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Der Amateursozialist: Roman Bernard Shaw - "Der Amateur-Sozialist" ist ein 1883 erschienener Roman des irischen Schriftstellers George Bernard Shaw. Der Originaltitel lautet "An Unsocial Socialist".George Bernard Shaw, meist auf eigenen Wunsch nur Bernard Shaw genannt (geboren 26. Juli 1856 in Dublin, Irland; gestorben 2. November 1950 in Ayot Saint Lawrence, England), war ein irischer Dramatiker, Politiker, Satiriker, Musikkritiker und Pazifist, der 1925 den Nobelpreis für Literatur und 1939 den Oscar für das beste adaptierte Drehbuch erhielt.
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Bernard Shaw
Roman
Gustav Kiepenheuer Verlag
Potsdam 1921
Aus dem Englischen übersetzt
von
Wilhelm Cremer
Autorisierte Ausgabe
Druck der Buchdruckerei Gustav Ascher G. m. b. H., Berlin SW 61
In der Dämmerung eines Oktoberabends trat eine nervös aussehende Frau von etwa vierzig Jahren durch eine Eichenholztür auf einen breiten Flur, der sich im ersten Stockwerk eines alten englischen Landhauses befand. Eine Haarlocke war über ihre Stirne gefallen, als ob sie tiefgebückt beim Lesen oder Schreiben gesessen hätte, und sie stand jetzt einen Augenblick still, um sie zurückzustreichen, und starrte nachdenklich — aber durchaus nicht träumerisch — durch das hohe, schmale Fenster. Von der Pracht des Sonnenuntergangs konnte sie nichts sehen, denn dieses Fenster ging nach Osten zu, wo die Landschaft mit ihren Schaftriften und Weidegründen langsam in dem trüben, grauen Dunkel versank.
Die Dame blieb eine Zeitlang unschlüssig auf dem Flur stehen, wie jemand, der nur selten Ruhe und Frieden genießen kann. Dann ging sie auf eine andere Tür zu, auf der in weißen Buchstaben „Klassenzimmer Nr. 6“ geschrieben stand. An der Schwelle machte sie aber wieder halt, da sie im oberen Stockwerk eine flüsternde Stimme hörte, und blickte vorsichtig an dem breiten, runden Geländer hinauf, das in einer ununterbrochenen Kurve und in gleichmäßiger Neigung durch alle Stockwerke des Hauses lief.
Eine jugendliche Stimme, die offenbar jemand nachäffte, erscholl jetzt von oben. „Bitte, meine Damen, wir gehen nunmehr zu den Etudes de la vélocité über.“
In demselben Augenblick schoß ein Mädchen in einem Leinenkleid an dem Geländer herunter. Sie wirbelte in furchtlosem Schwung um die Kurve und verschwand unten in der Dunkelheit. Ein stattliches Mädchen in Grün, das beim Abwärtsgleiten ängstlich den Atem anhielt, folgte ihr, und dann kam eine schon fast erwachsene Dame in Schwarz, die mit den Zähnen auf ihre Unterlippe biß und entsetzt ihre schönen braunen Augen aufriß. Ihr Flug erregte einen Miniatursturmwind, der die Haare der Dame auf dem Flur von neuem in Unordnung brachte. In atemloser Aufregung wartete sie, bis ein zweimaliges leichtes Aufspringen und ein schwereres Hinplumpsen des großen Mädchens ihr zeigten, daß die Luftschifferinnen glücklich im Hausflur gelandet waren.
„Himmel!“ rief die Stimme, die auch vorhin gesprochen hatte. „Da ist Susanna.“
„Sie können Gott danken, daß Sie nicht den Hals gebrochen haben,“ entgegnete eine aufgeregte Stimme. „Diesmal erzähl ich es Miß Wylie! Wirklich, ich tu es. Und Sie, Miß Carpenter: ich wundere mich, daß Sie bei Ihrem Alter und Ihrer Größe nicht mehr Vernunft haben! Miß Wilson muß Sie ja hören, wenn Sie so aufplumpsen. Das ganze Haus zittert.“
„Ach, Unsinn!“ sagte Miß Wylie. „Die Lady Abbeß hütet sich, uns jedes Geräusch zu verbieten. Jetzt wollen wir —“
„Mädchen,“ sagte die Dame oben mit ruhiger, aber unheilvoll fester Stimme.
Schweigen und äußerste Bestürzung folgten. Dann antwortete Miß Wylie in honigsüßem Tone. „Riefen Sie uns, liebe Miß Wilson?“
„Ja. Bitte, kommen Sie alle drei herauf.“
Sie zauderten eine Weile, da jede der andern den Vortritt anbot. Zuletzt kamen sie alle drei herauf, in derselben Reihenfolge, in der sie heruntergeflogen waren, nur nicht in derselben Schnelligkeit. Sie folgten Miß Wilson in das Klassenzimmer und standen in einer Reihe vor ihr, während vom Westen her aus den drei Fenstern sie ein orangerotes Licht überstrahlte. Miß Carpenter, die größte von den dreien, glühte vor Verwirrung. Sie ließ die Arme herunterhängen und spielte mit den Fingern an den Falten ihres Kleides. Miß Gertrude Lindsay, die in blasses Seegrün gekleidet war, hatte einen kleinen Kopf, eine zarte Figur und perlenfeine Zähne. Sie stand aufrecht da, mit dem Ausdruck kühler Verachtung für Vorwürfe jeder Art. Das Leinenkleid der dritten Sünderin, das in dem grauen Zwielicht des Treppenhauses gelb gewesen war, sah jetzt im Zimmer in der warmen Abendglut weiß aus. Ihr Gesicht hatte einen glänzenden, olivenfarbenen Ton und schien wie von einem goldenen Flimmer überzogen. Ihre Augen und Haare waren nußbraun, und ihre Zähne, deren obere Reihe sie offen zeigte, waren wie aus feinem Marmor. Sie standen übrigens ziemlich nach außen und hätten ihren Mund verunziert, wären sie nicht von einer vollen Unterlippe und einem fein geschwungenen, etwas dreisten Kinn getragen worden. Ihrem halb schmeichelnden und halb spöttischen Gesicht und ihrem schnellen Lächeln konnte man nicht leicht ernst entgegentreten. Miß Wilson wußte das, und sie wollte sie nicht ansehen, selbst als sie ein krampfhaftes Auffahren und einen ärgerlichen Seitenblick Miß Lindsays bemerkte, die von ihrer Nachbarin gezwickt worden war.
„Sie wissen, daß Sie die Regeln übertreten haben,“ sagte Miß Wilson ruhig.
„Es war nicht unsere Absicht. Wirklich nicht“, sagte das Mädchen in dem Leinenkleid in schmeichelndem Tone.
„Bitte, Miß Wylie, was war denn Ihre Absicht?“
Miß Wylie nahm dies unerwarteterweise als eine witzige Entgegnung und nicht als einen Vorwurf auf. Sie stieß einen komischen Schrei aus, der in einen langen Ausbruch von Gelächter überging.
„Agatha, wollen Sie wohl still sein!“ sagte Miß Wilson streng. Agatha machte ein zerknirschtes Gesicht, und Miß Wilson wandte sich hastig zu der ältesten von den dreien. „Über Sie, Miß Carpenter, bin ich am meisten erstaunt. Sie scheinen keine Lust zu haben, mir Ihr Wort zu halten und sich nach den Regeln zu richten, obgleich Sie alt genug sind, um deren Notwendigkeit einzusehen. Ich werde Sie nicht mit Vorwürfen oder Bitten belästigen, denn ich bin jetzt überzeugt, daß Sie sich doch nichts daraus machen“ — hier brach Miß Carpenter nach einem stummen Protest in Tränen aus — „aber Sie sollten wenigstens die Gefahr bedenken, in die Sie die jüngeren Mädchen durch Ihre Kinderei bringen. Was würden Sie sagen, wenn Agatha ihr Genick gebrochen hätte?“
„Oh!“ rief Agatha und faßte sich schnell mit der Hand nach ihrem Nacken.
„Ich glaubte nicht, daß eine Gefahr dabei sei,“ sagte Miß Carpenter, mit ihren Tränen kämpfend. „Agatha hat es schon so oft getan — oh, mein Gott, du hast mir das Kleid zerrissen!“ Miß Wylie hatte ihre Mitschülerin am Rock gezogen, und der Ruck war zu stark gewesen.
„Miß Wylie“, sagte Miß Wilson leicht errötend, „ich muß Sie bitten, das Zimmer zu verlassen.“
„O nein,“ schrie Agatha und faltete betrübt die Hände. „Bitte, tun Sie es nicht, liebe Miß Wilson. Es tut mir so leid. Ich bitte Sie um Verzeihung.“
„Da Sie nicht tun wollen, um was ich Sie bitte, muß ich selbst gehen,“ sagte Miß Wilson streng. „Kommen Sie mit in mein Arbeitszimmer,“ fügte sie, zu den beiden andern gewendet, hinzu. „Wenn Sie versuchen sollten, mir zu folgen, Miß Wylie, werde ich das als eine Zudringlichkeit ansehen.“
„Aber ich will ja gehen, wenn Sie es wünschen. Ich wollte Ihnen nicht ungehorsam —“
„Ich werde Sie jetzt nicht stören. Kommen Sie beide!“
Die drei gingen hinaus, und Miß Wylie, die in Ungnade zurückblieb, schnitt Miß Lindsay ein grimmiges Gesicht, als diese sich noch einmal nach ihr umsah. Als sie allein war, ließ ihre Lebhaftigkeit nach. Sie ging langsam zu dem Fenster und blickte verzweiflungsvoll auf die Landschaft. Einmal, als von oben der Klang der Stimmen zu ihr herunterdrang, leuchteten ihre Augen auf und ihre flinke Lippe bewegte sich. Aber dann wurde es wieder still, und sie versank in eine verdrießliche Gleichgültigkeit, bis ihre zwei Genossinnen mit sehr ernsten Gesichtern wieder hereinkamen.
„Nun,“ sagte sie plötzlich munter, „hat sie moralische Überredung angewandt? Müßt ihr euch in das Sündenbuch eintragen?“
„Still, Agatha,“ sagte Miß Carpenter. „Du solltest dich über dich selber schämen.“
„Nein, du solltest es, du Gans. Du hast mich in eine hübsche Patsche gebracht!“
„Du warst es selbst schuld. Du hast mein Kleid zerrissen.“
„Ja, als du mich verklatschtest, weil ich manchmal das Geländer heruntergleite.“
„Oh!“ sagte Miß Carpenter langsam, als ob sie daran noch gar nicht gedacht hatte. „Deshalb hast du mich am Kleid gezogen?“
„Mein Gott! Das wird dir jetzt erst klar? Du bist ein schrecklich blödsinniges Mädchen, Jane. Was hat die Lady Abbeß gesagt?“
Miß Carpenter begann wieder zu weinen und konnte nicht antworten.
„Sie ist natürlich entrüstet über uns,“ sagte Miß Lindsay.
„Sie sagte, du wärest an allem schuld,“ schluchzte Miß Carpenter.
„Oh, Liebste, das macht nichts,“ sagte Agatha begütigend. „Schreib es in das Sündenbuch.“
„Ich schreibe kein Wort in das Sündenbuch, wenn du es nicht zuerst tust,“ sagte Miß Lindsay ärgerlich. „Du hast mehr Schuld als wir.“
„Gewiß, Liebste,“ entgegnete Agatha. „Meinetwegen eine ganze Seite.“
„Ich — ich glaube, du schreibst gern in das Sündenbuch,“ sagte Miß Carpenter hämisch.
„Ja, Jane. Das ist der beste Spaß, den man hier in diesem Loch hat.“
„Es mag dir Spaß machen,“ sagte Miß Lindsay scharf, „aber für mich ist es nicht sehr rühmlich, wie Miß Wilson grade sagte, daß ich in der Moralphilosophie einen Preis bekommen habe und dann einschreiben muß, ich wüßte mich selbst nicht zu benehmen. Außerdem laß ich mir nicht gerne sagen, ich sei schlecht erzogen.“
Agatha lachte. „Was für eine kluge, alte Person sie ist! Sie weiß uns stets bei unseren kleinen Schwächen zu fassen, die sie genau kennt. Meinst du, sie würde jemals mir oder Jane erzählen, wir wären schlecht erzogen!“
„Ich verstehe dich nicht,“ sagte Miß Lindsay stolz.
„Natürlich nicht. Du verstehst aber von der Moralphilosophie nicht soviel wie ich, trotzdem ich niemals einen Preis darin bekam.“
„Du hast überhaupt noch keinen Preis bekommen,“ sagte Miß Carpenter.
„Und hoffentlich bekomm ich auch in Zukunft keinen,“ sagte Agatha. „Lieber würde ich mich wie die Straßenjungens im Schnee um heißgemachte Pfennige herumbalgen, als mich darum streiten, wer die meisten Fragen beantworten kann. Ich habe genug Moralphilosophie an Doktor Watts. Aber jetzt wollen wir uns das Sündenbuch holen.“
Sie ging an ein Gestell und holte ein schweres, in schwarzes Leder gebundenes Buch in Quartformat herunter, auf dem in roten Buchstaben die Inschrift Meine Vergehen stand. Sie warf es unehrerbietig auf ein Pult und blätterte die Seiten um, bis sie an eine kam, die erst zum Teil mit Bekenntnissen ausgefüllt war.
„Merkwürdig,“ sagte sie, „hier sind ja zwei Eintragungen, die nicht von mir herstammen. Sarah Gerram! Was hat sie gebeichtet?“
„Lies es nicht,“ sagte Miß Lindsay schnell. „Du weißt, das ist das Schändlichste, was eine von uns tun kann.“
„Puh! Wegen unserer kleinen Sünden braucht man nicht solches Geschrei zu machen. Ich habe es immer gern, wenn andere meine Eintragungen lesen, ich komme mir dann wie eine Schriftstellerin vor. Natürlich lese ich dann aus christlicher Nächstenliebe auch das von den andern. Also das Schuldbekenntnis der armen Sarah. ‚1. Oktober. Es tut mir sehr leid, daß ich heute morgen im Badezimmer Miß Chambers einen Klaps gab und ihr dabei einen Zahn ausschlug. Es war sehr häßlich, aber er fiel schon von selbst aus, und sie hat mir verziehen, weil ein neuer kommt. Sie hat auch nur geschwindelt, als sie sagte, sie hätte ihn heruntergeschluckt. Sarah Gerram.‘“
„So ein Schaf!“ sagte Miß Lindsay. „Und mit solchen kleinen Kindern muß man sich in dasselbe Buch einschreiben!“
„Hier ist ein rührendes Bekenntnis. ‚4. Oktober. Helen Plantagenet tut es sehr leid, daß sie gestehen muß, sie hat den ersten Platz in Algebra gestern mit Unrecht erhalten. Miß Lindsay sagte mir vor, und —‘“
„Oh!“ rief Miß Lindsay errötend aus. „So dankt sie mir für das Vorsagen? Wie darf sie meine Vergehen in das Sündenbuch eintragen?“
„Das geschieht dir recht, weil du ihr vorgesagt hast,“ sagte Miß Carpenter. „Sie war immer eine falsche Katze, und du hättest sie besser kennen sollen.“
„Oh, du kannst mir glauben, ich tat es nicht um ihretwillen,“ entgegnete Miß Lindsay. „Ich wollte nur verhindern, daß das Jackson-Mädchen den ersten Platz bekam. Helen Plantagenet kann ich nicht ausstehen, aber sie ist wenigstens eine Dame.“
„Unsinn, Gertrude,“ sagte Agatha mit etwas Ernst in ihrer Stimme. „Wenn man dich hört, glaubt man, deine Großmutter ist eine Köchin gewesen. Sei doch nicht so albern.“
„Miß Wylie,“ sagte Gertrude heftig errötend, „Sie sind sehr — oh! oh! Halt Ag— oh! Ich werde es Miß W— oh!“ Agatha hatte einen Finger zwischen ihre Rippen gesteckt und kitzelte sie unerträglich.
„Sst,“ flüsterte Miß Carpenter ängstlich. „Die Tür ist offen.“
„Bin ich Miß Wylie?“ fragte Agatha, indem sie unbarmherzig mit ihrer Folterung fortfuhr. „Bin ich wirklich — was du da sagen wolltest? Bin ich —? bin ich —? bin ich?“
„Nein, nein,“ keuchte Gertrude und sank fast in Krämpfen in einen Stuhl. „Du bist sehr böse, Agatha. Du hast mir weh getan.“
„Du verdienst es. Wenn du mir noch einmal zürnst oder mich Miß Wylie nennst, werde ich dich töten. Ich werde dir die Fußsohlen mit einer Feder kitzeln“ — Miß Lindsay schüttelte sich und verbarg ihre Füße unter dem Stuhl — „bis deine Haare weiß werden. Und jetzt, wenn du wirklich solche Reue fühlst, schreibe dich in das Buch ein.“
„Du mußt es zuerst tun. Du warst an allem schuld.“
„Aber ich bin die jüngste,“ sagte Agatha.
„Nun gut,“ sagte Gertrude in dem Bestreben, die Sache zu beschleunigen, aber entschlossen, nicht zuerst zu schreiben, „dann laß Jane Carpenter beginnen. Sie ist die älteste.“
„Oh, natürlich,“ sagte Jane mit kläglicher Ironie. „Laß Jane alle häßlichen Sachen zuerst tun. Ich halte das für sehr unfreundlich. Ihr bildet euch ein, Jane sei euer Narr, aber ihr irrt euch.“
„Du bist sicher nicht so närrisch, wie du aussiehst, Jane,“ sagte Agatha ernst. „Aber wenn ihr wollt, will ich zuerst schreiben.“
„Nein, du sollst nicht,“ schrie Jane und riß ihr die Feder aus den Händen. „Ich bin die älteste, und ich laß mich nicht von meinem Platz verdrängen.“
Sie tauchte entschlossen die Feder in die Tinte und schickte sich an, zu schreiben. Dann hielt sie inne, überlegte und machte ein verwirrtes Gesicht. Schließlich wandte sie sich flehend an Agatha.
„Was soll ich schreiben?“ fragte sie. „Du verstehst dich auszudrücken, ich nicht.“
„Setz zuerst das Datum,“ sagte Agatha.
„Natürlich,“ sagte Jane, indem sie es schnell schrieb. „Ich vergaß das. Und dann?“
„Jetzt schreibe: Es tut mir leid, daß mich Miß Wilson sah, als ich heute abend das Geländer hinunterglitt. Jane Carpenter.“
„Das ist alles?“
„Das ist alles. Oder du kannst auch noch etwas Selbsterfundenes hinzufügen.“
„Hoffentlich ist es nicht unpassend,“ sagte Jane und warf Agatha einen mißtrauischen Blick zu. „Doch es kann nichts Schlimmes dabei sein, denn es ist die einfache Wahrheit. Wenn du mir aber wieder einen Streich spielst, bist du ein häßliches, gemeines Geschöpf, und ich sehe dich nicht mehr an. Jetzt kommst du an die Reihe, Gertrude. Bitte, sieh mal nach, ob ich keinen Fehler gemacht habe.“
„Ich bin nicht dein Orthographielehrer,“ sagte Gertrude, indem sie die Feder in die Hand nahm. Und während Jane etwas über ihre Ungeschliffenheit murmelte, schrieb sie in flotten, großen Buchstaben: „Ich habe die Regeln übertreten, indem ich heute mit Miß Carpenter und Miß Wylie das Geländer herunterglitt. Miß Wylie tat es zuerst.“
„Du Schuft!“ rief Agatha aus, die ihr über die Schultern sah. „Und dein Vater ist ein Admiral!“
„Ich glaube, es ist ganz aufrichtig,“ sagte Miß Lindsay eingeschüchtert, aber doch in dem Ton eines Sittenrichters. „Es ist die reine Wahrheit.“
„All mein Vermögen ist im Handel erworben,“ sagte Agatha, „aber ich würde mich doch vor mir selber schämen, wenn ich meine Schuld auf deine aristokratischen Schultern abwälzte. Du armseliges Ding! Hier, gib mir die Feder.“
„Ich will es ausstreichen, wenn du es wünschst! Aber ich glaube —“
„Nein, es soll da stehen bleiben und gegen dich zeugen. Jetzt paß auf, wie ich meine Sünden bekenne.“ Und sie schrieb in einer feinen, flinken Handschrift: „Heute abend trafen mich Gertrude Lindsay und Jane Carpenter oben auf der Treppe. Sie sagten, sie möchten gerne das Geländer heruntergleiten, und würden es auch tun, wenn ich voranginge. Ich sagte ihnen, es sei gegen die Regeln, aber sie meinten, das machte nichts. Und da sie älter sind als ich, ließ ich mich von ihnen verleiten und glitt hinunter.“ Agatha legte das Buch offen hin. „Nun, was haltet ihr davon?“ fragte sie.
Sie lasen es und erhoben lauten Widerspruch.
„Es ist die reine Wahrheit,“ sagte Agatha feierlich.
„Es ist schmutzig, gemein,“ sagte Jane energisch. „Erst wirfst du Gertrude ihren Fehler vor und dann gehst du hin und handelst selbst zweimal so schlecht! So etwas habe ich in meinem Leben noch nicht gesehen.“
„Ja, wer Wind sät, wird Sturm ernten! heißt es in unserm Lesebuch,“ sagte Agatha und fügte ihrer Beichte noch einen weiteren Abschnitt hinzu. „Aber ich war an allem schuld. Ich war auch ungezogen gegen Miß Wilson und weigerte mich, das Zimmer zu verlassen, als sie es mir befahl. Ich war aber nur beim Hinabgleiten mit Vorsatz böse. Ich liebe das Hinabgleiten so sehr, daß ich der Versuchung nicht widerstehen konnte.“
„Laß dich warnen, Agatha,“ sagte Jane eindrücklich. „Wenn du unverschämte Bemerkungen in das Buch schreibst, wirst du weggejagt.“
„Allerdings!“ entgegnete Agatha bedeutsam. „Warte nur, bis Miß Wilson sieht, was du geschrieben hast.“
„Gertrude,“ schrie Jane in plötzlicher Besorgnis, „hat sie mich verleitet, etwas Ungehöriges zu schreiben? Agatha, bitte, sag es mir, wenn —“
Eine Glocke ertönte. Die drei Mädchen riefen wie aus einem Munde „Futtern!“ und stürmten aus dem Zimmer.
An einem sonnigen Nachmittag trieb ein Hansom mit großer Schnelligkeit die Belsize Avenue, St. Johns Wood, hinunter und hielt vor einem großen, vornehmen Hause. Eine junge Dame sprang heraus, rannte die Stufen hinauf und klingelte ungeduldig. Sie hatte einen bräunlichen Teint und scharfgeschnittene Gesichtszüge, dunkle Augen mit langen Wimpern, einen feinen Kopf, kleine Füße, Hände mit langen, spitzen Fingern und einen geschmeidigen und sehr schlanken Körper, der sich mit schlangenartiger Anmut bewegte. Ein orientalischer Geschmack schien die Farben ihrer Kleidung zusammengestellt zu haben. Sie trug ein weißes, eng anschließendes Kleid, das mit kunstvollen chinablauen Mustern bedruckt war, ferner einen gelben Strohhut, der mit künstlichem Weißdorn und roten Beeren bedeckt war. Die lohgelben Handschuhe reichten bis an die Ellbogen und waren mit einer Überfülle von goldenen Armbändern behangen.
Da die Türe nicht sofort geöffnet wurde, klingelte sie in heftiger Weise noch einmal und wurde gleich darauf von einem Mädchen hereingelassen, das erstaunt schien, sie zu sehen. Ohne sich mit einer Frage aufzuhalten, stürzte sie die Treppen hinauf in das Gesellschaftszimmer, wo eine gesundaussehende Matrone, deren Züge den feinsten jüdischen Typus zeigten, beim Lesen saß. Ein hübscher Knabe in schwarzem Samtanzug war noch im Zimmer.
„Mama,“ rief er, „da ist Henrietta!“
„Arthur,“ sagte die junge Dame erregt, „geh sofort hinaus. Und du brauchst nicht wiederzukommen, bis du Erlaubnis bekommst.“
Die gute Laune des Knaben verschwand, und er ging mürrisch hinaus, ohne ein Wort zu sprechen.
„Ist etwas passiert?“ fragte die Matrone und legte das Buch hin mit der sorglosen Gleichgültigkeit eines erfahrenen Menschen, der einen Sturm in einem Wasserglase voraussieht. „Wo ist Sidney?“
„Fort ist er — fort! Er hat mich verlassen! Ich —“ Der jungen Dame versagten plötzlich die Worte, und sie ließ sich mit leidenschaftlichem Schluchzen auf eine Ottomane hinsinken.
„Unsinn! Ich glaubte, Sidney hätte mehr Vernunft. Henrietta, sei nicht so töricht. Ihr habt euch natürlich gezankt.“
„Nein! Nein!! Nein!!!“ schrie Henrietta und stampfte auf den Teppich. „Nicht ein Wort haben wir uns gesagt. Seit meiner Verheiratung habe ich nicht ein einziges Mal meine gute Laune verloren — ich schwör es dir feierlich. Ich werde Selbstmord begehen, es gibt keinen andern Weg. Auf mir liegt ein Fluch. Ich bin bestimmt, unglücklich zu sein. Er —“
„Schweig still! Was ist denn geschehen, Henrietta? Du bist doch jetzt schon sechs Wochen verheiratet und darfst dich nicht wundern, wenn einmal ein kleiner Zwist ausbricht. Du bist so leicht erregbar! Du kannst aber nicht erwarten, daß der Himmel immer wolkenlos ist. Wahrscheinlich trägst du die Schuld, denn Sidney ist viel vernünftiger als du. Hör mit Weinen auf und benimm dich wie eine verständige Frau. Ich werde selbst zu Sidney hingehen und alles wieder in Ordnung bringen.“
„Aber er ist fortgegangen, und ich weiß gar nicht, wohin. Oh, was soll ich tun?“
„Was ist denn geschehen?“
Henrietta machte eine ungeduldige Bewegung. Dann zwang sie sich dazu, ihre Geschichte zu erzählen, und sagte: „Wir verabredeten am Montag, ich sollte auf zwei Tage zu Tante Judith auf Besuch gehen, anstatt ihn nach Birmingham auf diesen schrecklichen Gewerkschaftskongreß zu begleiten. Wir schieden im besten Einvernehmen voneinander. Er konnte nicht herzlicher sein. Aber ich gehe in den Tod, mir ist jetzt alles gleich. Und als ich Mittwoch zurückkam, da war er fort, und dieser Brief —“ Sie zog einen Brief aus der Tasche und weinte noch bitterlicher als vorher.
„Laß mich ihn lesen.“
Henrietta zauderte, aber ihre Mutter nahm ihr den Brief ab, setzte sich nahe ans Fenster und begann ihn zu lesen, ohne den heftigen Schmerz ihrer Tochter im geringsten zu beachten. Der Brief lautete folgendermaßen:
Montag abend.
Meine einzig Geliebte, ich bin fortgegangen, übersättigt von Liebe, und will mein eigenes Leben leben und meine eigene Arbeit tun. Ich hätte Dich auf diese Absicht nur durch Kälte oder Vernachlässigung vorbereiten können. Aber das war mir unmöglich, solange der Zauber Deiner Anwesenheit auf mich wirkte. Darum mußte ich fliehen, um mich selbst zu retten.
Ich fürchte, ich kann Dir für meinen Schritt keine genügenden und verständlichen Gründe angeben. Du bist ein schönes und kostbares Geschöpf, das Leben gibt Dir nur dann volle Befriedigung, wenn es ein Karneval der Liebe ist. Mein Fall liegt grade umgekehrt. Bevor mir drei zärtliche Worte entschlüpft sind, mache ich mir schon Vorwürfe wegen meiner Torheit und Unaufrichtigkeit. Bevor eine Liebkosung erkalten kann, regt sich schon in mir in stärkster Weise das entgegengesetzte Gefühl. Ich muß wieder zu meinem alten, einsam strengen Einsiedlerleben zurückkehren, zu meinen trocknen Büchern, meiner Agitation für den Sozialismus, meinen Entdeckungsreisen durch die Wildnis des Gedankens. Ich heiratete Dich in dem unsinnigen Glauben, ich hätte auch jene natürliche Zuneigung, die andere Männer eine lebenslange Ehe ertragen läßt. Aber ich habe meinen Irrtum eingesehen. Du bist für mich die lieblichste Frau von der Welt. Nun habe ich fünf Wochen lang mit der lieblichsten Frau von der Welt zusammengelebt, ich habe mit ihr geplaudert und gescherzt, und das Ende ist, daß ich von ihr fliehe und in eine Einsiedelei gehe, bis ich sterbe. Die Liebe kann mich nicht beherrschen. Alles, was stark ist in mir, lehnt sich gegen sie auf und schüttelt sie ab. Vergib mir, daß ich Dir Unsinn schreibe, den Du nicht verstehst, und urteile nicht zu hart über mich. Ich war gegen Dich so gut, wie ich es mit meinem selbstsüchtigen Wesen sein konnte. Suche mich nicht aus meiner Verborgenheit aufzustören, in der ich bleiben will und bleiben muß. Mein Anwalt wird Deinem Vater schreiben und alle geschäftlichen Angelegenheiten in Ordnung bringen. Du sollst so glücklich sein, wie Wohlstand und Freiheit Dich machen können. Wir werden uns wiedersehen — später einmal.
Leb wohl, meine letzte Liebe.
Sidney Trefusis.
„Nun?“ fragte Mrs. Trefusis, die durch ihre Trauen bemerkte, daß ihre Mutter den Brief gelesen hatte und voll Verwirrung nachdachte.
„Wahrhaftig!“ sagte Mrs. Jansenius mit erregter Stimme. „Glaubst du, daß er ganz richtig im Kopf ist, Henrietta? Oder hast du zuviel Aufmerksamkeit von ihm verlangt. Die Männer widmen nicht gerne ihr ganzes Wesen ihren Frauen, selbst in den Flitterwochen nicht.“
„Er sagte, er sei nur in meiner Nähe glücklich,“ schluchzte Henrietta. „Noch nie hat es so etwas Grausames gegeben. Ich habe oft selbst nach einer Veränderung verlangt, aber ich fürchtete, seine Gefühle zu verletzen, wenn ich es sagte. Und jetzt hat er gar keine Gefühle. Aber er muß zu mir zurückkommen. Nicht wahr, Mama?“
„Natürlich müßte er. Hoffentlich ist er nicht mit einer andern davongelaufen?“
Henrietta sprang auf, und ihre Wangen wurden rot. „Wenn ich das dächte, ich würde ihn bis an das Ende der Welt verfolgen und sie ermorden. Aber nein, er ist nicht wie die andern. Er haßt mich. Alle hassen sie mich. Du machst dir auch nichts daraus, ob ich verlassen bin oder nicht, und Papa nicht und niemand hier im Hause.“
Mrs. Jansenius blieb noch immer gleichgültig bei der Aufregung ihrer Tochter. Sie überlegte einen Augenblick und sagte dann friedlich:
„Du kannst nichts tun, bis wir Nachricht von dem Anwalt bekommen. Inzwischen kannst du hier bei uns wohnen, wenn du es willst. Ich habe nicht erwartet, daß du mich sobald besuchen würdest, aber dein Zimmer ist, seit du fortgegangen, noch nicht benutzt worden.“
Mrs. Trefusis hörte auf zu weinen. Diese erste Andeutung, daß ihres Vaters Haus nicht mehr das ihrige sei, kühlte sie ab. Ein wirkliches Gefühl von Verlassenheit kam über sie. Unter seinem kalten Einfluß gewann sie ihre Fassung wieder, und ihr Stolz legte sich wie eine Schranke zwischen sie und ihre Mutter.
„Ich will nicht lange hierbleiben,“ sagte sie. „Wenn sein Anwalt mir nicht sagen will, wo er ist, werde ich ganz England nach ihm durchstöbern. Es tut mir leid, daß ich euch hier Störung mache.“
„Oh, du wirst uns keine größere Störung machen, als du es immer getan hast,“ sagte Mrs. Jansenius ruhig und war befriedigt, weil ihre Tochter den Wink verstanden hatte. „Du gehst jetzt am besten hinauf und wäschst dein Gesicht. Es kann Besuch kommen, und du willst doch die Leute nicht in dem Zustand empfangen. Wenn du Arthur auf der Treppe siehst, sag ihm, bitte, er solle hereinkommen.“
Henrietta verzog boshaft ihre Lippen und verließ das Zimmer. Dann kam Arthur herein und stellte sich in mürrischem Schweigen an das Fenster, indem er darüber brütete, warum er wohl vorhin aus dem Zimmer verjagt war. Plötzlich rief er: „Da kommt Papa, und es ist noch nicht fünf Uhr!“, worauf ihn seine Mutter zum zweiten Male hinausschickte.
Mr. Jansenius war ein Mann von würdigem Aussehen. Er war noch keine fünfzig Jahre alt, aber auch nicht weit davon ab. Er bewegte sich mit abgemessener Ruhe und machte ein Gesicht, als ob hinter seinen wulstigen Brauen kostbare Gedanken verborgen lägen. Seine schöne Adlernase und die scharfen, dunklen Augen verrieten seine jüdische Abstammung, deren er sich übrigens schämte. Die Leute, die das nicht wußten, glaubten natürlich, er sei stolz darauf, und begriffen nicht, warum er seine Kinder als Christen erziehen ließ. Er war wohlerfahren in Geschäftsangelegenheiten und hatte außer seiner Liebe zur Familie, seinem Streben nach Ansehen, Behaglichkeit und Wohlhabenheit keine Leidenschaften. So hatte er nicht nur das ererbte väterliche Vermögen bewahrt, sondern es auch beträchtlich vergrößert. Er war Bankier und stand auf dem Standpunkt, die unendlichen Ersparnisse, die das Banksystem mit sich führt, soviel wie möglich aufzufangen und in seine Tasche zu stecken und im übrigen die Welt grade so hart arbeiten zu lassen, wie sie es tat, bevor das Banksystem eingeführt war. Da aber die Welt unter solcher Bedingung überhaupt nicht zur Bank gegangen wäre, so gab er ihr, um sie anzulocken, ein wenig von diesen Ersparnissen ab. So hatten die Leute ihren kleinen Vorteil und er seine Genugtuung, daß er zugleich ein wohlhabender Staatsbürger und ein öffentlicher Wohltäter war, schwer an Geld und leicht im Gewissen.
Er trat schnell in das Zimmer, und seine Frau sah, daß ihn etwas erregt hatte.
„Weißt du, was geschehen ist, Ruth?“ fragte er.
„Ja, sie ist oben.“
Mr. Jansenius starrte sie an. „Was, sie ist schon fortgegangen?“ fragte er. „Welche Veranlassung hat sie, hierher zu kommen?“
„Das ist doch ganz natürlich. Wo sollte sie sonst hingehen?“
Mr. Jansenius, der nie seiner eigenen Ansicht traute, wenn sie von der seiner Frau abwich, entgegnete langsam: „Warum ging sie nicht zu ihrer Mutter?“
Mrs. Jansenius war diesmal daran, erstaunt zu werden. Sie sah ihn mit kühler Verwunderung an und bemerkte: „Ich bin doch ihre Mutter, oder nicht?“
„Ich wußte das nicht. Ich bin erstaunt, es zu hören, Ruth. Hast du auch einen Brief bekommen?“
„Ich habe den Brief gelesen. Aber was wolltest du damit sagen, du wüßtest nicht, daß ich Henriettas Mutter sei? Du willst wohl Witze machen?“
„Henrietta! Ist sie hier? Ist das noch ein Ärger?“
„Ich weiß es nicht. Wovon sprichst du eigentlich?“
„Ich spreche von Agatha Wylie.“
„Oh, und ich sprach von Henrietta.“
„Was ist denn mit Henrietta los?“
„Was ist mit Agatha Wylie los?“
Jetzt geriet Mr. Jansenius in Zorn, und sie hielt es für das beste, ihm Henriettas Bericht mitzuteilen. Als sie ihm Trefusis Brief gab, sagte er etwas ruhiger: „Ein Unglück kommt nie allein. Lies das,“ und gab ihr einen andern Brief, so daß sie beide zu gleicher Zeit zu lesen begannen.
Mrs. Jansenius las folgendes:
An Mrs. Wylie, Acacia Lodge, Chiswick.
Alton College, Lyvern.
Sehr geehrte, gnädige Frau, zu meinem großen Bedauern muß ich Sie bitten, sofort Miß Wylie von Alton College zurückzuholen. In einem Institut wie dem meinigen, in dem die Schülerinnen so wenig wie möglich in ihrer Freiheit beschränkt sind, ist es notwendig, daß alle sich ohne Klagen und Widerstreben den wenigen unentbehrlichen Vorschriften fügen. Miß Wylie hat sich diesen Bedingungen nicht unterworfen. Sie erklärt, daß sie fortgehen will, und maßt sich ein Benehmen gegen mich und meine Kolleginnen an, das wir in Rücksicht auf uns selbst und auf ihre Mitschülerinnen nicht so hinnehmen können. Sollte Miß Wylie irgendeinen Grund haben, sich über ihre Behandlung oder über den Schritt, zu dem sie uns gezwungen hat, zu beklagen, so wird sie Ihnen das sicher mitteilen.
Vielleicht sind Sie so freundlich und setzen sich mit Miß Wylies Vormund, Mr. Jansenius, ins Einvernehmen. Ich werde dann mit ihm ein Abkommen treffen, da Sie ja das Schulgeld für das laufende Jahr schon bezahlt haben.
Mit vorzüglicher Hochachtung
Maria Wilson.
„Das ist ja eine hübsche, junge Dame!“ sagte Mrs. Jansenius.
„Das verstehe ich nicht,“ sagte Mr. Jansenius, der einen roten Kopf bekommen hatte, als er den Brief seines Schwiegersohnes las. „Ich kann das nicht fassen. Was bedeutet das, Ruth?“
„Ich weiß es auch nicht. Sidney ist wahrscheinlich verrückt, die Flitterwochen haben die Krankheit zum Ausbruch gebracht. Aber du darfst nicht dulden, daß er mir Henrietta wieder auf den Hals lädt.“
„Verrückt! Glaubt er vielleicht, er könnte sich seinen Pflichten gegen seine Frau entziehen, weil sie meine Tochter ist? Glaubt er, weil sein Großvater von mütterlicher Seite ein Baron war, er könnte Henrietta an die Seite werfen, sobald er ihrer Gesellschaft überdrüssig geworden ist?“
„Oh, das ist es nicht. An uns hat er gar nicht gedacht.“
„Aber ich werde dafür sorgen, daß er an uns denkt,“ schrie Mr. Jansenius mit lauter, aufgeregter Stimme. „Er soll mir Genugtuung geben.“
Grade jetzt trat Henrietta wieder ins Zimmer und sah ihren Vater wütend auf und ab gehen und mehrmals wiederholen: „Er soll mir Genugtuung dafür geben.“
Mrs. Jansenius winkte ihrer Tochter, daß sie ruhig bleiben sollte, und sagte begütigend: „Rege dich nicht auf, John.“
„Aber ich will mich aufregen. Verdammter Hund! Verfluchter Schurke!“
„Das ist er nicht!“ schluchzte Henrietta, indem sie sich hinsetzte und nach ihrem Taschentuch griff.
„Laß das nun endlich sein!“ sagte Mrs. Jansenius scharf. „Du hast genug geweint, ich will nichts mehr davon hören.“
Henrietta sprang leidenschaftlich auf. „Ich sage und tue, was ich will,“ schrie sie. „Ich bin eine verheiratete Frau und lasse mir nichts befehlen. Und ich will meinen Mann wieder haben, und wenn er sich wer weiß wo versteckt. Papa, kannst du ihn nicht veranlassen, zurückzukehren? Ich sterbe sonst. Versprich mir, daß du ihn zurückbringst.“
Dann warf sie sich ihrem Vater an die Brust und verhinderte jede weitere Auseinandersetzung, indem sie in einen Weinkrampf verfiel und das Haus durch ihr Geschrei in Aufruhr brachte.
Eine der Lehrerinnen in Alton College war eine Mrs. Miller, eine altmodische Schulmeisterin, die nicht an Miß Wilsons System, die Mädchen durch moralische Überredung zu erziehen, glaubte und sich nur unter Protest danach richtete. Sie war zwar nicht bösartig, aber doch engherzig genug, um manchmal kleinlich zu handeln, und sie hatte alle Welt im Verdacht, sie gering zu schätzen. Besonders glaubte sie das von Agatha und behandelte sie, wenn sie mit ihr zu tun hatte, was glücklicherweise selten war, mit verächtlicher Höflichkeit. Agatha fühlte sich dadurch nicht verletzt, denn Mrs. Miller war eine unsympathische Frau, die unter den Mädchen wenig Freundinnen hatte und alle ihre Herzensgefühle auf einen großen Kater namens Gracchus übertrug, den man meistens Bacchus nannte, indem man die harten Anfangsbuchstaben milderte.
Eines Nachmittags saß Mrs. Miller mit Miß Wilson im Arbeitszimmer und korrigierte einige Prüfungsarbeiten. Plötzlich hörte sie einen entfernten Schrei, der wie das Klagen einer Katze klang. Sie eilte an die Türe und lauschte. Gleich darauf erhob sich ein langgezogener Klagelaut, der durch zwei Oktaven hinaufging und dann langsam wieder abnahm. Es war wirklich das Schreien einer Katze, obgleich sie nicht bestimmen konnte, woher es kam. Aber jetzt folgte ein Kreischen und Fauchen, ein wütendes Spucken und Raufen, das ohne Zweifel aus einem Zimmer im unteren Stockwerk herausdrang, in welchem die älteren Mädchen zu studieren pflegten.
„Mein armer Gracchus!“ rief Mrs. Miller und lief so schnell die Treppe hinunter, wie sie konnte. Sie fand das Zimmer ungewöhnlich still. Jedes Mädchen war in das Lernen vertieft, nur Miß Carpenter, die so tat, als ob sie ein hingefallenes Buch aufhebe, saß da keuchend vor unterdrücktem Lachen, und alles Blut war ihr durch das Bücken in den Kopf gestiegen.
„Wo ist Miß Ward?“ fragte Mrs. Miller.
„Miß Ward holt einige astronomische Zeichnungen, die wir brauchen,“ sagte Agatha mit ernstem Blick. Grade jetzt kam Miß Ward mit den Zeichnungen in der Hand zurück.
„Ist dieser Kater hier gewesen?“ fragte sie, ohne Mrs. Miller zu bemerken, und in ihrem Ton lag ein starker Widerwillen gegen Gracchus.
Agatha fuhr auf und zog ihre Füße an sich, als fürchtete sie gebissen zu werden. Sie schaute aufmerksam unter das Pult und sagte dann: „Es ist kein Kater hier, Miß Ward.“
„Er muß aber irgendwo stecken, ich habe ihn gehört,“ sagte Miß Ward gleichgültig, indem sie ihre Zeichnungen aufrollte und sie ohne weiteres zu erklären begann.
Mrs. Miller, die um ihren Liebling besorgt war, beeilte sich, ihn anderswo zu suchen. Im Flur traf sie eins von den Hausmädchen.
„Susanna,“ sagte sie, „haben Sie Gracchus gesehen?“
„Er schläft vor dem Kamin in Ihrem Zimmer, Madame.“
„Aber ich hörte ihn doch vorhin hier unten schreien. Es ist sicher eine andere Katze eingedrungen, und sie haben sich gebissen.“
Susanna lächelte mitleidig. „Aber, Madame,“ sagte sie, „das war doch Miß Wylie. Sie spielt nur Theater. Sie macht die Biene an der Fensterscheibe, den Soldat im Kamin, die Katze unter dem Küchentisch. Alles ist so natürlich wie in der Wirklichkeit.“
„Den Soldat im Kamin!“ wiederholte Mrs. Miller entsetzt.
„Ja, Madame. Wie ein Liebhaber, der sich im Kamin verbirgt, weil er die Hausfrau kommen hört.“
Mrs. Millers Gesicht bekam einen entschlossenen Zug. Sie kehrte in das Arbeitszimmer zurück und berichtete, was grade geschehen war. Dabei machte sie einige spöttische Bemerkungen darüber, wie großartig die moralische Überredung die Disziplin in der Anstalt fördere. Miß Wilson machte ein ernstes Gesicht, überlegte eine Zeitlang und sagte schließlich: „Ich muß darüber nachdenken. Wollen Sie für den Augenblick die Sache in meine Hände legen?“
Mrs. Miller antwortete, es sei ihr gleichgültig, in wessen Händen sie bliebe, vorausgesetzt, daß sie selbst damit nicht mehr behelligt würde, und nahm ihre Korrekturarbeit wieder auf. Miß Wilson, die allein sein wollte, ging in das leere Klassenzimmer auf der andern Seite des Flurs. Sie nahm das Sündenbuch von dem Gestell und legte es vor sich hin. Seine Bekenntnisse schlossen mit einem Absatz in Agathas Handschrift.
„Miß Wilson nannte mich unverschämt und schrieb meinem Onkel, ich gehorchte nicht den Vorschriften. Aber ich war nicht unverschämt, und ich habe mich niemals geweigert, den Vorschriften zu gehorchen. Das nennt man moralische Überredung!“
Miß Wilson erhob sich zornig und rief: „Sie soll erfahren, ob —“ Sie stockte plötzlich und sah sich schnell um. Es überkam sie die schreckliche Idee, Agatha könnte sich unbemerkt in das Zimmer eingeschlichen haben. Nachdem sie sich überzeugt hatte, daß sie allein war, prüfte sie ihr Gewissen, ob sie nicht doch Unrecht getan hätte, als sie Agatha unverschämt nannte, und kam zu dem beruhigenden Beschluß, Agatha sei in der Tat unverschämt gewesen. Aber sie erinnerte sich auch, daß sie vor kurzem Jane Carpenter, die eine Mitschülerin eine Lügnerin genannt hatte, es nicht gestattet hatte, sich auf gleiche Weise zu rechtfertigen. War sie nun damals ungerecht gegen Jane gewesen oder jetzt rücksichtslos gegen Agatha?
Ihre Kasuistik wurde durch jemand unterbrochen, der leise eine Stelle aus der Ouvertüre des ‚Masaniello‘ pfiff, die in dem Pensionat beliebt war, weil man sie auf sechs Klavieren zwölfhändig spielen konnte. Nun gab es nur eine Schülerin, die unweiblich und musikalisch genug war, zu pfeifen, und Miß Wilson schämte sich, weil sie bei der Aussicht, mit Agatha zusammenzutreffen, nervös wurde. Agatha kam in trüber Stimmung und noch immer pfeifend herein. Als sie sah, in wessen Gegenwart sie sich befand, bat sie höflich um Verzeihung und wollte sich gerade wieder entfernen, als Miß Wilson, indem sie alle ihre Autorität und Sicherheit zusammennahm und hoffte, sie würde ihre anfängliche Verlegenheit schon überwinden, sagte:
„Agatha, kommen Sie einmal her. Ich möchte mit Ihnen sprechen.“
Agatha preßte ihre Lippen zusammen, atmete tief durch die Nasenflügel ein und trat bis auf einen Schritt an Miß Wilson heran, wo sie mit gefalteten Händen stehen blieb.
„Setzen Sie sich.“
Agatha setzte sich mit einer einzigen Bewegung hin, wie eine Puppe.
„Ich verstehe das nicht, Agatha,“ sagte sie, indem sie auf die Eintragung im Sündenbuch hinwies. „Was meinen Sie damit?“
„Ich werde ungerecht behandelt,“ sagte Agatha mit Anzeichen beginnender Erregung.
„In welcher Weise?“
„In jeder Weise. Man erwartet von mir, daß ich etwas mehr bin als andere Sterbliche. Jeder darf sich beklagen und schwach und töricht sein. Aber ich soll keine Gefühle haben. Ich muß immer in richtiger Verfassung sein. Alle andern können Heimweh haben, zornig werden oder niedergeschlagen sein. Ich darf keine Nerven haben und muß die andern den ganzen Tag am Lachen halten. Alle dürfen mürrisch werden, wenn man ein Wort des Vorwurfs an sie richtet, so daß die Lehrerinnen Angst haben, sie zu tadeln. Ich muß die Beschimpfung meiner Lehrerinnen ertragen, obgleich sie weniger Selbstbeherrschung haben als ich, ein Mädchen von siebzehn Jahren, und ich muß ihnen schmeicheln, bis ihre schlechte Laune, in die sie sich selbst gebracht haben, verschwunden ist.“
„Aber, Agatha —“
„Oh, ich weiß, ich rede Unsinn, Miß Wilson, aber können Sie von mir erwarten, daß ich immer vernünftig — daß ich unfehlbar bin?“
„Ja, Agatha, ich glaube, es ist nicht zu viel von Ihnen verlangt, immer vernünftig zu sein und —“
„Dann haben Sie selbst weder Vernunft noch Gefühl,“ sagte Agatha.
Es entstand eine peinliche Pause. Sie wußten beide nicht, wie lange sie dauerte. Agatha fühlte, sie müßte etwas Verzweifeltes tun oder sagen, oder sie müßte fliehen. Sie machte eine verstörte Bewegung und rannte aus dem Zimmer.
Sie traf ihre Kolleginnen in dem großen Saal des Hauses, in dem sie sich nach ihren Schulstunden zur ‚Erholung‘ versammelten. Diese Erholung war ein sehr geräuschvoller Vorgang, der stets sofort begann, wenn die Lehrerinnen gegangen waren. Agatha saß gewöhnlich mit ihren zwei besten Freundinnen auf einer hohen Fensterbank nahe am Herd. Diesen Platz hatte jetzt ein kleines Mädchen mit flachsgelbem Haar eingenommen, aber Agatha packte sie, ohne an das Prinzip der moralischen Überredung zu denken, bei den Schultern und setzte sie auf den Boden. Dann nahm sie ihren Platz ein und sagte:
„Kinder, ich weiß etwas ganz Neues!“
Miß Carpenter riß begierig ihre Augen auf. Gertrude Lindsay stellte sich gleichgültig.
„Jemand wird fortgejagt,“ sagte Agatha.
„Fortgejagt! Wer?“
„Du wirst es bald genug erfahren, Jane,“ entgegnete Agatha und wurde plötzlich ernst. „Es ist jemand, der eine unverschämte Eintragung in das Sündenbuch gemacht hat.“
Jane bekam plötzlich Angst, und sie wurde ganz rot. „Agatha,“ sagte sie, „Du hast mir gesagt, was ich schreiben sollte. Du weißt das und kannst es nicht leugnen.“
„Ich kann das nicht leugnen? Ich bin bereit, es zu beschwören, daß ich dir nie in meinem Leben ein Wort diktiert habe.“
„Gertrude weiß, daß du es getan hast,“ sagte Jane erbleichend und fast in Tränen.
„Ach, das Kind,“ sagte Agatha und streichelte sie, als ob sie ein Riesenbaby wäre. „Nein, es wird nicht weggejagt werden. Hat schon jemand in den letzten Tagen das Sündenbuch gesehen?“
„Seit unserer letzten Eintragung nicht mehr,“ sagte Gertrude.
„Knirps,“ sagte Agatha zu dem flachshaarigen Mädchen, „geh hinauf auf Numero 6, und wenn Miß Wilson nicht da ist, dann hol mir das Sündenbuch.“
Das kleine Mädchen knurrte etwas Undeutliches und rührte sich nicht.
„Knirps,“ fuhr Agatha fort, „hast du schon einmal gewünscht, nie geboren zu sein?“
„Warum gehst du nicht selbst?“ fragte das Kind eigensinnig, aber offenbar schon etwas in Angst.
„Denn du wirst den Wunsch haben,“ fuhr Agatha fort, ohne die Frage zu beachten, „daß du tot und begraben unter den schwärzesten Fliesen im Kohlenkeller liegst, wenn du mir das Buch nicht bringst, bevor ich sechzehn zähle. Eins — zwei —“
„Geh sofort und tu, was dir befohlen ist, du abscheuliches kleines Geschöpf,“ sagte Gertrude scharf. „Wie kannst du es wagen, ungehorsam zu sein?“
„— neun — zehn — elf —“ fuhr Agatha fort.
Das Kind bekam Angst. Es ging hinaus und kam gleich darauf wieder, das Sündenbuch mit den Armen umspannend.
„Du bist ein liebes, prächtiges Kind, sobald man deine besseren Eigenschaften durch strenge Anwendung der moralischen Überredung zum Vorschein bringt,“ sagte Agatha lustig. „Erinnere mich daran, daß ich dir morgen abend die Rosinen aus meinem Pudding aufhebe. Und jetzt, Jane, sollst du die Eintragung sehen, wegen derer das gutherzigste Mädchen aus der ganzen Schule weggejagt wird. Voilà!“
Die beiden Mädchen lasen es und waren entsetzt. Jane öffnete ihren Mund und schnappte nach Luft, Gertrude schloß ihre Lippen und sah sehr ernst drein.
„Du willst doch nicht sagen, du hast den schrecklichen Mut gehabt, das der Lady Abbeß zu zeigen?“ fragte Jane.
„Pah, das hätte sie mir schon vergeben. Aber ihr hättet hören sollen, was ich ihr gesagt habe! Sie wurde dreimal ohnmächtig.“
„Das ist ein Märchen,“ sagte Gertrude ernst.
„Was sagtest du?“ fragte Agatha, indem sie schnell nach Gertrudes Knie griff.
„Nichts,“ schrie Gertrude und wand sich krampfhaft. „Tu es nicht, Agatha.“
„Wie oft ist Miß Wilson in Ohnmacht gefallen?“
„Dreimal. Ich schreie, Agatha, ich schreie wirklich.“
„Dreimal, wie du sagtest. Und ich wundere mich, wie ein Mädchen, das, wie ihr, durch moralische Überredung erzogen wurde, solch eine Unwahrheit wiederholen kann. Aber wir hatten wirklich und wahrhaftig einen schrecklichen Streit. Sie verlor ihre Fassung. Glücklicherweise verliere ich die meine nie.“
„Den Teufel glaub ich das!“ rief Jane zweifelnd. „Aber nur weiter.“
„Du willst aus einer alten Familie stammen und bist überaus gewöhnlich. Ich weiß nicht, was ich ihr sagte, aber die Entweihung ihres teuren Buches wird sie mir nicht vergeben. Ich werde so sicher fortgejagt, wie ich hier sitze.“
„Was, du meinst, du gehst wirklich weg?“ fragte Jane und bekam Angst, als sie an die Folgen dieses Fortgehens dachte.
„Natürlich. Aber was aus dir werden soll, wenn ich dir nicht mehr bei deinen Aufgaben helfe, oder aus Gertrude, wenn ich ihr nicht mehr diese eingefleischte Vornehmtuerei austreibe, das weiß ich selber nicht.“
„Ich bin nicht vornehmtuerisch,“ sagte Gertrude, „obgleich ich mich nicht mit jedem gemein mache. Aber gegen dich habe ich nie etwas eingewendet, Agatha.“
„Nein, ich würde es dir auch nicht geraten haben. Hallo, Jane!“ rief sie, als diese plötzlich in Tränen ausbrach. „Was ist denn los? Hoffentlich erlaubst du dir nicht die Freiheit, meinetwegen zu weinen.“
„Ja, Agatha,“ schluchzte Jane unwillig. „Ich weiß, ich mache mich durch mein Mitgefühl lächerlich. Aber du hast kein Herz.“
„Gewiß machst du dich lächerlich, indem du das bei jeder Gelegenheit zeigst,“ sagte Agatha und schlang ihre Arme um Jane, ohne auf deren ärgerliches Sträuben zu achten. „Aber wenn ich wirklich etwas Herz hätte, würde ich jetzt durch diesen Beweis deiner Zuneigung gerührt sein.“
„Nie habe ich gesagt, du hättest kein Herz,“ widersprach Jane. „Ich kann nur nicht leiden, wenn du wie ein Buch sprichst.“
„Du kannst nicht leiden, wenn ich wie ein Buch spreche? Meine liebe, närrische alte Jane! Ich werde dich sehr vermissen.“
„Jawohl, das wirst du,“ sagte Jane mit bitterer Ironie. „Wenigstens wird dich jetzt mein Schnarchen nicht mehr im Schlafe stören.“
„Du schnarchst ja gar nicht, Jane. Wir haben uns nur verschworen, dir das einzureden. Ist es nicht schön von mir, daß ich dir das erzähle?“
Jane war überwältigt von dieser Aufklärung. Nach einer langen Pause sagte sie in tiefer Überzeugung, „das wußte ich schon immer, daß ihr das tatet. Aber die Art, wie ihr es durchführtet! Ich erkläre hiermit feierlich, daß ich von jetzt ab niemand mehr glauben will.“
„Nun, und was denkst du über die ganze Sache?“ fragte Agatha, indem sie ihre Aufmerksamkeit Gertrude zuwandte, die sehr ernst geworden war.
„Ich denke — und ich meine es wirklich so, Agatha — daß du vollständig im Unrecht bist.“
„Bitte, warum denkst du das?“ fragte Agatha etwas erregt.
„Du mußt es sein, sonst wäre Miß Wilson nicht böse über dich! Natürlich, nach deiner eigenen Darstellung bist du immer im Recht, und alle andern haben unrecht. Aber du hättest das nicht in das Buch hineinschreiben sollen. Du weißt, ich spreche als deine Freundin.“
„Bitte, was weiß deine armselige kleine Seele von meinen Gedanken und Gefühlen?“
„So schwer ist das nicht, dich zu verstehen,“ entgegnete Gertrude gereizt. „Eigendünkel ist keine solche seltene Sache, daß man ihn nicht erkennen könnte. Und denke daran, Agatha Wylie,“ fuhr sie, wie von einer unerträglichen Erinnerung angestachelt, fort, „wenn du wirklich fortgehst, dann ist es mir gleich, ob wir als Freundinnen scheiden oder nicht. Ich hab den Tag nicht vergessen, da du mich eine boshafte Katze nanntest.“
„Ich habe es bereut,“ sagte Agatha ruhig. „Ich habe mich einmal hingesetzt und Bacchus beobachtet, der auf dem Feuerplatz saß. Er blickte mit seinen träumerischen Augen so gedankenvoll und geduldig in die Ferne, daß ich ihn um Verzeihung bat, weil ich ihn mit dir verglichen habe. Wenn ich ihn eine boshafte Katze nannte, er würde es mir einfach nicht glauben.“
„Weil er wirklich eine Katze ist,“ sagte Jane mit dem Lächeln, das meist so schnell auf Tränen folgt.
„Nein, aber weil er nicht boshaft ist. Gertrude bewahrt ein Sündenbuch in ihrem eigenen kleinen Kopf, und es ist so voll von andrer Leute Sünde — alle in großen Buchstaben hineingeschrieben und durch ein Vergrößerungsglas zu lesen — daß sie keinen Platz hat, ihre eigenen einzutragen.“
„Du drückst dich sehr poetisch aus,“ sagte Gertrude. „Aber ich verstehe, was du meinst, und ich werde es nicht vergessen.“
„Du undankbarer Wicht,“ schrie Agatha, indem sie sich so plötzlich und heftig gegen sie wandte, daß sie unwillkürlich zur Seite wich. „Wie oft habe ich nicht, wenn du unverschämt und falsch gegen mich sein wolltest, deinen bösen Engel vertrieben, indem ich dich kitzelte? Hattest du, bevor ich hierher kam, eine Freundin in der Anstalt, außer einem halben Dutzend Bauernmädchen? Und jetzt, weil ich dich manchmal zu deinem eigenen Nutzen auf deine Fehler aufmerksam gemacht habe, hegst du Groll gegen mich und sagst, es sei dir gleichgültig, ob wir als Freundinnen scheiden oder nicht!“
„Das habe ich nicht gesagt.“
„Oh, Gertrude, du weißt ganz gut, daß du es gesagt hast,“ bemerkte Jane.
„Du denkst wohl, ich hätte kein Gewissen,“ sagte Gertrude jammernd.
„Ich wollte, du hättest keins,“ sagte Agatha. „Sieh mich an! Ich habe kein Gewissen und weiß, wieviel vergnügter ich dabei bin.“
„Du kümmerst dich nur um dich selbst,“ sagte Gertrude. „Nie glaubst du, daß andere Leute auch Gefühle haben. Auf mich nimmt überhaupt niemand Rücksicht.“
„Oh, so hör ich dich gerne reden,“ rief Jane ironisch. „Auf dich wird überhaupt viel mehr Rücksicht genommen, als dir gut tut. Und je mehr man auf dich Rücksicht nimmt, desto größere Ansprüche stellst du.“
„Der Appetit,“ deklamierte Agatha theatralisch, „kommt mit dem Essen. Das wußte auch schon Shakespeare.“
„Zum Henker mit Shakespeare!“ sagte Jane ungestüm. „Der alte Narr bildet sich etwas darauf ein, daß er abgedroschene Redensarten vorträgt. Aber wenn du dich beklagst, Gertrude, weil auf dich keine Rücksicht genommen wird, was soll ich denn sagen, die von allen zum Narren gehalten wird? Aber ich bin nicht so närrisch wie —“
„Wie du aussiehst,“ warf Agatha dazwischen. „Ich hab es dir unendlich oft gesagt, Jane, und es freut mich, daß du dich endlich zu meiner Meinung bekehrt hast. Was möchtest du lieber sein, ein größerer Narr als du —“
„Oh, halt ein,“ sagte Jane ungeduldig, „du hast mich das diese Woche schon zweimal gefragt.“
Die drei schwiegen hierauf eine kurze Zeit. Agatha überlegte, Gertrude war verdrießlich, Jane gedankenlos und unruhig. Schließlich sagte Agatha:
„Dann leidet ihr zwei wohl auch unter der Rücksichtslosigkeit und Selbstsucht der andern, die euch mißverstehen, die alles von euch erlangen und nie Entschuldigungen für euch gelten lassen?“
„Ich weiß nicht, was du damit meinst, daß wir zwei darunter auch leiden!“ sagte Gertrude kühl.
„Ich ebenfalls nicht,“ sagte Jane ärgerlich. „Das ist doch grade die Art, wie alle mich behandeln. Du kannst lachen, Agatha, und sie mag ihre Nase rümpfen, wie sie will, du weißt, daß es wahr ist. Gertrudes Idee, uns einzureden, es würde nicht genug Rücksicht auf sie genommen, ist weiter nichts als Gefühlsduselei, Eitelkeit und Blödsinn.“
„Sie sind außerordentlich roh, Miß Carpenter,“ sagte Gertrude.
„Meine Manieren sind so gut wie die Ihrigen und vielleicht besser,“ entgegnete Jane. „Meine Familie ist sicher so gut.“
„Kinder, Kinder,“ sagte Agatha in ermahnendem Tone, „vergeßt nicht, daß Ihr geschworene Freundinnen seid.“
„Wir haben nicht geschworen,“ sagte Jane. „Wir wollten drei geschworene Freundinnen werden, und Gertrude und ich waren auch dabei, aber du wolltest nicht schwören, und so wurde nichts aus der Sache.“
„So ist es,“ sagte Agatha. „Und jetzt verschwende ich all meine Zeit, um zwischen euch Frieden zu halten. Aber, um auf unser Thema zurückzukommen, ist es einer von euch schon einmal in den Sinn gekommen, daß niemand auf mich Rücksicht nimmt?“
„Ich glaube, du hältst das für etwas Spaßhaftes. Du handelst wirklich danach, daß man auf dich Rücksicht nimmt,“ sagte Jane spöttisch.
„Du kannst nicht sagen, ich nähme keine Rücksicht auf dich,“ sagte Gertrude vorwurfsvoll.
„Ja, weil ich dich kitzle.“