wir haben natürlich trotzdem nach ihm gesucht. Mein Mann hat sogar die Hilfe eines Privatdetektivs in Anspruch genommen. Leider ohne Erfolg.«
Körschner schürzte die Lippen, nickte kurz und bedankte sich bei Alexandra und ihrem Mann. Dann bat er sie für den nächsten Vormittag aufs Präsidium.
»Kann ich meinen … Können wir unseren Sohn noch einmal sehen?«
Körschner, der bereits mit seiner Kollegin die Wohnzimmertür erreicht hatte, hielt inne und drehte sich um.
»Sicher. Wenn Sie möchten, können Sie gleich morgen zu ihm.«
Alexandra nickte verhalten. Steffen nahm seinen Arm von ihr und stand ebenfalls auf.
»Ich begleite Sie noch zur Tür.«
»Auf Wiedersehen, Frau Thalinger. Bis morgen!« Beate Friesing schenkte ihr zum Abschied ein mitfühlendes Lächeln, dann waren die drei verschwunden.
Alexandra hörte noch leises Stimmengemurmel im Eingangsbereich des Hauses, bis schließlich die Tür ins Schloss fiel und die Kette einrastete.
»Wir müssen Carolin Bescheid geben.«
Erschrocken sah Alexandra auf. Sie hatte ihre Tochter völlig vergessen!
»Wie sollen wir das jetzt machen?«, fragte sie ihren Mann und fühlte sich hilfloser denn je. Carolin und Falko hatten nicht gerade eine enge Beziehung gehabt. Aber er war immerhin ihr Bruder!
»Ich hole sie zu uns. Kann ich dich allein lassen?«
Steffen stand mit hängenden Schultern in der Türöffnung. Er sah unglaublich müde aus und Alexandra hätte ihm am liebsten verboten, mit dem Auto zu fahren. Aber was für eine Möglichkeit blieb ihnen sonst? Sie konnten Carolin die furchtbare Nachricht schließlich nicht am Telefon mitteilen!
Wie aus heiterem Himmel blitzte eine Idee in ihrem überlasteten Gehirn auf.
»Ruf Melanie an! Sie soll Carolin abholen und dann mit ihr zu uns kommen.«
Melanie war Carolins beste Freundin. Beide kannten sich schon seit der Zeit auf dem Gymnasium und hatten sich kurz vor dem Abitur eng miteinander befreundet. Jetzt studierten sie sogar zusammen in Tübingen. Allerdings hatte sich die schon immer gemeinnützig engagierte Melanie für Sozialpädagogik entschieden, während Carolin sich voller Begeisterung ins Jurastudium stürzte.
»Was soll ich ihr denn sagen?«, brachte Steffen seine Zweifel über den Vorschlag seiner Frau hervor, die sich jedoch nicht davon abbringen ließ.
»Sag ihr die Wahrheit! Melanie ist schließlich nicht auf den Kopf gefallen und kannte Falko flüchtig. Ihr wird schon eine glaubwürdige Ausrede einfallen«, drängte Alexandra, die den Gedanken, für mindestens eineinhalb Stunden allein zu sein, nicht ertragen konnte.
»Na gut, wahrscheinlich hast du recht«, gab Steffen schließlich zögernd nach und griff zum Telefon.
»Und?«
Körschner war neugierig. Sie befanden sich schon seit über zehn Minuten auf dem Rückweg von Ludwigsburg und Beate Friesing hatte noch immer nichts zu dem Gespräch mit dem Ehepaar Thalinger verlauten lassen. Dass es sie beschäftigte, zeigten die grüblerischen Falten, die im Scheinwerferlicht der entgegenkommenden Fahrzeuge auf dem ansonsten makellosen Antlitz der Dreiunddreißigjährigen zu sehen waren.
»Hm, ich weiß nicht genau. Es gibt da ein paar Dinge, die mich stutzig machen«, gab Beate nachdenklich zurück.
»Die da wären?«
»Zum Beispiel war die Mutter am Boden zerstört, aber ihr Mann hatte sich ziemlich gut im Griff. Klar, es reagiert jeder anders auf Todesnachrichten, aber ich fand den Unterschied doch eklatant. Außerdem hat sie mindestens zweimal von ›meinem Sohn‹ gesprochen. Das hat mich irgendwie gestört«, führte Beate ihre Zweifel auf.
»Beides richtig«, stimmte Körschner ihr zu. »Vergiss aber nicht, dass Steffen Thalinger schon viele Jahre als Staatsanwalt tätig ist und seine Gefühle dementsprechend gut unter Kontrolle haben dürfte. Und was die andere Sache angeht. Sie hat es zweimal gesagt, wobei sie sich davon einmal verbessert hat. In meinem Freundeskreis gibt es auch eine Frau, die grundsätzlich von ihren Kindern spricht. Fast so, als hätte ihr Mann nichts dazu beigetragen! Mich wundert immer, dass es ihn nicht zu stören scheint.«
Der Nieselregen hatte glücklicherweise aufgehört, aber bei der Wetterlage konnte sich Körschner nicht darauf verlassen, dass es auf der Straße nicht doch stellenweise glatt sein könnte.
»Und was ist damit, dass sie von ihrem Sohn in den letzten fünf Jahren nichts mehr gehört haben?«
Seine Kollegin schüttelte den Kopf und gab ein ungläubiges Schnaufen von sich. Er hatte ihren fassungslosen Blick bemerkt, als Frau Thalinger diese Kleinigkeit zur Sprache brachte. Glücklicherweise war er dem Ehepaar nicht aufgefallen. Körschner hielt nichts davon, wenn Polizisten ihre Empfindungen gegenüber Außenstehenden nicht im Griff hatten.
»Tja, was soll damit sein? Glaubst du wirklich, dass so etwas ein Einzelfall ist? Das kommt in den besten Familien vor! Erst recht, wenn der Sohnemann ständig Probleme mit der Polizei hat und der Vater Staatsanwalt ist.«
Körschner verschwieg in dem Moment, dass auch seine Tochter für ein knappes Jahr jeglichen Kontakt zu ihm abgebrochen hatte. Wenigstens hatte seine Frau in dieser Zeit ab und zu ein Gespräch mit ihr geführt. Er war immer noch sehr froh darüber, dass ihre Ich-lehne-alles-ab-Phase, wie er sie im Geheimen nannte, abgeschlossen war.
Mit einem Schlag wurde ihm bewusst, wie wenig er eigentlich von seiner Kollegin wusste. Körschner nahm sich vor, bei nächster Gelegenheit mal ein Glas Wein mit ihr zu trinken. Er mochte Beate Friesing, und die Tatsache, dass sie lesbisch war und mit ihrer Lebensgefährtin zusammenlebte, störte ihn nicht die Bohne.
»Das weiß ich alles. Aber irgendetwas passt daran nicht. Ich kann im Augenblick nur nicht genau sagen, was mich eigentlich stört. Aber vielleicht irre ich mich auch. Warten wir mal das Gespräch morgen Vormittag ab«, entgegnete Beate und hielt ihre Hände an die Lüftung, aus der warme Luft herausströmte.
»Mmh, mal sehen. Hoffentlich haben wir dann auch schon die Ergebnisse der Berliner Kollegen«, antwortete Körschner und dachte insgeheim, dass Beate mit ihrer Intuition schon oft richtig lag. Auch so ein Punkt, der ihm an ihr gefiel. Er selbst verließ sich lieber auf Fakten, denn sein Gefühl hatte ihn schon zu oft betrogen.
Donnerstag, 05. November
»Möchtest du noch eine Tasse Kakao?«, fragte Alexandra ihre Tochter, die mit verquollenen Augen am Tisch saß und lustlos ihren Toast mit Nutella bestrich. Ihre Freundin Melanie hatte sich gestern Abend relativ schnell wieder auf den Weg nach Hause gemacht und die trauernde Familie allein gelassen.
»Nein.« Carolin schüttelte den Kopf und klopfte mit ihrer Hand auf den freien Platz neben sich. »Setzt dich doch bitte ein wenig zu mir, Mama. Dein ständiges Hin und Her macht mich ganz nervös«, bat die junge Frau mit einem entschuldigenden Lächeln.
Alexandra nahm ihre Tasse Kaffee und rutschte auf die Eckbank. Als Carolin sich an sie kuschelte, legte Alexandra spontan den Arm um ihre Tochter. Das Gefühl war ungewohnt, aber schön, denn in den letzten Jahren hatte Carolin immer seltener die Nähe der Mutter gesucht.
»Wie geht es dir, Liebes? Hilft die Tablette endlich?«, fragte Alexandra, die ebenso von heftigen Kopfschmerzen geplagt wurde. Sie hatte in der letzten Nacht kaum ein Auge zugemacht und fühlte sich entsprechend zerschlagen. Aber die Sorge um ihre Tochter half ihr dabei, sich von ihrer eigenen Qual abzulenken.
»Ja, es wird langsam besser«, antwortete Carolin.
Eine Weile war es still in der Küche, Alexandra spürte, dass ihre Tochter mit etwas rang. Sie wusste aus Erfahrung, dass Carolin früher oder später ihre Gedanken in Worte fassen würde.
»Weißt du, gestern, als ihr mir das von Falko gesagt habt, da war mein erste Gedanke, dass ich ihn nun nie um Verzeihung bitten kann«, begann Carolin stockend.
»Wieso um Verzeihung bitten?«, fragte ihre Mutter und zog dabei ihre Augenbrauen zusammen. »Weshalb musstest du dich bei Falko entschuldigen?«
»Na, weil, ich meine, es ist doch nur, weil ich so froh war, als er damals einfach weg war. Es war so schön ruhig und der ganze Streit war endlich vorbei. Papa ging es auch viel besser. Aber jetzt schäme ich mich deswegen. Und ich kann es ihm nicht mehr sagen.«
»Ach, Carolin«, seufzte Alexandra und strich ihrer Tochter sanft über die Locken. »Ihr habt zwar nie ein besonders inniges Verhältnis gehabt, aber tief in seinem Inneren wusste dein Bruder bestimmt, dass du ihn lieb hast.«
Im gleichen Moment stellte Alexandra innerlich ein großes Fragezeichen hinter ihre eigene Aussage. Aber warum sollte Carolin sich nun noch deswegen quälen? Wem nützte es etwas?
Carolin, die anscheinend die Luft angehalten hatte, atmete erleichtert aus.
»Danke, Mama. Es tut gut, dass du das sagst, weil ich immer dachte, dass du böse auf mich bist. Weil du doch Falko lieber hattest als mich, und ich habe geglaubt, dass du auch mir ein wenig die Schuld für sein Verschwinden gegeben hast«, murmelte sie.
Alexandra erstarrte bei den Worten ihrer Tochter, ohne dass diese davon etwas bemerkte. War es wirklich so gewesen, wie Carolin es empfunden hatte? Habe ich mich nicht immer bemüht, meine Liebe gleichmäßig zu verteilen und mich meinen Kindern gegenüber gerecht zu verhalten?
»Das habe ich niemals gedacht, Liebes«, flüsterte Alexandra und hielt ihre Tochter noch ein wenig fester im Arm.
Als das Telefon klingelte, verharrten beide Frauen reglos in ihrer Umarmung. Es kam Alexandra so vor, als wollten sie diesen kostbaren Moment noch ein wenig in die Länge ziehen. Aber nachdem sich der Anrufbeantworter eingeschaltet hatte und Steffens Stimme aus dem Flur zu ihnen in die Küche hallte, löste sich Carolin abrupt, sprang auf und nahm den Hörer.
»Hallo! Papa hörst du mich?«
Steffen hatte jedoch bereits aufgelegt und Carolin rief ihrer Mutter zu, dass sie doch schnell mal kommen sollte, um die Nachricht abzuhören.
Der vertraute Moment war vorbei.
Seufzend erhob sich Alexandra.
»Ich schaffe den Termin beim Kommissar leider nicht, Alex. Du fährst aber bitte nicht allein. Ich werde dort anrufen und für morgen etwas ausmachen. Auf den Tag kommt es sicher nicht an.«
Piep.
»Das ist schön, Mama. Dann können wir uns einen gemütlichen Tag machen und wenn Papa heute Abend kommt, essen wir alle zusammen«, freute sich Carolin, der die Enttäuschung in den Augen ihrer Mutter überhaupt nicht auffiel.
»Nein, das wird leider nicht gehen«, entgegnete Alexandra, mühsam bemüht, ihren Ärger im Zaum zu halten. Sie hatten eigentlich abgesprochen, dass Steffen sie von zu Hause abholen sollte, damit sie zusammen zur Polizei fahren konnten. Alexandra hatte auf den Termin bestanden. Zum einen wollte sie natürlich, dass der Täter gefasst wurde, und dafür benötigte die Polizei selbstverständlich ihre Unterstützung. Zum anderen wollte Alexandra aber so schnell wie möglich ihren Sohn sehen.
Steffen wusste das alles.
»Aber wieso denn nicht? Du hast doch gehört, dass Papa nicht kann«, wunderte sich Carolin, mit einer Spur Misstrauen in der Stimme.
»Dann werde ich den Termin eben allein wahrnehmen. Du willst doch auch, dass die Polizei den Mörder deines Bruders findet. Dazu brauchen sie alle Informationen so schnell wie möglich.«
»Natürlich will ich das«, räumte Carolin ein. »Aber Papa hat nun einmal einen wichtigen Job und kann nicht einfach Termine platzen lassen. Außerdem sollst du nicht allein fahren, hat er gesagt. Du bist viel zu durcheinander.«
»Er muss nicht einfach so Termine platzen lassen«, erwiderte Alexandra nun betont kühl. Das war die Carolin, die sie kannte, die ihren Papa über alles stellte. »Es geht hier aber nicht um etwas Einfaches, sondern um den Mord an deinem Bruder. Und wegen dem Fahren musst du dir keine Sorgen machen, das bekomme ich schon hin. Ich beeile mich auch, dann bin ich schnell wieder zu Hause.«
»Das brauchst du nicht«, entgegnete Carolin verärgert. »Es ist wie immer. Falko geht immer vor, selbst dann noch, wenn er tot ist.«
Dann machte sie auf dem Absatz kehrt und rannte die Treppe hoch.
»Das hat doch damit überhaupt nichts zu tun«, rief Alexandra ihrer Tochter hinterher und zuckte zusammen, als Carolin ihre Zimmertür zuknallte.
Für einen Augenblick überlegte Alexandra, ob sie ihren Entschluss ihrer Tochter zuliebe rückgängig machen sollte. Dann presste sie die Lippen zusammen und rieb sich mit beiden Handflächen über ihr Gesicht. Sie hatte einmal bereits nachgegeben, als sie akzeptiert hatte, nicht mehr weiter nach ihrem Sohn zu suchen und sich das niemals verziehen. Jetzt war es zu spät, das sollte ihr nicht noch einmal passieren. Außerdem wäre Carolin auch allein gewesen, wenn Steffen den Termin nicht abgesagt hätte. Deswegen musste Alexandra kein schlechtes Gewissen haben.
Ihr Blick fiel auf die Visitenkarte des Kommissars, die neben der Basisstation des Telefons lag. Spontan griff sie zum Hörer und wählte die Nummer.
»Friesing, Kripo Stuttgart, Dezernat 11.«
Mit knappen Worten setzte Alexandra die Kommissarin davon in Kenntnis, dass sie den Termin trotzdem, nun ohne ihren Mann, wahrnehmen würde. Danach ging sie mit entschlossenen Schritten hoch ins Schlafzimmer, zog sich um und machte sich noch etwas frisch. Als sie das Zimmer ihrer Tochter passierte, dröhnte ein Stück aus »Aida« durch die Tür. Kopfschüttelnd ging Alexandra wieder ins Erdgeschoss. Auch in dieser Sache war Carolin ihrem Vater so unglaublich ähnlich. Wenn Steffen wütend war, hörte er sich immer Opern-Arien an.
»Und? Was hältst du davon? Erst sagt er ab, dann ruft sie an und sagt wieder zu.« Beate Friesing schüttelte den Kopf und zog eine Grimasse. »Das nenne ich mal echte Absprache.«
»Ach, weißt du, vielleicht ist es gar nicht schlecht, wenn wir sie allein sprechen«, antwortete Körschner, während er den Bericht des Kollegen überflog, der die Erkenntnisse aus den Befragungen in der Umgebung des Tatorts zusammengetragen hatte. Es war nicht viel. Sie hatten die Aussage eines Mannes, der eine laute Auseinandersetzung gehört hatte, als er auf dem Weg zur Gaststätte gewesen war, die sich direkt bei den Sportanlagen befindet. Gesehen hatte er niemanden, nur zwei männliche Stimmen gehört. Die beiden Männer hatten direkt hinter einem kleinen Transporter gestanden und waren daher nicht für ihn zu erkennen gewesen. Auch den Inhalt des Gesprächs konnte er nicht wiedergeben. Es war kalt und er hatte sich seine Mütze über die Ohren gezogen. Außerdem hörte der Zeuge nicht mehr sehr gut, aber dass die Stimmen nicht unbedingt freundlich klangen, das konnte er bezeugen.
Mehr Informationen gab es bisher nicht. Die Befragungen in den Gaststätten, die sich in unmittelbarer Nähe zum Tatort befanden, hatten nichts ergeben. Niemand hatte den Toten auf dem Foto erkannt. Bisher hatten sie leider auch nicht in Erfahrung bringen können, wo das Todesopfer während seines Aufenthaltes in Stuttgart gewohnt hatte. Bei seinen Eltern jedenfalls nicht. Das konnten sie seit gestern Abend wenigstens definitiv ausschließen.
»Wir schauen jetzt mal, was die Befragung mit seiner Mutter bringt. Vielleicht hat sie noch ein paar Adressen, bei denen wir uns erkundigen können, ob Falko dort übernachtet hat. Freunde von früher oder so. Morgen werden wir auch noch die Tochter befragen. Denk mal dran, dass wir nachher gleich klären, ob sie dann noch bei ihren Eltern ist«, sagte Körschner und speicherte das Dokument in seinem Ordner »Falko Thalinger« ab.
»Ist gut. Ich hoffe ja immer noch sehr darauf, dass wir etwas auf dem PC des Toten finden werden. Irgendwelche Hinweise auf seine Reise nach Stuttgart werden ja wohl abgespeichert sein«, erwiderte Beate Friesing, bevor sie sich wieder einer Tätigkeit zuwandte, die sie abgrundtief verabscheute. Die Ablage des leidigen Papierkrams.
Alexandra setzte den Blinker und fuhr auf die Heilbronner Straße, auf der sich der Verkehr in Richtung Pragsattel nach Stuttgart hineinquälte. Glücklicherweise war es um die Mittagszeit noch nicht so voll. Sie war immer noch wütend auf Steffen. Eigentlich hatte sie erwartet, dass er nach der Nachricht über Falkos Tod an ihrer Seite bleiben würde. Schließlich hatte er sie davon überzeugt, dass er den wichtigen Gerichtstermin nicht verschieben konnte und zur Arbeit musste. Aber dass er sich nun noch nicht einmal daran hielt, mit ihr zusammen den Termin bei der Polizei wahrzunehmen, setzte ihr mehr zu, als sie angenommen hatte.
Als die Bremslichter des vor ihr fahrenden Jeeps rot aufleuchteten, schreckte Alexandra auf und brachte ihren Wagen im letzten Moment zum Stehen.
Konzentrier dich!
Alexandra vermutete, dass sich die Reste des Beruhigungsmittels noch immer irgendwo in ihren Blutbahnen befanden. Sie fühlte sich elend, nachdem sie sich fast die ganze Nacht die Seele aus dem Leib geheult hatte. Die unerfreuliche Auseinandersetzung mit ihrer Tochter nagte auch noch an ihr. Trotzdem bereute sie ihren Entschluss nicht. Alexandra warf einen flüchtigen Blick auf die digitale Zeitanzeige und wurde langsam wieder ruhiger. Sie hatte noch genügend Zeit, denn ihr Termin bei dem Hauptkommissar war erst um 13:15 Uhr.
Ein paar Minuten später schweiften ihre Gedanken erneut ab. Carolins Reaktion auf das Verhalten ihrer Mutter, nachdem Steffen angerufen hatte, war zu erwarten gewesen. Schon als junges Mädchen hatte Carolin es nicht verstanden, wenn ihre Eltern einmal unterschiedlicher Meinung waren. Daher rührte auch Carolins schlechtes Verhältnis zu ihrem Bruder, der eigentlich ständig in Konfrontation zu seinem Vater gestanden hatte. Andererseits hatte Carolins Verhalten auf die Nachricht vom Tod Falkos auf pures Entsetzen schließen lassen. Bei dem Schrei, den das Mädchen ausgestoßen hatte, war Alexandra zusammengezuckt. Ungläubig hatte sie beobachtet, wie Steffen seine Tochter fest mit den Armen umklammerte, während diese hysterisch weinte und immer wieder »nein« schrie. Carolins Erklärung von vorhin begründete jedoch diese gänzlich unerwartete Verzweiflung. Mit einem schlechten Gewissen kannte Alexandra sich bestens aus.
Das Vibrieren ihres Handys riss Alexandra aus ihren Gedanken.
»Mist!«
In letzter Sekunde wechselte sie auf die Linksabbiegerspur und setze den Blinker. Die Ampel schaltete auf Gelb und Alexandra bremste ruckartig, was ihr ein wütendes Hupen des BMW-Fahrers hinter ihr einbrachte. Sie hob kurz entschuldigend die Hand und ermahnte sich in Gedanken, endlich besser auf den Verkehr zu achten. Dann nutzte sie die Rotphase und suchte in ihrer Handtasche nach ihrem Handy. Bevor sie das kleine Gerät in der schier endlosen Weite ihrer Tasche finden konnte, schaltete die Ampel auf Grün, was ihr Hintermann sofort zum Anlass nahm, auffordernd zu hupen.
Knappe fünfzehn Minuten später und damit viel zu früh klopfte Alexandra an die Tür, neben der ein Schild auf HK Körschner hinwies. Die Nachricht auf ihrem Handy hatte sie völlig vergessen.
»Herein!«
In der Frauenstimme, die sie zum Eintreten aufforderte, erkannte Alexandra sofort die Polizistin vom Vortag wieder. Wenngleich ihr der entsprechende Name dazu noch immer nicht einfallen wollte.
»Frau Thalinger! Schön, dass Sie auch ohne Ihren Mann kommen«, empfing die jüngere Kollegin des Kommissars sie lächelnd und streckte ihr die Hand entgegen.
»Grüß Gott, Frau Thalinger. Ihr Mann hat übrigens nochmals bei uns angerufen. Er meinte, dass er es doch versuchen wird, allerdings schafft er es mit Sicherheit nicht vor 14 Uhr. Er konnte Sie wohl nicht mehr erreichen.«
Alexandra wandte sich zum Kommissar um, der sich von seinem Platz hinter dem Schreibtisch erhoben hatte und sie nun ebenfalls mit einem warmen und festen Handschlag begrüßte.
Der Anruf vorhin auf ihrem Handy.
In seinen blauen Augen blitzte Neugier auf und Alexandra wurde sich schlagartig darüber bewusst, dass sich ihr augenblicklicher Gemütszustand deutlich in ihrer Miene widerspiegelte. Sie räusperte sich und senkte kurz den Kopf, um sich zu sammeln. Auf gar keinen Fall sollte der Kommissar ihre Verärgerung über Steffen erahnen.
»Wir sind wirklich sehr froh, dass Sie in dieser für Sie furchtbaren Situation die Kraft gefunden haben, uns ein paar Fragen zu beantworten. Es wird auch nicht allzu lange dauern. Möchten Sie vielleicht ein Glas Wasser?«
Körschner sah sie abwartend an und zuckte dann die Achseln, als sie stumm verneinte. »Gut. Nehmen Sie doch bitte Platz. Frau Friesing wird das Protokoll aufnehmen.«
Alexandra fühlte sich auf einmal unglaublich schwach und setzte sich schnell auf den Besucherstuhl. Trotz ihres Ärgers auf Steffen wäre sie über seinen Beistand sehr froh gewesen. Er fehlte ihr. Es gab wenige Momente in ihrer über zwanzigjährigen Ehe, in denen Alexandra sich allein gelassen gefühlt hatte. Und wenn, ging es immer um Falko.
»Könnte ich bitte doch ein Glas Wasser bekommen?«
Nervös griff Alexandra zu dem Glas, das vor ihr auf dem Schreibtisch stand, und trank den Rest in einem Zug aus. Die Zeit seit ihrer Ankunft beim Präsidium kam ihr endlos lang vor, doch ein verstohlener Blick zur Uhr bewies ihr, dass erst zehn Minuten vergangen waren, seit Beate Friesing ihr das kühle Getränk gebracht hatte. Der Kommissar hatte keine Zeit verloren und seine erste Frage gestellt, kaum dass seine Kollegin Platz genommen hatte.
»Sie hatten also seit dem Verschwinden Ihres Sohnes keinerlei Kontakt mehr zu ihm. Und trotz der Bemühungen Ihres Mannes und des Privatdetektivs konnte Falko nicht gefunden werden. Ist das so richtig, Frau Thalinger?«
Alexandra nickte stumm. Sie konnte die Ungläubigkeit des Kommissars in dieser Frage gut nachvollziehen. Auch sie hatte ihren Mann damals wiederholt nach Ergebnissen gefragt und nicht verstehen können, wieso Falko nicht ausfindig gemacht werden konnte. Selbst nach der langen Zeit hörte sie noch Steffens Standardantwort auf ihr Nachhaken: »Er ist schließlich nicht dumm. Falko spricht perfekt Französisch. Er kennt einige Gegenden Frankreichs durch unsere Urlaube sehr gut. Ich könnte mir vorstellen, dass er sich erstmal ins Ausland abgesetzt hat. Wenn jemand nicht gefunden werden will, ist die Suche fast aussichtslos.«
Hatte sie sich in ihrem Kummer zu früh mit der Situation abgefunden?
»Verstehen Sie, was ich meine, Frau Thalinger?«, durchbrach Körschner ihre Gedanken, die sie zurück in die Vergangenheit geführt hatten. »Wenn Kinder, auch in dem Alter, einfach so verschwinden, liegen in der Regel schwerwiegende Gründe vor. Wobei sich ›schwerwiegend‹ nicht unbedingt auf irgendwelche Misshandlungen beziehen muss. Nicht, dass Sie mich falsch verstehen.«
Misshandlungen? Von was redete der Kerl?
»Nein!« Alexandra schüttelte energisch den Kopf. »Wir haben Falko geliebt und ihm alles ermöglicht, was er sich in den Kopf gesetzt hatte. Und das, obwohl er uns in den zwei, drei Jahren vor seinem Verschwinden oft Kummer bereitet hat. Aber«, Alexandra brach ab. Vor ihrem inneren Auge erschienen Bilder von den unzähligen Auseinandersetzungen, die sie und vor allem Steffen mit Falko geführt hatte.
»Ja? Aber?«, versuchte Beate Friesing das Ende des Satzes zu entlocken. Der Klang ihrer weichen Stimme zog Alexandras Aufmerksamkeit auf sich. Ihr leicht ovales, etwas herb wirkendes Gesicht war undurchdringlich wie eine Mauer. »Sie sprachen gerade von dem Kummer, den Falko als Jugendlicher Ihnen und Ihrem Mann bereitet hat. Wir wissen, dass bei Ihrem Sohn Drogen gefunden wurden. Da gab es doch sicher auch vorher schon andere Probleme. Ihr Mann ist Staatsanwalt, Frau Thalinger. Für ihn war das damals sicher eine ganz furchtbare Situation.«