Worte einer neuen Zeit - Marion Henneberg - E-Book

Worte einer neuen Zeit E-Book

Marion Henneberg

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Beschreibung

Zeiten des Aufbruchs - Eine junge Lehrerin kämpft für ihre Träume und die Liebe ihres Lebens Bremen 1890: Die Hansestadt ist ein riesiger Umschlagplatz. Nicht nur für Waren aus der ganzen Welt, auch Menschen strömen in die Stadt, um an Bord einem der vielen Dampfer in eine bessere Zukunft in Übersee zu fahren. Lene Drews arbeitet nach dem tragischen Tod ihres Mannes wieder als Lehrerin an einer höheren Mädchenschule. Als sie zufällig den gutaussehenden Zeitungsreporter Georg Berndes kennenlernt, sind beide auf Anhieb voneinander fasziniert und er bietet ihr an, für die Bremer Nachrichten kleine Artikel zu Frauenthemen zu schreiben. Doch was Lene wirklich beschäftigt, sind die schweren Lebensbedingungen der Auswanderer, die in der Stadt oft monatelang festsitzen, und der Frauen von Bremen. Überall wird sie mit Ungerechtigkeiten konfrontiert. Und in ihren Gedanken mit Georg Berndes, der ihr nicht mehr aus dem Kopf geht, seit sie für ihn schreibt. Doch Georg ist verlobt und Lenes Gefühle scheinen zum Scheitern verurteilt …

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Worte einer neuen Zeit

Die Autorin

Marion Henneberg wurde 1966 in Goslar geboren. Nach einem betriebswirtschaftlichen Studium in Stuttgart ist sie seit mehreren Jahren in der Erwachsenenbildung und in der Finanzabteilung eines gemeinnützigen Unternehmens tätig. Sie lebt heute mit ihrer Familie in Marbach am Neckar.

Das Buch

Bremen 1890: Die Hansestadt ist ein riesiger Umschlagplatz. Nicht nur für Waren aus der ganzen Welt, auch Menschen strömen in die Stadt, um an Bord einem der vielen Dampfer in eine bessere Zukunft in Übersee zu fahren. Lene Drews arbeitet nach dem tragischen Tod ihres Mannes wieder als Lehrerin an einer höheren Mädchenschule. Als sie zufällig den gutaussehenden Zeitungsreporter Georg Berndes kennenlernt, sind beide auf Anhieb voneinander fasziniert und er bietet ihr an, für die Bremer Nachrichten kleine Artikel zu Frauenthemen zu schreiben. Doch was Lene wirklich beschäftigt, sind die schweren Lebensbedingungen der Auswanderer, die in der Stadt oft monatelang festsitzen, und der Frauen von Bremen. Überall wird sie mit Ungerechtigkeiten konfrontiert. Und in ihren Gedanken mit Georg Berndes, der ihr nicht mehr aus dem Kopf geht, seit sie für ihn schreibt. Doch Georg ist verlobt und Lenes Gefühle scheinen zum Scheitern verurteilt …

Marion Henneberg

Worte einer neuen Zeit

Roman

Forever by Ullsteinforever.ullstein.de

Originalausgabe bei ForeverForever ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH,Berlin August 2021 (1)© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2021Umschlaggestaltung: zero-media.net, MünchenTitelabbildung: © FinePic®Autorenfoto: © Iris BachE-Book powered by pepyrus.comISBN 978-3-95818-592-0

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Inhalt

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

Danksagung

Geschichtliche Hintergründe

Leseprobe: Das Erbe von Juniper House

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Prolog

Für meine wunderbare Mutter Renate Henneberg.Der erste Roman von mir, den sie nicht mehr lesen kann.Du fehlst mir so …

Widmung

Prolog

Bremen, Anfang November 1888

Mit steigender Unruhe stand Ludwig an der Pier und sah den beiden Männern beim Verladen der von ihm auf dem Schiff bereits kontrollierten Waren zu. Am späten Vormittag hatte sich ein unangenehm kalter Wind aufgemacht, der in den vielen Stunden draußen am Hafen an seiner Kleidung zerrte. Begleitet von gelegentlichem Nieselregen, dessen feine Tropfen sich auf seine Wolljacke legten, kroch die feuchte Kälte bis in seine Knochen. Wenigstens hielt der Schirm seiner dunkelblauen Mütze die Nässe etwas von seinem Gesicht ab, auch wenn Ludwigs blonde Haare, die unter dem Rand seiner Kopfbedeckung hervorlugten, mittlerweile tropfnass waren. Er stampfte ein paarmal fest auf den Boden, um damit das Blut zum Zirkulieren zu bringen. Das stundenlange Herumstehen bei den Kontrollarbeiten war für Ludwig nur bei schönem Wetter halbwegs zu ertragen.

Der Küper legte den Kopf in den Nacken und beobachtete die nächsten beiden Hafenarbeiter, die sich mit ihrer schweren Last vom Schiff auf ihn zubewegten. Der Regen hatte an Stärke zugenommen, und unwillkürlich kniff Ludwig die Augen zusammen, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder auf die Männer richtete, die nun mit den vollen Säcken an ihm vorbeigingen. Eigentlich gehörte diese Arbeit nicht zu seinen Aufgaben, aber da der zuständige Tallymann kurzfristig erkrankt war, hatte sich der junge Küper bereit erklärt, die Kontrolle der Ladung und die Überwachung des Löschvorgangs zu übernehmen.

Sobald die Ladung des Schiffes gelöscht war, stand dem ersehnten Feierabend nichts mehr im Weg. Und da der morgige Tag ein Sonntag war, freute Ludwig sich umso mehr!

Normalerweise dachte er während seiner Arbeit kaum an das Ende des Tagesgeschäfts, aber heute war eben auch kein normaler Tag, da sich seit gestern sein jüngerer Vetter Friedrich wieder in Bremen aufhielt. Sein Heimathafen war Bremerhaven, und dort befand sich auch das Dampfschiff, auf dem er stationiert war. Aufgrund des Tiefgangs hatten die großen Dampfschiffe bisher nicht bis Bremen fahren können. Aber das gehörte nun, seit der Vertiefung und Korrektion der Weser, der Vergangenheit an. Auch der junge Unterbootsmann war aus dem Staunen über den neuen Hafen nicht herausgekommen. Ludwig wollte seinen Vetter morgen ein wenig auf dem Gelände herumführen.

Die Eröffnung des Freihafens lag gerade einmal zwanzig Tage zurück. Nun konnten die Schiffe endlich dem Lauf der Weser bis nach Bremen folgen und hier ihre Ladung löschen. Der Vorgang wurde von einem der vielen mit Wasserdruck betriebenen Kräne unterstützt, die das Bild einer hochmodernen Hafenanlage vervollständigten. Im Anschluss daran erfolgte entweder der Warenumschlag auf die Güterzüge, da Bremen über eine Gleisanbindung bis an den Hafen verfügte, oder die Waren wurden gelagert. Bei einer kürzeren Lagerzeit standen den Gütern die Hallen am Kaje zur Verfügung. Für eine längere Lagerzeit gab es die dafür eigens neu gebauten Speicher.

Die großen Hochseedampfer, die für die Überfahrt der Auswanderer nach Amerika genutzt wurden, liefen weiterhin nur von Bremerhaven aus. Ludwig war froh darüber, denn er hatte kein Interesse daran, dass es am Kaje von Menschen, die nichts mit der Seefahrt zu tun hatten, nur so wimmelte.

Fasziniert war Ludwig aber vor allem von der Geschwindigkeit. Nicht nur was die Bauzeit dieses Großprojekts betraf, sondern auch von der Anpassungsfähigkeit der Menschen, die sich innerhalb kürzester Zeit an die neue Hafenanlage gewöhnt hatten. Natürlich hatte das Einlaufen des allerersten Schnelldampfers hier im neuen Hafen noch offene Münder und lauten Jubel hervorgerufen, doch seitdem gehörte der Anblick dieser großen Schiffe fast schon zum Alltag.

Eigentlich war Ludwig von großem Stolz erfüllt, dass er hier arbeiten durfte und mit seiner wichtigen Tätigkeit nicht nur dafür sorgte, dass die Entladung der Schiffe reibungslos ablief. In seiner Funktion als Küper war er vor allem dafür zuständig, dass die Anzahl der gelieferten Waren und deren Qualität mit den Auftragsunterlagen übereinstimmten. Diese Arbeit erforderte einen hohen Sachverstand, und die Kaufleute, denen die Ladung gehörte, verließen sich hier voll und ganz auf ihn. Bei seiner vorherigen Anstellung an der Schlachte, dem früheren Umschlagplatz in Bremen vor dem Bau der Hafenbecken für die größeren Schiffe, waren seine Aufgaben zwar ähnlich gewesen, aber mit dieser neuen Hafenanlage bei Weitem kein Vergleich. Die Schlachte hatte damit endgültig ausgedient, und Ludwig vermutete, dass auch die vielen Schankwirtschaften und Herbergen nach und nach schließen würden, da die Seeleute sich von nun an in der Nähe des Freihafens umschauen würden.

Trotz allem Neuen stellte die Ladung dieses Schiffes keine Herausforderung für Ludwig dar. Sie bestand ausschließlich aus Baumwolle, und Unregelmäßigkeiten hatte er bei der Kontrolle keine festgestellt. Die Ware war von einwandfreier Qualität und würde ohne weiteren Zeitverlust ihren Weg in die Norddeutsche Wollkämmerei und Kammgarnspinnerei nach Delmenhorst finden. Die Fabrik, die mittlerweile bei den Menschen fast nur noch als Nordwolle bezeichnet wurde, hatte einen idealen Standort an der Bahnlinie, die direkt bis zum Hafen führte. Diese Lösung des schnellen und reibungslosen Güterverkehrs vom Schiff auf die Schiene ins Land hinein, war ebenfalls einzigartig und wurde daher als das Bremer System bezeichnet.

Der Eröffnung des Freihafens am 21. Oktober hatten unzählige Menschen bei Kaiserwetter beigewohnt. Sie alle waren dem Lauf der Hafenstraße, über die neue Wallbrücke, bis zur Hafenanlage gefolgt. Wie gut konnte er diesen Wunsch der Bremer Bürger verstehen, das beeindruckende Bauwerk, das eine Wendung für die ganze Stadt herbeiführen sollte, zu bestaunen!

Eine ganze Völkerwanderung hatte an dem Tag stattgefunden, und Lene, die Menschenmassen nicht so gut ertragen konnte, hatte sich dicht an ihren Mann gehalten. Ludwig hatte sich in der Rolle des Beschützers gefallen und dieses für ihn eher ungewohnte Gefühl sehr genossen. Seine Frau war eine starke Persönlichkeit, die normalerweise ohne die üblichen Eigenschaften, die dem weiblichen Geschlecht zugeschrieben wurden, auskam. Und eigentlich war Ludwig stolz darauf, dass seine Frau selten Anzeichen von Schwäche zeigte und meistens guter Dinge war.

Am Tag darauf hatte er in der Zeitung einen großen Bericht gelesen, in dem von fast vierzigtausend Besuchern die Rede war! Bei dieser unglaublichen Anzahl hatte Lene ihre schönen dunkelgrünen Augen weit aufgerissen, und Ludwig hatte der Versuchung nicht widerstehen können, seine Frau deswegen zu necken. Bei der Erinnerung an das daraus entstandene Wortgeplänkel schlich sich ein glückliches Lächeln auf seine Lippen. Die gegenseitigen Neckereien hatten das junge Ehepaar bis ins Bett geführt. Und das mitten am Tag! Wenn auch das Licht aufgrund der Jahreszeit nicht besonders hell gewesen war, so reichte es für Ludwig aus, um den herrlichen Körper seiner Frau zu bewundern. Zum Glück gehörte Lene nicht zu den Frauen, die sich schämten, wenn der eigene Ehemann sie auch am Tag begehrte. Dass es sich dabei hauptsächlich um Sonntage handelte, ergab sich von selbst. Schließlich musste Ludwig an den anderen Tagen seiner Pflicht im Hafen nachkommen.

Lene konnte dagegen ihrer Arbeit als Lehrerin nicht mehr nachgehen, da sie diese mit ihrer Heirat aufgeben musste. Ludwig wusste, wie schwer Lene diese Entscheidung gefallen war, denn sie liebte den Unterricht mit den Kindern sehr. Aber zu seinem großen Glück war ihre Liebe zu ihm noch viel größer.

Ludwig stieß unbewusst ein leises Seufzen aus. Noch niemals in seinem Leben, das immerhin auch schon sechsundzwanzig Jahre zählte, hatte er einen Menschen so sehr geliebt wie Lene. Und das Schöne daran war, dass sie ebenso für ihn empfand! Es gab Tage, da konnte er sein Glück kaum fassen. Lene und er waren im gleichen Viertel aufgewachsen, und für Ludwig hatten nie Zweifel daran bestanden, dass er Lene eines Tages heiraten würde. Es dauerte allerdings eine Weile, bis Ludwig auch sie davon überzeugen konnte. Die beiden hatten zwar viel Zeit miteinander verbracht, aber Lene hatte es nicht eilig damit gehabt, sich fest zu binden. Und Ludwig hatte sie nicht bedrängt, sondern sie in ihrem Bestreben, den Beruf der Lehrerin zu ergreifen, unterstützt. Er kannte seine Lene viel zu gut, und nach dem ersten Kuss während eines ihrer sonntäglichen Spaziergänge im Bürgerpark hatte er gewusst, dass seine Geduld belohnt wurde.

»Achtung! Ladung kommt!«

Der laute Ruf vom Schiff riss Ludwig kurzfristig aus seinen angenehmen Gedanken, und er wandte den Blick nach links, hoch hinauf zum Ende des Schiffbaums, an dem der erste große Ballen Baumwolle hing.

Es handelte sich um ein altes Dampfschiff, das seine guten Zeiten hinter sich hatte. Bei der Kontrolle der Ladung waren ihm bereits einige Mängel an Deck aufgefallen, die eigentlich beseitigt werden mussten, um die Sicherheit der Seeleute nicht zu gefährden. Ludwig wollte dem Hafenmeister diesen Missstand melden und hatte sich dazu bereits einen Vermerk auf seine Unterlagen geschrieben. Stirnrunzelnd bemerkte er wenige Meter entfernt einen Hafenarbeiter, der sich an einem Tau zu schaffen machte. Auf den Warnruf hatte er nicht reagiert und ruhig weitergearbeitet, obwohl er nicht weit von der Stelle entfernt stand, an der die Baumwollballen am Kaje abgeladen werden sollten. Ludwig schätzte ihn auf höchstens fünfzehn Jahre. Seine flachsblonden Haare standen strubbelig vom Kopf ab, und die grobe Arbeitskleidung schlabberte an seiner schmalen Statur. Drei weitere Arbeiter, die die Ware nach dem Absenken des Ladebaums vom Schiff in Empfang nehmen sollten, befanden sich nur wenige Meter von dem jungen Mann entfernt, und Ludwig beruhigte sich damit, dass sie dadurch eine mögliche Gefahr besser einschätzen konnten. Während er sich wieder seinen Papieren zuwandte und vereinzelt Bemerkungen an den Rand schrieb, schweiften seine Gedanken erneut ab.

Die große Eröffnungsfeier wurde vom Glanz des Kaisers erfüllt, der mit seiner Anwesenheit die Feierlichkeiten veredelt hatte. Das junge Ehepaar hatte den Tag aus vollen Zügen genossen. Sie hatten Stockfisch gegessen, und auf Lenes Drängen hin hatte Ludwig dazu einen großen Becher gekühltes Bier getrunken. Er trank selten Alkohol, denn es hatte ihn schon immer zutiefst verunsichert, wenn er die Kontrolle über sich und seine Handlungen verlor, da er nicht viel vertrug. Aber an dem Tag war es ihm egal gewesen, ja, er hatte sogar die Leichtigkeit, die mit dem Genuss des Getränks einherging, genossen. Die beiden hatten ein freies Plätzchen auf der Kajemauer ergattert, ihre Getränke neben sich abgestellt und ihre Gesichter in die Sonne gehalten, während sie den Fisch verspeist und der Musik einer Kapelle gelauscht hatten, die nicht weit entfernt von ihnen spielte.

Anschließend hatten sie sich von den Massen mitziehen lassen. Sie alle wollten sich über die geniale Arbeit des Bremer Baumeisters Franzius ein Bild machen und einen der modernsten Häfen Europas bewundern. Dessen großartige Leistung begann tatsächlich schon viele Jahre vor dem Bau des Freihafens, denn erst die Korrektion der Weser, also die Begradigung des teilweise stark versandeten Flusses, schuf überhaupt erst die Voraussetzung für diesen Hafen und wurde schon jetzt als grandiose Ingenieursleistung Franzius’ gefeiert. Diesen Tag würde Ludwig niemals vergessen! Leicht und dennoch beschützend hatte er seine Hand auf die schmale Taille seiner Frau gelegt. Sie hatten miteinander geplaudert und sich gegenseitig auf Besonderheiten wie die modernen Kräne oder auch das fröhliche Lachen eines kleinen Mädchens aufmerksam gemacht. Das idiotische Grinsen, das sich an dem Tag in sein Gesicht gebrannt hatte, störte Ludwig ebenso wenig wie Lenes belustigter Ausdruck, mit dem sie ihn gelegentlich von der Seite betrachtet hatte.

Gegenüber anderen Menschen konnte Ludwig jegliche Gefühlsregungen mühelos verbergen, aber bei seiner Frau gelang ihm dieses Kunststück nicht. Von Anfang an hatte sie gespürt, ob es ihm gut ging oder er sich sorgte, sodass Ludwig manchmal fast ein wenig darüber erschrak, wie nah sie seinen wahren Gedanken kam. Für Ludwig war das eine völlig neue Erfahrung, denn eigentlich zählte er zu den Menschen, die wegen ihrer Besonnenheit und der damit verbundenen rationalen Handlungsweise geschätzt wurden. Nicht zuletzt verdankte er dieser Eigenschaft auch die Anstellung in diesem wunderschönen Hafen, und es verging kaum ein Tag, an dem Ludwig nicht dem lieben Gott dafür dankte, diese Zeit mit ihren wundervollen technischen Entwicklungen miterleben zu dürfen.

Heute kreisten Ludwigs Gedanken jedoch fast ausschließlich um den gestrigen Besuch seines Vetters Friedrich. Nach dem gemeinsamen Abendessen, das von unzähligen Komplimenten für das gute Essen begleitet wurde, hatte der Unterbootsmann einen weiteren Besuch für den nächsten Tag angekündigt. Auf Lenes Einwurf, dass Ludwig die Löschung der Ladung eines Schiffes beaufsichtigen musste und so erst am späten Nachmittag wieder zu Hause erwartet wurde, ging Friedrich nicht ein.

Sein Zuhause, das bedeutete seit seiner Heirat die kleine Wohnung, die Ludwig und Lene kurz nach ihrer Eheschließung vor knapp fünf Monaten bezogen hatten. Auch wenn sie noch nicht viele Möbelstücke besaßen, hatte Lene ihr erstes gemeinsames Heim sehr gemütlich eingerichtet. Ihre persönliche Note war überall in der Wohnung, die sich in der Großenstraße, unweit der Schule befand, erkennbar. Das Stephaniviertel war eines der ältesten der Stadt, was man vielen der Häuser leider auch ansah. Aber das noch relativ frische Ehepaar fühlte sich in dem Wohnbezirk der kleinen Leute sehr wohl, und Lene war glücklich über die räumliche Nähe zu ihrem Vater und ihrer jüngeren Schwester Hermine, die in der Wohnung lebten, die zur Schule gehörte, an der ihr Vater unterrichtete. Trotzdem liebäugelte Ludwig mit einem Umzug ins neue Wiedviertel. Neben dem Gelände, auf dem sich die Jute-Fabrik befand, wurden seit Kurzem Häuser gebaut, die durch einen sogenannten Mietkauf später ins Eigentum der Bewohner übergehen würden. Es handelte sich um ein neues, speziell für die Arbeiter entwickeltes Modell des Gemeinnützigen Bremer Bauvereins, und Ludwig hatte schon von einigen seiner Kollegen gehört, die ebenfalls den Erwerb eines solchen Hauses in Erwägung zogen. Seine neue Arbeit hier im Freihafen hatte den Inhalt seiner Lohntüte zwar etwas erhöht. Trotzdem musste Ludwig noch ein Weilchen sparen, damit sie sich ihren Traum vom kleinen eigenen Häuschen erfüllen konnten.

Obwohl es sich vor allem um seinen Traum handelte, denn Lene war mit ihrer Wohnung ganz zufrieden. Sie liebte die Lage nahe der Weser und den Geruch des Meeres, der einem Hinter der Mauer bei guter Windrichtung in die Nase zog. Lene war hier aufgewachsen und zur Schule gegangen. Der Gedanke, in ein anderes Viertel zu ziehen und sei es noch so nah, behagte ihr wenig. Lene besuchte ihren Vater und ihre zwei Jahre jüngere Schwester Hermine so oft es ging. Manchmal setzte sich Lene ins Klassenzimmer und lauschte von der letzten Bank den Worten ihres Vaters. Ihr Wunsch, Lehrerin zu werden, war in diesem Gebäude, ja sogar in diesem Klassenzimmer entstanden. Durch das enge Verhältnis, das Lene mit ihrem Vater und Hermine verband, verstand Lene auch die Nöte, die Ludwig bei dem Gedanken befielen, seinen Vetter von einem Besuch bei Lene abzubringen, solange er selbst noch nicht zu Hause war.

Noch am Morgen hatte Lene ihren Mann inständig gebeten, seinem Vetter den Wunsch eines Besuches am Nachmittag abschlägig zu beantworten und ihn stattdessen erneut zum Abendessen einzuladen. Der Wunsch seiner Frau war ausschließlich dem unangenehmen Gefühl geschuldet, das Friedrichs Anwesenheit in ihr hervorrief. Ludwig war das alles durchaus klar, und er konnte es sogar ein Stück weit nachempfinden. Aber Friedrich war eben auch sein Verwandter, für den er sich seit dem frühen Tod von dessen Eltern immer ein wenig verantwortlich fühlte. Seit Friedrichs Umzug zu Ludwigs Familie vor fast fünfzehn Jahren war dieser fast wie ein Bruder für ihn. Ludwig befand sich daher in einer ziemlichen Zwickmühle, und sosehr er sich auch über das Wiedersehen mit Friedrich freute, konnte er sich nicht dagegen wehren, das baldige Auslaufen des Schiffes herbeizusehen, mit dem Friedrich Bremen wieder für einige Monate verlassen würde.

Wenn es dem Jüngeren nur endlich gelingen würde, seine Bewunderung für Lene wenigstens zu verbergen, gäbe es sicher auch auf ihrer Seite keine Bedenken gegen Friedrichs Anwesenheit. Aber die Gefühle, die er für sie hegte, konnte sogar ein Blinder erkennen, so offensichtlich waren sie.

Lene fühlte sich deshalb sehr unwohl, wenn Friedrich sie besuchen kam. Seine Blicke hingen an ihren Lippen, wenn sie sprach, und er überschlug sich fast mit Angeboten aller Art, um Lene auf irgendeine Weise behilflich sein zu können. Anstatt mit Ludwig nach dem Essen zusammen eine der seltenen und sehr teuren Zigarren zu genießen, wollte er Lene sogar beim Spülen helfen! Nur um ihren Anblick in jeder Minute seiner Anwesenheit genießen zu können. Die Gespräche, die Ludwig diesbezüglich mit seinem Vetter geführt hatte, waren bisher relativ erfolglos geblieben, auch wenn Friedrich ihm immer wieder beteuerte, dass er niemals unsittliche Gedanken gegenüber Lene hegte. Die Empörung des Zweiundzwanzigjährigen, die er aufgrund Ludwigs Fragen zeigte, erschien Ludwig echt, und weder er noch Lene zweifelten daran. Und doch hatte Ludwig sich am gestrigen Abend zunehmend an Friedrichs Verhalten gestört, da es fast schon an Anbetung grenzte.

Was also sollte er tun? Friedrich litt schließlich selbst am meisten darunter, dass er für die Frau seines Vetters so tiefe Gefühle hegte. Er war keinesfalls naiv und wusste natürlich, dass Lene für ihn unerreichbar war, kam aber nicht gegen seine Empfindungen für sie an, wie er Ludwig erklärt hatte. Die Verzweiflung in Friedrichs Stimme zerrte noch immer an Ludwig, und er fühlte sich eine Zeit lang sogar schuldig. Vor ein paar Monaten hatte Friedrich dann überraschend seinem Vetter eröffnet, dass er auf ein Dampfschiff gewechselt hatte, das zwei Tage später für einige Wochen in Bremerhaven auslaufen würde und nun wieder in den Heimathafen zurückgekehrt war.

»Ihr Anblick ist da, kaum dass ich meine Augen schließe, und ihre Stimme begleitet mich ebenso wie ihr herrliches Lachen.«

Nicht nur Friedrich hatte die Hoffnung gehegt, dass seine lange Abwesenheit daran endlich etwas ändern würde. Nichts wünschte er sich mehr, als der Frau seines Vetters mit normaler Zuneigung begegnen zu können. So wie es Ludwig schien, war Friedrich bisher von diesem hehren Ziel jedoch noch unendlich weit entfernt.

Ein lautes Knirschen zog Ludwigs Aufmerksamkeit erneut hoch zum Ladebaum des Schiffes.

Mittels der an Bord befindlichen Ladewinde wurde der Abstand bis zum Pier durch den Ladebaum mit Hilfe von Seilen überwunden. Der dritte Ballen Baumwolle schwebte an einem Kranhaken befestigt durch die Luft und senkte sich langsam herab, um schließlich auf dem Boden abgelegt zu werden. Ludwig hatte diesem Arbeitsvorgang schon viele Male zugesehen. Durch das Fieren und Holen des jeweiligen Seiles konnten die schweren Säcke oder, wie in diesem Fall, die großen Ballen einfach vom Schiff an Land gebracht werden. Die Hafenarbeiter lösten den Haken, und das Einholen begann erneut. Der ganze Vorgang wurde von einem unangenehmen Knarren und Quietschen begleitet, das Ludwig ganz und gar nicht gefiel, ihm aber nicht unbekannt war, da das Ladegeschirr auf manchen Schiffen oft veraltet war, was immer wieder zu Unfällen führte. Alle Versuche seitens der Hafenbehörde, in solchen Fällen eingreifen zu können, waren bisher an der Macht der Reedereien gescheitert. Bei dem Gedanken an die Anzahl der Baumwollballen, die noch im Schiffsinnern darauf warteten, abgeladen zu werden, verdüsterte sich Ludwigs Blick. Seufzend wandte er sich erneut den Unterlagen zu, damit wenigstens der Schreibkram erledigt war und er nach der Löschung der Ladung zügig nach Hause gehen konnte.

Eine knappe Stunde später befand sich ein Teil der Ladung bereits in den Güterwagen des Zuges, der noch am selben Tag in Richtung Delmenhorst abfahren würde. Bei der Nordwolle sollte dann die Weiterverarbeitung der Baumwolle erfolgen. Der Warenumschlag funktionierte reibungslos. Ludwig wechselte immer wieder zwischen dem Platz, an dem die Ballen abgeladen wurden, und dem Güterwagen, um für die korrekte Weiterverladung Sorge zu tragen. Es zählte zwar nicht unbedingt zu seinen Aufgaben, aber er überzeugte sich, wenn möglich, immer selbst davon, dass alles ordentlich ablief und weder der Empfänger der Ware noch der Lieferant Grund für eine Mängelanzeige sahen. Außerdem verging die Zeit viel schneller, wenn er etwas zu tun hatte. Die Begleitpapiere waren bereits alle sorgfältig ausgefüllt, sodass Ludwig die Unterlagen hinterher nur noch im Büro abgeben musste. Vor einer halben Stunde waren zwei weitere Arbeiter zur Unterstützung beim Verladen eingetroffen, und so konnte wieder etwas von der kostbaren Zeit eingespart werden. Bei einem der beiden Männer handelte es sich um den jungen Hafenarbeiter, der ihm zu Beginn der Arbeiten bereits aufgefallen war. Mittlerweile kannte Ludwig auch den Grund für dessen fehlende Reaktion auf die Warnrufe beim Absenken der Ballen.

»Hans ist nicht nur stumm wie ein Fisch, er kann auch nichts hören«, hatte ihm einer der muskelbepackten Männer erklärt, während er den Baumwollballen vom Haken löste.

Er rief zwei der Arbeiter zu sich, die untätig auf das Absenken des nächsten Ballens warteten. Sie konnten ihre Zeit besser nutzen und beim Verstauen im Güterwagen helfen, befand Ludwig. Der Transport war teuer und sollte daher möglichst nicht aufgeteilt werden. Ludwigs anfängliche Befürchtungen, dass es Probleme mit dem Ladegeschirr geben könnte, hatten sich glücklicherweise nicht bestätigt, denn bis auf die fürchterlichen Geräusche beim Abladen lief alles reibungslos, und er begann vorsichtig Hoffnung zu schöpfen. Vielleicht würde er doch noch am späten Nachmittag Feierabend machen können? Er freute sich mit jeder Minute mehr auf seine Lene und hoffe inständig, eine entspannte Stimmung daheim vorzufinden. Womöglich hatte Friedrich es sich doch noch anders überlegt und würde mit seinem Besuch bis zum Abend warten, dachte Ludwig gerade, als völlig unerwartet der nächste Warnschrei vom Schiff ertönte.

»Vorsicht! Aus dem Weg!«

Hastig drehte Ludwig sich um, und sein Blick flog zu der Stelle, an der die schwere quaderförmige Ladung hing und bedenklich schwankte. Das Knirschen, an das sich Ludwig fast schon gewöhnt hatte, wurde von einem lauten Knacken unterbrochen, dem ein ohrenbetäubender Knall folgte. Die Männer, die eben noch mit in den Nacken gelegten Köpfen darauf gewartet hatten, dass die nächste Ladung zu ihnen hinüberschwenkte, um dann langsam auf den Boden herabgelassen zu werden, verließen fluchtartig den Platz, um sich in Sicherheit zu bringen. Erst jetzt konnte Ludwig den vierten Hafenarbeiter sehen, der bisher von seinen Kollegen verdeckt worden war. Neben der am Boden befindlichen Ladung kniete Hans und schnürte sich seelenruhig seine Schuhe zu.

Wieder war das laute Knacken von brechendem Holz zu hören. Ludwigs Augen weiteten sich vor Schreck, als er die Bruchstelle am Ladebaum bemerkte. Nicht mehr lange, und die letzte Halterung würde nachgeben! Es gab dann nichts mehr, was das Seil, an dem der Kranhaken mit seiner Last hing, an seiner vorgesehenen Stelle in der Winde halten würde.

Nach dem Warnruf hatten sich die Männer hastig entfernt und waren mit einem Sicherheitsabstand von einigen Metern stehen geblieben. Von dort schrien sie Hans ihre Warnungen zu, obwohl sie wussten, dass all ihre Rufe sinnlos waren. Ludwigs Füße setzten sich wie von selbst in Bewegung. Er spürte seine Angst, wusste aber auch um die Unschlüssigkeit der anderen Männer und reagierte ganz intuitiv.

Ich kann es schaffen, schoss es Ludwig durch den Kopf. Ich muss es schaffen!

Er brauchte keine große Entfernung hinter sich bringen und hatte Hans, der noch immer seelenruhig am Boden hockte und sich an seinen Schuhen zu schaffen machte, fast erreicht, als der zweite Knall ertönte. Ludwig wusste, was jetzt passieren würde. Und er ahnte, dass es knapp wurde. Sehr knapp!

Ohne ganz zu stoppen, packte Ludwig den knienden jungen Mann am Kragen, der just in dem Moment hochsah. Die Verwirrung, die sich in dessen Augen widerspiegelte, setzte sich in dem stummen Schrei fort, den Hans ausstieß, als Ludwig ihn hochzog und weiterzerrte, bevor er dem Jungen einen heftigen Stoß versetzte und er selbst hinterherstolperte.

Das Brüllen der Männer vermischte sich mit dem rollenden Ton des ehemals straff gespannten Seils, das nun von nichts mehr an seinem ursprünglichen Platz gehalten wurde und die Verbindung zu seiner Last verlor. Fast lautlos fiel dagegen der schwere Baumwollballen die letzten Meter, bis er mit einem dumpfen Ton auf dem Boden aufschlug und ihm einen Wimpernschlag später der Ladebaum mit einem lauten Krachen folgte.

Danach war nur noch das Stürmen des Windes zu hören.

1. Kapitel

Bremen, Wiedviertel im April 1890

Lene sprang aus dem Wagen der grünen Linie, kaum dass die Pferdebahn die Haltestelle an der Nordstraße erreicht hatte. Bis zur Wohnung ihrer Schwester Hermine war es jetzt nicht mehr weit. Mit schnellen Schritten folgte die Vierundzwanzigjährige noch ein kurzes Stück der Straße, bevor sie linker Hand in die Heimatstraße einbog. Es war der erste schöne Frühlingstag in diesem Jahr, und Lene, die bereits in der Pferdebahn ihren Wollmantel geöffnet hatte, widerstand dem Gedanken, sich noch vor dem Erreichen ihres Ziels des Kleidungsstücks zu entledigen. Das kleine einstöckige Haus stand noch kein Jahr hier, und Hermine hatte mit ihrem Mann Otto zu den ersten Bewohnern gehört.

Anfangs war es für Lene seltsam gewesen, dass ihre Schwester nun den Plan in die Wirklichkeit umsetzte, den Ludwig eigentlich für ihre gemeinsame Zukunft geplant hatte. Andererseits hatte Lene nach Ludwigs Tod keinen Gedanken mehr an einen Umzug in das neue Wiedviertel verschwendet, und das nötige Geld fehlte ihr ohnehin dafür. Als dann auch noch ihr Vater drei Monate nach dem Unglück am Hafen völlig unerwartet aus dem Leben gerissen wurde, stand Lene mit ihrer jüngeren Schwester Hermine plötzlich allein da. Sie waren zwar nicht komplett mittellos, aber es hatte Lene doch einen großen Schock versetzt, als sie erfuhr, dass ihr Vater über keine nennenswerten Ersparnisse verfügt hatte. Lene, die den Schmerz über den frühen Verlust ihres geliebten Mannes eigentlich noch gar nicht verwunden hatte, riss sich ihrer Schwester zuliebe zusammen. Aber das schlechte Gewissen, das sie seit dem Tod ihres Vaters plagte, ließ sie nicht mehr los, denn die Ausbildung zur Lehrerin, die ihr Vater ihr vor Jahren ermöglicht hatte, trug einen großen Anteil an der schlechten finanziellen Situation. Wenigstens konnte sie nun durch ihre berufliche Ausbildung für sich selbst sorgen, dachte Lene dankbar und runzelte die Stirn, als sie das Stimmengewirr registrierte, das aus der Wohnung zu hören war. Selbst der kleine Heinrich ist still bei dem Geschnatter, schoss es ihr durch den Kopf, während sie an der Wohnungstür ihrer Schwester klopfte.

»Ach, Sie sind es, liebe Lene! Da wird sich aber Ihre Schwester freuen«, begrüßte sie eine stark korpulente Frau in den Vierzigern.

»Guten Tag, Frau Wittkopp, vielen Dank, dass Sie mir geöffnet haben«, erwiderte Lene und drängte sich vorsichtig an Hermines Nachbarin vorbei.

Frau Wittkopp war seit drei Jahren verwitwet und bewohnte mit ihren drei Kindern die beiden Zimmer unterm Dach. Otto hatte das Stockwerk ziemlich schnell vermietet, um seinen Wochenlohn als Vorarbeiter am Hafen etwas aufzubessern. Lenes Schwester beklagte sich zwar gelegentlich über die Geschwätzigkeit der Frau, war aber eigentlich ganz froh über die Ratschläge der erfahrenen Mutter, die in schöner Regelmäßigkeit und ganz ohne Aufforderung erfolgten.

»Ihre arme Schwester hat fast die ganze Nacht wieder kein Auge zugemacht. Heinrich ist zwar ein zartes Kind, aber mit seinem Geschrei steht er meinen dreien in nichts nach«, vertraute Frau Wittkopp ihr an, bevor Lene die wenigen Schritte in die Wohnküche ging. Die warme, stickige Luft nahm ihr fast den Atem. Zu allem Übel spürte sie, dass sich die ersten Schweißperlen ihren Weg zwischen ihren Brüsten bahnten und der schwere cremefarbene Stoff ihrer Bluse bereits an einigen Stellen ihrer Haut klebte.

»So, jetzt rückt mal alle zusammen, damit Frau Drews auch noch ein Plätzchen findet!«, forderte die resolute Nachbarin die anderen Frauen auf, die sich bereits in dem nicht besonders großen Raum drängten. »Aber Sie sind ja so schön schlank, da gibt es bestimmt ein Eckchen für Sie.«

Lene nickte den anderen Frauen lächelnd zu, strich Hermines Freundin Marie flüchtig über den Arm, während sie sich ihren Weg zwischen zwei Stühlen hindurch bahnte, um zu ihrer Schwester zu gelangen. Lene erschrak, als sie Hermines zusammengesunkene Gestalt in dem Lehnstuhl erblickte, der früher ihrem Vater gehört hatte. Seit der Geburt des kleinen Heinrichs vor acht Tagen wirkte sie noch schwächer, als sie es ohnehin schon vor der Schwangerschaft gewesen war. Hermine trug eine hochgeschlossene weiße Bluse, die sich kaum von ihrer durchscheinend wirkenden Haut abhob. Die schönen blauen Augen hatten ihr früheres Strahlen verloren und starrten Lene matt und riesig entgegen.

»Da bist du ja endlich«, flüsterte Hermine, als Lene sich zu ihr hinabbeugte und vorsichtig die Arme um sie legte. »Sie sind schon seit über einer Stunde hier, und ich würde mich doch so schrecklich gerne ein wenig hinlegen.«

»Ich kümmere mich darum«, beruhigte Lene sie leise und hauchte ihr einen Kuss auf die kalte Wange, während sie bereits fieberhaft nach einem Weg suchte, die ganze Besucherschar schnellstmöglich loszuwerden.

Wie auf Bestellung fing in dem Moment ihr kleiner Neffe zu schreien an, und Lene zwinkerte ihrer Schwester unauffällig zu, bevor sie sich den Frauen zuwandte.

»Der kleine Kerl hat bestimmt Hunger«, mutmaßte Marie, die hochschwanger auf einem Stuhl saß, den Lene bisher noch nicht in Hermines Wohnung gesehen hatte.

Lene war sich nicht ganz sicher, meinte aber eine leichte Angst in Maries Stimme zu hören. Eine andere Besucherin hielt sich mit ihrer freien Hand das linke Ohr zu, während sie mit ihrer rechten Hand den letzten Happen Butterkuchen in den Mund schob. Lene glaubte sich zu erinnern, dass es sich bei der Besucherin um Maries Mutter handelte. Ganz sicher war sie sich aber nicht. Die säuerliche Miene der dürren, verhärmt wirkenden Frau versprach jedenfalls keine gute Zeit für ihre Tochter, die ja selbst bald ein Kind erwartete.

»Komm, Hermine, ich stütze dich«, sagte Lene laut und hielt ihrer Schwester den Arm hin. »Dann kannst du dich um deinen Sohn kümmern.«

»Aber das kann sie doch auch hier machen«, rief Frau Wittkopp und stellte das Glas Saft wieder auf den Tisch. »Ich hole Heinrich, dann können Sie sitzen bleiben und sich weiter ausruhen.«

Verblüfft darüber, wie schnell Frau Wittkopp ihre Leibesfülle vom Stuhl hochbekam, reagierte Lene fast zu spät. So aber zog sie ihre Schwester mit einer Hand vom Stuhl und legte zeitgleich Hermines Nachbarin die andere Hand auf die Schulter.

»Das ist sehr freundlich von Ihnen, Frau Wittkopp, und wirklich gut gemeint, aber Heinrich hat es am liebsten, wenn er mit seiner Mutter allein ist, nicht wahr, Hermine?«, wandte sich Lene an ihre Schwester, während sie die Nachbarin sanft, aber bestimmt wieder auf ihren Platz drückte.

»Ja, das ist richtig«, sagte Hermine so leise, dass es nicht alle im Raum hören konnten. Aber es reichte, dass Frau Wittkopp es verstanden hatte.

Erleichtert zog Lene ihre Schwester hinter sich her und versuchte ihr dabei trotz der Enge im Raum etwas Halt zu geben. Ihre spontane Äußerung war riskant gewesen, denn Hermine zählte nicht zu den Menschen, die Hilfestellungen auch als solche zu erkennen und vor allem nutzen mochten, weil ihre Schwester stets bemüht war, niemanden vor den Kopf zu stoßen. Allein daran konnte Lene erkennen, wie sehr Hermine jetzt der Ruhe bedurfte. Dass Frau Wittkopp nun leicht verstimmt und mit gerunzelter Stirn nach dem nächsten Streifen Kuchen griff, interessierte Lene herzlich wenig.

Nachdem Lene die Tür zur kleinen Kammer von Hermine und Otto hinter sich zugezogen hatte, setzte sie ihre jüngere Schwester auf das Bett und legte ihr die Wolldecke um die Schultern, die gefaltet auf dem Fußende lag.

»Ich gebe dir gleich deinen Sohn.«

Hermine schüttelte den Kopf und machte Anstalten, sich wieder zu erheben.

»Ich kann nicht am Nachmittag mit meinem Kleid auf dem Bett sitzen. Das geht doch nicht!«, protestierte sie und kam dabei kaum gegen das immer lauter werdende Geschrei ihres Sohnes an.

»Herrje, Hermine! Du bist noch sehr schwach und musst erst wieder zu Kräften kommen«, schalt Lene und drückte sie energisch zurück auf das Bett. »Und jetzt sieh zu, dass du deinen Sohn satt bekommst, sonst brüllt er sich noch die Seele aus seinem kleinen Leib. Ich kümmere mich in der Zeit um deine Gäste.«

Ohne erneute Widerrede rutschte Hermine gehorsam ein Stück zurück und legte ihre Beine auf das Bett. Lene beugte sich über die Wiege ihres Neffen, dessen Gesicht von der Anstrengung bereits gerötet war.

»Schschsch! Ist ja gut, mein Kleiner. Gleich bist du bei deiner Mama, und dann geht es dir schnell besser«, murmelte Lene.

Dabei schob sie ihre Hände unter den warmen Körper des Kindes und hob ihn vorsichtig hoch. Heinrich beruhigte sich bereits auf ihrem Arm. Sachte wiegte Lene ihn hin und her und summte dabei eine Melodie, die ihr als Erstes in den Sinn gekommen war. Lene war so fasziniert von dem kleinen Jungen, der mittlerweile völlig mit dem Schreien aufgehört hatte, dass sie gar nicht merkte, wie ihre Schwester sie beobachtete, während sie langsam die runden Knöpfe ihres Kleides öffnete.

»Ich wusste ja, dass du schon immer gut mit Kindern umgehen konntest. Aber dass du sogar Säuglinge in deinen Bann ziehst, überrascht mich doch.«

Lenes Summen erstarb, und sie spürte, wie sie errötete.

»Was redest du denn für einen Unsinn, Hermine«, wehrte sie mit einem unsicheren Lächeln ab. »Dein Kleiner ist wahrscheinlich nur froh, dass sich jemand seiner erbarmt.«

Lene gab Heinrich in die ausgestreckten Arme ihrer Schwester, die ihn schnell anlegte. Fast schien es Lene, als fürchtete Hermine, dass er erneut weinen würde.

»Höchstwahrscheinlich hat dein Sohn nur zu schreien angefangen, weil er das Geschnatter von nebenan nicht mehr ertragen konnte«, vermutete Lene leise, aber nun wieder mit der üblichen Zuversicht. Und tatsächlich hatte das laute Geplauder der Frauen etwas nachgelassen.

»Ich wollte eigentlich auch noch ein paar Tage warten, aber Otto meinte, dass es sich nicht gehört, wenn wir die Einladung zu lange hinauszögern. Schließlich haben sie auch Geschenke zur Geburt gebracht«, flüsterte Hermine und strich ihrem Sohn zärtlich über die Wange.

In dem Moment verschluckte Heinrich sich und fing an zu husten. Erschrocken hob seine Mutter ihn hoch und legte ihn gegen ihre Schulter, sodass sein kleines Köpfchen seitlich auflag. Sanft fuhr ihre Hand über seinen Rücken, und gerührt sah Lene ihr zu, wie sie beruhigend mit Heinrich sprach.

»Alles gut, mein kleiner Schatz, du warst nur zu hastig beim Trinken. Gleich geht es dir besser. Mama ist ja bei dir.«

Der Anblick versetzte Lene einen Stich. Schnell drehte sie sich weg, blinzelte ein paarmal kräftig und verließ mit einer gemurmelten Entschuldigung, dass sie sich um die Besucherinnen kümmern müsse, Mutter und Sohn.

Etwas später war Lene gerade dabei, die Stühle wieder ordentlich hinzustellen, als sich die Tür zur Kammer öffnete.

»Entschuldige bitte, ich muss eingeschlafen sein«, sagte Hermine verlegen. »Jetzt sind alle gegangen, ohne dass ich mich von ihnen verabschiedet habe. Wie peinlich mir das ist!«

Mit einem feuchten Lappen wischte Lene die letzten Krümel vom Tisch, bevor sie kurz innehielt und ihre Schwester kopfschüttelnd ansah.

»Das muss dir doch nicht peinlich sein! Vielmehr sollten sich deine Besucherinnen schämen, dass sie überhaupt nicht auf deine angegriffene Gesundheit geachtet haben. So viel Dickfälligkeit auf so kleinem Platz! Wenigstens Frau Wittkopp ist es dann noch aufgefallen. Sie ist, kurz nachdem du nach nebenan gegangen bist, aufgestanden und hat gemeint, dass Mutter und Kind bestimmt Ruhe benötigen. Nach ihrem strengen Blick in die Runde haben sich auch die anderen Frauen bequemt aufzustehen. Ach ja, von Marie soll ich dich noch lieb grüßen. Sie will in den nächsten Tagen nochmals nach dir sehen. Viel Zeit hat sie ja nicht mehr, so wie es ausgesehen hat.«

Hermine nickte zustimmend.

»Noch vor dem nächsten Monat, da bin ich sicher. Sie kann es kaum noch erwarten! Ist es nicht schön, dass unsere beiden dann gemeinsam aufwachsen können?«, freute sich Hermine und drückte sich im nächsten Moment entsetzt die Hand auf den Mund.

»Was bin ich doch für ein Schaf! Verzeih mir bitte!«

»Schon in Ordnung.«

Unbekümmerter, als ihr zumute war, wischte Lene die Entschuldigung ihrer Schwester beiseite.

»Es ist lange her.«

Um vom Thema abzulenken, sah sich Lene in dem Raum um und runzelte die Stirn.

»Irgendetwas passt hier doch nicht. Es ist ein Stuhl zu viel am Tisch.«

»Der gehört Frau Wittkopp. Sie hat mir netterweise ausgeholfen, da meine Sitzgelegenheiten nicht ausgereicht haben. Ich bringe ihn ihr nachher hoch«, sagte Hermine und schloss leise die Tür zur Kammer hinter sich. »Heinrich ist wieder eingeschlafen. Er liegt noch in meinem Bett. Ich wollte ihn aber nicht umbetten, aus Angst, dass er wieder aufwacht.«

»Lass ihn doch dort liegen«, sagte Lene verwundert. »Er stört doch niemanden. Und Otto liegt ja nicht daneben.«

Hermine enthielt sich einer Antwort, aber den zusammengepressten Lippen ihrer Schwester konnte Lene entnehmen, dass es Otto offenbar grundsätzlich störte und Hermine es deshalb als problematisch ansah.

»Ist bei euch alles in Ordnung?«, fragte Lene daher geradeheraus ihre Schwester.

Sie hatten schon immer ein sehr offenes Verhältnis miteinander gepflegt, und Lene sah keinen Grund, warum sich das jetzt, da Hermine Mutter geworden war, ändern sollte.

»Natürlich«, antwortete Hermine heftig nickend. »Otto ist ein wunderbarer Ehemann und fürsorglicher Vater.«

Lene kam die Antwort ihrer Schwester eine Spur zu schnell, und selbst wenn sie von ihrer eigenen Abneigung gegen ihren Schwager mal absah, konnte sie beim besten Willen die beiden Begriffe wunderbar und fürsorglich nicht mit ihm in Verbindung bringen. Aber sie wusste auch, wann es Sinn machte, weiter nachzubohren, und wann sie sich die Worte sparen konnte.

Daher zuckte Lene nur mit den Schultern und legte die Hand auf die Lehne des Stuhls, der Frau Wittkopp gehörte.

»Ich bringe ihn ihr rasch hoch, dann brauchst du dich nicht damit abschleppen«, sagte Lene und zuckte im nächsten Moment zusammen, als aus der Ferne ein Signalhorn zu hören war.

Der Hafen befand sich nicht weit vom neuen Wohngebiet Wiedviertel entfernt, und selbst bei geschlossenen Fenstern konnte man oft das dumpfe Tuten hören.

»Ach du liebe Güte! Jetzt habe ich doch tatsächlich fast die Zeit vergessen!«, rief sie und ließ den Stuhl wieder los, der leicht nach hinten kippte und gegen den Tisch stieß.

»Musst du denn schon wieder weg?«, fragte Hermine enttäuscht, als sie ihrer Schwester dabei zusah, wie sie sich den Mantel anzog. »Ich hatte gehofft, dass wir beide noch ein wenig Zeit zum Plaudern haben.«

»Ja, leider, aber ich habe Elsa versprochen, dass ich ihr noch ein wenig zur Hand gehe, da das nächste Schiff bald schon wieder ausläuft. Sie hat daher jede Menge Arbeit, und ich möchte mich gerne auch noch von zwei der Kinder verabschieden. Ich habe dir bestimmt von ihnen erzählt. Hedwig und Willi sind schon seit Tagen sehr aufgeregt«, erzählte Lene und setzte sich ihren kleinen dunkelblauen Hut auf.

Dann ließ sie die Arme sinken und fuhr mit einem Mal traurig fort: »Jetzt, wo es endlich losgehen soll, kann ich es kaum glauben. Ihre Eltern haben so lange auf diesen Moment gewartet. Hoffentlich haben sich die monatelangen Entbehrungen gelohnt.«

»Ich verstehe überhaupt nicht, warum du so viel Kraft darauf verwendest, diesen Kindern etwas beizubringen«, erwiderte Hermine kopfschüttelnd. »Sie sind doch alle nur für kurze Zeit hier, und wenn sie dann endlich die ersehnte Überfahrt nach Amerika antreten können, siehst du sie nie wieder.«

»Es macht mir Freude«, gab Lene zu und zuckte mit den Schultern. »Die Kinder können meistens kaum lesen und schreiben. Ich finde es einfach schön, wenn sie in der Zeit hier bei uns ein paar Dinge lernen, die ihnen vielleicht später einmal helfen können.«

Hermine verzog das Gesicht und schüttelte unwillig den Kopf.

»Sie sollten erst einmal in ihrer Muttersprache richtig lesen und schreiben lernen, bevor ihnen unsere Sprache beigebracht wird. Sie können damit ohnehin bald nichts mehr anfangen. Und außerdem bricht es dir jedes Mal fast das Herz, wenn du von Ihnen Abschied nehmen musst. Ludwig hätte das sicher nicht für gut befunden.«

Bei der Erwähnung ihres verstorbenen Mannes wich sämtliche Farbe aus Lenes Wangen. Ihre Finger suchten Halt und umklammerten so stark die Lehne des Stuhls, dass ihre Knöchel weiß hervortraten.

»Wieso redest du plötzlich so seltsame Dinge?«, fragte Lene ihre Schwester, während sich ihre Hand wieder langsam entspannte. »Du weißt ganz genau, dass Ludwig ein guter Mensch gewesen ist, der immer half, wo er konnte!«

»Ganz genau«, versetzte Hermine ungewohnt heftig. »Und deshalb musst du jetzt auch alleine durch das Leben gehen und für deinen Unterhalt arbeiten!«

»Hermine!«, rief Lene entsetzt und riss die Augen auf. »Was ist denn nur mit dir?«

Für einen kurzen Augenblick starrten sich die beiden Schwestern an, bevor Hermines Lippen zu zittern anfingen und sie unter dem fassungslosen Blick ihrer Schwester die Augen senkte. »Entschuldige bitte«, flüsterte sie, bevor sie langsam mit dem Rücken am Türrahmen zu Boden rutschte.

»Hermine!«

Zum zweiten Mal innerhalb weniger Sekunden entfuhr Lene der Name ihrer Schwester, aber dieses Mal schrie sie ihn fast, bevor sie auf die halb am Boden Kauernde zustürmte.

»Was fehlt dir? Bist du krank? Soll ich einen Arzt holen?«

Lene packte ihre Schwester an den Schultern und versuchte sie hochzuziehen. Als Hermines Hände ihre Unterarme umschlossen, zucke sie zusammen.

»Ich bin nicht krank, Lene. Aber ich habe so furchtbare Angst, dass ich alles falsch mache!«

Hermines weit aufgerissene Augen glänzten verräterisch, und der überraschend starke Druck ihrer Hände schmerzte Lene.

»Was meinst du denn nur damit?«, fragte Lene, nahm ihre Hände von Hermines Schultern und löste vorsichtig deren verkrampfte Finger. »Komm, jetzt helfe ich dir erst einmal hoch und koche dir einen Tee. Und du beruhigst dich, hast du verstanden?«

Hermine nickte zögernd und ließ sich von ihrer Schwester helfen. Zwei Tränen quollen aus ihren übervollen Augen und rannen über die blassen Wangen. Als die beiden Schwestern standen, packte Hermine erneut Lenes Arme.

»Bitte entschuldige, liebste Lene! Ich hätte natürlich viel lieber einen Vetter für meinen Heinrich oder eine Cousine. Ich wollte dich ganz bestimmt nicht verletzen. Du hast doch schon so viel durchgemacht«, brach es aus ihr heraus.

Lene war von der Heftigkeit der Worte so erschrocken, dass sie ihre Schwester fest an sich zog.

»Das weiß ich doch! Mach dir keine Gedanken, alles wird gut, Minchen«, beruhigte Lene sie und legte ihre Arme um Hermine, die leise aufschluchzte.

»So hast du mich früher immer genannt.«, erinnerte sich Hermine und schmiegte sich an Lene

Eine Weile saßen die beiden Schwestern umschlungen auf dem Boden und schwiegen. Beide genossen die Nähe der anderen, das vertraute Gefühl und die wohltuende Stille, in der sie auch ohne Worte die Verbundenheit zueinander fühlten.

Hermine unterbrach schließlich das Schweigen, während sie sich langsam von ihrer Schwester löste.

»Du bist immer so stark, zweifelst nie an deinen Entscheidungen. Du wusstest in jeder Situation, was zu tun war und bist unbeirrt deinen Weg gegangen. Dafür habe ich dich bewundert, und Papa war so stolz auf dich!«

Lene runzelte die Stirn, sodass eine steile Falte zwischen ihren dunklen Augenbrauen entstand.

»Jetzt übertreibst du aber maßlos, Schwesterherz!«, widersprach sie verwundert, da sie sich selbst nie so gesehen hatte. »Ich hadere oft mit meinen Entscheidungen, und weder nach Ludwigs Tod noch als Papa gestorben ist, war ich besonders stark. Ich war im Gegenteil völlig verzweifelt und hatte Angst vor dem Leben, ohne diese beiden Menschen an meiner Seite.«

»Aber natürlich warst du stark!«, beharrte Hermine und nickte heftig, als wollte sie ihre Worte damit bekräftigen. »Und Papa hat es auch gewusst. Kurz bevor er gestorben ist, hat er mir gesagt, dass er keine Angst davor hat, uns allein zu lassen, weil er weiß, dass du dich um mich kümmern wirst. Er hat dir vertraut, Lene!«

Lenes Hände rutschten von den Armen ihrer Schwester und sanken kraftlos herunter. Im ersten Moment wusste sie überhaupt nicht, was sie darauf erwidern sollte, so betroffen war sie von Hermines Worten.

»Ich hatte keine Ahnung«, murmelte Lene und suchte im Gesicht ihrer Schwester nach einer möglichen Enttäuschung darüber, dass ihr Vater seine ganze Hoffnung offenbar nur in die ältere Tochter gesetzt hatte. Aber das Einzige, was sie in dem vertrauten Antlitz fand, war aufrichtige Zuneigung. Ihr Vater hatte auch mit ihr kurz vor seinem Tod gesprochen, aber das behielt Lene für sich.

»Sie ist ein so zartes und liebes Mädchen. Wärest du nicht, dann würde mich die Angst um sie zerfleischen«, hatte ihr Vater kaum hörbar und unter großen Schmerzen dicht an Lenes Ohr geflüstert. Dabei hielt er ihre Hand so fest umklammert, dass Lene schon fürchtete, ihre Finger würden brechen.

Nie im Leben hatte Lene angenommen, dass er diese Aussage auch Hermine gegenüber machen würde. Bestätigten seine Worte doch nur die Unsicherheit, mit der Hermine sich schon seit ihrer Kindheit herumschlug. Immer wollte sie es allen recht machen und ihre Gutmütigkeit grenzte dabei nicht selten beängstigend an Naivität.

»Du weißt, wie er es gemeint hat. Du warst sein Engelchen, und er hat dich abgöttisch geliebt«, erinnerte Lene ihre Schwester und sah ihr dabei fest in die Augen.

Ob sie deshalb Ottos Werben erhört hatte?, schoss es Lene plötzlich durch den Kopf. Sie fröstelte bei dem Gedanken. Das durfte nicht sein, Hermine liebt ihren Mann doch!

»Du musst dich nicht um mich sorgen.« Leise bahnten sich Hermines Worte ihren Weg durch Lenes Gedankenwirrwarr. »Papa hat nur ausgesprochen, was mir eigentlich schon immer klar gewesen ist. Ich wollte es mir nur nicht eingestehen. So selbstbewusst wie du wollte ich immer sein. Aber ich bin anders. Ich brauche jemanden an meiner Seite, der für mich sorgt. Man kann sich wünschen, stärker oder klüger zu sein. Aber ich habe meine Schwäche endlich akzeptiert.«

Mit jedem Wort, das über die nicht mehr ganz so blassen Lippen ihrer Schwester kam, stieg die Wut in Lene auf. Aber sie drängte sie zurück, versuchte sie in Schach zu halten, um ihre Schwester nicht wieder in das Schneckenhaus zu treiben, in dem sie sich seit der Geburt ihres Sohnes versteckt hatte. Daher überlegte sich Lene ihre Antwort sehr genau und hoffte inständig, die richten Worte zu finden.

»Natürlich sind wir Menschen alle verschieden. Das ist auch gut so! Und doch muss ich dir widersprechen: Denn du bist klug, liebste Hermine! Und wenn du ein wenig mehr an dich glauben würdest, dann könntest du deine Unsicherheit auch überwinden. Du hast so wunderbare Eigenschaften, um die ich dich immer beneidet habe. Wenn ich nur ein wenig von deiner Sanftmut und vor allem von deiner engelsgleichen Geduld hätte, wäre mir so manche unangenehme Situation erspart geblieben!«

»Ach, Lene«, seufzte ihre Schwester und zeigte den Anflug eines Lächelns, »es ist sehr lieb von dir, das du mich aufmuntern möchtest. Aber ich kenne mich sicher am besten, und mein Ehemann sieht es übrigens genauso wie unser Vater.«

»Was ist mit Otto?«, hakte Lene blitzschnell nach.

Aber Hermine wehrte ab.

»Gar nichts ist mit ihm. Er meint es gut mit mir und weist mich daher auf meine Fehler hin. Wofür ich ihm auch dankbar bin, denn sonst würde ich mein Verhalten schließlich nicht ändern. Leider enttäusche ich ihn aber ständig seit Heinrichs Geburt. Nicht nur, dass unser Sohn so viel schreit und ein sehr zartes Kind ist. Auch ich bin seitdem immer so müde und kraftlos. Ich habe schon versucht, dagegen anzukämpfen, aber ich schaffe es momentan einfach nicht.«

Vorsichtig nahm Lene die Hand Hermines in die ihre und drückte sie sanft.

»Sprich doch mit Otto über deine Sorgen. Wenn er so ein guter Ehemann ist, wie du sagst, dann wird er Verständnis für dich haben. Schließlich ist die Geburt eures Sohnes doch erst acht Tage her«, ermutigte Lene ihre Schwester, obwohl sie selbst nicht an ihre eigenen Worte glaubte.

»Ach, Lene, er ist bestimmt ein guter Ehemann«, sagte Hermine leise und fügte kaum hörbar hinzu, dass er sicher auch bald wieder seine ehelichten Rechte in Anspruch nehmen würde.

Innerlich zählte Lene bis fünf, und als sie merkte, dass ihre Wut kein bisschen abgeklungen war, weiter bis zehn. Ihre schlimmsten Befürchtungen hatten sich bewahrheitet, seit sie ihrem Schwager das erste Mal begegnet war. Und die Angst, die sie aus der Äußerung ihrer Schwester klar heraushörte, verstärkte ihre Sorgen um ein Vielfaches.

2. Kapitel

Ich enttäusche ihn … Diese Worte spukten in Lenes Kopf herum, seit sie sich von ihrer Schwester verabschiedet hatte. Fast hätte sie es sogar versäumt, am Markt die Linie zu wechseln. Als sie an der Endhaltestelle am Buntentorsteinweg den Wagen der Pferdebahn verließ, hatte sich ihre düstere Stimmung kaum gebessert. Die Sorge um Hermines Gemütszustand verdrängte sogar die Trauer, die Lene wegen der baldigen Abreise von Hedwig und Willi seit Tagen immer wieder verspürte. Ihrer düsteren Stimmung entsprechend fiel auch die Begrüßung aus, als Lene die Tür des zweigeschossigen Giebelhauses öffnete und den geräumigen Eingangsbereich betrat. Freilich war seit ein paar Jahren von der ehemaligen Freizügigkeit der großen Diele nichts mehr zu erkennen, da dicht an dicht Tische unterschiedlicher Größe mit einer bunt durcheinandergemischten Anzahl von Stühlen und einfachen Schemeln den Platz ausfüllten. Allerdings herrschte jetzt an diesem Ort eine ungewohnte Ruhe.

»Was ist dir denn für eine Laus über die Leber gelaufen?«

Die Hände in die Seiten gestemmt und mit abwartendem Blick stand die Besitzerin des Hauses in der Mitte der Diele. Elsa Brüggemann war eine Frau, die allein durch ihr Erscheinungsbild den Menschen Respekt einflößte. Hochgewachsen, dabei aber weder knochig noch korpulent und seit dem Tod ihres Mannes in Schwarz gekleidet, gab sie das Bild einer selbstbewussten Frau. Der strenge Blick und die schmalen Lippen zeugten nicht von Freude. Auch Lene war diesem Irrtum erlegen, als sie keine zwei Wochen nach Ludwigs Unfalltod der resoluten Witwe auf dem Friedhof begegnet war.

»Ach, Elsa, wenn ich doch nur Hermine helfen könnte«, seufzte Lene, schloss die schwere Eingangstür hinter sich und lehnte sich erschöpft mit dem Rücken dagegen.

»So schlimm?«, fragte Elsa mitfühlend.

»Schlimmer!«

Lene schloss für einen Moment die Augen. Die Wut, die sie noch beim Abschied von Hermine über deren Mann empfunden hatte, war Mutlosigkeit gewichen.

Es ist eine furchtbare Schande, dachte Lene bitter, dass ich meiner eigenen Schwester nicht helfen kann. Vom Moment der Eheschließung an waren alle Rechte auf Otto übergegangen. Und ihr als Schwester blieben nur aufmunternde Worte. Lene atmete geräuschvoll aus und versuchte mit einer kontrollierten Atmung ihre aufgewühlten Gefühle in den Griff zu bekommen. Was nützen all die gut gemeinten Worte, grübelte Lene weiter, und all die Versuche, Hermine ihre Vorzüge vor Augen zu halten, wenn sie nichts davon annehmen will? Wie kann ich nur Hermine helfen, wenn sie sich nicht helfen lassen will?

»Du bist nicht für das ganze Leid der Welt verantwortlich! Hör auf, dir ständig Vorwürfe zu machen, Lene, und kümmere dich lieber um dein eigenes Leben, Himmel noch mal!«

Lene schrak zusammen und riss die Augen auf, woran der mit Heftigkeit ausgestoßene Fluch sicher nicht unschuldig war. Ihr war überhaupt nicht bewusst gewesen, dass sie die letzten Gedanken laut ausgesprochen hatte.

»Wie meinst du das?«, fragte Lene und starrte auf die erboste Elsa, die sich in voller Größe dicht vor ihr aufgebaut hatte.

Unbewusst drückte Lene ihren Rücken stärker gegen das Holz der Eingangstür, und wäre es ihr möglich gewesen, dann hätte sie sicher einen oder sogar zwei Schritte Abstand zwischen sich und Elsa gebracht. Lene war nicht gerade kleingewachsen und größer als die meisten Frauen, die sie kannte. Aber Elsa überragte sie trotzdem noch um fast fünf Zentimeter. Vielleicht waren ihre grauen Locken, die sich immer als Hochsteckfrisur auf ihrem Kopf türmten, daran nicht ganz unschuldig. Auf jeden Fall erfüllten sie ihren Zweck, denn sie unterstrichen Elsas imposante Erscheinung perfekt.

»Mir ist klar, dass du nicht verstehst, was ich damit meine. Meine liebe Lene, du bist gerade mal vierundzwanzig Jahre alt und seit fast eineinhalb Jahren verwitwet.«

Lene hatte sich schnell wieder gefasst. Sie war kein Mensch, der sich für längere Zeit in die Ecke drängen ließ. Auch nicht von Elsa. »Du musst mir nicht sagen, wie lange mein Mann bereits tot ist, und auch mein Alter ist mir durchaus bekannt«, erwiderte sie trotzig, denn sie ahnte, worauf die Dreiundsechzigjährige hinauswollte.

Jetzt war es an Elsa tief durchzuatmen.

»Dann ist es ja gut. Wenn du dich dementsprechend zu verhalten versuchst und neben der Arbeit auch wieder Freude am Leben zulässt, werde ich bestimmt nichts mehr sagen. Aber bisher ist mir nicht aufgefallen, dass du wieder richtig leben möchtest.«

Lene zog ihre dunklen Augenbrauen zusammen und entgegnete irritiert: »Aber ich lebe doch!«

Elsa schüttelte den Kopf und trat einen Schritt zurück. Mit einem Mal sah sie unglaublich müde aus.

»Ich spreche von einem richtigen Leben, liebe Lene«, erwiderte sie eindringlich und umfasste Lenes Hand. »Wann warst du denn das letzte Mal mit einer Freundin einen Kaffee trinken? Oder einfach nur spazieren? Der einzige Mann, mit dem du überhaupt Kontakt hast, ist der Vetter deines verstorbenen Mannes. Und den magst du noch nicht einmal!«

Lene widerstand der Versuchung, Elsa ihre Hand zu entziehen. Die ältere Frau war ihr sehr wichtig, und sie wollte sie keineswegs verletzen. Vor allem, weil Elsa die Wahrheit sagte. Eine Wahrheit, vor der Lene seit diesem verdammten Tag am Hafen, als Ludwig von dem Ladebaum erschlagen worden war, die Augen verschlossen hielt.

»Das ist nicht ganz richtig«, widersprach Lene nach einem Moment der Stille und legte ihre andere Hand auf die ihrer Freundin. »Ich mag Friedrich eigentlich sogar ganz gern, nur seine ständigen Versuche, mich zur Ehe zu überreden, die mag ich ganz und gar nicht.«

»Ich weiß«, stimmte Elsa ihr zu. »Und das ist auch gut so, denn er wäre nicht der richtige Mann für dich.«

Lenes Mund verzog sich zu einem schiefen Lächeln, als sie sah, wie sich Elsas besorgte Miene wandelte und stattdessen der liebevolle Ausdruck erschien, den Lene wahrscheinlich für immer mit ihrer ersten Begegnung auf dem Friedhof in Verbindung bringen würde. Spontan entzog sie nun doch der Freundin ihre Hände und umarmte sie stattdessen innig. Es tat gut, Elsas warmen Körper und den Schutz ihrer Arme zu spüren. Lene genoss das Gefühl der Umarmung, denn sie fühlte sich nicht nur geborgen, sondern auch getröstet.

Der letzte Mensch, der Lene dieses Gefühl vermittelt hatte, war Ludwig gewesen.

»Das weiß ich doch, liebe Freundin«, erwiderte Lene, als sich die beiden aus der Umarmung lösten und für einen kurzen Moment an den Händen hielten. »Aber glaube mir bitte, dass ich keinesfalls eine unerträgliche Leere in mir verspüre und auch nicht das Bedürfnis habe, irgendeinen Mann kennenzulernen, mit dem ich mein weiteres Leben verbringen möchte.«

Wie von Lene erwartet, setzte Elsa zu einer Antwort an, kaum dass Lene das letzte Wort ausgesprochen hatte. Daher schob sie schnell noch einen Satz hinterher, von dem sie hoffte, dass er Elsa zufriedenstellen würde. »Jedenfalls empfinde ich das momentan so, bin aber offen, was die Zukunft angeht.«

»Nun gut, das ist immerhin besser, als ich erwartet hatte. Aber trotzdem, du solltest wirklich langsam damit aufhören, dich mit den Sorgen all der Menschen um dich herum zu belasten«, brummte Elsa nicht ganz so zufrieden, wie Lene es erhofft hatte.

»Aber was sage ich, dein Helferdrang ist ja beinahe unendlich. Wahrscheinlich würdest du sogar versuchen, der Marktfrau zu helfen, bei der du gestern die Heringe gekauft hast.«

»Wieso?«, fragte Lene überrascht. »Was ist mit ihr? Hat sie Probleme? Mir erschien sie so gut gelaunt wie immer.«

Elsa stieß einen langen Seufzer aus und verdrehte ihre grauen Augen, sodass fast nur noch das Weiße zu sehen war.

»Gar nichts ist mir ihr! Ich habe sie nur als Beispiel genommen, da mir niemand anders eingefallen ist.«

Das Schmunzeln, das sich langsam auf Lenes Lippen legte, breitete sich aus, bis die junge Frau in lautes Gelächter ausbrach, in das Elsa mit ihrem tiefen, wohlklingenden und äußerst ansteckenden Lachen einfiel.

Elsa hatte es wieder geschafft. Lenes düstere Stimmung hatte sich verflüchtigt, ohne dass sie im Nachhinein genau sagen konnte, wie die ältere Frau es jedes Mal wieder anstellte.

»So gefällst du mir schon viel besser«, sagte Elsa zufrieden. »Versuche aber bitte trotzdem, die Sorgen deiner Schwester nicht immer als deine eigenen zu betrachten. Sie ist eine erwachsene Frau und hat sich aus freien Stücken für diese Ehe entschieden. Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass du sie mehr als einmal gebeten hast, nichts zu überstürzen. Aber sie wollte partout diesen Mann heiraten. Und jetzt muss sie eben auch mit der Situation leben.«

»Ganz so hat es sich nicht verhalten«, widersprach Lene ruhig und setzte sich zu Elsa an einen der kleinen Tische. So imposant und robust die Erscheinung der älteren Frau auch war, Lene wusste von ihren Knieproblemen und ahnte, dass Elsa wieder unter Schmerzen litt. Sie fragte aber nicht danach, da sie auch genauso von der Abneigung ihrer Freundin wusste, über eigene gesundheitliche Einschränkungen zu sprechen.

»Hermine wollte mir nach dem Tod unseres Vaters nicht weiter auf der Tasche liegen, wie sie es genannt hat. Vor allem, weil ich zu dem Zeitpunkt kaum Ludwigs Tod verkraftet hatte. Es war ihre Art, mir zu helfen. Und ich glaube tatsächlich, dass sie in Otto ein klein wenig verliebt gewesen ist. Er hat sich vor der Eheschließung rührend um sie bemüht, und Hermine war schon immer sehr anfällig, wenn sich jemand um sie gekümmert hat.«

»Das mag sein«, gab Elsa zu und legte ihre Stirn in Falten, wie sie es immer tat, wenn sie von irgendetwas nicht überzeugt war. »Aber deine Schwester hat einen starken Arm gesucht. Natürlich wollte sie dich finanziell entlasten, aber ihr zwei hättet es sicher auch so noch eine Weile geschafft, da du nach Ludwigs Tod relativ schnell wieder eine Anstellung als Lehrerin gefunden hast.«

Lene zuckte die Schultern und holte tief Luft. Sie suchte nach Worten, denn tief in ihrem Innern wusste sie, dass Elsa den Nagel auf den Kopf getroffen hatte. Doch Elsa kannte eben Hermine auch nicht so gut wie sie selbst. Lene wusste genau, wie ihre kleine Schwester fühlte und, was noch viel wichtiger war, danach handelte. Denn im Gegensatz zu Lene war Hermine ein sehr emotionaler Mensch.

»Es stimmt alles, was du sagst, liebe Elsa. Aber wie kann ich ihr vorwerfen, dass sie ihre Entscheidung für eine Ehe mit Otto auch aus dem Grund getroffen hat? Sie ist und bleibt meine Schwester, und ich werde immer versuchen, ihr nach den mir zur Verfügung stehenden Mitteln zu helfen«, begründete Lene ihr Verhalten.

»In diesem Fall sind deine Mittel aber äußerst begrenzt, meine Liebe. Und glaube nicht, dass ich dich nicht verstehe. Ich bin ganz gewiss nicht so herzlos, wie es oft den Anschein hat. Ich sorge mich nur um dich. Du bist eine Frau in der Blüte ihres Lebens und fängst nichts damit an. Manchmal kommt es mir so vor, als würdest du sogar nach einem Vorwand suchen, damit du dich nicht mit dir und deiner Zukunft beschäftigen musst«, gab Elsa leise zu, und der Blick, mit dem sie Lene bedachte, versetzte der jüngeren Frau einen Stich.