Der Angstsammler - Jasper DeWitt - E-Book
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Der Angstsammler E-Book

Jasper DeWitt

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Beschreibung

Er kennt deine tiefsten Kindheitsängste

Ein rätselhafter Patient zieht den jungen Psychiater Parker H. in seinen Bann. Seit dem sechsten Lebensjahr wird der mittlerweile 30-jährige Mann, den alle nur „Joe“ nennen, in der düsteren Nervenheilanstalt in Neuengland verwahrt. Er gilt als nicht therapierbar. Jeder, der mit ihm spricht, verliert den Verstand oder begeht Selbstmord. Allen Warnungen zum Trotz beschließt der ehrgeizige Parker, „Joe“ in seiner Zelle zu besuchen. Dabei setzt er eine Kette von albtraumhaften Ereignissen in Gang, die seine schlimmsten Befürchtungen weit übertreffen…

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Das Buch

»Joseph E. M. war 1973 im Alter von sechs Jahren zum ersten Mal aufgenommen worden, und eine entsprechende Markierung verriet, dass er sich noch immer in der Obhut der Klinik befand. Die Akte war so dick mit Staub bedeckt, dass ich mir kaum vorstellen konnte, dass jemand sie während der letzten zehn Jahre geöffnet hatte. Doch die klinischen Notizen waren noch immer vorhanden und in überraschend gutem Zustand, ebenso wie das grobkörnige Schwarz-Weiß-Foto eines blonden Jungen, der mit weit aufgerissenen Augen und wilder Miene in die Kamera starrte. Das bloße Betrachten des Bildes flößte mir ein Gefühl der Schutzlosigkeit ein.«

Parker macht es sich zur Aufgabe herauszufinden, was hinter der mysteriösen Krankengeschichte von Joe steckt – gegen den Willen seiner Vorgesetzten. Und gegen eine innere Stimme, die ihn bereits warnt, als er das erste Mal den langen Flur zu Joes abgelegenem Zimmer hinuntergeht. Doch seine Neugierde ist stärker und er kann sich der Faszination, die von Joe ausgeht, nicht entziehen. Ist Joe wirklich so verrückt, wie alle behaupten? Oder steckt etwas ganz anderes hinter seinen Symptomen? Etwas, das so abgründig und dunkel ist, dass es sich jedem menschlichen Verständnis entzieht …

Der Autor

Jasper DeWitt ist das Pseudonym eines Journalisten. »Der Angstsammler« ist sein erster Roman. Der Autor lebt in L. A.

Jasper DeWitt

DER ANGSTSAMMLER

Aus dem Englischen von Martin Ruf

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Die Originalausgabe The Patient erschien erstmals 2020 bei Houghton Mifflin Harcourt Publishing Company, New YorkDer Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstausgabe 10/2021

Copyright © 2020 by Jasper DeWitt, LLC

Copyright © 2021 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Sven-Eric Wehmeyer

Umschlaggestaltung: Zero Werbeagentur, München, unter Verwendung eines Motivs von © arcangel/MALCOLM BRICE

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-26753-7V001

www.heyne.de

Für Roy, von dem ich lernte, das Beste in mir zu sehen, statt das Schlechteste aus der Vorstellung anderer

Das folgende Manuskript wurde in mehreren Einzellieferungen unter dem Titel »Warum ich die Medizin fast aufgegeben hätte« auf MDConfessions.com veröffentlicht, ein inzwischen eingestelltes Webforum für Beschäftigte im Medizinbereich, das seit 2012 offline ist. Einer meiner Freunde, der im Jahr 2011 in Yale seinen Abschluss machte und sich für Medizin interessiert, hat es aus Neugierde archiviert und war so freundlich, es mit mir zu teilen, da er um mein Interesse an angeblich wahren Horrorgeschichten weiß. Der ursprüngliche Autor hat offensichtlich ein Pseudonym benutzt, und alle Versuche, seine wahre Identität oder die anderer Personen in dieser Geschichte herauszufinden, blieben erfolglos, da er anscheinend zahlreiche Einzelheiten, die Hinweise darauf geben könnten, verändert hat, um zu verhindern, dass sie publik werden.

13. März 2008

Ich schreibe dies, weil ich inzwischen nicht mehr weiß, ob ich in ein schreckliches Geheimnis eingeweiht wurde oder selbst wahnsinnig bin. Letzteres wäre für mich als praktizierender Psychiater zweifellos in ethischer wie auch in wirtschaftlicher Hinsicht schlecht. Weil ich jedoch nicht glauben kann, dass ich verrückt bin, poste ich diese Geschichte, denn wahrscheinlich seid ihr die einzigen Menschen, die sich überhaupt vorstellen können, dass sie möglicherweise wahr ist. Für mich ist es eine Frage der Verantwortung gegenüber der Menschheit.

Bevor ich anfange, möchte ich betonen, dass ich hinsichtlich der Namen und Orte, die hier erwähnt werden, gerne präziser gewesen wäre, doch ich muss meinem Job nachgehen und kann es mir nicht leisten, als jemand, der die Geheimnisse seiner Patienten verrät, wie außer­gewöhnlich der Fall auch sein mag, auf irgendeiner schwarzen Liste im Medizin- oder Psychotherapiebereich zu landen. Dementsprechend sind die Ereignisse, die ich in diesem Bericht beschreibe, allesamt wahr, auch wenn Namen und Orte verändert werden mussten, damit weder meine Karriere noch meine Leser Schaden nehmen.

Folgende Angaben kann ich jedoch gewähren: Meine Geschichte ereignete sich zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts in einer staatlichen psychiatrischen Klinik in den USA. Meine Verlobte Jocelyn, eine überaus gewissenhafte Frau von koboldhafter Intelligenz und strahlender Schönheit, die dank eines Treuhandvermögens im Rücken im Begriff war, sich eine Karriere als Shakespeare-Expertin aufzubauen, steckte damals noch mitten in ihrer Doktorarbeit über die Frauenfiguren in König Lear. Diese Doktorarbeit war – neben meinem Wunsch, ihr so nah wie möglich zu sein – der Grund dafür, warum ich mich entschlossen hatte, meine Bewerbungen ausschließlich an Kliniken in Connecticut zu schicken.

Nachdem ich an einigen der angesehensten Universitäten Neuenglands Medizin studiert und im selben Teil des Landes eine gleichermaßen gründliche wie erfolgreiche praktische Ausbildung in meinem Fach absolviert hatte, waren meine Mentoren besonders darauf bedacht, zu erfahren, wie mein nächster beruflicher Schritt aussehen würde. Eine Anstellung in einer kleinen, mit bescheidenen Mitteln ausgestatteten Klinik war etwas für gewöhnliche Sterbliche von irgendeiner Provinzuniversität, aber nichts für Ärzte mit Lux et Veritas auf ihren Prüfungsbögen und schon gar nichts für Ärzte, die ihr Studium und ihre klinische Ausbildung mit so guten Bewertungen abgeschlossen hatten.

Für mich selbst jedoch spielte dieser Versuch, anderen stets um eine Nasenlänge voraus zu sein, keine große Rolle. Weil ich schon als Kind die hässliche Seite des Medizinsystems kennengelernt hatte, nachdem meine Mutter wegen paranoider Schizophrenie in eine psychiatrische Klinik eingeliefert worden war, galt mein Inter­esse heute weit eher dem Versuch, die auseinandergebrochenen Teile der Medizin wieder zusammenzufügen, als es mir auf einem jener angenehmen Plätze bequem zu machen, die für die höheren Ränge in meinem Fach vorgesehen sind.

Doch selbst für eine Anstellung im allerschlechtesten Krankenhaus musste ich Referenzen vorweisen können, was bedeutete, dass die Vorurteile meiner Ausbilder eine gewisse Rolle bei meiner Wahl spielen würden. Ein besonders griesgrämiger Arzt, an den ich mich wandte, kannte zufällig noch aus der Zeit seines Studiums die medizinische Direktorin der nahe gelegenen staatlichen Klinik. Unter jemandem mit solcher Herkunft und Erfahrung zu arbeiten, würde, so meinte er, wenigstens verhindern, dass ich einige schlechte Gewohnheiten annahm, und vielleicht wären wir ja aufgrund unserer »übertrieben altruistischen Einstellung« imstande, gut miteinander auszukommen. Ich stimmte gerne zu, zum Teil, um die Referenz zu bekommen, zum anderen Teil, weil die Klinik, die mein Professor empfohlen hatte – eine trostlose Einrichtung, die ich hier Connecticut State Asylum (CSA) nennen möchte, um einen Prozess zu vermeiden –, perfekt zu dem passte, was mir vorschwebte: Es war eine der am schlimmsten unterfinanzierten und glücklosesten Ins­titutionen im Gesundheitssystem Connecticuts.

Wenn ich nicht voller Überzeugung die unter Wissenschaftlern gängige Weigerung teilen würde, natürliche Phänomene zu anthropomorphisieren, hätte ich fast den Eindruck haben können, dass bereits die atmosphärischen Bedingungen den Versuch unternahmen, mich auf meiner ersten Fahrt zu meinem Vorstellungsgespräch in der Klinik zu warnen. Jeder, der im Frühling schon einmal eine gewisse Zeit in Neuengland verbracht hat, weiß, dass das Wetter dort ohne jede Vorwarnung drastisch umschlagen kann, denn – Entschuldigung, Forrest Gump – das Klima in Neuengland ist nicht wie eine Schachtel Pralinen, sondern wie eine Schachtel Scheiße. Was immer man auch bekommt, es stinkt.

Aber sogar nach Neuengland-Maßstäben war der Tag schlimm. Der Wind kreischte in den Bäumen und drang mit der Wucht eines angreifenden Stiers zunächst auf mich und dann auf mein Auto ein. Der Regen schlug gegen meine Windschutzscheibe. Die Straße, die trotz meiner Scheibenwischer nur halb sichtbar war, wirkte weniger wie eine Straße als vielmehr wie ein ins Fegefeuer führender Weg aus Holzkohle, an den Seiten begrenzt von stumpfem Gelb und den scheinbar leeren Hüllen anderer Autos, welche von Reisenden gesteuert wurden, die in der nassen, grauen Weite eher Gespenstern als tatsächlich lebenden Menschen glichen. Der Nebel durchtränkte die Luft mit bedrohlich stummen, rankengleichen Schwaden, die sich über die Straße zogen und eine Herausforderung für jeden darstellten, der sich auf diese einsame Landstraße wagte.

Sobald das Schild für meine Abzweigung auftauchte, verließ ich die Hauptstraße und folgte der ersten Neben­straße, die einem Labyrinth ähnlich verlassener und vom Nebel verschlungener Sträßchen anzugehören schien. Hätte ich mir nicht zuvor eine Reihe vertrauenswürdiger Angaben meines Routenplaners ausgedruckt, hätte ich mich wahrscheinlich stundenlang verirrt bei meinem Versuch, den richtigen Weg unter etlichen sich träge räkeln­den Serpentinen zu finden, die den Navigator meines Routenplaners immer wieder zu provozieren und zu verspotten schienen und mich die Hügel hinauf zum Connecticut State Asylum führten.

Doch obwohl bereits die Fahrt unter einem schlechten Stern zu stehen schien, wurde dieser düstere Eindruck noch deutlich durch das übertroffen, was ich empfand, als ich auf den Parkplatz rollte und das weitläufige Gelände des Connecticut State Asylum zum ersten Mal vor mir sah. Wenn ich sagen würde, dass der Ort einen nachhaltigen und unangenehmen Eindruck auf mich machte, so wäre dies die diplomatischste Formulierung, die ich finden kann. Der Gebäudekomplex war gewaltig, was mich angesichts der Unterfinanzierung dieser Einrichtung einigermaßen überraschte, und er strahlte eine unverwechselbare Atmosphäre des Verfalls aus, wie sie nur einer ehemals stolzen Institution eigen ist, die durch Jahre der Vernachlässigung schwer in Mitleidenschaft gezogen wurde. Während ich an einer aufgegebenen und mit Brettern vernagelten Ruine nach der anderen vorbeifuhr, in denen sich einst die verschiedenen Stationen befunden haben mussten – einige bestanden aus fahlem, bröckelndem Backstein, andere aus flechtenbedecktem, von Efeu überwuchertem Sandstein –, konnte ich mir kaum vorstellen, wie jemand einst hier gearbeitet oder gar gelebt haben mochte.

In der Mitte des Klinikgeländes und so mächtig, dass es seine aufgegebenen Brüder geradezu winzig erscheinen ließ, befand sich jenes eine Haus, das trotz der Budgetkürzungen noch in Betrieb war: das Hauptgebäude der Klinik. Trotz seiner vergleichsweise funktionalen Form wirkte dieser monströse Klotz aus rotem Backstein, als hätte man mit seiner Errichtung alle möglichen Ziele verfolgt, nur jenes eine nicht, das darin bestand, die Schatten zu vertreiben, die Denken und Empfinden der Patienten heimsuchten. Seine hoch aufragende Gestalt, die von strengen rechten Winkeln beherrscht wurde und deren Fenster nichts weiter als vergitterte rechtwinklige Löcher waren, schien die Verzweiflung nur noch zu vergrößern und alles in einen zusätzlichen Schatten tauchen zu wollen. Sogar die massive weiße Freitreppe, die zu den Eingangstüren führte – die einzige Verzierung, die man dem Gebäude zugestanden hatte – sah eher aus wie etwas, das man weniger bemalt, sondern vielmehr mit Bleichmitteln behandelt hatte. Als ich die Treppe anstarrte, hatte ich ungewollt den Eindruck, als triebe mir ein letzter Hauch von Desinfektionsmitteln in die Nase. Nie zuvor hatte ich ein Gebäude gesehen, das so sehr die unerbittlichen und wenig einladenden Konturen willkürlich erzwungener geistiger Gesundheit zu ­verkörpern schien.

Paradoxerweise war das Innere des Gebäudes bemerkenswert sauber und gepflegt, wenn auch farblos und karg. Eine gelangweilt aussehende Frau am Empfang beschrieb mir den Weg zum Büro der medizinischen Direktorin im obersten Stock. Wie zu erwarten, summte der Aufzug ein paar Augenblicke leise, bevor er plötzlich und unerwartet mit einem Ruck im zweiten Obergeschoss anhielt. Ich wappnete mich gegenüber einem zweiten Fahrgast, während sich die Aufzugtür langsam öffnete. Doch davor wartete nicht nur eine einzige Person. Vielmehr waren es drei Krankenschwestern, die um eine Rolltrage standen, auf der ein Mann lag. Doch obwohl er auf der Trage fixiert war, begriff ich sofort, dass es sich nicht um einen Patienten handelte. Er trug die Uniform eines Pflegers. Und er schrie.

»Lasst – mich – los!«, brüllte der Mann. »Ich war noch nicht fertig mit ihm!«

Ohne auf ihn einzugehen, schoben zwei der Schwestern die Rolltrage in den Aufzug, während die dritte – eine ältere Frau, die ihr dunkles Haar zu einem lächerlich straffen Knoten gebunden hatte – ihm folgte. Sie schnalzte mit der Zunge, als auch sie den Knopf zum dritten Stock drückte.

»Ich bitte dich, Graham«, sagte sie mit einer Stimme, in der ich einen schwachen, singenden Akzent hörte, den ich als irischen identifizierte, »das ist schon das dritte Mal in diesem Monat. Wir haben dir doch gesagt, dass du nicht in dieses Zimmer gehen sollst.«

Angesichts des Wortwechsels hatte ich naiverweise den Eindruck, dass die Klinik mein Wissen und meine Fürsorge unbedingt nötig hatte. Deshalb überraschte es mich auch nicht, dass mir die Stelle sofort angeboten wurde, obwohl ich während des Bewerbungsgesprächs eine ungewöhnlich rigorose Befragung durch Dr. G., die medizinische Direktorin der Einrichtung, hinter mich bringen musste.

Es dürfte wohl kaum überraschend sein, dass die Arbeit in einer psychiatrischen Klinik, besonders in einer mit viel zu wenig Personal, zugleich faszinierend und trostlos ist. Wir hatten zumeist ambulante Patienten und solche, die nur für kurze Zeit aufgenommen wurden, und die Fälle reichten von Alkohol- und Drogenmissbrauch oder -abhängigkeit bis hin zu affektiven Störungen, besonders Depressionen und Beschwerden, die mit einer Angstproblematik verknüpften waren, sowie Schizophrenie und Psychosen; wir hatten sogar eine kleine Gruppe von Patienten mit Essstörungen. Als staatliche Einrichtung waren wir verpflichtet, jedem zu helfen, der zu uns kam, und oft hatten unsere Patienten eine Odyssee durch das System hinter sich, weshalb sie sowohl mit ihren Nerven als auch mit ihren finanziellen Mitteln am Ende waren. Aufgrund der politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse im Gesundheitssystem hatten wir nur eine einzelne kleine Station für Langzeitpatienten. Die meisten Versicherungen bezahlen eine länger andauernde Versorgung nicht, weshalb es sich bei den dort befindlichen Personen um Privatpatienten oder Männer und Frauen unter staatlicher Vormundschaft handelte.

Auf unseren Stationen begegnete man Menschen, deren Sicht auf die Welt auf düstere Weise komisch gewirkt hätte, wäre sie nicht mit so furchtbar viel Leid verbunden gewesen. So wollte mich einer meiner Patienten zum Beispiel unbedingt davon überzeugen, dass eine Verbindung von Studienanfängern an einer Eliteuniversität eine Art riesiges, menschenfressendes Ungeheuer mit unaussprechlichem Namen im Keller eines lokalen Restaurants gefangen hielt und es diese Studentenverbindung war, die seine Geliebte an das Monster verfüttert hatte. In Wahrheit hatte der Mann während eines psychotischen Schubs seine Geliebte umgebracht. Hingegen war ein anderer Patient davon überzeugt, dass sich eine Zeichentrickfigur in ihn verliebt hätte, während er in Wahrheit für eine kurzzeitige Aufnahme zu uns kam, weil er die Künstlerin belästigt hatte. Während meiner ersten Monate musste ich auf schmerzhafte Weise lernen, dass man jemanden, der unter Wahnvorstellungen leidet, nicht auf den wirklichen Sachverhalt hinweist. Es nützt nichts, und der Betreffende wird nur wütend.

Dann waren da noch die drei, vier älteren Herren, von denen sich jeder für Jesus hielt, was dazu führte, dass sie sich jedes Mal gegenseitig anschrien, wenn sie gleichzeitig in einem Zimmer waren. Einer von ihnen war ein ausgebildeter Theologe und hatte als Professor in einem kirchlichen Seminar gearbeitet. Er pflegte den anderen wahllos Zitate von Thomas von Aquin an den Kopf zu werfen, als verleihe dies seinem Anspruch auf den Titel des Erlösers eine größere Berechtigung. Auch dies hätte komisch wirken können, wäre man nicht auf so deprimierend hoffnungslose Weise Zeuge ihrer Lage gewesen.

Doch auch in einer solchen Umgebung gibt es in jeder Klinik wenigstens einen Menschen, der sogar für die Verhältnisse auf einer psychiatrischen Station aus dem Rahmen fällt. Ich meine damit jene Art von Patient, den sogar die Ärzte aufgegeben haben und um den jeder einen weiten Bogen macht, unabhängig davon, über wie viel Erfahrung der betreffende Mitarbeiter auch verfügen mag. Diese Art von Patient ist zweifellos wahnsinnig, aber niemand weiß, wie er es geworden ist. Man weiß allerdings, dass es einen selbst wahnsinnig machen würde, sollte man versuchen, es herauszufinden.

Unser Patient war besonders bizarr. Zunächst einmal war er als kleines Kind in die Klinik gebracht worden und hatte es trotz der Tatsache, dass es nie jemandem gelungen war, ihn zu diagnostizieren, irgendwie geschafft, mehr als zwanzig Jahre lang dort zu bleiben. Er hatte einen Namen, aber man sagte mir, dass sich niemand in der Klinik daran erinnerte, denn sein Fall galt als so außerordentlich schwierig, dass sich niemand mehr die Mühe machte, seine Krankenakte zu lesen. Wenn die Leute über ihn sprachen, nannten sie ihn einfach »Joe«.

Ich sage über ihn sprachen, denn niemand sprach mit ihm. Joe kam nie aus seinem Zimmer, nahm an keiner Gruppentherapie teil, hatte keine Einzeltherapie bei einem Mitarbeiter der Psychiatrie oder einem anderen Therapeuten, und es wurde so ziemlich jedem nahegelegt, sich von ihm fernzuhalten, Punkt. Offensichtlich führte jeder menschliche Kontakt dazu, dass sich sein Zustand verschlechterte – und das sogar dann, wenn dieser Kontakt von einem erfahrenen Mitglied des Klinikpersonals hergestellt wurde. Die einzigen Menschen, die ihn regelmäßig sahen, waren die Pfleger, die seine Bettwäsche wechselten und die Tabletts mit den Mahlzeiten zu ihm bringen und wieder abholen mussten, sowie die Schwester, die dafür sorgte, dass er seine Medikamente einnahm. Diese Besuche verliefen üblicherweise in unheimlichem Schweigen und endeten immer damit, dass die beteiligten Mitarbeiter so aussahen, als würden sie gerne einen Schnapsladen leertrinken, sofern man sie nur ließe. Später erfuhr ich, dass Graham, der Pfleger, den ich auf der Trage festgeschnallt gesehen hatte, als ich zu meinem Vorstellungsgespräch in der Klinik war, an jenem Tag gerade aus Joes Zimmer kam.

Als fest angestellter Psychiater hatte ich Zugang zu seinem Krankenblatt und den Unterlagen über die ihm verschriebenen Medikamente, in denen ich jedoch nur wenige Informationen fand. Die Aufzeichnungen waren auffällig dünn, schienen nur Angaben über das zurückliegende Jahr zu umfassen und ausschließlich die regelmäßige Abgabe von milden Antidepressiva und Beruhigungsmitteln zu betreffen. Am ungewöhnlichsten war, dass auf dem Krankenblatt, das ich einsehen durfte, der vollständige Name fehlte und nur der knappe Spitzname »Joe« verriet, auf wen sich diese Aufzeichnungen bezogen.

Weil ich ein junger, ehrgeiziger Arzt mit einem Überschuss an guten Zeugnissen und einem Mangel an Bescheidenheit war, faszinierte mich dieser geheimnisvolle Patient, und kaum dass ich von seiner Existenz erfahren hatte, beschloss ich, dass ich es sein würde, der ihn zu heilen verstand. Zunächst sprach ich über diese Vorstellung nur wie über einen halbherzigen, bloß nebenbei geäußerten Witz, und alle, die davon hörten, taten meine Einstellung als drolligen jugendlichen Enthusiasmus ab.

Es gab jedoch eine Schwester, mit der ich ernsthaft über meinen Wunsch sprach; es war dieselbe, die ich gesehen hatte, als sie sich um Graham den Pfleger kümmerte. Aus Respekt vor ihr und ihrer Familie werde ich sie »Nessie« nennen, und sie ist es auch, mit der meine eigentliche Geschichte beginnt.

Zunächst sollte ich ein paar Dinge über Nessie erzählen und darüber, warum ich gerade ihr meinen Plan anvertraute. Seit sie aus Irland hergekommen war und in den Siebzigerjahren ihre Schwesternausbildung beendet hatte, arbeitete sie in der Klinik. Offiziell hatte sie die Pflegedienstleitung inne und wäre lediglich verpflichtet gewesen, tagsüber zu arbeiten, doch sie schien immer verfügbar zu sein, weshalb man den Eindruck gewinnen konnte, sie lebe im Gebäude.

Nessie erleichterte mir und den anderen Ärzten und Therapeuten die Arbeit ungemein, denn sie führte ein strenges Regiment, und das betraf nicht nur die Schwestern, sondern auch Pfleger und Aufseher. Nessie schien zu wissen, wie man so gut wie jedes Problem lösen konnte. Wenn ein tobender Patient beruhigt werden musste, war Nessie zur Stelle, das ergrauende dunkle Haar zu einem strengen Knoten gebunden, während ihre scharfen grünen Augen in ihrem wie verhärmt wirkenden Gesicht funkelten. Wenn ein Patient seine Medizin nicht nehmen wollte, gelang es Nessie, ihn doch noch zu überreden. Wenn ein Mitarbeiter ohne ersichtlichen Grund nicht erschien, war Nessie immer bereit, ihn zu decken. Ich bin mir sicher, wenn die gesamte Klinikanlage niedergebrannt wäre, hätte Nessie dem Architekten erklärt, was zu tun war, damit sie wieder genauso errichtet werden würde wie früher. Mit anderen Worten: Wenn man wissen wollte, wie die Dinge funktionierten oder man irgendeinen Rat brauchte, sprach man mit Nessie. Das allein hätte schon genügt, mit ihr über meine eher naiven Ambitionen zu sprechen, doch neben allem, was ich soeben erzählt habe, gab es noch einen anderen Grund – und der bestand darin, dass Nessie diejenige Schwester war, der man die Aufgabe übertragen hatte, sich um die Medikation von Joe zu kümmern, weshalb sie zu den wenigen Menschen gehörte, die einigermaßen regelmäßig Kontakt zu ihm unterhielten.

Ich erinnere mich noch genau an die Unterhaltung. Nessie saß in der Klinikcafeteria und hielt einen Pappbecher Kaffee in ihren überraschend kräftigen Händen. Ich konnte sehen, dass sie guter Laune war, denn sie hatte ihr Haar gelöst; Nessie schien es sich nämlich zur Regel gemacht zu haben, dass sie ihr Haar umso straffer band, je angespannter sie innerlich war. Wenn sie es jetzt also gelöst trug, bedeutete dies, dass ich sie niemals entspannter erleben würde.

Ich holte mir meinerseits einen Becher Kaffee und setzte mich ihr gegenüber.

Als sie mich sah, erschien in ihrem Gesicht ein für ihre Verhältnisse seltenes, unverstelltes Lächeln, und sie neigte grüßend den Kopf.

»Hallo, Parker. Na, wie geht es unserem Wunderknaben?«, fragte sie, wobei ihre Stimme wie immer jenen leicht singenden irischen Akzent aufwies, der sie sympathisch wirken ließ. Ich erwiderte ihr Lächeln.

»Anscheinend suizidal.«

»Um Himmels willen«, sagte sie mit gespielter Besorgnis. »Soll ich Ihnen vielleicht ein paar Antidepressiva holen?«

»Nein, nein, nichts dergleichen«, erwiderte ich lachend. »Wenn ich ›suizidal‹ sage, soll das heißen, dass ich darüber nachdenke, etwas zu tun, das jeder andere wahrscheinlich für sehr dumm halten wird.«

»Und weil es dumm ist, wenden Sie sich an die älteste Närrin der ganzen Station. Ich verstehe.«

»Das habe ich nicht gemeint!«

»Natürlich nicht, mein Junge. Machen Sie sich nicht in die Hose«, sagte sie und vollführte eine beruhigende Geste. »Was ist denn diese halsbrecherische Aktion, die Sie im Kopf haben?«

Ich beugte mich verschwörerisch vor und gestattete mir eine dramatische Pause, bevor ich ihre Frage beantwortete. »Ich möchte versuchen, Joe zu therapieren.«

Nessie, die sich ebenfalls vorgebeugt hatte, um zu hören, was ich sagte, lehnte sich so plötzlich und so heftig zurück, dass man meinen konnte, etwas hätte sie gestochen. Ein lautes Platschen erklang, als ihr Kaffeebecher auf dem Boden aufschlug.

»Jesus«, hauchte sie, und jetzt war ihr irischer Akzent unüberhörbar. »Machen Sie bloß keine Witze darüber, Sie vorwitziger Grünschnabel. Hat Ihre Mutter Ihnen nie beigebracht, dass man alte Damen nicht erschrecken soll?«

»Ich mache keine Witze, Nessie. Ich habe wirklich vor – «

»Doch, das alles ist ein verdammter Scherz, und es sollte auch nie etwas anderes sein.« Ihre grünen Augen waren jetzt purpurgrau vor Zorn, doch als ich sie ansah, konnte ich irgendwie spüren, dass ihre Wut nicht mir galt. Sie sah aus wie eine Bärin, die gerade ihr Junges in Sicherheit gebracht hatte. Sanft legte ich meine Hand auf ihren Arm.

»Es tut mir leid, Nessie. Ich wollte Ihnen keine Angst einjagen.«

Ihr Blick wurde milder, doch ihr Gesichtsausdruck war noch immer angespannt. Jetzt sah sie wirklich verhärmt aus. Sie legte ihre Hand auf meine. »Es ist nicht Ihre Schuld, mein Junge«, sagte sie, und je mehr ihr Schreck nachließ, umso mehr verschwand ihr Akzent. »Aber Sie haben keine verdammte Ahnung, wovon Sie sprechen, und es ist das Beste für Sie, wenn Sie es niemals herausfinden.«

»Warum?«, fragte ich leise. »Was stimmt nicht mit ihm?« Und weil ich wusste, dass sie möglicherweise nicht antworten würde, fügte ich hinzu: »Nessie, Sie wissen, dass mir manchmal mehr durch den Kopf spukt, als mir guttut. Aber ich mag keine Rätsel, die ich nicht lösen kann.«

»Das ist nicht meine Schuld«, sagte sie kühl, und ihr Blick wurde wieder hart. »Aber sei’s drum. Ich werde Ihnen den Grund verraten. Jedes Mal, wenn ich Medikamente in sein … Zimmer bringe, frage ich mich, ob es nicht besser wäre, mich irgendwo in dieser Klinik einzuschließen, nur um dergleichen nie wieder tun zu müssen. Ich kann kaum schlafen wegen der Albträume, die ich manchmal bekomme. Und deshalb, Parker, sollten Sie mich beim Wort nehmen und sich von ihm fernhalten, wenn Sie wirklich solch ein gewitzter Junge sind, wie Sie selbst glauben. Sonst könnten Sie irgendwann hier drin enden wie er. Und das will wirklich niemand von uns.«

Ich wünschte, ich könnte behaupten, ihre Worte seien nicht umsonst gewesen, aber in Wahrheit stachelten sie meine Neugierde nur noch mehr an. Davon abgesehen genügt es wohl, wenn ich sage, dass es das letzte Mal war, dass ich meinen Ehrgeiz, den geheimnisvollen Patienten zu heilen, offen gegenüber einem Mitarbeiter erwähnte. Genau genommen hatte ich jetzt sogar einen noch besseren Grund für diese Ambitionen: Wenn es mir gelang, ihn zu heilen, würden Nessie und alle, die mit ihm zu tun hatten, das verlieren, was sich nach der größten Quelle für alle Schwierigkeiten in ihrem Leben anhörte. Deshalb musste ich seine Krankenakte finden und herausfinden, ob ich eine Diagnose würde stellen können.

Sie fragen sich jetzt vielleicht, warum ich nicht einfach meiner Vorgesetzten Fragen über den Patienten gestellt, sondern schließlich zu einer List gegriffen habe, um an die Unterlagen zu gelangen. Die Arbeit in der Klinik war so organisiert, dass ich Dr. G., die medizinische Direktorin, die mich eingestellt hatte, nur selten zu Gesicht bekam. Mein unmittelbarer Vorgesetzter bei der täglichen Arbeit war ein Mann namens Dr. P., und unglücklicherweise wusste ich schon nach unserer ersten Begegnung, dass wir schnell aneinandergeraten würden. Er war ein abgespannt aussehender Bär von einem Mann mit einer fassartigen Brust, rasiertem Schädel und einem so wild wuchernden Bart, dass darin die Kadaver mehrerer kleiner Tiere hätten versteckt sein können. Seine gelangweilten Schweinsäuglein strömten durch ihre schmalen Schlitze eine so hartnäckige Verdrießlichkeit aus, dass, wie mir schien, wohl nicht einmal ein Lottogewinn ihn glücklich gemacht hätte. Gleich zu Anfang schikanierte er mich, doch ich fand schnell heraus, dass er nur sein Gewicht in die Waagschale warf, um klarzustellen, dass er es war, der im Haus die älteren Rechte hatte. Später fand ich heraus, dass er in Wahrheit faul und seiner Arbeit kaum gewachsen war – seine Standardbehandlung gegenüber allen Patienten bestand darin, sie so sehr mit Medikamenten vollzupumpen, bis sie völlig abgestumpft waren –, was mir bei meiner Arbeit große Freiheiten ließ. Glücklicherweise stellte er sich unser Verhältnis so vor, dass ich möglichst wenig mit ihm sprach, ganz zu schweigen davon, dass ich Rat und Führung bei ihm gesucht hätte, und ich ihm keinen Grund lieferte, dass ein anderer Mitarbeiter mit ihm über mich hätte reden müssen. Tatsächlich nahm er kaum an den vorgesehenen Teambesprechungen teil, jenen kurzen Informationssitzungen, die fast täglich stattfanden und bei denen sich alle Beteiligten über die Behandlungspläne der einzelnen Patienten austauschten. Ich sah ihn nicht einmal häufig außerhalb seines Büros, wohin er sich oft mürrisch und unsicher zurückzog.

Doch zurück zu meiner Jagd nach Joes Krankenakte. Um Zugang zu den Unterlagen eines Patienten zu bekommen, der vor dem Jahr 2000 eingeliefert worden war, musste ich einen der für das Archiv zuständigen Angestellten bitten, die – ausschließlich in Papierform existierenden – Aufzeichnungen herauszusuchen, wozu er den Nachnamen des Patienten brauchen würde. Das lag daran, dass die Klinik vor dem Jahr 2000 außer den Namen und den Aufnahmedaten noch nichts digitalisiert hatte. Eine Suche mithilfe des Vornamens oder des Aufnahmedatums wäre zwar theoretisch möglich gewesen, doch man hatte mir gesagt, ich solle darauf verzichten, darum zu bitten, es sei denn, ich wolle, dass der betreffende Mitarbeiter mich umbringe.

Schließlich fand ich die Lösung durch einen Zufall. Es gelang mir in einem jener seltenen Momente, in denen Nessie ihren Medikations- und Dienstplan offen liegen ließ, einen Blick darauf zu werfen; üblicherweise behielt sie ihn eifersüchtig im Auge. Zu meiner gewaltigen Erleichterung war dies anscheinend das einzige Dokument, auf dem Joes vollständiger Name eingetragen war: Joseph E. M.

Um der klatschsüchtigen Mitarbeiterin aus dem Weg zu gehen, die unter der Woche für das Archiv zuständig war und stets schnippisch reagierte, wenn ich berechtigterweise einen Blick in die Akten werfen musste, ging ich an einem Wochenende ins Archiv, als Jerry, ein Alko­holiker, der nur mit Mühe seinen Pflichten nachkommen konnte, dort Dienst tat. Er ließ mich eintreten, erklärte mir, wohin ich gehen müsse, und ermahnte mich mit verwaschener Stimme, ich solle »die besch… Akten« unbedingt an ihren Platz zurückstellen, sobald ich fertig sei, woraufhin er sich wieder auf seinen Stuhl fallen ließ.

Und dann hatte ich es. Joseph E. M. war 1973 im Alter von sechs Jahren zum ersten Mal aufgenommen worden, und eine entsprechende Markierung verriet, dass er sich noch immer in der Obhut der Klinik befand. Die Akte war so dick mit Staub bedeckt, dass ich mir kaum vorstellen konnte, dass jemand sie während der letzten zehn Jahre geöffnet hatte, und sie war zum Bersten umfangreich.

Doch die klinischen Notizen waren noch immer vorhanden und in überraschend gutem Zustand, ebenso wie das grobkörnige Schwarz-Weiß-Foto eines blonden Jungen, der mit weit aufgerissenen Augen und wilder Miene in die Kamera starrte. Das bloße Betrachten des Bildes flößte mir ein Gefühl der Schutzlosigkeit ein. Ich wandte meinen Blick ab, konzentrierte mich auf die klinischen Notizen und begann, diese zu überfliegen.

Beim Lesen der Berichte fiel mir auf, dass die Aussage, Joe sei nie diagnostiziert worden, nicht ganz der Wahrheit entsprach. Es war keineswegs so, dass es keine Diagnose gegeben hätte – es gab sogar jede Menge davon. Joes Symptome jedoch schienen sich auf unvorhersehbare Weise immer wieder zu verändern. Das Überraschendste war, dass man Joe zu einem frühen Zeitpunkt seiner Existenz innerhalb unseres Gesundheitssystems schon einmal entlassen hatte, nachdem er nur achtundvierzig Stunden lang in der Klinik gewesen war. Hier die vollständigen Notizen seines damaligen Arztes.

5. Juni 1973

Patient Joseph M. ist ein sechs Jahre alter Junge, der unter akuten nächtlichen Ängsten leidet, zu denen lebhafte Halluzinationen einer Kreatur gehören, die in den Wänden seines Zimmers haust und nachts herauskommt, um ihn zu erschrecken. Josephs Eltern haben ihn nach einem besonders heftigen Anfall, bei dem sich Joe an den Armen signifikante Quetschungen und Abschürfungen zugezogen hatte, in die Klinik gebracht. Der Patient behauptet, diese stammten von den Klauen der Kreatur. Könnte auf die Neigung hinweisen, sich selbst zu verletzen. Verschrieben: 50 mg Trazodon, zusammen mit einer grundlegenden Therapie.

6. Juni 1973

Der Patient war in der Therapiesit­zung kooperativ. Er leidet unter aku­ter Entomophobie und möglicherweise audiovisuellen Halluzinationen. Letzte Nacht litt er keine Schlafstörungen, erklärte aber, dies liege nur daran, »dass das Monster nicht hier wohnt«. Als dem Patienten gegenüber die Möglichkeit erwähnt wurde, dass das Monster nur ein Teil seiner selbst sein könne, reagierte er sehr aufgeschlossen, was auf nichts Ernsteres als normale Kindheitsängste zu deuten scheint. Habe den Eltern vorgeschlagen, dass wir den Patienten für weitere 24 Stunden zur Beobachtung bei uns behalten und gegebenenfalls eine Therapie mit leichten Antipsychotika in die Wege leiten sollten, wenn es zu weiteren Hinweisen auf Halluzinationen käme. Sie waren einverstanden.

Fast hätte ich gelacht. Es schien lächerlich, dass eine so knappe Folge von Einträgen das Vorspiel zu Jahrzehnten voller Grauen werden sollte. Trotzdem las ich zügig weiter. Die Notizen ließen erkennen, dass Joe anscheinend nach jenen weiteren vierundzwanzig Stunden wie angekündigt entlassen worden war. Darüber hinaus gab es einen Hinweis auf eine Tonaufnahme von Joes damaliger Therapiesitzung, deren Archivnummer ich sorgfältig in das Notizbuch eintrug, das ich mitgebracht hatte.

Doch der Optimismus der Ärzte während Joes erstem Aufenthalt war offensichtlich unangebracht gewesen, denn schon am nächsten Tag war Joe wieder zurück, und diesmal litt er unter einer Reihe weitaus heftigerer Störungen. Und danach wurde er nie wieder entlassen. Hier folgen die Notizen von jener zweiten Aufnahme in die Klinik.

8. Juni 1973

Patient Joseph M. ist ein sechs Jahre alter Junge, der bereits zuvor wegen nächtlicher Ängste aufgenommen worden war. Sedativa und eine rudimentäre Verhaltenstherapie waren verschrieben worden. Seither hat sich der Zustand des Patienten dramatisch verändert. Er zeigt nicht länger Anzeichen von Entomophobie oder möglichen Halluzinationen. Stattdessen scheint der Patient in einen präverbalen Zustand regrediert zu sein. Zusätzlich zeigt er eine ausgeprägte Neigung zu Gewalt und Sadismus. Der Patient hat mehrere Klinikmitarbeiter angegriffen und musste fixiert werden. Trotz seines relativ geringen Alters scheint der Patient intuitiv zu wissen, welche Teile des menschlichen Körpers besonders verletzlich und schmerzempfindlich sind. Möglicherweise trifft dies sogar konkret in Bezug auf einzelne Personen zu. So trat der Patient eine ältere Schwester gegen das Schienbein, an dem sie erst kürzlich operiert worden war. Die Schwester musste in einem Rollstuhl weggefahren werden.