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1147, Grafschaft Anhalt. Nach dem Tod ihrer Eltern verdingt sich die temperamentvolle Eilika auf der Bernburg als Magd. Das Leben auf der Burg ist alles andere als einfach, doch als Eilika den Ritter Robert kennenlernt, scheint ihr Schicksal eine gute Wendung zu nehmen. Da zieht Robert für den Sachsenherzog Heinrich den Löwen in den Krieg, und Eilika bleibt allein zurück. Sie beschließt, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen, verlässt die Bernburg, lernt lesen und schreiben und wird bald zu einer anerkannten Heilerin. Doch Eilika kann Robert einfach nicht vergessen …
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Das Buch
Nach dem Tod ihrer Eltern muss die junge Eilika sich auf der Bernburg als Magd verdingen. Das Leben auf der mittelalterlichen Burg ist alles andere als einfach. Doch als Eilika den Ritter Robert kennenlernt, scheint ihr Schicksal eine gute Wendung zu nehmen. Da muss Robert in den Krieg, und Eilika bleibt allein zurück. Sie beschließt, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen, verlässt die Bernburg, lernt lesen und schreiben und wird bald zu einer anerkannten Heilerin. Wird sie Robert jemals wiedersehen?
Die Autorin
Marion Henneberg wurde 1966 in Goslar geboren. Nach einem betriebswirtschaftlichen Studium ist sie seit mehreren Jahren u. a. in der Erwachsenenbildung tätig. Sie lebt mit ihrer Familie in Marbach am Neckar. Die Entscheidung der Magd ist ihr erster Roman, sie schreibt gerade an dem nächsten.
Weitere Informationen zur Autorin unterwww.marion-henneberg.de
Von Marion Henneberg ist in unserem Hause bereits erschienen:
Die Tochter des MünzmeistersDas Amulett der WölfinSchwert und Lilie
Marion Henneberg
Die Entscheidung der Magd
Historischer Roman
reFINERY
Neuausgabe bei Refinery
Refinery ist ein Digitalverlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
April 2017 (1)© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2008Umschlaggestaltung: zero-media.net, MünchenTitelabbildung: © FinePic®E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin
ISBN 978-3-96048-074-7
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Für Petra, ohne die es Alda nicht gäbe
1140
Gebeugt trat der Mann aus dem Schatten des Hauses und zog die alte Holztür leise hinter sich zu. Er ging zum Stall, öffnete das knarrende Tor und machte sich an die Arbeit. Dem mageren Ochsen brummte er ein »Guten Morgen« zu und führte ihn dann hinter sich her aufs Feld. Es war noch empfindlich kalt, doch daran verschwendete er keinen Gedanken. Er spürte die Kälte kaum, die sich durch seine Jacke fraß. Auch die Schmerzen in seinem linken Knie, die ihn seit Monaten plagten, versuchte er nicht weiter zu beachten. Aus dem Haus hörte er das Klappern von Schüsseln und leises Gemurmel. Seine Tochter Eilika machte für sich und ihren jüngeren Bruder Ingulf das Frühstück. Schmunzelnd hörte er die drängende Stimme des Mädchens ebenso wie die mürrische Antwort des Jungen. Er war stolz auf seine beiden Kinder. Als seine Frau kurz nach der Geburt von Ingulf gestorben war, hatte er sie weitgehend ohne fremde Hilfe großgezogen. Das war nicht immer einfach gewesen, und Eilika hatte schon sehr früh alle anfallenden Hausarbeiten übernehmen müssen.
Über dem Wald, der direkt an das Feld grenzte, ging allmählich die Sonne auf. Der Bauer spannte den Ochsen vor den Pflug, um eine tiefe Spur durch die Erde zu ziehen. Ruhig gingen Mensch und Tier an ihr mühseliges Werk, und als Eilika sich ihnen Stunden später näherte, hatten die beiden schon viel geschafft. Das Mädchen trug sorgsam eine Schüssel in den Händen, über die ein leinenes Tuch geworfen war. Von ihren Schultern baumelte ein lederner Trinkbeutel herab. Als der Bauer seine Tochter erblickte, die in ihrem schlichten Wollkleid mit bloßen Füßen auf ihn zukam, zeigte sich ein stolzer Ausdruck auf seinem wettergegerbten Gesicht.
Eilika meisterte das schwere Leben, ohne zu klagen. Sie war von freundlicher Natur und noch dazu hübsch anzusehen. Zum Leidwesen ihres Vaters hatte sie allerdings das impulsive Verhalten ihrer Mutter geerbt. Bisher war zwar immer alles gut gegangen, doch ihr Vater befürchtete, dass ihre Unüberlegtheit sie irgendwann in große Schwierigkeiten bringen könnte. Für ihre zehn Jahre war sie ziemlich groß und hatte eine sehr schmale Figur. Das kupferfarbene Haar hatte sie mit einem Band im Nacken zusammengebunden, und im Schein der Sonne sah es aus wie die Glut eines ausgehenden Feuers. Mit einem liebevollen Lächeln trat sie an den Vater heran und überreichte ihm vorsichtig die Schüssel mit dem warmen Mittagessen. Dann ging sie wieder fort, um bald darauf mit einem Eimer Wasser und Futter für das Tier zurückzukehren. Den Holzeimer stellte sie vor den Ochsen, der sofort gierig das Maul hineinsenkte. Das Futter schüttete sie daneben.
»Du bist heute schon weit gekommen«, sagte sie und strich ihrem Vater flüchtig über die raue Wange. Dann setzte sie sich neben ihn auf den moosbewachsenen, großen Stein.
Er nickte bedächtig, legte die Stirn aber sofort wieder in tiefe Sorgenfalten. »Wir können nur hoffen, dass uns das Glück dieses Jahr nicht im Stich lässt und die Ernte gut ausfällt. Dann kann ich einen Teil der Schulden zurückzahlen. Wenn bloß nicht wieder alles vernichtet wird.«
Das vergangene Jahr war sehr schlimm gewesen. Markgraf Albrecht, der Herzog von Sachsen, auf dessen Land sie lebten, hatte sich zwei Jahre zuvor auf die Seite König Konrads gestellt. Dieser lag nach seiner Inthronisierung im Dauerstreit mit Heinrich dem Stolzen, dem ehemaligen Herzog von Sachsen, da jener ebenfalls Anspruch auf den Thron erhob. Da Heinrich die vom König geforderte Herausgabe seiner beiden Herzogtümer verweigert hatte, wurde er von diesem geächtet und verlor seine Besitztümer. Seitdem war Albrecht Herzog von Sachsen, und es herrschte Krieg. Plünderungen und Brandschatzungen waren an der Tagesordnung, zumal sich einige der mächtigsten sächsischen Fürsten, wie der Erzbischof von Magdeburg und Pfalzgraf Friedrich von Sommereschenburg, Heinrich angeschlossen hatten und nun ebenfalls gegen Albrecht als des Königs Verbündeter vorgingen. Dieser war aufgrund der massiven Angriffe auf seine Ländereien zum König in den Süden des Reiches geflüchtet. Nun fielen in regelmäßigen Abständen die Soldaten der oppositionellen Fürsten über die Dörfer her und stahlen die Vorräte der Menschen.
Die darauf folgende Hungersnot in der ganzen Grafschaft Anhalt war schlimmer als alles, was Eilikas Vater je erlebt hatte. Davon hatte sich die kleine Familie zwar noch lange nicht erholt, aber sie lebten und waren zusammen. Doch für sie alle war der Hunger zu einem ständigen Begleiter geworden. Seit dem Tod Herzog Heinrichs vor einem Jahr hoffte die geplagte Bevölkerung auf ein Ende der kriegerischen Auseinandersetzungen und eine Rückkehr Albrechts.
Eine Zeitlang versanken Vater und Tochter in Schweigen. Er nahm sein Mahl ein, während sie danebensaß und über das frisch gepflügte Land schaute. Jeder hing seinen Gedanken nach.
»Wie geht es Ingulf? Ist das Fieber gesunken?«, fragte der Vater unvermittelt, als sei ihm erst jetzt wieder eingefallen, dass sein Sohn seit ein paar Tagen krank war und deshalb ausfiel.
Eilika stöhnte auf. »Er schimpft bei jeder Kleinigkeit mit mir, also geht’s ihm wohl besser.«
Sanft legte der Bauer seine Hand auf die des Mädchens und wunderte sich, wie schon so oft, dass sie so zart und schmal war. Vieles an Eilika erinnerte ihn an seine Frau. Seine Tochter hatte nicht nur deren Willensstärke geerbt, sondern besaß zudem die Eigenschaft, Mitleid mit ihren Mitmenschen zu empfinden, ungeachtet ihrer eigenen Armut. In diesen schweren Zeiten war die Fähigkeit nicht selbstverständlich. Wenn er in Eilikas grüne Augen sah, kam es ihm manchmal vor, als wäre ihre Mutter noch immer bei ihnen. Die Haarfarbe allerdings war eindeutig von ihm.
»Lass deinem Bruder noch etwas Ruhe. Ich rede heute Abend mit ihm.«
Sie seufzte kaum hörbar und sprang auf. Es war immer dasselbe. Ihr Vater vergötterte den Bruder und ließ ihm viel zu viel durchgehen. Ingulf nutzte die Nachgiebigkeit oft genug aus und drückte sich gern vor der Arbeit, was es für Eilika nicht gerade leichter machte. Aber sie liebte beide über alles und nahm die Tatsache hin, im Herzen ihres Vaters nur den zweiten Platz einzunehmen.
Der Bauer hatte das Mahl beendet und stand auf. Wortlos reichte er seiner Tochter die leere Schüssel, und bevor er sich wieder seinem Pflug zuwandte, zwinkerte er ihr kurz zu. Eilika lief mit dem leeren Geschirr leichtfüßig zurück zum Haus. Eine ganze Weile noch hörte sie, wie ihr Vater den Ochsen mit lautem Rufen antrieb. Erst als sie in den Weg zum Haus einbog, waren alle Laute vom Feld verebbt, und behände schlüpfte sie durch die Tür.
Kurze Zeit später blieb der Ochse wie angewurzelt stehen, und der Mann musste seine mühselige Tätigkeit unterbrechen. Fluchend ging er langsam in die Hocke, um den Grund für das seltsame Verhalten des Tieres auszumachen, doch er konnte nichts entdecken. Gerade als er sich wieder aufrichten wollte, schnaubte der Ochse und stampfte unruhig mit den knochigen Vorderbeinen. Der Bauer hielt sich am Geschirr fest und zog sich daran hoch.
Eine Ahnung ließ ihn den Blick zum Waldrand richten. Just in diesem Moment brach ein Reh nicht weit von ihm entfernt durch die Bäume und lief im Zickzack über das Feld. Dicht auf den Fersen folgten ihm vier Wölfe. Auf dem freien Feld versuchten sie, das gehetzte Tier einzukreisen, doch dem Reh gelang knapp die Flucht. Mit großen Sprüngen erreichte es wieder den Wald und verschwand, seine Verfolger noch immer hinter sich, im Dickicht. Durch die Wölfe aufgeschreckt, brüllte der Ochse plötzlich laut auf und stürmte los. Der Bauer wurde von der Bewegung völlig überrumpelt. Hastig versuchte er, die Hand vom Geschirr wegzuziehen, doch der Stoff seines Ärmels war eingeklemmt. Der Ochse raste mit dem Pflug über das Feld und schleifte den hilflosen Mann mit. Als der fadenscheinige Stoff endlich riss, wurde Eilikas Vater von dem massigen Tier überrannt. Sekunden später schob sich auch der schwere Pflug über den geschundenen Körper hinweg, und der Bauer stieß einen markerschütternden Schrei aus. Als das verstörte Tier kurze Zeit später heftig schnaubend zum Stehen kann, hatte den schwerverletzten Mann eine gnädige Ohnmacht umfangen.
1147
Frühjahr
Der fünfte warme Frühlingstag in Folge näherte sich dem Ende. Pferd und Reiter folgten ohne große Eile dem Weg, der zur Burg führte. In einiger Entfernung war eine Mühle zu erkennen, die direkt an der Saale stand. Der Mann hatte am Anfang seiner Reise weder sich noch seinen Hengst geschont und nur wenige Pausen eingelegt. Beide waren anstrengende und lange Ritte gewohnt. Es war ein schönes, großes hellbraunes Tier, das nichts so schnell zu erschrecken vermochte, denn es war kampferprobt. Das Schwert des Ritters hing in der Scheide, die am Sattel befestigt war. Pferd und Reiter waren müde und freuten sich auf die vor ihnen liegende Ruhepause und auf gute Verpflegung.
Der Weg führte sie durch die Felder, auf denen noch reges Treiben herrschte. Die Bauern hoben nur kurz den Kopf, als der Mann an ihnen vorbeiritt. Sie waren Fremde gewöhnt. Graf Albrecht von Ballenstedt, der seit Beilegung der Streitigkeiten vor fünf Jahren zwar seinen Titel »Herzog von Sachsen« an seinen Widersacher Heinrich den Löwen hatte abgeben müssen, konnte sich aber immer noch »Markgraf der Nordmark« nennen. Dieses Land gehörte zu seiner Grafschaft Anhalt, und nur sehr selten hielt er sich mit seiner Gattin, Sophie von Winzenburg, und ihren gemeinsamen Kindern auf der Bernburg auf. Doch während seiner Anwesenheit bekam er des Öfteren Besuch.
Das Dorf, das am Fuß der Burg an die Ringmauer angrenzte, war in den letzten Jahren langsam, aber stetig gewachsen. Als die Bernburg vor knapp zehn Jahren durch einen Brand völlig zerstört worden war, hatten viele Bauern die Gegend verlassen, aber in den letzten Jahren waren die meisten zurückgekehrt.
Einige Kinder hüpften fröhlich neben dem Ritter den steilen Weg bis zur Burg hoch, die sich vor ihm auf einem hohen Sandsteinfelsen erhob und zur östlichen Seite durch den Fluss abgegrenzt wurde. Der mächtige Turm gab ihr ein bedrohliches Aussehen. Der Burgfried gehörte zu den Gebäudeteilen, die der Graf zuerst wieder errichten ließ. Der Aufbau aller zerstörten Gebäude würde sicher noch viele Jahre in Anspruch nehmen. Nachdem der Ritter den Wachen am Tor den Grund seines Besuches genannt hatte, ließen sie ihn sofort durch.
Der Burghof gehörte zu den größten, die er je zu Gesicht bekommen hatte, und auch jetzt gegen Abend herrschte ein reges Treiben. Der Mann stieg ab und führte sein Pferd zu den Stallungen, die sich auf der linken Seite des Burgtores befanden. Nachdem er zunächst niemanden ausmachen konnte, entdeckte er einen Jungen, der einen schönen Schimmel abrieb, und rief ihn heran. Der Junge unterbrach seine Arbeit ohne große Hast und schlenderte zu ihm hin. Er war ungefähr zwölf Jahre alt, groß und schlaksig. Sein Gesicht war blass und voller Sommersprossen und wurde von dunkelbraunen Haaren umrahmt, die störrisch nach allen Seiten abstanden. Sein Hemd und die Beinkleider waren abgenutzt, und der Stoff war an einigen Stellen geflickt.
»Was kann ich für Euch und Euer Pferd tun, mein Herr?« Die Stimme des Jungen klang etwas brüchig, so als könne er sich noch nicht recht entscheiden, ein Junge oder ein Mann zu sein.
»Verpflege es gut, gib ihm ordentlich zu fressen und zu trinken, reibe sein Fell ab und sorge für einen schönen Platz zum Ausruhen. Wenn du diese Arbeiten ordentlich erledigt hast, wird es sich für dich lohnen.«
Der Junge begann, eifrig zu nicken. »Sehr wohl, der Herr, alles wird so erledigt, wie Ihr es wünscht. Ihr werdet mehr als zufrieden sein.«
Der Ritter schmunzelte über den Eifer, dann drehte er sich um und ging mit großen Schritten auf das hölzerne Tor zu.
»Welchen Namen hat Euer Pferd, Herr Ritter?«, hörte er die Stimme des Jungen hinter sich.
Der Mann drehte sich um. »Alabaster«, antwortete er und stieß einen Fluch aus, denn er war im gleichen Moment mit jemandem zusammengestoßen und fühlte, wie sich ein großer Schwall Wasser über ihn ergoss. »Verdammt, was soll das. Kannst du denn nicht aufpassen?«
Ärgerlich bückte er sich zu dem Übeltäter, der bei dem Zusammenstoß zu Boden gegangen war. Da erkannte er, dass es sich um eine der Mägde handelte. Ehe er sie am Arm packen konnte, um sie hochzuziehen, war sie auch schon aufgesprungen und hatte sich ein Stück von ihm entfernt.
Sie kam ihm irgendwie bekannt vor, obwohl er sich ziemlich sicher war, sie noch nie zuvor gesehen zu haben.
Sie war hochgewachsen und schlank. Ihr Kleid spannte um Brust und Hüfte, und der braune Stoff war schon leicht zerschlissen. Ihre Haut war sehr hell, und die Augen blitzten ihn in einem tiefen Grün an. Aber das Auffallendste an ihr waren die Haare, die sie mit einem Band zurückhielt. Sie flammten in der Sonne auf wie die Glut eines ausgehenden Feuers.
»Verzeiht, mein Herr, ich war in Gedanken und habe Euch nicht gesehen.« Ihre Stimme zitterte, doch ihre Haltung war stolz. Den leeren Wassereimer, dessen Inhalt sich jetzt auf seiner Kleidung befand, hielt sie in der rechten Hand.
Er entspannte sich und lächelte sie an. »Ich habe genauso wenig achtgegeben wie du. Und ein Bad wollte ich sowieso noch nehmen.«
Nach diesen Worten löste sich auch die Haltung der jungen Magd, und mit einem Knicks drehte sie sich wieder zum Brunnen, um den Eimer erneut zu füllen. Plötzlich fühlte sie ihn direkt hinter sich.
»Kannst du mir sagen, wo ich den Grafen finde?« Seine Stimme klang dicht an ihrem Ohr, und sie erschauerte leicht.
Schnell trat sie einen Schritt von ihm weg und zeigte auf eine große Holztür. Dann packte sie den Eimer und lief zu einer Treppe, die in den Keller führte.
Er sah ihr nach und spürte, dass auch er beobachtet wurde. Der Junge, der sein Pferd versorgen sollte, starrte ihn reglos an. Als er die strenge Miene des Mannes bemerkte, drehte er sich um und ging schnell in den Stall.
Der Ritter schüttelte leicht verstimmt den Kopf und wandte sich wieder seinem eigentlichen Ziel zu. Dabei fiel ihm auf, dass einige Gebäude im Hof noch nicht wieder aufgebaut waren, an anderen wiederum wurde emsig gearbeitet. In dem offenen Eingang einer kleinen Kapelle stand ein junger Priester. Das Gebäude sah aus, als hätte es den Brand damals nahezu unbeschadet überstanden.
Mit energischen Schritten ging der Mann auf die große Holztür zu, auf welche das Mädchen gedeutet hatte. Er öffnete sie und befand sich in einer Eingangshalle. Einige Mägde fegten den Boden und scherzten nebenbei mit ein paar Soldaten, die ihnen bei der Arbeit zusahen. Bis auf einen großen, langen Tisch in der hinteren Ecke und einen halbhohen Schrank war die Halle leer geräumt.
Als die Soldaten den Fremden bemerkten, ging einer von ihnen auf den Mann zu. Der Soldat war von untersetzter Statur und hatte ein pockennarbiges Gesicht. »Wohin wollt Ihr?« Sein Ton war nicht besonders freundlich, was wohl dem nicht nur unsauberen, sondern auch seltsam nassen Äußeren des Ankömmlings zuzuschreiben war.
»Bring mich zum Grafen. Ich habe eine dringende Nachricht für ihn.«
»Wen darf ich melden?«, kam die gedehnte Antwort.
»Mein Name ist Robert von Harsefeld«, folgte es eine Spur ungeduldiger.
Der Soldat blieb misstrauisch, drehte sich dann aber um und verließ den Saal durch eine kleine Tür.
Robert von Harsefeld sah sich langsam um und tat, als bemerke er die verstohlenen Blicke der Frauen nicht. Obwohl ziemlich schmutzig, war er eine interessante Erscheinung. Zudem hielt er sich sehr gerade, was ihn noch größer erscheinen ließ, als er ohnehin schon war. Seine Haare waren blond, und die schmalen, wohlgeformten Lippen wurden von einem Vollbart umrahmt, der eine Spur dunkler erschien als seine Haare. Doch vor allem seine Augen fesselten den Betrachter: Stahlblau drangen sie bis ins Innerste der Seele vor. Die gerade Nase gab ihm ein leicht herrisches Aussehen, ebenso das kantige Kinn, in das sein schmales Gesicht auslief. Seine Kleidung entsprach weder der eines Adeligen noch der eines einfachen Mannes. Unter einem Umhang aus derber Wolle blitzte ein ledernes Wams hervor, und seine langen Beine, die in dunklen Beinkleidern steckten, endeten in abgetragenen hohen Stiefeln.
»Bitte folgt mir. Der Graf erwartet Euch.«
Der pockennarbige Soldat war wieder erschienen, und Robert stieg hinter ihm eine kleine Steintreppe hinauf in den Turm. Der Raum, den sie betraten, war etwas kleiner als die Eingangshalle und ebenfalls spärlich möbliert. In der Nähe des Fensters befand sich ein wuchtiger Tisch aus dunklem Holz. Auf einem ebensolchen Stuhl saß ein Mann von etwa fünfundvierzig Jahren. Wenn er auch hinsichtlich der Körpergröße nicht an Robert herankam, war er dennoch eine beeindruckende Persönlichkeit.
Mit leicht gebeugtem Kopf grüßte Robert. »Verehrter Graf von Ballenstedt, ich überbringe Euch eine Botschaft vom Herzog von Sachsen.«
Der Angesprochene erwiderte den Gruß und zeigte auf den ihm gegenüberstehenden Stuhl. »Was sollte Herzog Heinrich mir mitzuteilen haben?«
Robert bemerkte den leicht angewiderten Ton, mit dem der Graf den Namen des Herzogs ausgesprochen hatte. Es wunderte ihn nicht, denn es war allgemein bekannt, dass zwischen den beiden kein besonders herzliches Verhältnis herrschte. »Ich bin lediglich der Überbringer der Botschaft und kann leider keinerlei Auskünfte über deren Inhalt geben, Euer Durchlaucht.«
Der Graf sah ihn grübelnd an, dann erhellte sich sein Gesicht. »Natürlich, ich kann es mir schon denken! Jetzt, da es bald wieder gegen die Slawen geht, braucht er sicher meine Unterstützung. Der Herzog wird kaum auf meine wertvollen Erfahrungen, nicht zuletzt jene aus dem Polenfeldzug im letzten Jahr, verzichten wollen.« Eine Weile sah er aus dem Fenster auf den Fluss hinab. Dann räusperte er sich und wandte sich wieder seinem Gegenüber zu. »Dass Ihr, Ritter von Harsefeld, Euch in die Dienste des Herzogs stellt, verwundert mich nun doch etwas. Schließlich hat er sich die Erbschaft angeeignet, die Euch zusteht.«
Roberts Blick wurde kalt, und er erwiderte, ohne zu zögern: »Ich weiß nicht genau, ob Euch bekannt ist, dass ich ein illegitimer Erbe der Grafen von Stade bin. Dass ich nun den Namen meines Großvaters tragen darf, verdanke ich in erster Linie dem Herzog. Davon abgesehen biete ich demjenigen meine Dienste an, der am besten bezahlt. Damit bin ich bisher immer gut gefahren. Ich halte nichts von den Kleinkriegen der Markgrafen, und an meiner Einstellung wird sich in der nächsten Zeit auch nichts ändern.«
Nachdem er seine Ausführungen so brüsk beendet hatte, fuhr Robert nach einer kurzen Pause fort: »Natürlich habt Ihr recht, was den bevorstehenden Kreuzzug gegen die Wenden angeht. Die Könige Knut und Sven von Dänemark haben dem Herzog ihre Unterstützung schon zugesichert. Ihr seht die große Dringlichkeit, jetzt, da das Bündnis des Slawenfürsten Niklot mit dem Grafen von Schauenburg besteht.« Robert musterte den Grafen abwartend.
Dieser nickte nach kurzer Zeit zustimmend und sagte: »Selbstverständlich muss an dieser Situation etwas geändert werden. Ich habe einen Boten zum Markgrafen Konrad nach Meißen geschickt und erwarte seine Rückkehr in den nächsten Tagen. Wir sind in ständigem Kontakt und bereits seit längerer Zeit der Ansicht, dass wegen der östlichen Gebiete etwas unternommen werden muss. So lange, mein verehrter Freund, werdet Ihr Euch gedulden müssen. Genießt meine Gastfreundschaft und ruht Euch aus. Ich denke, es kommen noch aufreibende Wochen auf uns alle zu. Es lag mir übrigens fern, Euch zu brüskieren. Ihr seid, wie mir berichtet wurde, ein hervorragender Ritter. Ich glaube, zuletzt hörte ich von Eurem tapferen Einsatz beim Feldzug gegen Polen im letzten Jahr. Leider endete dieser Krieg nicht mit dem gewünschten Erfolg. Nun denn, nicht alles kann gelingen.«
Der Markgraf unterbrach seine Ausführungen und sah Robert an, als hätte er ihn erst jetzt richtig wahrgenommen. »Was in Gottes Namen ist mit Euch passiert? Habt Ihr beim Baden im Fluss vergessen, Euch Eurer Sachen zu entledigen? Eine Regenwolke kann ich weit und breit nicht erkennen.«
Für einen kurzen Moment weilten Roberts Gedanken bei dem rothaarigen jungen Mädchen. »Ein kleines Missgeschick, nichts weiter, Euer Durchlaucht.«
Albrecht der Bär, der seinen Beinamen als ebenbürtigen Titel zu dem seines Widersachers Heinrichs des Löwen erhalten hatte, schien sich mit der Antwort zufriedenzugeben. Er ließ seinen Verwalter rufen und befahl ihm, dem Gast eine Unterkunft zuzuweisen. Robert bedankte sich beim Grafen und folgte dem Kastellan. Dieser führte ihn eine Treppe hinunter und durch einen langen Gang in einen kleinen, aber gemütlichen Raum.
Als sie die Tür öffneten, beugte sich gerade jemand über den Kamin, um ein Feuer zu entfachen. Mit einem Blick sah Robert, dass es sich um das Mädchen vom Hof handelte. Aufgrund ihrer außergewöhnlichen Haarfarbe war sie unschwer wiederzuerkennen. Beim Eintreten der beiden Männer hatte sie sich kurz umgedreht, anschließend aber gleich wieder ihrer Arbeit zugewandt.
»Möchtet Ihr vor dem Essen noch ein Bad nehmen?«
Die Frage des Verwalters unterbrach Roberts Betrachtung. Ihm fiel wieder ein, wie lange er schon nicht mehr in den Genuss eines Bades gekommen war, und er bejahte.
»Dann schicke ich Euch gleich jemanden, der sich darum kümmern wird. Der Graf erwartet Euch anschließend zum Abendessen in der Eingangshalle.« Mit einer leichten Verbeugung verließ der Mann den Raum.
Interessiert sah Robert dem Mädchen zu, das sich immer noch vergeblich darum bemühte, ein Feuer in Gang zu bringen. Ihr Profil gefiel ihm, ebenso wie der schlanke Hals. Als er mit leichter Belustigung bemerkte, dass ihr zum zweiten Mal der Holzspan aus der Hand fiel, ging er mit großen Schritten auf sie zu. Er hatte sie kaum erreicht, als sie auch schon aufsprang.
»Lass mich mal ran.« Sanft schob er sie zur Seite und hatte innerhalb kürzester Zeit ein flackerndes Feuer entfacht.
Leise bedankte sie sich und wollte an ihm vorbeihasten, doch er war schneller und ergriff ihren Arm. »Warte bitte, wenn wir uns schon ständig über den Weg laufen, würde ich gerne deinen Namen erfahren.« Seine Stimme klang rau, und die junge Magd schien verunsichert zu sein. Amüsiert bemerkte er, dass sie den Kopf augenblicklich ein kleines Stück höher hob.
»Eilika nennt man mich, Herr«, antwortete sie. »Und damit Ihr nachher auch Euer Essen bekommt, solltet Ihr mich jetzt gehen lassen.«
Mit einer lässigen Bewegung ließ er sie los und gab den Weg frei. »Schade, ich dachte, du bringst mir auch das Badewasser.« Er konnte sich nicht verkneifen, ihr leicht über die Wange zu streichen.
Entsetzt drehte sie sich um und floh fast aus dem Zimmer.
Eilika lief den Gang entlang bis zur Treppe, die nach unten führte. Ärgerlich fuhr sie sich mit der Hand über die Wange, als wollte sie die Berührung des Ritters wegwischen. Noch nie hatte ein Mann sie so sehr verwirrt. Kaum dass er den Raum betreten hatte, schien alles von seiner Gegenwart erfüllt zu sein. Sie spürte noch immer den wohligen Schauer über ihren Rücken laufen.
Dabei hatten im letzten Jahr viele versucht, sich ihr zu nähern. Mit ihren siebzehn Jahren war sie zu voller Schönheit erblüht, und seit ihre weiblichen Formen nicht mehr zu verbergen waren, war sie ständig bemüht, möglichst wenig aufzufallen. Leider war das mit ihrer spärlichen Garderobe kaum möglich. Eilika besaß nur wenig Geld, daher musste sie mit den abgetragenen Kleidern ihrer Freundin vorliebnehmen. Landine war etwas kleiner, was jedoch nicht weiter schlimm war. Das Hauptproblem bestand darin, dass sie nur wenig Busen und extrem schmale Hüften besaß.
Wenigstens musste Eilika nicht ständig mit den Herrschaften in Berührung kommen. Ihre Freundin Landine hatte es da schon schwerer. Im Gegensatz zu Eilika, die durch ihre Tätigkeit als Magd hauptsächlich in der Küche half, arbeitete sie als Zofe bei der Nichte Albrechts, Gräfin Irene von Nortingen. Diese hielt sich zusammen mit ihrem Bruder Reinmar seit ein paar Monaten zu Besuch auf der Bernburg auf. Irene war eigentlich ganz erträglich, im Gegensatz zu ihrem Bruder, der hinter allem her war, was einen Rock anhatte.
Landine beklagte sich des Öfteren bei Eilika, dass er sie ständig berührte, sobald sich eine Gelegenheit ergab. Seltsamerweise häuften sich in letzter Zeit die Momente, in denen seine Schwester nicht anwesend war, und so war die arme Landine ihm regelmäßig hilflos ausgeliefert.
Insgeheim befürchtete Eilika, dass es nicht nur bei ein paar Berührungen blieb. Auch sie hatte schon oft Reinmars gierige Blicke gespürt. Aber sie begegneten sich nicht allzu häufig, und bisher konnte Eilika es immer so einrichten, dass andere Leute anwesend waren. Zu ihren Pflichten zählte es außerdem, beim Auftragen des Essens zu helfen, und Graf Albrecht schätzte es nicht, wenn sein Neffe die Bediensteten schlecht und anmaßend behandelte. Aus diesem Grunde war sie bisher sicher vor den Zugriffen Reinmars, und Eilika wollte auch in Zukunft alles in ihrer Macht Liegende tun, damit es so blieb.
Sie ertappte sich dabei, dass sie den fremden Ritter mit Reinmar verglich. Sie schätzte ihn auf Mitte zwanzig und somit etwa drei bis vier Jahre älter als den Neffen des Grafen. Äußerlich hatten die beiden Männer nicht viel gemeinsam. Reinmar war nicht sehr groß und hatte braunes, nicht gerade üppiges Haar. Seine kleinen Augen standen eng beieinander, und seine Nase war etwas knollig geraten. Seine Lippen waren sehr schmal und trugen dazu bei, dass seinem Aussehen etwas Gemeines anhaftete.
Eilika lief hinunter in die Küche. Aus dem großen Kessel, der über dem Feuer hing, dampfte es, und der Koch Alfons rührte gerade mit einem großen Holzlöffel in der Suppe.
»He, wo steckst du denn? Ich brauche dich hier ganz dringend, und keiner konnte mir sagen, wo du bist.« Ziemlich brummig zeigte er auf die Brote, die geschnitten werden sollten.
»Ich musste für einen Gast das Feuer im kleinen Zimmer schüren. Es ging leider nicht schneller.« Eilika griff sich das große Messer und schrie im selben Moment leise auf.
»Mensch, Schwesterherz, du bist ja mal leicht zu erschrecken!« Ingulf lief in geduckter Haltung rückwärts, stolperte über einen kleinen Schemel und fiel polternd hin. Er rieb sich die schmerzende Schläfe und beobachtete dabei Eilika, die wild mit dem Messer fuchtelnd über ihm stand.
»Erschrecke mich nie wieder, sonst wird es dir leidtun!«
Ingulf rappelte sich langsam auf, um sich im festen Griff von Alfons wiederzufinden. Dieser zog ihn heftig am Ohr und warnte mit schneidendem Ton: »Sieh dich vor, sonst rutscht mir noch die Hand aus. Und jetzt troll dich zu deinen Pferden.«
Ingulf lag eine passende Antwort auf der Zunge, doch ein Blick in das Gesicht seiner Schwester genügte. Er rieb sich nur vorsichtig sein Ohr und verließ die Küche.
»Ich verstehe nicht, dass jemand wie du so einen Nichtsnutz zum Bruder haben kann«, sagte Alfons und schüttelte den Kopf. »Ständig hat er irgendeinen Blödsinn im Sinn.«
Eilika widersprach ihm empört: »Das ist nicht wahr. Seit er sich um die Pferde kümmern muss, ist es viel besser geworden. Er ist glücklich mit seiner Aufgabe. Manchmal bin ich selbst erstaunt, wie gerne er die Arbeiten erledigt.«
Alfons legte ihr beschwichtigend eine Hand auf den Arm. »Sei mir nicht böse.« Dabei sah er sie flehend an. »Ich weiß ja, wie gern du ihn hast. Ich meine nur, dass es auch für ihn gut wäre, wenn du endlich heiraten würdest. Ihm fehlt doch nur eine feste Hand.«
Eilikas Wut verflog ebenso schnell, wie sie gekommen war. Sie mochte ihn sehr gerne, aber seine ständige Sorge um sie ging ihr allmählich auf die Nerven. Da sie ihm nicht wehtun wollte, sagte sie nichts mehr. Zugegeben, viele Alternativen ergaben sich nicht für sie. Die meisten Mädchen in ihrem Alter waren schon verheiratet. Außerdem hatte sie keine Eltern mehr und somit auch kein Geld. Hinzu kam, dass ihr Vater durch seinen plötzlichen Tod vor sieben Jahren seine Schulden nicht hatte zurückzahlen können. Diese lasteten jetzt auf den Geschwistern. Wie so oft, wenn sie an ihren Vater und den schrecklichen Unfall dachte, füllten sich ihre Augen mit Tränen.
Sie war hinausgeeilt, als sie den Lärm vom Feld gehört hatte. Just in dem Moment, als die vier Wölfe auf dem freien Feld dem gehetzten Reh hinterherjagten, um gleich darauf wieder im Wald zu verschwinden. Panisch hatte Eilika ihren Eimer fallengelassen und war losgerannt. Sie hatte ihren Vater noch nicht ganz erreicht, als sein markerschütternder Schrei die Stille zerriss. Mit tränenverschmiertem Gesicht hatte sie ihn aus den Schnüren befreit und seinen Kopf in ihren Schoß gebettet. Nach kurzer Zeit war er noch einmal für wenige Augenblicke zu Bewusstsein gekommen. Ihr Rock tränkte sich vom Blut, das aus einer Wunde an seinem Hinterkopf floss. Sein ganzer Körper war mit Prellungen und Schürfwunden übersät, und das Gewicht des Pfluges hatte beide Beine zertrümmert. Mit halb geöffneten Augen lag er da, und Eilika hatte Mühe, seine leisen Worte zu verstehen. Heute noch klang ihr sein »kein Glück« in den Ohren. Dann war ihr Vater in ihren Armen gestorben.
Die nachfolgenden Ereignisse hatte sie nur noch schemenhaft in Erinnerung. Einige Nachbarn waren herbeigeeilt und hatten den Dorfpriester geholt. Nach der Beerdigung folgte der Abschied der beiden Geschwister von ihrem Hof. Die darauf folgenden zwei Jahre hatten Eilika und Ingulf bei Leuten im Dorf verbracht, die selbst kaum genug zu essen hatten. Dann fingen die Aufbauarbeiten auf der Bernburg an, und sie wurden zu Klemens von Willigen gebracht. Der genoss das volle Vertrauen des Markgrafen und war während dessen Abwesenheit mit der Aufsicht über die Bauarbeiten betraut. Damit begannen endlich wieder bessere Zeiten für die beiden Geschwister.
Sie mussten zwar hart arbeiten, hatten aber immer genug zu essen. Klemens von Willigen war ein strenger, doch gerechter Mann. Er war Witwer, Anfang fünfzig, und seine einzige Tochter war vor Jahren gestorben. Jetzt setzte er seine ganze Kraft für den Markgrafen ein, und als Klemens von Willigen später Kastellan der Burg wurde, bekamen Eilika und Ingulf ebenfalls dort ihre Plätze zugewiesen.
Die Schmerzen in ihren Fingern erinnerten Eilika daran, beim Brotschneiden besser achtzugeben und nicht ihren Gedanken nachzuhängen. Sie wickelte ein sauberes Tuch um die blutende Wunde und arbeitete schweigend weiter. Nach einer Weile erschien der Kastellan in der Küche und befahl ihnen, das Essen aufzutragen. Alfons hatte sich die schweren Schüsseln mit der Suppe aufs Tablett geladen, Eilika nahm sich einige der kleineren Schüsseln, und Anna, eine andere Magd, schleppte die großen Holzbretter mit dem Brot. Mit ihrer Last beladen, begaben sie sich auf den Weg in die große Halle, um den Anwesenden die Speisen und Getränke aufzutischen.
Robert freute sich nach dem schönen heißen Bad auf ein üppiges Mahl, zumal er sich die letzten Tage fast nur von altem, hartem Brot ernährt hatte. Als er die Eingangshalle betrat, in der sich die Burgbewohner zu den täglichen Mahlzeiten trafen, fand er sie ziemlich verändert vor. Der große Tisch stand in der Mitte und um ihn herum mehrere Stühle. Die flackernden Kerzen und ein Strauß frischer Frühlingsblumen verbreiteten eine angenehme Atmosphäre. Robert wies man den Platz neben dem Grafen zu, und bald unterhielten sie sich angeregt über seine Reise. Nebenbei versuchte der Markgraf herauszubekommen, wie Herzog Heinrich die Zusage der beiden Dänenkönige erreicht hatte, doch der Ritter hielt sich mit seinen Aussagen zurück.
Auf der anderen Seite neben dem Grafen saß seine Nichte Irene, die ständig verstohlen zu Robert hinübersah. Sie war hübsch, gehörte aber nicht unbedingt zu den Frauen, die ihm gefielen. Dazu war sie zu klein und ihre Figur zu flach. Sie hatte eine niedliche Stupsnase und die schmalen Lippen ihres Bruders, aber ihre Augen leuchteten warm und braun, und die ebenfalls braunen Haare umschmeichelten das etwas rundliche Gesicht. Ihr Bruder war noch nicht anwesend. Robert kannte ihn nur flüchtig. Er hatte Reinmar vor zwei Jahren auf einem Fest von Herzog Heinrich gesehen. Die hochmütige Haltung des jungen Mannes hatte ihm damals schon nicht zugesagt, und er war keineswegs darauf erpicht, ihm zu begegnen.
Graf Albrecht unterbrach sein Gespräch mit Robert, um sich kurz mit seinem Verwalter auszutauschen, und der Ritter verfolgte so lange das Auftragen der Speisen und Getränke. Dabei fiel ihm sofort Eilika auf, die ihr Haar diesmal unter einem Tuch verborgen hatte. Eine widerspenstige Locke fiel ihr jedoch ins Gesicht. Offenbar spürte sie, dass sie beobachtet wurde, und drehte den Kopf zu ihm. Für einen kurzen Moment kreuzten sich ihre Blicke, und er nickte ihr freundlich zu. Hastig wandte sie sich ab und verteilte die restlichen Schalen auf dem Tisch. Der Kastellan hatte unterdessen sein Gespräch mit dem Grafen beendet und neben Robert Platz genommen. Zu ihrer großen Verwirrung dankte dieser Eilika kurz, als sie eine Schale vor ihm absetzte.
In diesem Moment stürmte Reinmar in die Halle, der verlegen zu Boden sah und sich schnell neben seine Schwester setzte.
Alfons hatte die großen Suppenschüsseln auf den langen Tafeln zurückgelassen und den Raum wieder verlassen. Eilika machte sich nun daran, die Schalen mit der Suppe zu füllen, und Anna reichte Brot dazu. Als sie Reinmar die Schale hinstellte, ließ er den Blick ungeniert über ihren Körper gleiten. Sie war froh, als sie endlich fertig war und die Eingangshalle verlassen konnte. Anna blieb, um bei Bedarf die Schalen aufzufüllen und Bier nachzuschenken.
Eilika rannte die Treppe hinunter, hinaus auf den Hof. An der frischen Abendluft wurden ihre Gedanken klarer, und sie zwang sich zu mehr Ruhe.
Nach einer Weile ging sie erneut in die Halle, um gemeinsam mit Anna das benutzte Geschirr zurück in die Küche zu bringen und es abzuwaschen. Das Wasser dafür hatte Eilika nach ihrem Zusammenstoß mit dem Ritter erneut vom Brunnen geholt. Einige Zeit später ging sie müde hinauf in ihre Kammer, die sie sich mit Landine teilte.
Der Weg führte sie über eine schmale Wendeltreppe, wo eine Fackel an der Wand ihr den Weg leuchtete. Da sie sehr müde war, bemerkte sie nicht die Gestalt, die ein paar Stufen über ihr stand. Umso mehr erschrak sie, als sie mit dem Neffen des Grafen zusammenstieß, und um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, griff sie nach ihm. Er nutzte die Gelegenheit, umfasste ihre Taille und zog sie an sich. Keuchend versuchte Eilika, sich von ihm loszureißen.
»Wehr dich ruhig, hier hört dich ja doch keiner«, flüsterte er ihr ins Ohr. Sein Atem ging schnell, und während sein Mund sich auf ihren Nacken presste, versuchte er, ihr mit einer Hand den Rock hochzuschieben.
Verzweifelt griff sie ihm in die Haare, die ihm auf die Schulter fielen, und zog mit aller Kraft daran. Er schrie leicht auf und lockerte den Griff seiner Linken. Schnell nutzte sie die Gelegenheit und stieß ihm ihr Knie mit aller Kraft zwischen die Beine. Diesmal entfuhr ihm ein lauter Schrei. Er ließ sie abrupt los und sackte in sich zusammen. Eilika nutzte ihre Chance, lief die Treppe hoch und floh in ihr Zimmer.
Drinnen schlug sie die Tür zu und lehnte sich zitternd dagegen. Erst als sie langsam zur Ruhe kam, hörte sie das Wimmern aus einer Ecke des Raumes.
Die Kammer war sehr klein. Es passten gerade zwei schmale Betten und ein wackeliger kleiner Tisch hinein. Landine lag zusammengekrümmt auf ihrem Bett und gab die leisen Laute von sich. Sofort vergaß Eilika ihr schreckliches Erlebnis und setzte sich zu ihrer Freundin ans Bett. Zart strich sie ihr über die Haare und den Rücken. Nach einiger Zeit ließ das Wimmern nach, bis es schließlich ganz aufhörte.
Sanft fasste Eilika ihre Freundin am Arm und drehte sie zu sich herum. »Was ist denn nur geschehen?«
Landines Gesicht war vom Weinen rot und verquollen. Sie sah an Eilika vorbei an einen Punkt in der dunklen Zimmerecke. Plötzlich griff ihre linke Hand fest den Arm von Eilika, und ihre Augen blickten sie starr vor Angst an. »Ich bekomme ein Kind.« Sie flüsterte die Worte so leise, dass Eilika erst glaubte, sie nicht richtig verstanden zu haben. Doch das traurige Gesicht ihrer Kammernachbarin überzeugte sie schnell vom Gegenteil.
»Wer ist der Vater?« In dem Moment, als die Frage ihr über die Lippen kam, wusste sie auch schon die Antwort. »Dieser miese Schuft!«
Landine fing wieder an zu weinen, und Eilika zog sie schnell an sich.
»Ich habe es ihm vor dem Abendessen gesagt. Er hat gewartet, bis seine Schwester den Raum verlassen hatte, um mich ins Zimmer zurückzuziehen und seine Lust zu befriedigen. Ich habe in der letzten Zeit oft vergeblich versucht, es ihm zu sagen.« Landine beruhigte sich etwas und sprach nach einer Weile leise, doch mit fester Stimme weiter. »Ich weiß nicht, was ich mir für eine Antwort erhofft habe. Aber so etwas ganz bestimmt nicht. Er hat mich nur kalt angesehen und gesagt, dass ich sehr dumm sei und nun zusehen müsse, wie ich mit dem Problem fertig werde. Denn wenn ich den Mund aufmache, würde mir sowieso keiner glauben. Danach ist er gegangen. Einfach so.« Ihr Gesicht verzog sich beim Gedanken an den Moment vor Schmerz.
Eilika dachte sofort an den Zwischenfall auf der Treppe. Kaum hatte dieser elende Schuft die arme Zofe seiner Schwester geschwängert, versuchte er sich an das nächste hilflose Mädchen ranzumachen. Vor Wut ballte sie die Faust so fest, dass sich ihre Nägel ins Fleisch bohrten. »Was hast du jetzt vor?«
Eilika wusste selbst, dass nicht viele Möglichkeiten in Frage kamen. Landine war etwas älter als sie und zudem sehr hübsch. Es gab durchaus einige Männer hier in der Burg und unter den Bauern, die sie gerne geheiratet hätten. Die Frage war nur, wie lange es noch dauern würde, bis das Kind das Licht der Welt erblickte. Denn sollte ihre Freundin sich zu einer Heirat entschließen, durfte die Schwangerschaft nicht allzu weit fortgeschritten sein. Sonst würde es für sie nicht einfach werden, einen Mann zu finden.
Als ob sie die Gedanken ihrer Freundin erraten hätte, seufzte Landine. »Das Kind wird in fünf Monaten geboren. Meinen Bauch konnte ich bisher gut verbergen. Ich habe ihn in den letzten Wochen mit einem Tuch fest umwickelt.« Sie schüttelte den Kopf »Nein, das würde kein Mann mitmachen.« Nach einer kurzen Pause sprach sie weiter. »Ich werde zu der Frau gehen, die in der Hütte am Waldrand wohnt. Sie wird mir sicher helfen können.«
Entsetzt sprang Eilika auf. »Bist du denn verrückt geworden? Hast du vergessen, was letztes Jahr erst mit dem Mädchen aus dem Dorf passiert ist? Und vor zwei Jahren mit der Frau, der sie die Kräuter gegen die Schmerzen im Unterleib gegeben hat? Sie wäre an dem Zeug fast gestorben!« Eilika konnte nicht glauben, dass Landine allen Ernstes zu dieser Frau wollte, von der schon so viel Unheil ausgegangen war. Allein bei dem Gedanken an die zahnlose, schmuddelige Gestalt lief es ihr eiskalt den Rücken hinunter.
»Ich habe keine andere Wahl. Ich will nicht alleine mit einem Kind, das keinen Vater hat, mein Dasein fristen. So schlimm ist die Alte nun auch wieder nicht. Schließlich gibt es durchaus ein paar Leute, denen sie geholfen hat.« Mit fester Stimme erhob sich die junge Zofe. Ihre Niedergeschlagenheit war verschwunden und hatte einer Verbissenheit Platz gemacht, die Eilika an der sonst so freundlichen und ruhigen Freundin nicht kannte.
Trotzdem wollte sie einen letzten Versuch unternehmen. »Geholfen, sagst du? Die Leute, von denen du sprichst, hatten lächerliche Wehwehchen. Ich weiß noch genau, dass eine von ihnen die Waltraud war, unten vom Ort. Die wollte nichts als einen Liebestrank für den Berthold, den Sohn vom Schmied. Da der sowieso bis über beide Ohren in sie verliebt war und sie das nur nicht wusste, hat das wohl nichts mit Heilkunst zu tun, oder?
»Nein, es geht bestimmt alles gut. Morgen Abend werde ich zu ihr gehen.«
Eilika wollte nicht so schnell aufgeben. »Und wenn du mit der Gräfin sprichst? Sie ist doch immer gut zu dir und mag ihren Bruder auch nicht sonderlich. Sie wird dir bestimmt helfen.«
Landine schüttelte sofort heftig den Kopf. »Nein, auf gar keinen Fall. Was ändert das schon? Ich könnte nicht mehr für sie arbeiten, und mit Kind nimmt mich auch kein anderer Mann. Außerdem habe ich in letzter Zeit das Gefühl …« Landine stockte, unschlüssig, ob sie weitersprechen sollte. Schließlich fuhr sie fast flüsternd fort: »Nein, das kann nicht sein.« Dann schüttelte sie erneut den Kopf, dieses Mal allerdings sehr langsam, so als ob ihr jede Bewegung Schmerzen bereitete. Sie setzte sich auf und schwang die Beine aus dem Bett. »Mein Entschluss steht fest.«
»Dann lass mich wenigstens mit dir kommen, damit du nicht alleine bist.« Eilika fasste bittend die Hand ihrer Freundin.
Landine wehrte jedoch ab. »Ich war vorhin schon bei der Frau, und da hat sie mir gesagt, dass sie niemanden dabeihaben will. Außerdem gibt es Dinge, die man alleine tun muss. Und jetzt genug davon. In ein paar Tagen ist alles überstanden und vergessen.« Sie stand auf, goss etwas Wasser in eine Schüssel, die auf dem wackeligen Tisch stand, und fing an, sich auszuziehen.
Im Licht der Kerze konnte Eilika deutlich die kleine Wölbung des Bauches erkennen. Komisch, dass es mir nicht früher aufgefallen ist, dachte sie und zog sich ebenfalls aus, um sich zu waschen. Als beide in ihren Betten lagen, fielen sie schnell in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
Robert fühlte sich am nächsten Morgen ausgeruht und munter. Er hatte sich am Abend kurz nach dem Ende des Essens vom Grafen verabschiedet und war todmüde ins Bett gefallen. Jetzt schwang er sich auf und erfrischte sich als Erstes mit dem kalten Wasser aus dem bereitstehenden Krug das Gesicht. Anschließend nahm er seine Kleider vom Stuhl und zog sich an. Dabei ging er noch einmal in Gedanken den vergangenen Tag durch.
Albrecht der Bär wirkte ganz anders als der Herzog von Sachsen, wenn man den Altersunterschied von fast dreißig Jahren außer Acht ließ. Der Burgherr kam ihm irgendwie nervös vor, was natürlich auch an den Ereignissen liegen konnte, die unausweichlich näher rückten. Ein eventueller Kreuzzug bedurfte nun mal einiger Vorbereitungen, damit die gesetzten Ziele auch erreicht wurden. Robert war aufgefallen, dass der Graf bei seinen Bediensteten sehr beliebt war. Sein Umgang mit ihnen war, soweit er das in der kurzen Zeit beurteilen konnte, sehr ruhig und freundlich. Robert zog sich sein Lederwams an und verließ das Zimmer, um sich auf direktem Weg zu den Pferdeställen zu begeben.
Der blasse Junge mit den störrischen Haaren war gerade dabei, Alabaster das Futter hinzustellen. Als er Robert eintreten sah, hellte sich sein etwas mürrisches Gesicht auf. »Eurem Pferd geht es sehr gut, Herr. Ich habe übrigens selten so ein schönes Tier bei mir gehabt.«
Robert fiel ein großer blauer Fleck auf der Stirn des Jungen auf. »Mein Hengst ist wahrlich ein schönes Tier, und ich sehe, dass es ihm hier bei dir gutgeht. Was man von dir heute nicht gerade behaupten kann. War wohl etwas zu groß für dich, der dir das zugefügt hat.« Belustigt zeigte Robert auf die Beule.
Der Junge wollte gerade darauf antworten, als ihn eine ärgerliche Stimme hinter der Tür am Ende des Stalles rief: »Ingulf, du Faulpelz, wo bleibst du denn? Ich warte hier nicht ewig auf dich.«
Der Junge wirkte zerknirscht. »Verzeiht, Herr, meine Schwester hilft mir in meiner Kammer.«
Er hatte die Worte kaum ausgesprochen, als die Tür am Ende des Stalles aufflog und Eilika herausstürmte. »Ich verstehe nicht, wie jemand, der so wenige Sachen besitzt wie du, eine solche Unordnung damit anrichten kann. Ingulf, du musst endlich lernen, mehr Ordnung zu halten!« Als sie sah, mit wem ihr Bruder zusammenstand, hielt sie abrupt inne.
Robert freute sich, das Mädchen so schnell wiederzusehen. Er ließ seinen belustigten Blick auf Eilikas schmalem Gesicht ruhen. Ihre weit auseinanderstehenden grünen Augen blitzten ihn nach einer Weile trotzig an. Die anfängliche Verlegenheit des Mädchens war verschwunden.
»Bei dem Temperament deiner Schwester liegt eher die Vermutung nahe, dass du ihr das nette Veilchen zu verdanken hast. Ich habe gestern übrigens auch schon Bekanntschaft mit ihrer etwas heftigen Art gemacht.« Mitfühlend wandte sich Robert an den Jungen, auf dessen Gesicht sich bei den Worten ein Grinsen ausbreitete. Seine Wut, durch Eilikas Beschimpfungen hervorgerufen, war wie weggeblasen. Mit einer angedeuteten Verbeugung drehte sich der Ritter um und verließ den Stall in Richtung Eingangshalle.
Ingulf schlenderte pfeifend an seiner Schwester vorbei. Dieser Mann gefiel ihm immer besser. Er behandelte ihn nicht so herablassend, wie es die anderen Ritter gerne taten. Außerdem schien er es zu schaffen, dass seiner Schwester die Worte fehlten.
Wutentbrannt stand Eilika noch einige Zeit im Stall, um das Gehörte erst einmal zu verarbeiten. Dann lief sie in die Küche, und mit Hilfe der vielen Arbeit, die auf sie wartete, gelang es ihr, die lästigen Gedanken beiseitezuschieben. Die Reste des Frühstücks mussten abgeräumt werden, außerdem wartete der Teig für das Brot darauf, in Form gebracht zu werden. Flüchtig kam ihr der Gedanke an Landine, doch sie verschob ihn auf den Abend.
Als Robert die Halle betrat, um zu frühstücken, wartete Graf Albrecht schon auf ihn. Er machte einen müden Eindruck, doch seine Augen blickten wach und zeigten, dass sein Verstand bereits klar arbeitete.
»Schade, dass Ihr uns gestern schon so früh verlassen habt. Kurze Zeit nachdem Ihr Euch zurückgezogen hattet, kam ein Bote des Markgrafen an. Konrad von Meißen wird in den nächsten Tagen mit einem kleinen Gefolge hier eintreffen. Sobald ich alle Fragen über den Wendenkreuzzug mit ihm geklärt habe, könnt Ihr Euch mit unser beider Antwort auf den Rückweg zum Herzog begeben.« Albrecht schob sich einen Löffel mit Gerstenbrei in den Mund und spülte ihn mit einem großen Schluck Wasser hinunter. »Ich denke, es ist auch in Eurem Sinne, wenn Ihr so schnell wie möglich aufbrechen könnt, von Harsefeld. Sollte es meine Zeit erlauben, würde ich mich gerne mit Euch über den bevorstehenden Kreuzzug unterhalten. So wie die Dinge im Moment liegen, wird er ja immer wahrscheinlicher.«
Robert verbeugte sich kurz. »Ich würde mich geehrt fühlen, wenn Ihr etwas Zeit für mich erübrigen könntet, auch wenn ich nicht glaube, Euch mit Auskünften hinsichtlich der Planung Herzog Heinrichs dienen zu können. Ich genieße zwar bis zu einem gewissen Grad sein Vertrauen, befinde mich aber nicht in der Position, mit ihm über solche Dinge zu sprechen.«
Der Graf nickte als Zeichen des Verstehens und erhob sich vom Tisch. »Jetzt lasst es Euch schmecken und genießt die freie Zeit, die Ihr noch habt.«
Robert sah Graf Albrecht hinterher, der entschlossenen Schrittes die Halle verließ. Dann begann er in aller Ruhe zu essen. Kurz darauf hörte er hinter sich ein leichtes Rascheln.
»Verzeiht mir, Herr Ritter, aber ich habe Euer Gespräch mit meinem Onkel vom Nachbarzimmer aus mit angehört.« Irene von Nortingen ging ein paar Schritte auf Robert zu. Sie hatte ein hübsches blaues Gewand an und über ihre hochgesteckten Haare ein Tuch der gleichen Farbe gelegt. »Es war keinesfalls meine Absicht, Euch zu belauschen, aber die Tür stand offen, und ich wollte Eure Unterhaltung nicht stören, indem ich mich zu erkennen gab.«
Robert hatte sich inzwischen von seinem Platz erhoben und neigte leicht den Kopf. »Aber ich bitte Euch, verehrtes Fräulein, es gab nichts, was Eure zarten Ohren nicht hätten hören dürfen. Ich befürchte nur, dass unsere Worte Euch gelangweilt haben.«
Irene schüttelte hastig den Kopf. »Nein, ganz im Gegenteil. Schließlich habe ich dadurch erfahren, dass Ihr im Moment an keinerlei Befehle gebunden seid. Vielleicht hättet Ihr Lust, mir beim Ausreiten Gesellschaft zu leisten.«
»Sehr gerne, Ihr könnt jederzeit über mich verfügen.« Galant verbeugte er sich, und sie verabredeten sich für den späten Vormittag.
Eilika hatte Landine fast den ganzen Tag kaum zu Gesicht bekommen. Nur einmal, kurz vor dem Mittagessen, war sie ihr begegnet. Aber da war keine Zeit gewesen, um noch einmal über das zu sprechen, was am Abend vor dem Mädchen lag. Kurz davor hatte sie Robert mit Irene davonreiten sehen. Beide in bester Laune und miteinander plaudernd. Dieser Anblick hatte ihr einen Stich versetzt und trug nicht gerade dazu bei, ihre Stimmung zu verbessern. Sie ärgerte sich sehr darüber, dass dieser Mann innerhalb so kurzer Zeit von ihren Gedanken Besitz ergriffen hatte. Wütend war sie mit ihrem vollen Wassereimer zur Küche gelaufen, nur um dort festzustellen, dass die Hälfte unterwegs herausgeschwappt war.
Den ganzen Nachmittag über war sie sehr beschäftigt, denn der Kastellan hatte für die nächsten Tage mehrere Gäste angekündigt, weshalb viele Vorbereitungen zu treffen waren. Dementsprechend müde schleppte sie sich am Abend in ihre Kammer. Eilika rechnete nicht damit, Landine dort anzutreffen. Sie erwartete ihre Freundin erst gegen Morgen zurück, denn wahrscheinlich würde sie nach der Behandlung noch etwas liegen müssen. Schnell schlüpfte die junge Magd unter ihre Decke, doch obwohl ihr die Augen sofort zufielen und sie ihre müden Glieder wohlig auf dem Strohlager ausstreckte, wollte sich der Schlaf nicht einstellen. Bilder von ihrer wimmernden Freundin flackerten in der Dunkelheit auf, wie sie sich vor Schmerzen in einer Ecke der schmutzigen Hütte am Waldrand zusammenkauerte. Eilika spürte die Wut langsam in sich hochsteigen. Warum nur hatte sie Landine nicht beistehen können? Ihre eigene Hilflosigkeit wurde von dem immer stärker werdenden Wunsch überdeckt, Menschen in Not helfen zu können. Dieses Gefühl war bald so überwältigend, dass es Eilika irgendwann nicht mehr auf ihrer Schlafstätte hielt. Sie sprang auf und lief barfuß zu der Fensterspalte in dem dicken Mauerwerk. Was, wenn Landine es nicht rechtzeitig schafft, bevor die Gräfin sie vermisst?, schoss es ihr durch den Kopf. Oder noch schlimmer, wenn sie diesen schlimmen Eingriff nicht überlebt? Doch dieser Gedanke war zu schrecklich, und sie schob ihn rasch beiseite. Ein kühler Wind umwog die verzweifelte Magd und brachte sie zum Frösteln. Draußen konnte sie zwei kleine Lichtpunkte erkennen, die wahrscheinlich von den Wachen mit ihren Fackeln herrührten. Doch die Kühle hatte auch etwas Gutes, denn sie brachte Eilikas Wut zum Schrumpfen, und kurze Zeit später war die Magd erneut unter ihre Decke geschlüpft. Diesmal schlief sie endlich ein.
Am nächsten Morgen war das Bett ihrer Freundin noch immer leer, und Eilika wusch sich schnell Gesicht und Hände und schlüpfte in ihr braunes Kleid. Es war um diese Tageszeit noch immer empfindlich kalt, daher beeilte sie sich. Sie hoffte, irgendwo auf dem Weg zur Küche auf Landine zu treffen, wurde allerdings enttäuscht.
Alfons war wie gewöhnlich bereits auf den Beinen und hatte einen gut duftenden Eintopf über dem Feuer hängen. Schnell wickelte Eilika sich ein Tuch um die Haare und machte sich an die Arbeit.
Kurze Zeit später kam der Kastellan in die Küche. »Eilika, du sollst sofort zur Gräfin kommen. Landine ist noch nicht erschienen, und sie braucht deine Hilfe beim Ankleiden, damit sie zum Frühstück gehen kann.« Er machte eine kleine Pause und schien unschlüssig, ob er fortfahren sollte. »Da du dir das Zimmer mit ihr teilst, wäre es doch möglich, dass du weißt, wo sie steckt. Dann wäre jetzt der geeignete Zeitpunkt, es mir zu sagen.« Klemens von Willingen betrachtete die Magd aufmerksam, zuckte dann aber mit den Schultern, als keine Antwort kam. Er hatte nichts anderes erwartet.
Eilika beeilte sich, dem Wunsch des Kastellans Folge zu leisten, musste aber immer wieder an Landine denken. Sie betete, dass ihre Freundin bald auftauchen würde.
Die Gräfin wartete schon ungeduldig. »Na endlich, ich dachte schon, ich müsste den heutigen Tag auf meinem Zimmer verbringen. Es ist so gar nicht Landines Art, einfach wegzubleiben!« Missbilligend schüttelte sie den Kopf. Sie schien einfach nur ärgerlich zu sein und keinen Anlass zur Sorge zu sehen.
»Verzeiht mir bitte, gnädiges Fräulein, aber ich bin sofort zu Euch geeilt, als der Kastellan mir die Nachricht überbracht hat.« Eilika machte sich daran, der jungen Gräfin beim Ausziehen des Nachtgewandes zu helfen.
Irene schien ihren Ärger schon wieder vergessen zu haben, denn sie blickte verträumt vor sich hin. »Du kannst mir das gelbe Gewand reichen.« Ihre Wangen waren leicht gerötet, und ihre Augen leuchteten. »Hast du heute schon Ritter von Harsefeld gesehen?«
Eilika schüttelte den Kopf und verstand sofort, woher die gute Laune rührte.
»Wir werden wahrscheinlich nach dem Frühstück wieder zusammen ausreiten. Wenn ich mich zum Essen begebe, sagst du gleich deinem Bruder Bescheid. Er soll dann unsere Pferde satteln.«
Nachdem die letzten Schnüre des Kleides gebunden waren, wollte sich Eilika den Haaren der Gräfin zuwenden. Doch deren kritische Miene ließ sie innehalten.
»Wie läufst du eigentlich herum? Weißt du nicht, wie schamlos dein Kleid ist? Sieh zu, dass du dir ein Gewand besorgst, das dir besser passt.« Irene schüttelte noch einmal missbilligend den Kopf, um ihn dann bei den langsamen Bürstenstrichen Eilikas in den Nacken zu legen. Dabei schloss sie genussvoll die Augen.
Die Magd machte sich während der stupiden Haarpflege Sorgen, da die Gräfin sie kritisiert hatte, denn eigentlich war diese als freundlich bekannt. Doch ihre Befürchtungen schienen unbegründet, denn als Irene fortfuhr, klang sie nett wie immer.
»Du kannst danach gleich wieder hochkommen und hier auf mich warten, falls Landine bis dahin nicht aufgetaucht ist. Ich möchte mich nach dem Frühstück zum Reiten umziehen.«
In dem Moment öffnete sich die Tür, und Reinmar trat ein.
»Du kannst es dir wohl nie angewöhnen zu klopfen, bevor du mein Zimmer betrittst? Ich könnte schließlich noch nicht angekleidet sein.« Tadelnd musterte Irene ihren Bruder, der jedoch völlig ungerührt blieb.
»Ach Schwesterherz, du weißt doch, wie schwer es mir fällt, mich zu ändern.« Sein Blick streifte Eilika. »Ich habe gehört, dass deine Zofe nicht erschienen ist. Sehr unzuverlässige Person. Aber wie ich sehe, hast du schon weit besseren Ersatz gefunden.« Genussvoll taxierte er Eilikas Figur, um an ihren Brüsten zu verweilen.
Wütend bürstete das Mädchen die Haare seiner Schwester energisch weiter, die gleich darauf aufschrie.
»Weit besseren Ersatz sagst du? Ich glaube, meine armen Haare sehen das nicht so!« Wütend fuhr sie Eilika an. »Pass beim nächsten Mal gefälligst besser auf!«
Die Magd riss sich zusammen und entschuldigte sich zerknirscht, nicht ohne Reinmars Erheiterung zu bemerken, der sie weiterhin ungehemmt beobachtete.
Schließlich stand Irene auf und begutachtete sich im Spiegel. »Begleitest du mich hinunter, Reinmar?«
Er schüttelte den Kopf. »Bedaure, ich habe schon gegessen. Außerdem habe ich noch etwas Dringendes zu erledigen.« Bei diesen Worten fiel sein Blick wieder auf Eilika, die dabei war, sämtliche herumliegenden Sachen aufzusammeln.
Auch Irene bemerkte das Interesse ihres Bruders. »Eilika, du gehst jetzt gleich mit mir hinunter, um die Aufgabe zu erledigen, die ich dir aufgetragen habe.«
Dankbar schlüpfte das Mädchen an Reinmar vorbei, nicht ohne sein wütendes Gesicht bemerkt zu haben. Dieses Mal war sie noch davongekommen, aber sie wusste, dass sie nicht immer so viel Glück haben würde. Wenn doch nur endlich Landine auftauchen würde, dachte sie unglücklich und lief hinunter zum Pferdestall.
Ingulf war nicht da, stattdessen stand Robert bei seinem Pferd und sprach leise mit ihm.
Als Eilika ihn sah, wollte sie sich umdrehen und schnell wieder verschwinden, doch seine Stimme hielt sie zurück.
»Kaum gekommen und schon wieder am Gehen? Suchst du deinen Bruder, oder hast du etwa Angst vor mir?«
Eilika drehte sich um und machte wieder ein paar Schritte zurück in den Stall. »Warum sollte ich Angst vor Euch haben, Herr Ritter? Und ja, ich suche meinen Bruder, aber da er nicht hier zu sein scheint, werde ich später noch einmal vorbeikommen.«
»Das ist nicht nötig. Er wird gleich kommen. Ingulf besorgt nur schnell etwas für mich. Du kannst mir gerne so lange Gesellschaft leisten.« Es klang nicht wie eine Aufforderung, sondern eher wie ein Befehl. Außerdem wirkte der Ritter so, als wäre er es gewohnt, dass seinen Befehlen Folge geleistet wurde.
Aber so schnell wollte sie nicht aufgeben. »Das gnädige Fräulein braucht mich aber, und ich darf sie nicht warten lassen. Sie will sich noch umziehen, damit sie mit Euch ausreiten kann.« Froh, ihn mit seinen eigenen Waffen geschlagen zu haben, machte sie Anstalten zu gehen.
»Ich glaube nicht, dass sie ohne Frühstück mit mir ausreiten möchte. Und da sie vorhin nicht mit am Tisch gesessen hat, brauchst du dich sicher nicht zu beeilen. Setz dich ruhig hin und warte mit mir auf deinen Bruder.« Seine Worte ließen keine Ausflüchte mehr zu, daher nahm Eilika sich den Schemel, der an der Wand stand. »Wieso musst du eigentlich der Gräfin zur Hand gehen? Sie hat doch eine Zofe, die sich um sie kümmert.« Leichte Verwunderung spiegelte sich auf seiner Miene.
»Meine Freundin Landine ist verschwunden. Keiner weiß, wo sie ist, deshalb musste ich für sie einspringen.« Eilika kam es vor, als ob in seinem Blick eine Spur von Zweifel lag, und sie wich ihm schnell aus.
»Ich habe die Bestellung aufgegeben, die Ihr mir aufgetragen habt. Es wird bis morgen fertig sein, Herr.« Ingulf kam, erhitzt vom Rennen, in den Stall. Als er seine Schwester sah, blieb er abrupt stehen. »Nanu, was machst du denn so früh hier? Willst du etwa schon wieder aufräumen?«
»Das ist sowieso vergebliche Liebesmüh. Nein, ich soll dir von dem gnädigen Fräulein bestellen, dass du ihr Pferd satteln sollst. Ach ja, und natürlich auch das des Herrn Ritters.« Spöttisch nickte sie in Roberts Richtung und verließ hoch erhobenen Hauptes den Stall, so dass sie das Lächeln auf seinen Lippen nicht mehr sehen konnte.
Eilika musste nicht sehr lange auf die Gräfin warten. Irene hatte sich beeilt, da Robert schon einige Zeit vor ihr gefrühstückt hatte. Beim Umziehen merkte Eilika ihr die Ungeduld an. Ihre Gedanken waren aber mehr denn je bei Landine, von der noch immer jede Spur fehlte. Die Magd nahm sich vor, bei nächstbester Gelegenheit zu der Hütte am Waldrand zu laufen, um ihre Freundin zu suchen.
Von Reinmar war zum Glück nichts mehr zu sehen, und sie verließ kurz nach der Gräfin das Zimmer und lief hinunter in den Burghof. Bereits auf der Treppe klangen ihr laute und aufgeregte Stimmen entgegen. Sie beeilte sich und bemerkte im Hof eine Ansammlung von Menschen, die um einen Pferdekarren herumstanden. Alle redeten erregt durcheinander, und sie drängte sich durch die Menge, bis sie den Grund für die Aufregung entdeckte.
Auf dem Karren befand sich eine zusammengekrümmte Gestalt, die mit einem alten Tuch bedeckt war. Plötzlich weiteten sich Eilikas Augen angstvoll, denn in der Mitte des Tuches hatte sich ein großer, dunkler Fleck ausgebreitet. Wie magisch angezogen, starrte sie auf das blasse Gesicht Landines. Ihre Freundin sah so friedlich aus, wie sie mit geschlossenen Augen dalag. Fast hätte man meinen können, sie schliefe. Eilika schwankte und musste sich an dem Holzkarren festhalten, um nicht umzufallen. Den meisten der Menschen, die um sie herumstanden, war das Entsetzen ins Gesicht geschrieben. Sie alle hatten die junge Zofe mit ihrer freundlichen Art gemocht. Plötzlich wichen sie auseinander.
»Hat also wieder ein armes Menschenleben bekommen, was es verdient hat.«
Hasserfüllt heftete sich Eilikas Blick auf Reinmar von Nortingen, der sich direkt vor den Karren gestellt hatte und höhnisch grinsend auf Landine herabsah. Sie überlegte nicht lange. Instinktiv ließ sie den Karren los und drängte die neben ihr stehende Frau zur Seite. Eilikas Hände ballten sich zu Fäusten, und just in dem Moment, als sie sich weiter vordrängeln wollte, um sich auf den Neffen des Burgherrn zu stürzen, wurde sie zurückgerissen und unbarmherzig festgehalten. Sie trat wild um sich und wollte schreien, als sich eine behandschuhte Hand auf ihren Mund legte. Dann wurde sie hochgehoben und weggetragen. Dies alles passierte so schnell, dass es kaum einem der Umstehenden aufgefallen war, denn sie hatte sich an der hinteren Seite des Karrens befunden. Sosehr Eilika auch zappelte, sie kam nicht frei. Als sie unsanft wieder abgesetzt wurde, befand sie sich im Stall.
»Bedeute mir durch ein Nicken, dass du nicht schreien wirst, wenn ich meine Hand wegnehme.« Roberts Stimme klang leise an ihrem Ohr.