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Magisterarbeit aus dem Jahr 2009 im Fachbereich Germanistik - Neuere Deutsche Literatur, Note: 1,3, Ludwig-Maximilians-Universität München, Sprache: Deutsch, Abstract: Im historisch-politischen Kontext der DDR und der Wiedervereinigung werden Texte von Heiner Müller, Stefan Schütz, Thomas Brasch, Volker Braun und Peter Hacks untersucht. Die Arbeit verfolgt die Entwicklung des Mythos im ostdeutschen Drama und spannt dabei einen Bogen über vier Jahrzehnte. Nach einer ausführlichen Einführung in die Mythosrezeption in der DDR, stehen Textanalysen im Vordergrund.
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VERENA v. WALDOW
9. Fachsemester
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Mythen sind Geschichten von hochgradiger Beständigkeit ihres narrativen Kerns
und ebenso ausgeprägter marginaler Variationsfähigkeit. Diese beiden Eigenschaf-
ten machen Mythen traditionsgängig: Ihre Beständigkeit ergibt den Reiz, sie auch in
bildnerischer oder ritueller Darstellung wiederzuerkennen, ihre Veränderbarkeit den
Reiz der Erprobung neuer und eigener Mittel der Darbietung.1
Hans Blumenberghebt in diesem Zitat zwei wichtige Merkmale des Mythos hervor: die Kontinuität und die Modifikationsmöglichkeit. Dass der Mythos seit Homer in der Literatur immer einen Platz hatte, ist mit diesen beiden Aspekten zu erklären. Der Kern beschreibt die existenzielle Grunderfahrung, mit der sich die Menschheit ausei-nandersetzen muss, wohingegen die Veränderbarkeit in den unendlichen Möglichkeiten liegt, die der Mythos für die künstlerische Gestaltung dieses Kerns bietet.Blumbergbezeichnet diese zwei Aspekte als „Grundmythos“2und „Kunstmythos“3. Im Grundmythos sieht er nicht das Vorgegebene, sondern das am Ende sichtbar Bleibende, das den Rezeptionen und Erwartungen genügen konnte“4. Der Kunstmythos hingegen sei die „Ausgestaltung elementarer Grundfiguren“5in der Kunst. In der vorliegenden Arbeit soll der Mythos als Synonym eines literarischen Stoffes betrachtet werden, dessen Kern die Helden- und Göttergeschichten der Antike bilden. Sie haben nicht einen Autor, sondern sind Weltzugänge und Bekenntnisse einer Gemeinschaft, mit dem Ziel, die widersprüchliche Welt zu verstehen. Es gibt viele Gründe, sich literarisch mit dem Mythos auseinanderzusetzen. Es könnte eine Flucht sein in die Welt des Altbekannten, in die Sicherheit der Tradition und des Kanons. Die Antike könnte für den Autor einen Rückzugsort darstellen, in dem literarische Wahrheitsfindung trotz schwieriger politischer Verhältnisse möglich ist.
Übersetzungen und Neubearbeitungen des antiken Mythos können aber auch eine Aktualisierung, eine Auseinandersetzung mit der Gegenwart sein. So können Autoren die Mythen um- und weiterschreiben, um damit auf die Probleme der eigenen Zeit zu verweisen. Der Rückgriff auf die Antike bedeutet nicht, dass die Gegenwart weniger präsent ist. Die Konflikte der Antike können dabei aktualisiert werden und auf die Probleme der Zeit des jeweiligen Autors bezogen werden. Sie können
1Blumenberg,Hans: Arbeit am Mythos, Frankfurt a.M. 1979, S.194 f.
2Ebd., S. 192f.
3Ebd.
4Ebd.
5Ebd., S. 194.
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Der antike Mythos in der Literatur der DDR ist in der Forschung recht häufig besprochen worden. So findet z.B.Wolfgang EmmerichsBeschäftigung mit dem Mythos in unzähligen Aufsätzen statt. Besonders hervorzuheben ist sein AufsatzAntike Mythen auf dem Theater der DDR. Geschichte und Poesie, Vernunft und Terror7ist ein Standardwerk, das in jeder Arbeit zum Mythos in der DDR zitiert wird.Emmerichbetont vor allem, dass die Autoren die „lectio difficilior“ der „lectio facilior“ vorziehen. Die Mythosaneignung in der DDR sei weder eine Form der „Sklavensprache“, noch ein Sprung in die realitätsferne Utopie, sondern kritische poetische Bearbeitung.
Das ostdeutsche Standardwerk zur Antike in der DDR stammt vonVolker Riedel.Seine ArbeitAntikerezeption in der Literatur der Deutschen Demokratischen Republik8betont die erborientierte Mythosaneignung. Die vielfältige Auseinandersetzung ist demnach eine Bestrebung, die Nachfolge einer klassischen Antikerezeption anzutreten. Einig ist sichRiedelin dieser These mitChristoph Trilse9undRüdiger Bernhardt10.
6Assmann,Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen
Hochkulturen, München 1993, S. 47.
7Emmerich,Wolfgang: Antike Mythen auf dem Theater der DDR. Geschichte und Poesie, Vernunft
und Terror, in:Profitlich,Ulrich: Dramatik der DDR, Frankfurt a.M. 1987.
8Riedel,Volker: Antikerezeption in der Literatur der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin
1984.
9Trilse,Christoph: Antike und Theater heute. Betrachtungen über Mythologie und Realismus, Tradi-
tion und Gegenwart, Funktion und Methode, Stücke und Inszenierungen, Berlin 1975.
10Bernhard,Rüdiger: Antike-Rezeption im Werk Heiner Müllers, Halle/Saale 1978.
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Die Antikerezeption in der DDR war von einer grundlegenden Ambivalenz geprägt. Auf der einen Seite wurde der Mythos nach seinem Missbrauch durch Alfred Rosenberg, Chefideologe der Nazis, skeptisch betrachtet. Zu leicht hatten die Nazis die Geschichten umgedeutet und für die eigene Ideologie gefügig gemacht.13Diese Skepsis nach dem zweiten Weltkrieg ist aber eine gesamtdeutsche Einstellung, die beide deutsche Literaturen prägte. Das Verständnis für die Entwicklung des antiken Mythos in der DDR erschließt sich erst durch die Betrachtung von zwei Texten: Karl Marx’Methoden der politischen Ökonomieund Bertolt BrechtsAntigone des Sophokles.Die Texte des „Staatsideologen“ der DDR, Marx, sind wichtig, um den Umgang von Staat und Politik mit der antiken Mythologie zu verstehen. Brecht dagegen hatte - als literarischer Übervater des jungen sozialistischen Staates - allgemein starken Einfluss auf die Autoren der DDR. Die Art und Weise seiner Beschäftigung mit dem Mythos inAntigonemusste sich daher auch auf die weitere Entwick-11vonEngelhardt,Michael/Rohrwasser, Michael: Mythos und DDR-Literatur, in: Michigan Germanic
Studies, Bd. VIII, No. 1-2, Special Issue on the Literature of the German Democratic Republic, Früh-
jahr/Herbst 1982.
12So z.B. beiCrciun,Ioana: Die Politisierung des antiken Mythos in der deutschsprachigen Gegen-
wartsliteratur, Tübingen 2000;Georg,Sabine: Modell und Zitat. Mythos und Mythisches in der
deutschsprachigen Literatur der 89er Jahre, Aachen 1996;Bock-Lindenbeck:Nicola: Letzte Welten -
Neue Mythen. Der Mythos in der deutschen Gegenwartsliteratur, Köln 1999.
13Siehe:Demandt,Alexander: Hitler und die Antike, in:Seidensticker,Bernd/Vöhler, Martin (Hrsg.):
Urgeschichten der Moderne. Die Antike im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2001, S. 139f.
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Karl Marx zeigt im Vorwort zuKritik der politischen Ökonomiekein Verständnis für den antiken Mythos. Er verbannt die antiken Geschichten in den Bereich des Naturmythos und ordnet sie der Kindheitsgeschichte der Menschheit zu.Wolfgang Emmerichschließt daraus:
„Mit Mythologie und Marxismus sind zunächst Gegensätze markiert, die einander
auszuschließen scheinen. Gehört das eine in die Vor-Geschichte und damit zugleich
in ein vorwissenschaftliches Zeitalter, so ist das andere, nach seinem eigenen Ver-
ständnis, emphatischer Inbegriff des wissenschaftlichen Zeitalters und, auf der Ebene
gesellschaftlicher Praxis, bewusster, selbstgemachter Geschichte.“14
Geschichten, die von Göttern dominiert sind, schließen den Menschen der die Entwicklung der Geschichte mitbestimmen will, aus. Der Deus ex Machina führt die Unmündigkeit des Menschen vor und reduziert ihn auf eine Marionette der Götter. Die fortdauernde Faszination der Menschheit mit der Antike und ihrem Mythos kann Marx trotzdem nicht leugnen. Seine Erklärung hierfür ist aber sehr allgemein gehalten: „Warum sollte die geschichtliche Kindheit der Menschheit, wo sie am schönsten entfaltet (ist), als eine nie wiederkehrende Stufe nicht ewigen Reiz ausüben? (…) Der Reiz ihrer Kunst [der Griechen] für uns steht nicht im Widerspruch zu der unterentwickelten Gesellschaft, auf der sie wuchs.“15Doch diese Erklärung greift zu kurz. Marx stützt sich „bei seinem Urteil auf die Kriterien jenes Kanons, den er befragt.“16DieWarum nicht?-Frageist ein Versuch, ein allgemeingültiges ästhetisches Phänomen anhand ihrer ästhetischen Wirkung zu erklären. Die Frage, warum die griechische Antike einen „ewigen Reiz“ ausübt, wird von Marx nicht gestellt. In seiner Theorie ist der Mythos zeitlich gebunden, da „die unreifen gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen er entstand und allein entstehen konnte, nie wiederkehren können“17. Den Vorzug der Wiederverwertbarkeit, den viele Künstler seit der Antike zu schätzen wussten, spricht er dem antiken Mythos damit ab. Der
14Emmerich:Antike Mythen, S. 225.
15Marx,Karl/Engels, Friedrich: Einleitung zur Kritik der Politischen Ökonomie, in: Werke. Bd. 13,
Berlin/Ost 1975, S. 641.
16Diers,Michael: Bild versus Kunst und Kanon. Über Moden und Methoden in der Kunstgeschichte,
in:Kaiser,Gerhard R./Matuschek, Stefan (Hrsg.): Begründungen und Funktionen des Kanons. Beiträ-
ge aus der Literatur- und Kunstwissenschaft, Philosophie und Theologie, Heidelberg 2001, S. 287.
17Marx/Engels:Ökonomie, S. 642.
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Bertolt Brecht hat aber entgegen der marxistischen Kritik die Vielschichtigkeit der antiken Mythologie entdeckt. BrechtsAntigone des Sophoklesvon 1948 war für die Autoren der DDR, die sich dem antiken Mythos annäherten, wegweisend. Es scheint, als reagiere Brecht direkt auf den marxistischen Vorwurf der Irrationalität durch den Versuch der „Durchrationalisierung“21. Die Umdichtung des Stückes zielt auf eine Eliminierung des Schicksalhaften, um seiner Forderung nach mündigen Menschen Ausdruck zu verleihen.
Brecht sah sich gezwungen, „die griechische ‚Moira‘ (das Schicksalhafte) herauszuschneiden“22, welche im von Hölderlin übersetzten Text noch eine entscheidende Rolle spielt. Die „Durchrationalisierung“ ist ein wesentliches Element, um das Schicksal aus den Händen der Götter zu nehmen und den Menschen die Verantwortung für ihr Handeln zuzuschreiben. Der Mensch ist des Menschen Schicksal. So ist es nicht ein Familienfluch, der Antigones Tod verschuldet, sondern das Gesetz Kreons. Die Kapitalthese von der Eigenverantwortlichkeit des Menschen wurde vor allem von Marxistischen Interpreten besonders betont.23Die wohl wichtigste Veränderung zur antiken Bearbeitung des Stoffes liegt in der Umdeutung der Figur des Kreon. Kreon wurde nicht schicksalhaft zum Kampf
18Ebd.
19Ebd.
20Ebd., S. 641.
21Brecht,Bertolt: Antigonemodell 1984, in:Hecht,Werner (Hrsg): Die Antigone des Sophokles.
Materialien, Berlin 1969, S. 8.
22Brecht,Bertolt: Aus einem Brief an S. B., Dezember 1947, in: Hecht: Antigone, S. 47.
23Barner,Wilfried: Durchrationalisierung des Mythos?, in:Lützeler,Paul Michael/Schwarz, Egon
(Hrsg.): Zeitgenossenschaft. Zur deutschsprachigen Literatur im 20. Jahrhundert; Festschrift für Egon
Schwarz zum 65. Geburtstag, Frankfurt a.M. 1987, S. 206f., Anm. 24.
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In den ersten Aufführungen wurde das Stück durch ein Vorspiel eingeleitet. Zwei Schwestern, mit eindeutigen Parallelen zu Antigone und Ismene, versäumen es im April 1945 in Berlin, ihren desertierten Bruder vor der SS zu retten. Es geht im Gegensatz zur Antigone des Sophokles nicht um die Bestattung des toten Bruders, sondern um die Rettung des lebendigen. „Er mochte nicht gestorben sein“ ist der letzte Vers im Vorspiel, der alles offen lässt. Als würde Brecht seinem Publikum nicht trauen, setzt er diesen „Aktualitätspunkt“, den er aber 1951 wieder herausstreicht und durch einen vom Seher vorgetragenen Prolog ersetzt, worin dem Publikum aufgetragen wird, eigene Assoziationen mit dem Stück zu verbinden. Doch die Durchrationalisierung des Mythos gelingt Brecht nicht vollkommen, wieBarnerzeigt26. Die Pflicht, den Bruder zu begraben, ist ein religiöses Handlungsmotiv, das den sakralen Gesetzen der Götter folgt. In der detaillierten Beschreibung des Bühnenbildes sieht Brecht Pferdeschädel auf Pfosten, Hirse und Wein als Totengeschenke, die der gefangenen Antigone in einem Zeremoniell dargebracht werden, und ein Brett, das Antigone auf den Rücken gebunden wird, vor. All diese Requisiten sind Motive des mythischen Opferkults. Auch Antigone selbst spricht zu Beginn des Stückes noch vom Familienfluch,27belehrt aber zum Schluss den Chor:„DIE ALTEN: (...)Aber des Geschicks ist furchtbar die Kraft./(…)
24Brecht,Bertolt: Notizen zur Antigone, in: Hecht: Antigone, S.112.
25Brecht:Antigonemodell, S. 8f.
26Barner:Durchrationalisierung, S. 194f.