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Beinahe wäre dieses Buch niemals veröffentlicht worden. Zuviel Sprengkraft birgt das Material, das über viele Jahre als gechannelter Text aufgezeichnet wurde. In diesen sensationellen Durchgaben werden die Umstände der Kreuzigung als geschickt inszenierte Täuschung beschrieben, denn es gilt nur ein Ziel zu erreichen: Jesus vor dem Tod am Kreuz zu retten. Überaus lebendig und spannend werden sein weiterer Lebensweg und das Schicksal seiner engsten Begleiter bis zum überraschenden Schluss erzählt. "Das neue Christus-Geschehen kann nicht beginnen, solange die wahren Umstände des vergangenen Christus-Geschehens nicht ans Licht gekommen sind."
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Seitenzahl: 441
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Christine Kolbe
Der andere Jesus
Neue Einblicke in das Christusgeschehen
Smaragd Verlag
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© Smaragd Verlag, 56269 Dierdorf
Erste Auflage: Juni 2021
© Cover: preData
© Fischezeichen: Webdesign Kolbe
Umschlaggestaltung: preData
Satz: Gaby Heuchemer
ISBN (epub) 978-3-754130-42-1
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Für Karim
Vorwort
Es war ein Winterabend im Jahr 1987, als ich meinen ersten Versuch unternahm, automatisch zu schreiben. Ich hatte davon gelesen und glaubte nicht ernsthaft, eine automatische Handschrift verfassen zu können. Zu meiner großen Überraschung begann meine Hand selbständig Linien und Kurven zu zeichnen, bevor die ersten Worte in einer mir untypischen Handschrift auftauchten. Der erste Satz lautete: „Am anderen Ufer ist alles anders.“ Es folgte ein kurzer Text über das „Leben“ in einer anderen Dimension, und diese erste Durchgabe wurde von meiner Großmutter Elisabeth unterschrieben. Ich war beeindruckt. Diese, 1926 schon jung verstorbene Großmutter war in meinem Denken so gar nicht präsent. Sie starb, als mein Vater elf Jahre alt war, und es gibt so gut wie keine Details oder Erinnerungen aus ihrem Leben.
In der Folge schrieb meine Großmutter Elisabeth in fest vereinbarten Schreibsitzungen auf über 1500 dicht beschriebenen Seiten über das jenseitige Leben, aber auch über unser physisches und psychisches Sein, unser Unterbewusstsein, unsere Seele und Reinkarnation. Eine ihrer Kernaussagen lautet: „Nichts geschieht zufällig. Allem Geschehen liegt ein tieferer Sinn zugrunde, und wir Menschen sind ewige Wesen.“
Ich betrachte es als meine persönliche spirituelle Ausbildung und oftmals griff sie meine aktuelle Lebenssituation auf, um mir ihre Sicht auf die Dinge zu vermitteln. Eine kostbare Quelle intensiver Informationen über unser zuweilen unübersichtliches physisches Leben.
Ende der Neunzigerjahre änderte sich diese Art der Durchgaben, und ich wurde mit der Frage konfrontiert, ob ich fortlaufende Texte zu einem bestimmten Thema verfassen möchte. Zum ersten Mal richteten sich die Durchgaben nicht mehr an mich persönlich, sondern begannen eine Geschichte zu erzählen, die thematisch und in ihrem zeitlichen Kontext mit meinem Leben gar nichts zu tun hatte. Es sollte eine Geschichte über Jesus, sein Leben, Wirken und seinen vermeintlichen Tod werden.
Meine Überraschung und meine Neugier waren groß, und ich begann, Schreibsitzungen für die Durchgabe dieser Geschichte abzuhalten. Zu diesem Zeitpunkt war ich nicht sehr vertraut mit dem Neuen Testament und dem Leben von Jesus von Nazareth, der in dieser Geschichte „Jeheshua“ genannt wird. Angetrieben davon, den Fortgang der Geschichte zu erfahren, wuchs das Material, und mit jeder neuen Durchgabe wurde die Brisanz der Geschichte deutlich: Er starb nicht am Kreuz!
Vielleicht war genau das der Grund, warum das Material, das in Etappen über einen Zeitraum von zwölf Jahren entstand, nach seiner Fertigstellung in einer Schublade meines Schreibtisches verschwand.
Mir wurde offenbar, dass dieses Material in die Welt gebracht werden musste, aber genau davor schreckte ich zurück. Wie würde es aufgenommen werden, und was würde mit mir als Mittlerin geschehen? Wohl wissend, dass die Durchgaben eine wichtige Aufgabe bedeuteten, konnte ich mich nicht dazu durchringen, sie zu veröffentlichen. Sie lasteten auf mir wie ein unlösbares Problem.
Und beinahe hätte mich auch jetzt, nachdem ich mich endlich entschlossen hatte, sie der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, mein ganzer Mut wieder verlassen, als sich beim Lektorat die Geschichte als teilweise unlogisch, unzusammenhängend und langatmig erwies.
In der Tat sind die Durchgaben an manchen Stellen widersprüchlich und unübersichtlich, und mir ist mein Unvermögen als Vermittlerin durchaus bewusst. Aber ich habe mich dennoch entschieden, die Texte nicht zu verändern und so authentisch wie möglich zu erhalten. Es wurden nur marginale Korrekturen vorgenommen, und es ist dem Leser anheimgestellt, sich selbst ein Urteil zu bilden. Es schien mir unzulässig, Texte zu verändern, deren Verfasserin ich nicht bin. Gleichwohl ist es in gewisser Weise mein Werk, denn ich musste das Empfangene in Worte übersetzen, die in ihrer Sprache und in ihrem Ausdruck für mich altmodisch und ungewöhnlich waren. Gewiss ist es mir oft nicht gelungen, und ich vermute, dass die Ungereimtheiten und Entstellungen genau darauf zurückzuführen sind. Ganz besonders schwierig war es für mich, Namen von Personen und Orten zutreffend zu erfassen. Maria Magdalena wird zuweilen „Miriam“ genannt. An anderer Stelle konnte ich gar nichts auffangen, und so befinden sich dort Leerstellen im Text, die durch eckige Klammern gekennzeichnet wurden.
Aber in ihrem Kern scheinen mir die Durchgaben gelungen zu sein und im Wesentlichen das zu erfassen, was gesagt werden sollte.
Und erst in diesem Jahr wurde mir bewusst, dass mit den Durchgaben ein wirklich wichtiger Auftrag verbunden war und ich die Texte nicht länger für mich behalten kann. Viele meiner Kunstwerke als Malerin haben etwas mit dieser Geschichte zu tun, auch wenn es mir lange Zeit so schien, als wäre das Thema weit entfernt von mir.
Zurückblickend erscheint es mir heute als Teil meiner Lebensaufgabe und zentraler Aspekt meiner kreativen Arbeit.
Christine Kolbe
Im Juni 2020
Einführung
Durchgabe vom 21.06.2005
Kein Ereignis der jüngeren Menschheitsgeschichte ist vieldeutiger, mysteriöser und umstrittener als das des Christusgeschehens.
Alles, was von Geschichtsschreibern, Beobachtern und Aposteln überliefert ist, wurde über Jahrhunderte hinweg zensiert, entstellt, berichtigt und den allgemeinen Zwecken dienlich gemacht. Noch immer schlummern Manuskripte an verborgenen Orten, die Licht in die ungeklärten Lebensumstände des Mannes namens Jesus bringen könnten. Doch auch noch in diesen Tagen werden Materialfunde, die nicht in das allgemeine Bild passen, aussortiert, unter Verschluss gehalten oder als unzutreffend eingestuft.
Das vorliegende Buch erzählt die Geschichte der Ereignisse, wie sie noch niemals dokumentiert wurde, wie sie sich aber gleichwohl so zugetragen haben könnte. Vielen Skeptikern der althergebrachten überlieferten Version des Lebens und Wirkens Christi wird diese Geschichte Stoff zum Nachdenken geben, und jeder, der sich bisher über den allgemeinen Wissensstand hinaus noch niemals damit beschäftigt hat, wird eine spannende und überaus plausible Geschichte vorfinden, die durchaus den Rahmen dessen, was bisher geschrieben wurde, sprengen wird.
Seine magischen Werke, sein mysteriöser Tod, sein Verschwinden aus der Grabkammer und sein tatsächlicher Verbleib werden anschaulich und überaus glaubwürdig beschrieben. Könnte es nicht so gewesen sein? Niemand kann heute mit Bestimmtheit sagen, wie sich alles zugetragen hat. Sogar die physische Existenz Jeheshuas, so sein hebräischer Name, wird zuweilen angezweifelt.
Diese Geschichte entwirft ein lebendiges Bild Judäas im Jahre 33 n.Chr. im Schatten der römischen Besatzung und der spirituellen Strömungen jener Zeit. Es ist eine Geschichte für alle, die an der Thematik interessiert sind, und eine überraschende Beschreibung der Umstände seines vermeintlichen Todes und der Zeit danach, die bis heute im Dunkeln liegen und nun erstmalig erhellt werden.
Der Fisch ist ein geheimes Zeichen der Anhänger Jesu in Zeiten der Verfolgung.
Es wird berichtet, dass man einander erkannte, indem man einen Halbbogen in den Sand malte. Vollendete der andere das Zeichen zu einem ganzen Fisch, gehörte er zu ihnen.
An eine Hauswand gemalt sagte es den Anhängern: Hier wohnt einer von uns.
1. Passahfest
Das große Tor wurde zur Nacht geschlossen. Mit lautem Getöse fiel es zu, und die Wächter verriegelten es mit dicken Eisenketten. Der Wachtposten auf der Mauer saß gähnend auf seinem Schemel. Blinzelnd blickte er nach Westen, wo die Sonne wie ein glühender Ball ihre letzten rot gefärbten Strahlen über das Land schickte.
Die kleine Karawane kam aus den Bergen des Sinai hinab in die Ebene.
Wenn die Stadttore verschlossen waren, wurde das Gelände unterhalb der Mauern lebendig. Die Verstoßenen, Aussätzigen und Bettler führten hier ihr grausames Regiment. Wer seine Beute oder erbettelte Habe nicht mit den anderen teilte, wurde verdroschen und wüst misshandelt. Deshalb brachten alle, soweit es sich nicht verbergen ließ, ihre ergaunerten Schätze wie Münzen, Brot, Käse, Weinschläuche und Früchte hierher auf den staubigen Platz unterhalb der Mauer, wo der Bettlerfürst streng und unnachgiebig regierte.
An diesem Tag saß ein Zwerg unter ihnen, den sie in der Gemeinschaft den Buckligen nannten. Er war eher gefürchtet als geachtet. Dennoch brachte man ihm Respekt entgegen, wenngleich sein Äußeres abstoßend war und seine fauligen Zähne einen üblen Geruch verbreiteten. Man sagte ihm nach, er stünde mit den Geistern im Bunde, und so manches Mal war es geschehen, dass er sich in Krämpfen am Boden wand und wirres Zeug von sich gab. Mal waren es unartikulierte Laute, mal Stimmen, die in fremden Sprachen schrill und unverständlich klangen.
Meistens war es jedoch die Sprache, die sie alle verstanden, und die Worte, die gurgelnd aus seiner Kehle quollen, jagten allen Schrecken und Angst ein. Es waren Worte des Zorns und der Zerstörungswut. Worte, die den Untergang von allem ankündigten und so lebendig beschrieben, dass die Umstehenden vor Angst das Weite suchten.
Manchmal sprach die wortgewandte Stimme Einzelne mit fremdem Namen an, wusste um ihre Geheimnisse und sorgte so für Tumult und Unfrieden. Man fürchtete diese Schrecken verbreitenden Anfälle, die den armen Buckligen so plötzlich überfielen, dass man sich nicht darauf vorbereiten konnte.
An diesem Abend, als das Bettelvolk beim Feuer unterhalb des großen Mauervorsprungs beisammen saß, um die heutige Ausbeute zu inspizieren, blickten alle nervös auf den Zwerg, der ahnungslos auf ein paar trockenen Datteln herumkaute.
Heute war Vollmond, und das war stets der Fall, wenn er in diesen gefürchteten Zustand fiel. Oftmals hatte er die kleinen und gro-ßen Vergehen, wie zur Seite gebrachte Diebesbeute oder Ähnliches, das unter dem Bettelvolk streng geahndet wurde, zur Sprache gebracht. Und hätte der Bettelfürst nicht ein so waches Auge auf den Zwerg gehabt, wäre er längst hinterrücks ermordet worden, um den gefürchteten und abscheulichen Darbietungen für immer ein Ende zu machen.
Auch heute beäugten ihn die Umstehenden mit dem ängstlichen Seitenblick der Verschwörer, die doch wieder ein paar Schekel zur Seite gebracht hatten, schon um sich auf der anderen Seite der Stadt eine Frau zu kaufen oder andere Geschäfte zu tätigen, von denen niemand etwas wissen sollte. Jeder, der gegen die Abmachung verstieß, wurde bestraft und aus der Gemeinschaft ausgestoßen, es sei denn, er gelobte, noch größere Beute beizubringen, um den Bettelfürst milde zu stimmen und die Gruppe zu besänftigen, damit sie ihn nicht gleich totschlugen.
Der Zwerg genoss diese gefürchtete Position. Er wusste nachher nicht, was mit ihm geschehen war, aber dass es etwas Besonderes gewesen sein musste, sah er in ihren Gesichtern. Niemals erfuhr er Genaues darüber, und er wollte es auch nicht wissen, solange er in der Gunst des Oberhauptes stand und täglich seine Ration an Wein, Brot und Münzen bekam, die unter allen verteilt wurde.
Die Gruppe hatte sich auf den staubigen Steinen rund um das Feuer niedergelassen und begann, ihre verteilte Habe zu verzehren und einige der Weinschläuche kreisen zu lassen, bevor sie sich zur Nacht auf den Mauervorsprüngen einrichteten, den Kopf auf ein Bündel Lumpen gebettet und mit ein paar Fellen notdürftig zugedeckt.
***
Mittlerweile war es dunkel geworden. Der helle Vollmond spendete so viel Licht, dass die kleine Karawane weiter auf die Stadt zuschritt, gemächlich, mit schwer beladenen Eseln und einem Tross von Fußvolk, das sich kein Gefährt erlauben konnte. In ihrer Mitte war ein Mann mittleren Alters, den sie den Magier nannten. Er trug einen roten Turban und um die Hüften einen braunen Ledergürtel, der mit seltsamen Zeichen reich verziert war. Seine Sprache war Arabisch, aber er verstand auch den Dialekt dieser Gegend, obwohl er ihn nur gebrochen sprach. Sein Ziel war die Stadt, die zur Sonnenwende ein großes Fest feierte und wo er als Wahrsager und Heiler sein Geld verdiente. Sein größter Erfolg war es, den Frauen, die nicht gebären konnten, zu der ersehnten Schwangerschaft zu verhelfen.
Heute wollten sie die Stadt erreichen, um dann am frühen Morgen durch das Stadttor zu ziehen und ihre Waren auf den Marktplätzen feilzubieten.
Abdul Ben Massa hatte ein kurzes Schwert unter dem langen, braunen Wollumhang verborgen. Man wusste, dass sich das Gesindel an der Stadtmauer niederließ, und er wollte vor Überraschungen sicher sein. Sein Kaftan wehte im Wind und eine frische Brise kam vom Meer herüber.
Sein Pferd, ein ausgemergelter Gaul, war darauf trainiert, auf die kleinste Berührung zu reagieren und konnte, wenn nötig, in einen schnellen Sprint fallen, um eventuellen Angreifern zu entkommen.
Sie ließen sich unter den Palmen nieder, die unweit der Stadt einen kleinen Hain bildeten. Wachen wurden postiert, und eine Gruppe jüngerer Frauen begann damit, Feuer zu machen, um noch vor der Nacht ein Essen zu bereiten. Abdul hielt sich abseits von der Gruppe. Er liebte es nicht, von den anderen umringt zu sein. Eine eigentümliche Unruhe hatte ihn ergriffen und so blickte er sich um, ohne genau zu wissen, was er eigentlich suchte.
Die Bettler hatten die Karawane kommen sehen, wagten aber nicht, mit Knüppeln und Steinen gegen die gut bewaffneten Posten vorzugehen. Sie würden am Morgen auf dem Marktplatz zu stehlen und zu betteln versuchen. Stets boten sie bereitwillig ihre Dienste an. Sie halfen beim Abladen der Waren, schleppten Wasserkrüge oder gaben vor, betuchte Käufer anlocken zu können. Aber sie taten all dies nur, um in einem unbemerkten Augenblick etwas zu stehlen und verschwinden zu lassen.
Oft wurden sie deshalb verjagt, bevor sie in die Nähe der Waren kommen konnten. Aber oft genug bestachen sie die Wachtposten, die dann zufällig wegblickten, wenn in dem allgemeinen Tumult auf dem Marktplatz ein Schlauch Wein verschwand oder eine Ziege plötzlich fortlief und unter lautem Protest in den Gassen abhandenkam.
Als der Morgen graute, sprengten einige Reiter in langen weißen Kaftanen heran. Es waren Herolde des Königs, die dem Statthalter neue Nachrichten zu überbringen hatten. Unter lautem Rufen öffneten die Wachen die schweren Stadttore. Das Quietschen der eisernen Angeln wurde nur noch von den Rufen der Esel übertönt, die lauthals nach Wasser verlangten.
Die Reiter verschwanden schnell in den Gassen der Stadt, um sich zum Palast des Statthalters zu begeben, der bereits auf ihr Eintreffen wartete. Die Meute Hunde, die den Reitern den Weg versperrten, um im Unrat der Gassen zu stöbern, stob nach allen Seiten auseinander.
Einer, der durch seinen schwarzen Gürtel mit silbernen Emblemen augenscheinlich der Anführer war, zog eine große Umhängetasche unter seinem Sattel hervor. Seine Begleiter flankierten ihn, wie um ihn vor etwaigen Angreifern zu beschützen. Im Schein einer Fackel, die wie gewohnt die ganze Nacht über an dem Portal brannte, trat er auf den kleinen Einlass zu, der sich an der seitlichen Einfassung befand. Ein Murmeln, gefolgt von Schlüsselklappern, war zu hören, als die kleine Pforte sich öffnete und die Reiter, bis auf einen Wachtposten, in dem umfriedeten Gelände verschwanden.
Schon beim ersten Morgengrauen war er erwacht, schweißgebadet von einem verwirrenden und bedrückenden Traum. Wieder war er ihm im Traum begegnet, der, auf den die Juden warteten und der nun bald erscheinen sollte. Sein Bettzeug war vom Schweiß getränkt und sein Atem ging schnell und unregelmäßig. Es war nun schon das siebte Mal, dass er diesen Traum träumte, in dem er ihn, den sie den Messias nannten, zum Tode verurteilte und in dem eine innere Stimme ihm sagte, dass dies ewige Verdammnis bedeuten würde.
Beim Geräusch des nahenden Dieners schreckte er hoch und bedeckte sich mit einem weiten Mantel, damit sein Leibwächter seine Verfassung nicht erkennen konnte. Seit Wochen fühlte er diese Bedrohung, diese Angst, in etwas hineingezogen zu werden, das fürchterlich und grauenvoll war. Aber war es nur das, oder rührte die Angst noch aus einem anderen Grund, den zu erkennen er nicht wagte?
Der Diener stellte wortlos Brot und Früchte bereit und verließ das Gemach, das an diesem Morgen stickig und schwül war. In den Gassen der Stadt tummelten sich schon zu Hunderten die Händler, die in der ganzen kommenden Woche die Stadt in einen einzigen Basar verwandeln würden. Es gab buchstäblich nichts, was hier nicht angeboten wurde. Brot, Früchte, Wein, süße Kuchen mit Rosinen, Töpfe, Kupfergeschirr, irdene Gefäße, Krüge, Schuhe, Lederwaren, lebende Tiere, Leinen und golddurchwirkte Brokatstoffe, Wolle, Farben zum Färben und natürlich all die Mixturen der Quacksalber, die die ominösesten Salben und Pulver verkauften, allesamt angeblich hochwirksam und heilkräftig bei jedem Gebrechen, das man sich denken konnte.
Die Kräuterweiber blieben unter sich. Auf dem Marktplatz bildeten sie einen Reigen von aufgetürmten Bündeln getrockneter Kräuter, die in keinem Haus fehlen durften.
In der hintersten Ecke des Marktes hatte Miriam einen kleinen Tisch mit den kostbaren Salbölen ihres Vaters aufgebaut. Duftende Blütenessenzen und seltene Balsamöle, die aus der Rinde bestimmter Bäume mühsam gewonnen wurden und die für das einfache Volk unbezahlbar waren.
Sie selbst hatte ihr Haar mit Orangenblüten geschmückt, und einige Locken ihres rötlichen Haares waren ihr in die Stirn gefallen. Ihr Bruder half ihr beim Aufbauen der Waren. Kleine Tonkrüge, mit Wachs verschlossen, und große Schalen, mit Blüten und Kräutern gefüllt, die noch frisch den Ölen beigemengt wurden. Eine kleine Schale kostbaren Salböls war auch dabei, die sie seit Kindertagen mit sich trug und die sie niemals verkauft hätte. Sie hatte das Gefühl, dass dieses Öl für einen besonderen Anlass bestimmt war, der irgendwann in ferner Zukunft eintreten würde. Sie rückte die letzten Tonkrüge zurecht, als eilig dahinreitende Männer in weißen Umhängen Richtung Stadttor davonpreschten. Sie blickte ihnen nachdenklich nach. Was mochte sie so zur Eile antreiben?
Wenig später standen die ersten Käufer vor den Auslagen, beäugten die Waren, fühlten, probierten und feilschten, so, wie es immer war.
Der Lärm unzähliger Stimmen erfüllte die Gassen und drang in das Arbeitszimmer des Statthalters, der über die Schriften des Königs gebeugt saß. Sorgenfalten machten sich auf seiner Stirn breit. Er fächelte sich Kühle zu und las den letzten Abschnitt nun schon zum dritten Mal. Immer wieder stiegen Bilder aus dem Traum der vergangenen Nacht auf und schoben sich vor die Schriftstücke, die ausgebreitet vor ihm lagen. Er war Statthalter und in seiner Funktion auch oberster Richter, von dem unmissverständlich ein grausames Urteil gefordert wurde.
Er ließ sich schwer auf seinen Sessel fallen, um die Diener zu rufen, ihm ein Bad zu bereiten. Es war ihm, als könne er damit alle Sorgen von sich abwaschen.
Das leise Klirren von Glas ließ ihn aufschrecken. In dem wohlig warmen Wasser war er beinahe eingenickt. Der Diener reichte ihm einen Kelch mit frischem Most und eine Rebe mit reifen roten Trauben. Er verspürte keinen Appetit und ließ alles unberührt, um sich für die tägliche Audienzstunde anzukleiden. Seine Toga aus rotem Samt lag schwer auf seinen Schultern. Die goldene Kette zerrte an seinem Hals, wie sein Amt an seinen Nerven. Die Gedanken kreisten um die Schriftstücke und die Konsequenzen, die sich daraus für ihn ergaben. Heute sollte er eine Ansprache auf dem Balkon des Palais halten, um den Basar offiziell zu eröffnen. Dabei machte sich niemand die Mühe, auf diesen Auftritt zu warten. Man hatte bereits begonnen, die Waren feilzubieten, und niemand achtete mehr auf ihn, wie er schwankend dastand, die Augen zum Himmel gerichtet, so, als ob von dort Hilfe zu erwarten sei.
Er mochte eine Weile so dagestanden haben, als seine Gemahlin neben ihn trat –, die jubelnde Menge unter ihnen, die sich auf die kommenden Festtage freute. Sachte legte sie ihre Hand auf seinen Arm und blickte ihn fragend an.
Das Volk drängte sich in den Gassen, die von Staub und Hitze erfüllt waren. Überall türmten sich Warenberge, Ziegen und Esel, Hühner und anderes Getier liefen zwischen Körben mit Gemüse und Obst umher. Das kommende Fest wurde von jedermann sorgfältig vorbereitet. Den rituellen Reinigungen in den Badehäusern folgten strenge Fastentage, die mit Gebeten und Exerzitien ausgefüllt waren.
Nun war es an der Zeit, die Vorratskammern für das bevorstehende Fest zu füllen. In jedem Haus gab es die traditionellen Kuchen und Speisen, die nur zu diesem Anlass gebacken und zubereitet wurden. Alles fieberte dem Passahfest entgegen, und mit bunten Wimpeln wurden die Häuser gekennzeichnet, in denen in diesem Jahr ein Kind zur Welt gekommen war. Bei dem großen Gottesdienst wurden alle neugeborenen Kinder mit einem besonderen Segen versehen und damit in die jüdische Glaubensgemeinschaft aufgenommen.
Die Frauen trugen große Körbe mit den benötigten Lebensmitteln nach Hause. Alles wurde nach strengen Regeln in eigens dafür vorgesehenem Geschirr und Töpfen zubereitet. Die Zeit der faden Fastenspeisen war damit vorbei, und alle freuten sich auf das Beisammensein mit der Familie und dem ausgiebigen Speisen, das dem Besuch der Synagoge folgte.
Heute schien eine besondere Anspannung in der Luft zu liegen. Die Händler fuhren unwirsch ihre Zöglinge an, die Frauen kreischten und gerieten in Streit, das Vieh blökte unruhig, und einige Adler kreisten über der Stadt. Ein Zeichen, dass etwas Besonderes in der Luft lag.
Sollte es etwa wieder ein Erdbeben geben?, so fragte sich Miriam. Sie hatte feste Stammkundschaft, die für verschiedenste Zwecke regelmäßig das Öl bei ihr kaufte. Mal waren es Salbungen, die rituell bei Hochzeiten stattfanden, ebenso wie spezielle Öle, mit denen Neugeborene eingerieben wurden. Die Salböle zum Reinigen der Verstorbenen bewahrte sie extra in einem Korb unter dem schlichten Holztisch auf. Sie wollte das Auge der Käufer nicht darauf lenken.
An diesem Morgen hatte sie schon eine Vielzahl von Käufern bedient und gönnte sich nun einen Schluck aus dem tönernen Wasserkrug und ein Stück Käse mit Brot, das sie in ihrer Tasche bei sich trug. Zu gern wäre sie selbst über den Markt gezogen, um all die Auslagen zu bewundern. Besonders die Goldschmiede erregten ihre Aufmerksamkeit. Der Schmuck, der in kleinen Holzkästchen angeboten wurde, war nach arabischer Art reich mit filigranen Mustern und Emblemen verziert.
Miriam wusste, dass sich heute Abend viele Gäste im Haus ihres Onkels versammeln würden. Ihr Bruder hatte ihr von der geheimen Zusammenkunft erzählt, die sich im Kreis einer besonderen Bruderschaft abspielte und zu der nur Mitglieder zugegen waren. Sie wusste, dass ihr Onkel seit Jahren Führer dieser Bruderschaft war, doch war ihr niemals zu Ohren gekommen, worum sich ihre regelmäßigen Versammlungen eigentlich drehten. Sie hatte sich niemals Gedanken darüber gemacht, bis eines Tages ein besonderer Gast erwartet wurde, der bei Anbruch der Dunkelheit ungesehen ins Haus geführt wurde und ebenso unbemerkt wieder verschwand. Dieser fremde Gast musste von besonderer Bedeutung sein, und Miriam war neugierig, ob sie ihn wohl heute zu Gesicht bekam. Sie war dazu eingeteilt, beim Austeilen der Speisen zu helfen, und somit würde sie die Versammelten in Augenschein nehmen können.
„Miriam, träumst du?“, rief die Bäuerin, die neben ihr einen Stand mit wohlriechenden Kräutern aufgebaut hatte. Einige Käuferinnen standen vor ihren Tonkrügen, um über ihren Inhalt zu beratschlagen. Doch Miriam hatte nur in Gedanken versunken vor sich hingestarrt. Nun fuhr sie auf, um die Käuferinnen zu beraten. Verwirrt zog sie ihr Kleid glatt und begann die verschiedenen Öle zu beschreiben.
Im Amtszimmer des Statthalters hatte sich eine Gruppe hoher Vertreter des jüdischen Rates versammelt. Sie waren abgesandt, um die Feierlichkeiten der kommenden Tage mit dem Statthalter zu besprechen und seine Soldaten um Rücksicht auf ihre religiösen Stätten zu bitten. Immer wieder verletzten römische Soldaten die Verbotszone am großen Platz vor der Synagoge und betraten heiligen Boden, der nur den jüdischen Priestern und Gläubigen vorbehalten war. Dieses Sakrileg wurde von der Gemeinde sehr beklagt, und so war auch heute die Gesandtschaft der Priester hier erschienen, um ihn zu bitten, seinen Soldaten Zurückhaltung aufzuerlegen.
In diesen Tagen kamen viele Menschen aus weit entfernten Regionen in die Stadt, um das große Fest zu feiern. Doch gab es immer auch allerlei Unruhen und Tumulte, wenn die hitzigen Diskussionen um religiöse Auslegungen und die allgemeinen Anfeindungen zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen zu hohe Wellen schlugen. In diesem Fall war es den jüdischen Aufsichtsbeamten verwehrt, einzuschreiten, und römische Soldaten griffen oft allzu brutal ein, um die Streitenden zur Ruhe zu bringen. Daher waren in diesen Tagen die Gefängnisse überfüllt, und die bekanntermaßen immer wieder aufgegriffenen Streithähne wurden erst nach dem Fest wieder freigelassen.
Der Statthalter hörte sich die Klagen und Bitten der Priester ruhig an. Er war es leid, immer wieder schlichtend einzugreifen, aber wenn entscheidende Urteile gefällt werden sollten, wurde er gezwungen, in der einen oder anderen Weise zu entscheiden. Er fühlte sich wie ein Spielball zwischen rivalisierenden Gruppierungen, die ihn nach Belieben hinzuzogen oder ausschlossen. Und all dies tat er nur, um Ruhe in der Region zu bewahren, deren historische und traditionelle Feindseligkeiten für ihn nie genau zu durchblicken waren.
Auch heute wieder sollte er Soldaten dort postieren, wo die Priesterschaft es wollte, nicht jedoch da, wo ihre eigenen Wachtposten aufgestellt wurden. Manchmal wurde es ihm zuviel mit all den Regeln und den Sondergenehmigungen, die sie von ihm forderten.
Er kehrte in Gedanken in seine Heimat zurück, wo die religiösen Bräuche so viel einfacher und klarer waren. Es gab die einzelnen Feste, die den Göttern geweiht waren, und alle Welt konnte daran teilnehmen oder fortbleiben, ohne dass dies Züchtigungen und Sanktionen nach sich gezogen hätte. Er sehnte sich nach der Ruhe und Klarheit im Palast seines Vaters, wo alle Zeit das Leben nach eindeutigen Regeln ablief und alles seinen Platz hatte. Er verglich die Stadt hier mit einem Hexenkessel, einem Schlangennest im Vergleich mit seinem eigenen Zuhause.
Die Delegation verabschiedete sich, und er notierte einige Besonderheiten für den Dienstplan seiner Soldaten, die oftmals nur unwillig ihren Dienst versahen und von aller Welt nur verachtet und gehasst wurden. Das war kein Wunder nach der langen Belagerungszeit, die es jedoch niemals geschafft hatte, Ruhe und Ordnung in dieser Stadt zu schaffen. Was mochte das Passahfest dieses Mal wieder bringen? Schweiß rann ihm von der Stirn.
Der nächste Besucher war einer der wenigen Freunde, die er unter den Juden hatte. Er hatte ihn einst als Schlichter in den Auseinandersetzungen mit der Priesterschaft kennengelernt. Er war ein weiser und besonnener Mann, der immer wieder weitblickend und klug zu raten verstand. An diesem Morgen begrüßte er ihn besonders herzlich, war ihm dieser Gast doch immer willkommen.
Josef von Arimathäa war ein stattlicher Mann. Er überragte den Statthalter um Haupteslänge. Ein dichter dunkler Bart rahmte sein Gesicht ein, und seine hellen Augen blickten freundlich und weise in diese Welt.
Nach der Begrüßung setzten sie sich an den großen Tisch in der Mitte des Raumes. Ein Diener brachte kühle Getränke, und der Freund erkannte gleich, in welcher Gemütsverfassung sich der Prokurator1 befand. Sorgenvoll blickte er auf die Papiere, die die Oberfläche des Tisches bedeckten. Es waren unzählige Seiten, dicht beschrieben mit einer Vielzahl von Anweisungen und Erläuterungen, die er noch nicht annähernd durchgearbeitet hatte. Er wollte dies nicht seinem Sekretär Claudius überlassen, sondern selbst alles zuvor lesen, bevor er entschied, wie das eine oder andere von ihm umgesetzt wurde. Erneut hatte es in einem Viertel der Stadt Streitigkeiten darüber gegeben, wer die Treppe zuerst benutzen dürfe und welche Waren dort zu transportieren erlaubt waren, und welche nicht.
Solche ermüdenden Streitigkeiten kamen allenthalben auf seinen Tisch und wurden dann an untergebene Mitarbeiter weitergegeben. Die sorgenvolle Miene bezog sich nun nicht auf derartige Nichtigkeiten, sondern auf ein Dokument, in dem ein bevorstehender Prozess bereits in seinem Ausgang vorweggenommen wurde. Eine Vielzahl solcher Prozesse und Verurteilungen hatte er schon vorgenommen, doch dieses Mal, das spürte er deutlich, überschritt er seine Befugnisse.
Josef hatte still und mit ernstem Gesicht zugehört, als der Prokurator ihm seine Sorge mitgeteilt hatte. Er wusste, er würde ihm vertrauen können. Oft schon hatte er weitblickend Rat gewusst, besonders in Angelegenheiten, die religiöser Natur waren.
Josef fuhr sich mit der Hand über die Augen. Er hatte befürchtet, dass man das Passahfest dazu benutzen würde, um seiner habhaft zu werden und vor aller Welt ein Exempel zu statuieren.
Die ganzen letzten Monate hatte er diese latente Bedrohung gespürt, unwirklich und doch real. Viele Male hatten sie im engsten Kreis darüber diskutiert, welchen Ausweg es geben könnte. Nach monatelangen Diskussionen waren sie übereingekommen, einen Ausweg zu wählen. Dies war der Anlass seines Besuches gewesen. Dass nun der Prokurator selbst auf diesen Prozess zu sprechen kam, überraschte ihn. Er hatte nicht geglaubt, dass es so schnell gehen würde und der Hohe Rat die Verurteilung würde fordern können. Eine Weile saßen sie schweigend da.
„Nun, mein Freund, was wirst du mir raten in dieser schweren Stunde? Schon zum siebten Mal ist er mir im Traum erschienen, gottgleich mit strahlendem Gesicht. Sag mir, bist du ihm je begegnet, und stimmt es, was sie über ihn sagen?“
Josef antwortete nicht gleich. Er war sich darüber im Klaren, dass, wenn er die ganze Wahrheit zur Sprache brächte, er vielleicht das Vertrauen des Freundes verlöre. Er wollte ihn aber auch nicht hintergehen oder Unwahres antworten.
„Nun“, sprach er, „ich bin ihm begegnet. Und ich bin von seiner Lehre und von seinen Reden auf das Tiefste beeindruckt. Wenn er spricht, verwandelt sich die Welt, und es kehrt eine solche Stille und Ehrfurcht ein, dass niemand auch nur wagt, ihn zu stören oder das Wort zu erheben. Ich bin viele Male Zeuge dieser Kundgebungen geworden, bevor er im Geheimen zu lehren begann, und ich versichere dir, er ist der, auf den wir gewartet haben.“
Der Statthalter hatte mit weit aufgerissenen Augen zugehört. Er war zutiefst überrascht, aus dem Munde eines so besonnenen Mannes solche Worte zu hören.
„Ist es wahr, Josef, dass auch du dazugehörst?“
„Ja, es ist wahr, und ich werde dir auch erklären, wie es dazu kam.
Ich war im Hause eines Freundes in Kapernaum. Er war sterbenskrank und die Familie hatte schon die Totenwache holen lassen. Alle waren davon überzeugt, dass der Mann in wenigen Minuten versterben würde. Mein Freund rief ihn zur Hilfe und wenig später sah ich ihn zum ersten Mal. Als er den Raum betrat, ging ein Raunen durch die Reihen. Eine Ruhe und ein Glanz umgaben ihn, wie ich es noch nicht einmal bei den hohen Feiertagen in der Synagoge erlebt habe. Er murmelte nur wenige Silben, währenddessen hielt er die Augen geschlossen, und eine Hand erhob er über die Bettstatt des Sterbenden. Wir alle waren auf die Knie niedergefallen. Es geschah etwas Heiliges, überaus Wesentliches. Wir achteten nicht mehr auf den Grund seines Kommens, so gebannt waren wir von seiner Person und seiner Aura.
Wenig später schlug der Sterbende die Augen auf, sein Gesicht leuchtete und er sprach unverständliche Worte. Der Fremde nickte und ging schweigend davon. Das war das erste Mal, dass ich ihm begegnete. Später habe ich seinen Belehrungen zugehört, habe die wahre Lehre erkannt, die er spricht, und bin ihm viele Male begegnet, wo immer es möglich war. Mal hat er geheilt, mal Streit geschlichtet oder einmal sogar Hunderte von Anhängern gespeist, indem er wundersam die wenigen Lebensmittel vermehrte. Er kommt von Gott zu den Menschen, und es liegt eine große Gnade darin, ihm zu begegnen.“
Der Statthalter hatte staunend zugehört. „Dann stimmt es also, was sie über ihn sagen, er sei von den Göttern gesandt und mit besonderen Gaben ausgestattet?“ Josef nickte.
Der Wunsch, ihm ebenfalls zu begegnen, stieg in ihm auf. Warum nur, so dachte er bei sich, war der Unglückselige mit dem Hohen Rat so streng verfahren, hatte sie Heuchler und Brudermörder genannt? Warum war er für sie gefährlich, so bedrohlich, dass sie seinen Tod forderten? Er bedauerte es in diesem Moment, ihm nicht selbst begegnet zu sein, um ihn zu fragen, warum er all dies auf sich zöge, wenn er weiter in der Öffentlichkeit auftrat mit seinen aufrührerischen Ideen.
„Josef“, so sprach er nun, „ist es möglich, dass auch ich ihm begegne, ohne dass jemand etwas davon erfährt, ohne in Amt und Würden zu sein? Sag, ist es möglich? Es liegt mir sehr viel daran, mir selbst ein Bild von ihm zu machen, bevor ich ihm den Prozess machen muss. Sag, ist es möglich?“
Eindringlich klang seine Stimme und Josef nickte nur still.
„Komm heute Abend zu meinem Haus. Komm allein, ohne deine Leibgarde. Ich werde dir meine Söhne schicken, dich zu begleiten. Nimm einen einfachen Umhang und sorge dafür, dass niemand dir folgt.“
Mit diesen Worten erhoben sie sich, umarmten sich kurz und Josef verließ das Palais mit schnellen Schritten.
Es war kein Laut zu hören, als er unbemerkt das Haus verließ. Josefs Söhne warteten bereits. Sein dunkler Umhang verbarg auch sein Gesicht und das schlichte Gewand, das er an diesem Abend trug. Er hatte all seinen Schmuck abgelegt und sorgsam darauf geachtet, mit einfachen Sandalen und einem schlichten Stock zur vereinbarten Zeit an der hinteren Pforte zu warten.
Jetzt, wo es bereits dämmerte, wurde es stiller in den Gassen. Er war überrascht, wie schmutzig und schwül es hier war. Noch nie war er zu Fuß in diesen Teil der Stadt gekommen, wo sich nach Anbruch der Dunkelheit seltsames Volk in die Mauernischen drückte. Es war ihm, als würde er beobachtet, doch seine Begleiter eilten in schnellem Schritt voran, sodass er kaum Zeit hatte, sich umzusehen.
Als sie in den unteren Teil der Stadt gelangten, war das letzte Licht erloschen und die wenigen Fackeln erleuchteten nur spärlich den Weg. Er war es nicht gewohnt, so lange Strecken zu Fuß zu gehen und sein Atem ging schnell. Schweiß rann ihm von der Stirn. Jedermann, dem sie begegneten, musste den Römer in ihm erkennen mit seinem sorgfältig rasiertem Gesicht.
Sie erreichten einen kleinen, von Zedern umstandenen Platz. Hier befand sich das Essener-Tor, wo der Weg hinaus aus der Stadt führte, und hier lag das Haus Josefs, das eingerahmt von hohen Mauern direkt an die Stadtmauer angrenzte. Hinter der Mauer lag ein prächtiger Garten, ebenfalls von hohen ausladenden Bäumen überragt. Ein kleiner Weg führte zum Haus, wo schwaches Licht aus den Fensteröffnungen den Vorplatz beleuchtete. Es war in jeder Hinsicht ein bemerkenswertes Haus, ganz schlicht konstruiert, doch mit einer Vielzahl von Besonderheiten ausgestattet. Ein großer ausladender Steintisch flankierte eine prächtige Rosenhecke, die über und über blühte. Duftende Kräuter und breite Rabatten von Lavendel säumten den Weg, der aus kleinen Steinen in einem Muster aus Rauten und Kreisen kunstvoll gestaltet war. Das Haus selbst war von Wein bewachsen, der ein dichtes Blattwerk bildete. Die obere Etage war mit einer Aussparung zu einer Terrasse gestaltet, wo Josef zuweilen Sternenkunde betrieb und den Himmel beobachtete.
Beim Eintreten bemerkte der Prokurator eine große Versammlung in dem ersten Raum, an dem er vorbeigeführt wurde. Er hatte nicht damit gerechnet, dass so viele Menschen zugegen sein würden. Er schlug die Kapuze seines Umhangs zurück und ließ sich dankbar auf einen Stuhl fallen, der am Eingang des zweiten Raumes stand. Er sah eine Vielzahl von Personen, die hin- und hergingen, und eine spürbare Unruhe breitete sich aus. Er beobachtete all die Menschen, die ihm völlig fremd waren und die er noch nie zuvor zu Gesicht bekommen hatte.
Seine Hand glitt zu einem Beutel, der gut versteckt unter seinem Gewand an einem Gürtel befestigt war. Er hatte einige Silbermünzen bei sich, die er den Söhnen zum Dank für ihre Führung zu übergeben gedachte. Gerade als er sich erheben wollte, hörte er laute Stimmen, die vom Eingang her zu ihm drangen.
Er sah seinen Freund Josef, wie er gerade einen groß gewachsenen Mann begrüßte. Er trug ein staubiges Gewand und einen dichten dunklen Bart. Er hatte sein Gesicht noch nicht erkennen können, doch beim Nähertreten war er sich sicher, dass er es sein musste.
Viele begrüßten ihn, indem sie ihn umarmten. Viele verneigten sich nur scheu vor ihm, bevor er ganz den Raum betreten konnte. Josef steuerte direkt auf den Prokurator zu, der still die Situation beobachtet hatte. Mit dem ersten Blick, den der Fremde auf ihn richtete, ging etwas wie eine Woge von Energie durch seinen Körper. Er bemerkte, wie seine Knie zitterten und sein Herz pochte. Der Blick des Mannes war genauso, wie er es geträumt hatte. Tief und eindringlich, als ob für diesen Blick nichts verborgen bleiben könnte.
Im nächsten Moment stand Josef vor ihm, um ihm den Fremden vorzustellen. Er verbeugte sich tief und ein Gefühl großer Freude durchwogte ihn. Der Fremde hatte nur kurz seine Hand erhoben, wie, um ihn zu segnen, als es plötzlich still in dem Raum wurde.
Ein Sessel wurde herbeigeholt, und er ließ sich dort nieder, wo alle Versammelten ihn sehen und hören konnten. Er lächelte still und führte einen Becher zum Mund, den man ihm reichte. Er segnete alle Anwesenden, das Haus und den Gastgeber und begann dann in aramäischer Sprache, die dem Prokurator nicht geläufig war, zu sprechen. Seine Stimme war tief und wohlklingend und alle hingen gebannt an seinen Lippen. Er schien ein Gebet zu singen, in das alle von Zeit zu Zeit einfielen, um einen Refrain mit zu intonieren.
Ein kleines Mädchen schmiegte sich fest an ihn, um ganz in seiner Nähe zu sein. Josef hatte eine Schale mit Räucherwerk entzündet, der Duft von Kräutern und Sandelholz durchzog den Raum. Der Fremde hatte sein langes lockiges Haar, das tief über seine Schultern fiel, zum Vorschein kommen lassen, als er seinen Umhang ablegte. Er lächelte unentwegt, und Freude und Glückseligkeit machten sich im Raum breit.
Die Kleine war nun auf seinen Schoß geklettert. Sie hielt ihren linken Fuß hoch, der, es war nun deutlich zu sehen, verkrüppelt war. Er stand schief und verkrümmt ab, sodass sie nur einen Strumpf trug statt einer Sandale. Sie strahlte und herzte den Mann, der nun sanft und leise mit ihr zu sprechen begann. Die Kleine lachte und hörte andächtig zu, als er ihr etwas zu erklären schien. Sie hob abermals den verkrüppelten Fuß und der Fremde umschloss ihn vorsichtig mit seinen Händen. Er sprach währenddessen leise mit dem Kind und strich mit einer Hand sachte über den Fuß. Die Kleine hatte den Blick gesenkt und betrachtete ebenfalls den Fuß, der sich eigentümlich zu strecken begann. Er zuckte und zappelte mit einem Mal, so, als hätte sich eine fremde Kraft seiner bemächtigt.
Die Kleine stieß einen Schrei hervor, aber es war nicht der Schrei eines Schmerzes, den ihr der Fuß bereitete, sondern den des überraschten Erstaunens. Sie hob und drehte den Fuß und sprang dann auf die Füße, vollführte Freudensprünge und tanzte in der Mitte des Raumes herum. Alle waren verstummt und blickten gebannt auf die Kleine, die Freudentränen weinte und allen stolz ihren geheilten Fuß entgegenstreckte.
Die Eltern nahmen sie ebenfalls weinend in den Arm. Die Mutter kniete nieder, um dem Meister zu danken, der nur still dasaß und lächelte. Er hielt nun die Hand des Mädchens, das ihn überschwänglich herzte und umarmte. Er segnete die Familie und sagte den Eltern, dass ihre Tochter noch Großes vollbringen werde. Man solle sie in allem unterstützen, was die Kleine zu erlernen beabsichtigte.
Die Versammelten begannen nun wild zu gestikulieren und ein Stimmengewirr erhob sich, sodass der Prokurator nicht erkennen konnte, was nun vor sich ging. Viele umstanden den Fremden, und als sich der Tumult lichtete, war er verschwunden.
Die Menschen drängten nach draußen. Der Vater trug stolz die Tochter auf dem Arm, die unablässig auf ihren gesunden Fuß starrte. Alles strömte dorthin, wo ein Tisch mit Speisen angerichtet war. Sie bedeckten den ganzen Tisch. Oliven, Brot, Früchte und ein Gericht aus Linsen und Bohnen, das nur zur Fastenzeit zubereitet wurde. Alle füllten ihre Schalen, nachdem er sie gesegnet hatte. Sie redeten aufgeregt durcheinander und der Fremde stand da, hielt seine Schüssel in den Händen und antwortete auf Fragen, die die Umstehenden an ihn richteten.
Nach dem Mahl wandte der Fremde, den alle Meister nannten, den Kopf und blickte den Prokurator mit ernster Miene an.
„Nun, habt Ihr genug gesehen, um Euch ein Bild machen zu können?“
Pilatus blieb der letzte Bissen beinahe im Halse stecken. Woher kannte er seine Beweggründe und was bezweckte er?
„Ja“, antwortete er. „Ich habe genug gesehen, um zu bemerken, welche außerordentlichen Fähigkeiten Ihr beherrscht. Könnt Ihr mir ebenfalls helfen, meinen Gesundheitszustand zu verbessern?“ Er verneigte dabei leicht seinen Oberkörper, um seiner Hochachtung Ausdruck zu verleihen.
Der Fremde antwortete: „Würde dann Euer Urteil milder ausfallen?“
Der Prokurator schwankte. Röte schoss ihm ins Gesicht. Er weiß alles, fuhr es ihm durch den Kopf.
„Nun, da Ihr zu wissen scheint, in welcher Lage ich mich befinde, was ratet Ihr mir?“, antwortete er mit bebender Stimme.
Der Fremde lächelte jedoch nur: „Ich werde Euch Eure Arbeit nicht abnehmen.“
Damit wandte er sich ab, ohne eine Erwiderung abzuwarten.
Alle Umstehenden wandten sich ebenfalls zur Tür, um den Aufbruch des Meisters zu begleiten. Mit einem Mal wurde es still in dem Raum, wo der Fremde gerade seinen braunen Umhang umgelegt hatte. Ein seltsames Leuchten erfüllte den Raum. Das Gesicht des Meisters schien von innen her zu strahlen.
Miriam hatte sich tief vor ihm verbeugt. Sie war auf die Knie gesunken und hatte das Fläschchen mit dem kostbaren Salböl hervorgezogen. Ein Raunen ging durch die Menschen, die den Meister dicht umringten. Dem Prokurator gelang es, einen Blick auf das Geschehen zu werfen. Die junge Frau war niedergekniet, hatte die Füße des Meisters geküsst und dann mit dem Salböl übergossen. Sie rieb den Fuß damit ein, benetzte auch den anderen Fuß und begann, während ihr Tränen über das Gesicht rannen, mit ihrem Haar die Füße des Meisters zu trocknen. Sie schluchzte laut, den Kopf tief gebeugt.
Der Fremde hatte seine Hand auf ihren Kopf gelegt. Sein Blick ruhte auf der jungen Frau, die ihr Gesicht unter dem üppigen Haar verbarg. Der Meister murmelte einige unverständliche Worte. Leise und sanft klang seine Stimme. Dann nahm er die Hand der jungen Frau, richtete sie auf, und legte eine Hand auf ihre linke Schulter: „Komm mit und folge mir!“, waren die wenigen Worte, die der Prokurator vernahm.
Die Menge der Menschen murmelte und raunte und der Meister verließ das Haus, im Gefolge seine Begleiter und die junge Frau, deren Gesicht nun leuchtete und strahlte, so wie das Gesicht des Meisters, der vor ihr den Weg entlangschritt.
Die Gruppe verlor sich in der Dunkelheit, so, wie auch die anderen, die an der Versammlung teilgenommen hatten, sich in alle Richtungen zerstreuten.
Der Prokurator blieb nachdenklich zurück. Seine Knie gaben nach und er ließ sich auf den nächstbesten Stuhl fallen. Was war mit ihm geschehen? All sein Denken kreiste um diesen charismatischen Fremden, dem nichts verborgen blieb und der jeden Gedanken des anderen kannte. Was für ein Gott hatte sich da inkarniert? Wussten die Juden überhaupt, in welcher Gunst sie standen, dass er in ihrem Volk geboren war, so schoss es ihm durch den Kopf. Am liebsten wäre er aufgesprungen, um dem Fremden zu folgen. Doch etwas hielt ihn zurück und band ihn bleiern an den Stuhl, auf dem er saß.
Was hatte er damit gemeint, ob er sich ein Bild gemacht habe? War es überhaupt möglich, sich ein schlüssiges Bild zu machen, bevor er die Person überhaupt näher kannte, und wessen hatte er sich schuldig gemacht? Es war kein Vergehen, zu heilen oder zu segnen. Jeder Rabbiner durfte das. Was war es also, das ihn für die Pharisäer so gefährlich machte? Was war an dem sanften, freundlichen Mann so aufrührerisch?, so fragte er sich.
Sanft berührte ihn eine Hand an der Schulter, und er fuhr erschreckt zusammen. Josef stand neben ihm.
„Es ist Zeit, mein Freund. Eine Sänfte wartet und wird dich zurück zu deinem Palast bringen. Ich werde dich morgen zur Audienzstunde aufsuchen, um dir meine Pläne zu unterbreiten. Ich denke, du hast genug gesehen, um dir ein Bild zu machen.“
Schweigend umarmten sie einander, und er wurde zu einer Sänfte geleitet, die für ihn bereit stand. Erschöpft fiel er in den Sitz und schloss die Vorhänge, um unerkannt zu bleiben.
Wenig später, er hatte jedes Zeitgefühl verloren, erreichten sie den Palast des Prokurators. An der hinteren Pforte war die Tür unverschlossen und er konnte ungesehen in seine Gemächer gelangen. Ein einzelnes Öllicht brannte in seinem Schlafgemach, und er eilte in sein Ankleidezimmer, um sich auszukleiden und zu reinigen. Zu seinem Erstaunen hatte seine Gemahlin auf dem Bett Platz genommen. Sie schien ihn zu erwarten. Ernst blickte sie ihn an. Er wich ihrem forschenden Blick aus und legte seine Gewänder ab, ehe er in das Bassin mit warmem Wasser stieg. Er ließ sich hinabgleiten und schloss die Augen. Die Bilder des eben Erlebten stiegen in ihm auf. Konnte er ihr davon berichten, sie einweihen?, so fragte er sich. Sie war eine gläubige Frau. Jeden Tag wurden die Hausaltäre mit frischen Blumen geschmückt.
Sie hatte sich auf den Rand des Bassins gekniet und begann seine Schultern zu massieren. Niemand konnte das so wie sie. Ihre Hände waren so erfahren, genau die Muskeln zu bearbeiten, die es so dringend brauchten.
Ihre Stimme durchschnitt die Stille: „Und, hast du ihn gesehen?“
Er schnellte herum. Nervös blickte er zu ihr auf. Sein Herz pochte. Zitternd umklammerte er ihre Hände. Ungläubig blickte er auf: „Auch du?,“ flüsterte er. Sein Atem ging stoßweise vor Aufregung. „Dann weißt du um ihn?“
Sie nickte nur stumm: „Ich wusste, dass auch du eines Tages auf ihn stoßen würdest. Jeder findet ihn auf seine Weise. Es war meine Dienerin, die mir zuerst von ihm erzählte. Sie war zugegen, als er am See Genezareth eine Weile Menschen unterrichtete. Es ging die Kunde um, ein bedeutender Rabbiner sei gekommen, um die Lehre der Juden neu auszulegen und zu reformieren. Sarah ist gläubige Jüdin und hat seinen Belehrungen beigewohnt. Seitdem spricht sie von nichts anderem mehr. Jeden Tag erzählt sie mir von ihm. Sie sprach sogar davon, dass er Wasser in Wein verwandelt habe, als er Gast bei einer Hochzeit in Kanaan war. Ich hielt all dies für ausgemachten Unsinn. Ich dachte, sie sind ja in ihrem Wunderglauben noch schlimmer als die Römer.
Als er eines Tages aus dem Galil2 kam und hier in Jerusalem eine befreundete Familie besuchte, bat sie mich, sie zu begleiten. Sie glaubte, wenn ich es nur erst mit eigenen Augen gesehen hätte, würde ich ihr glauben. Das war vor über einem Jahr.
Seitdem bin ich viele Male zugegen gewesen, wenn er in die Stadt kam. Immer geschah etwas Unglaubliches. Ich sah, wie er eine blinde Bettlerin heilte und ein tot geborenes Kind zum Leben erweckte. Ich habe dir nie von all dem erzählt, weil ich glaubte, es würde dich beleidigen, wenn ich zu dem wundersamen Juden ginge. Jedes Mal nahm ich mir vor, dich zu bitten, mich zu begleiten. Doch meine Freunde, die ich unter der Anhängerschaft des Meisters fand, rieten mir davon ab. Sie sagten, wenn es so sein soll, wird sich dein Weg mit dem Seinen kreuzen. Und so ist es jetzt gekommen.
Sarah berichtete mir, dass sie dich unter den Anwesenden im Hause Josefs gesehen habe. Ich war zutiefst überrascht, aber auch sehr erleichtert. Ich kann nun offen zu dir sprechen. Aber erzähl mir, was hast du gesehen? Hat er wieder geheilt?“
Nach einigem Zögern begann er die Geschehnisse zu schildern. Sie fuhr erschreckt auf, als sie hörte, was der König und der Hohe Rat von ihm forderten. Bestürzt sprang sie auf. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
„Was wirst du tun?“, schluchzte sie, „du kannst ihn unmöglich dem Sanhedrin3 ausliefern!“
Er war in sich zusammengesunken. Tränen, die schon lange darauf gewartet hatten zu fließen, rannen nun an seinem Gesicht hinab. Schützend umklammerte er seine Gemahlin.
An ihrem Ohr flüsterte er: „Ich werde es nicht tun, das verspreche ich dir. Ich werde nicht tun, was sie von mir fordern. Ich bin der Prokurator Judäas, und sie haben mir nichts zu befehlen.“ Lange lagen sie sich in den Armen.
Am kommenden Morgen erwachte er gestärkt und erfrischt. Trotz der Erfahrung des vergangenen Abends war er beruhigt und zuversichtlich, eine Lösung zu finden. Er wartete nervös auf das Eintreffen seines Freundes, der sein Kommen ja angekündigt hatte.
Er bearbeitete einige Schriftstücke, nahm ein kleines Frühstück zu sich und beäugte jeden seiner Bediensteten so genau, dass sie nervös aufblickten. Jedes Mal fragte er sich, ob auch sie den seltsamen Meister kannten, womöglich dazugehörten? War es bereits eine geheime Gemeinschaft, die sich im Verborgenen gebildet hatte? Das konnte der Grund sein, warum man ihn weg haben wollte, so gingen ihm seine Gedanken durch den Kopf.
Am späten Vormittag klopfte es leise an die Tür. Ein Diener brachte ein Schreiben, das an ihn persönlich adressiert war. Er brach das Siegel und entrollte die Handschrift. Es war die Schrift Josefs, die er gut genug kannte. Mit zitternden Händen begann er zu lesen. Die Buchstaben waren augenscheinlich in aller Eile aufgezeichnet worden. Manches konnte er kaum entziffern. Den wenigen Zeilen konnte er entnehmen, dass Jeheshua, so hieß der Meister, verhaftet worden war.
Er war vor dem heiligen Bezirk von der Tempelpolizei festgenommen worden, als er dort sein Morgengebet verrichten wollte. Die Anklage lautete offenbar auf Verletzung heiliger Gebote, der Gesetze der Thora und Aufrührertum. Er hatte vor einer großen Menschenmenge Gebete angestimmt, und dies sei unzulässig und allein den Priestern vorbehalten. Er war im Kerker des Herodes inhaftiert worden.
Bestürzt legte er das Schriftstück nieder. Nun war das geschehen, was er um jeden Preis hatte verhindern wollen.
Wenn es um religiöse Verstöße ging, konnte der Hohe Rat selbst Inhaftierungen und Verurteilungen vornehmen. Er musste bei schweren Strafen jedoch seine Zustimmung geben und das Urteil bestätigen. Bisher hatte er erst einmal diese Bestätigung verweigert, weil er das Urteil als unbotmäßig hoch empfand. Daraufhin wurde mit einem Aufstand gedroht, der ihn seinen Posten hätte kosten können. Man wusste, dass er um jeden Preis eine Eskalation würde vermeiden müssen, denn die römischen Soldaten würden nicht lange einer aufständischen Bevölkerung standhalten.
In diesem Fall war er nun machtlos. Er konnte in solchen Angelegenheiten nicht allein entscheiden, ihm waren die Hände gebunden. Eilig warf er einige Zeilen auf einen Bogen Papier, worin er Josef bat, so schnell wie möglich bei ihm vorstellig zu werden. Ein Bote sollte das Papier sofort zum Hause Josefs bringen und es ihm persönlich übergeben. Josef war Mitglied des Hohen Rates. Er musste einen Ausweg finden.
Abdul Ben Massa hatte gute Geschäfte gemacht. Jemand hatte ihm angeboten, in seinem Haus zu wohnen. Seine kleine Tochter, gerade zehn Monate alt, litt an gefährlichem Durchfall. Das Kind war schon so geschwächt, dass es kaum reagierte. Der Mann hatte Abdul gebeten zu helfen. Dafür sollte er eine Unterkunft und Verpflegung von ihm erhalten. Er hatte dankend abgelehnt, da es ihm nicht behagte, so dicht mit fremden Menschen zusammenzuleben. Doch das üppige Mittagsmahl hatte er gern angenommen.
Der Tisch war mit Tonschüsseln und länglichen Tontellern gedeckt, auf denen verschiedene Speisen angerichtet waren wie gekochtes Gemüse, geschmortes Fleisch, Joghurt und ein Krug Wein.
Abdul hatte dem Mädchen etwas von einer Kräutertinktur eingegeben, die er schon oft bei Erkrankungen dieser Art erfolgreich eingesetzt hatte. Er gab der Mutter noch ein Fläschchen davon, bevor er sich nach dem Mahl von seinen Gastgebern verabschiedete.
Er überquerte den großen Platz und steuerte auf eine kleine Taverne zu, als er laute Stimmen und Pferdegetrappel hörte. Instinktiv bog er in eine der kleineren Gassen ab, denn nur römische Soldaten patrouillierten zu Pferde in der Stadt. Über einige Umwege erreichte er die Herberge, wo er sich auf der von Wein überrankten Terrasse an einem der einfachen Holztische niederließ.
Wieder spürte er diese Anspannung, diese Nervosität, die ihm schon am Abend zuvor aufgefallen war. Es herrschte eine Atmosphäre der Aggressivität. So stark hatte er sie noch niemals wahrgenommen. Immer da, wo viele Menschen beieinander leben, kam es zu solchen geballten Energien. Doch dieses Mal, das spürte er ganz deutlich, lag etwas anderes in der Luft. Eine Atmosphäre, die etwas ankündigte, wie etwa ein schweres Gewitter oder ein Erdbeben. Aber auch das spürte er ganz deutlich, es war keines von beidem. Er schloss die Augen, um sich stärker auf die Empfindung zu konzentrieren. Ja, es lag etwas in der Luft. Ein Ereignis von großer Bedeutung, eher bedrückend als erfreulich.
Er griff nach seinem Becher, den der Wirt der Herberge ihm bereitgestellt hatte. Der Tonkrug war mit frischem, kühlem Wasser gefüllt, das ihm in der schwülen Wärme, die in den Gassen stand, guttat.
Ein Fremder betrat die Terrasse. Von seinem Gewand her ein Mann aus dem Norden, wo man diese grob gewebten Wollgewänder trug. Sein geschnitzter Stab war der eines Hirten, doch sein Gebaren deutete eher darauf hin, dass er mit seinen Händen arbeitete. Abdul betrachtete eher abwesend den Fremden, der ebenfalls gierig seinen Becher leerte. Sein Gesicht sah sorgenvoll und angespannt aus. Was mochte den Mann bedrücken?, so fragte er sich.
Er nickte ihm freundlich zu, und der Fremde maß ihn mit einem forschenden Blick, in dem eher Misstrauen als Freundlichkeit lag. In diesen Zeiten, in denen so viele Menschen die Stadt bevölkerten, mochten auch viele Gauner unter ihnen sein, und ein gewisses Maß an Misstrauen war wohl angebracht.
Dieser Mann jedoch strahlte Angst und Sorge aus. Eine Weile beobachteten sie einander, dann erhob sich der Fremde und stellte sich vor. Er war Fischer aus dem Galil. Sein Dorf lag direkt am See Genezareth und er war mit Freunden in die Stadt gekommen. Einer von ihnen sei jedoch am Morgen unter völlig fragwürdigen Umständen verhaftet worden. Sorge und Trauer lagen in seiner Miene. Es tat ihm gut, mit jemandem zu sprechen. Abdul legte seine Hand auf seinen Arm, um ihm ein wenig Zuspruch zu leisten.
„Vielleicht ist er morgen schon wieder frei. An Tagen wie diesen wird schnell in den Kerker geworfen, um Ruhe in der Stadt zu bewahren.“
Doch der Fischer schüttelte nur stumm den Kopf. „Sie haben ihn mitgenommen.“
Mit einer Woge der Trauer erzählte der Fischer von dem Meister und von seinen Bedenken, er könne womöglich für immer von ihnen genommen werden. Er schluchzte in die aufgestützten Hände.