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1976 erhält Ingeborg Wressnig aus heiterem Himmel die Diagnose: Epilepsie. Der Inhalt des Buches spiegelt ihren eigenen therapeutischen Prozess wider. Sie hat ihre realen Träume, die sie in einem Tagebuch niedergeschrieben hat, dazu verwendet, eine fiktive Autobiografie aus der Sicht der Psychotherapeutin zu entwickeln. Es ist die Geschichte einer Frau, der man gerne zuhört, wenn sie nicht nur von ihrem Alltag und ihren Träumen erzählt, sondern diese als Psychotherapeutin als Inspiration für ihr Leben nutzt. Begleitet wird die Protagonistin vom Balancierer, Symbol für ein gefühltes Verständnis, das der Mensch von seinen Problemen im Körper hat. Die Geschichte beschreibt einerseits die öffentliche Welt, die Protagonistin und ihre Familie, die Medizin und die Ärzte und andererseits die Welt der Psychotherapie in der Zeit von 1974–1994 in Österreich, Deutschland und der Schweiz. Die Protagonistin versucht sich im Chaos des damaligen psychotherapeutischen Feldes zu orientieren.
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Seitenzahl: 177
Dr. Ingeborg Wressnig
Der Balancierer
Mein Leben mit Epilepsie:
Die Entwicklung der Psychotherapie
in Österreich 1974–1994
Leykam
meine Schreibpädagogin Birgit Krenn,
die ersten Leser meines Manuskriptes: meinen Mann Kurt,
meine Töchter Katharina, Anna und Barbara.
Gerald, Uta
Herta, Thordis, Nicole, Rudi, Guido
Arthur Kullnig und
meine Lektorin Frau Mag. Elisabeth Klöckl-Stadler.
Sie alle haben mich ermutigt, mein Buch zu veröffentlichen.
Der Reinerlös des Buchverkaufs kommt dem
Institut für Epilepsie in Graz, Georgigasse 12,
zugute.
Erfolg haben heißt,
einmal mehr aufstehen, als man hingefallen ist.
(Winston Churchill)
Da stand das kleine Mädchen mit seinem roten Lockenkopf. Sein nachdenkliches Gesicht, die winzigen Fältchen auf der Stirn. Seine neugierigen Augen waren auf die singenden Geburtstagsgäste gerichtet. Löwen, Elefanten und Bären aus Zucker schmückten die Geburtstagstorte. Seine mutige Hand, zwischen Neugierde und Skepsis, Freiheit und Anpassung hin und her gerissen, steuerte direkt auf den Löwen zu. Die Hand der Mutter bremste es. Die Wunderkerze fehlte.
Der Rotschopf verwandelte sich in eine Schnecke. Die Schnecke lief Gefahr, von Menschen, Autoreifen, Gift zerstört, zerquetscht, aufgelöst zu werden. Das wollte ich nicht. Ich ging auf sie zu, legte sie auf die Hand und brachte sie in den Weingarten. Dort setzte ich sie auf den Boden und baute ihr ein Schneckenhaus. Sie brauchte Schutz.
Ich wurde gerufen, musste zu den Geburtstagsgästen nach oben, drehte mich um und blickte noch einmal zurück. Ich vermisste meine kleine unschuldige Schnecke, die mehr und mehr einem Regenwurm ähnelte. Jetzt war er verschwunden, verzweifelt rief ich nach dem kleinen Wurm. Panische Angst, ihn zu verlieren, trieb mich durch die Weinhänge. Ich begann zu laufen, zu schreien, bis ich die nasse Decke von mir warf und an einem ganz normalen Tag im November erwachte.
Ich hatte es eilig. Zuerst musste ich die Uhr zum Uhrmacher, dann das Geld auf die Bank bringen. Milch, Gemüse, Joghurt, Obst einkaufen, Waschmittel, Badezimmerreiniger, Taschentücher besorgen. Das Rezept abholen, für Georg das Auto zum Mechaniker bringen. Wo fand ich einen Parkplatz? Es würde nur fünf Minuten dauern, um die Uhr abzugeben, also stellte ich mich in die Ladezone. Ich legte die Uhr auf das Ladenpult, teilte der Verkäuferin meine Telefonnummer mit, drehte mich um und huschte hinaus. Da standen sie, die beiden Herren von der Polizei.
„Na, Fräulein, stehen wir schon eine halbe Stunde in der Ladezone?“
„Nein, fünf Minuten.“
„Das glauben aber auch nur Sie.“
„Das glaube ich nicht, das weiß ich.“ Ich blickte auf die Uhr. Leider hatte ich keine mehr an meinem Handgelenk.
„Na, was zeigt Ihre Uhr?“
„Ich habe sie vor fünf Minuten in den Laden getragen, um sie richten zu lassen.“
„Und wie können Sie dann wissen, dass es nur fünf Minuten waren?“
„Bitte hören Sie auf mit Ihren Machtspielen.“
„Na, Sie sind ja ganz schön emotional aufgeladen, normal ist das nicht mehr, Sie gehören ja in die Psychiatrie!“
„Kann ich bitte Ihren Namen und Ihre Dienstnummer haben?“
Die Herren wurden unsicher und gaben mir, worum ich sie gebeten hatte.
Zu Hause angekommen fragte ich mich, wieso mein Verhalten, reif für das „Irrenhaus“ war. Ich suchte im Duden nach dem Wort „verrückt“ und fand: „1. krankhaft wirr im Denken und … 2. auf absonderliche, auffällige Weise ungewöhnlich, … 3. über die Maßen, außerordentlich, sehr auffallend abscheulich, bestialisch, böse, bullig, dick, ekelhaft, eklig, elend, enorm, entsetzlich, fabelhaft, furchtbar, fürchterlich, gemein, gewaltig, grässlich, grauenhaft, mächtig, mörderisch, niederträchtig, teuflisch, unheimlich, unsinnig …“
Leg sofort das Buch weg, sonst machst du dich wirklich verrückt!
Dreißig Jahre führte ich ein wohlgeordnetes Leben. Diese Ordnung könnte mit meiner Kindheit zusammenhängen. Jedoch nicht unbedingt mit dem Jahr 1944.
Die Luftangriffe der USA kosteten weit über 20.000 Menschen das Leben. Schwere Schäden entstanden an öffentlichen Versorgungseinrichtungen, Verkehrs- und Industrieanlagen. Es war abzusehen, dass die Rote Armee, von Ungarn kommend, die Reichsgrenze erreichen würde. Tante Freda erzählte mir, dass meine Mutter unter dem Donner der Flak und dem Krachen und Dröhnen der einstürzenden Häuser zweimal von ihrem Frauenarzt in den Luftschutzkeller des Sanatoriums getragen wurde. Dann, am 8. November 1944, war es so weit, ich erblickte in Graz das Licht der Welt. Meine Mutter war überglücklich, nach zwei Buben ein Mädchen in ihren Armen zu halten. Mein Vater musste sechs Kilometer zu Fuß von seiner Arbeitsstelle in die Innenstadt gehen, um mich in seine Arme zu nehmen. Straßenbahn- und Eisenbahnlinien waren von den Bombenangriffen zerstört worden. Die Gemeindemühle und das Kraftfutterwerk, das mein Großvater gepachtet hatte, waren wie durch ein Wunder verschont geblieben. Aber die Wohnung meiner Eltern am Lendkai war schwer beschädigt und unbewohnbar.
Zu jener Zeit war mein ältester Bruder Alexander wegen Scharlach im Spital, wo ihm Tante Freda eine Ansichtskarte von Mutti übergab. Mutti hatte ihm geschrieben, dass er sich freuen könne, weil er jetzt eine Schwester habe. Er wollte keine Schwester, er wollte seine Mutter. Mein zweiter Bruder, Martin, wusste auch nichts mit einer Schwester anzufangen.
Erzählungen meines Vaters zufolge war es eine grauenhafte Zeit. Der letzte Gauleiterbefehl an meinen Großvater war ein Fahrbefehl nach Schladming, um dort unverzüglich eine leistungsfähige Mühle aufzustellen. Schladming liegt in der Obersteiermark, im oberen Ennstal. Die Stadt wird im Norden umrahmt vom Dachsteingebirge und im Süden von den Niederen Tauern. Im Ennstal gab es Tausende Flüchtlinge und Hunderte Waggons mit Getreide zum Brotbacken, aber keine einzige Mühle.
Meine Brüder waren damals an den Grünen See in Tragöß umquartiert worden. Der Grüne See ist ein Stillgewässer und füllt sich beim Einsetzen der Schneeschmelze mit kristallklarem Wasser, wobei das Wasser selbst natürlich farblos ist, aber durch die Brechung des Lichtes und durch das vorhandene Gestein schimmert es in einer smaragdgrünen Farbe. Später erzählten meine Brüder immer wieder von der herrlichen Zeit der Indianerspiele rund um den See.
Mein Vater war als Rechtsberater bei meinem Großvater angestellt. Dieser bat meinen Vater, die ganze Großfamilie vom Grünen See in die Ramsau, eine Region nördlich von Schladming zu übersiedeln.
Es war ein Husarenstück, das mein Vater meisterte. Er packte meine Tante, das Dienstmädchen Luise, meine Brüder, Cousins und Cousinen in ein Lastauto und fuhr mit der ganzen Schar vom Grünen See in die Ramsau. Zwei Mal wurde mein Vater von den SS-Schergen Adolf Hitlers aus dem Wagen geholt. Sie hielten ihm die Maschinenpistole vor die Nase, in der Annahme, dass er ein Deserteur in Zivil sei. Nur der Wehrpass und der Befehl des Gauleiters retteten ihn vor dem Tod im Straßengraben.
Meine Mutter und ich durften später in die Ramsau, in das Gasthaus Waldhof, nachkommen.
Mit dem Einmarsch der Amerikaner änderte sich die Situation schlagartig. Mein Vater wurde fristlos entlassen. Die Russen nahmen aus der Mühle alles mit, was sie nur bewegen konnten. Die Erleichterung über das Ende des Krieges im Mai 1945 und die Hoffnung, dass es in Österreich nur besser werden könnte, überwog alle Gefühle der Erschöpfung und Enttäuschung.
Ein Jahr nach meiner Geburt begann ein neues Österreich.
Ende 1946 übersiedelte die ganze Familie wieder nach Graz.
Ich war ein ganz normales Baby und entwickelte mich schnell zu einer begeisterten Bilderbuchleserin. Mein Lieblingsbuch war „Tiniwini, der kleine Fisch“. Tiniwini hatte Vater und Mutter, einen Fischbruder und eine kleine Fischschwester. Tiniwini schwamm hinter den Eltern, dann kam sein Bruder Tiniwani, dann schwamm zart und fein Tiniwinis Schwesterlein hinterdrein. Die Fischfamilie wirbelte durch die schönsten Flüsse und Seen des zerbombten Österreich.
Zweimal in der Woche, wenn meine Mutter Obst und Gemüse aus dem Garten ihres Vaters holte, durfte ich mit ihr in der Straßenbahn vom Südtiroler Platz bis in die Puchstraße zum Opa fahren. Am liebsten war ich im Erdbeerbeet. Ich kletterte aber auch auf Bäume, pflückte Kirschen, Birnen und Zwetschken. Mit den Geschwistern, Cousinen und Cousins spielte ich Winnetou und das eine oder andere Mal durfte ich sogar in die Rolle von Winnetous Schwester Nscho-Tschi schlüpfen.
Einmal, so erzählte mein Bruder Alexander, war ich mitten in der Küche plötzlich umgefallen. Ich hatte das Bewusstsein verloren. Das Kindermädchen Luise schüttete mir – als sie den ersten Schock überwunden hatte – einen Kübel Wasser ins Gesicht. Ich lachte wieder.
Zu den Familienfesten wurde getanzt, gesungen, Theater gespielt. Das Schönste war das Gleiten auf den Leinensäcken, die für das Mehl bestimmt waren. Wir rutschten auf den spiralförmigen Mehlrinnen von hoch oben tief nach unten in das Lastauto, das auf die nächste Fahrt wartete. Das freudige Lachen war überall zu hören und blieb mir ein Leben lang im Ohr. Für mich war es eine lustige Zeit. Für meine Eltern eine Zeit des Geldverdienens und des Vergessens.
Ich hörte gerne meiner Mutter zu, wenn sie mir Grimms Märchen vorlas. „Aschenputtel“, „Der Froschkönig“ oder „Hänsel und Gretel“. Der Traum jedes kleinen Mädchens war jener von der Liebe zwischen dem Prinzen und der Prinzessin. Der Prinz erlöst die Prinzessin von ihren Leiden und der Ungerechtigkeit der Welt. Als kleines Mädchen wollte ich zuerst, dass mein Vater mich erlöst, dann, mehr unbewusst als bewusst, mein erster Freund, später mein Mann, dann Gott und am Ende mein Therapeut.
In der Schule interessierte ich mich mehr für die schlimmen Kinder als für die behüteten, braven. Fremde Welten zogen mich an. Begegnung bedeutete für mich Spiel, Verführung, mich in Szene setzen. Spielkameraden und Spielkameradinnen hatte ich immer genug.
Als ich neun Jahre alt war, besuchten meine Eltern Tante Mimi, und ich durfte mit. Immer auf der Suche nach einem Turngerät schwang ich mich auf die Teppichklopfstange. Ein Felgaufschwung, ein Krach, ein Schmerz, ich brüllte um Hilfe. Entsetzte Gesichter in meinem Umfeld. Mutter weinte, meine schönen Schneidezähne waren abgebrochen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich mich ganz in Ordnung gefühlt. Nun änderte sich dieses Gefühl ein wenig. Meine Schönheit, so dachte ich, war verloren.
Als Jugendliche wollte ich Freundinnen finden, Freunde haben, befreundet sein mit denen, die größer, wichtiger, reicher, gescheiter, bedeutender waren als ich.
Meine erste Liebe war Bernd. Er interessierte sich für das Theater, brachte mir Kafka nahe. Bernd war ein rebellischer Antiheld, wie Belmondo. Er hielt sich an keine Regeln, war ein Kleinganove. Wir verbrachten viel Zeit auf Partys, bei Matura-Kränzchen und im Kino. Dann ging Bernd nach Wien und studierte Theaterwissenschaften, ich ging weiterhin in die Schule. Einmal besuchte ich Bernd sogar in Wien, aber in der Großstadt hatte er an Bedeutung verloren. Er war weder Komödiant noch sportlicher Held – er war kein Belmondo mehr. Unsere Wege führten in verschiedene Richtungen: Ich studierte in Graz Geschichte und Philosophie, er blieb den Theaterwissenschaften treu.
Dann ging ich nach Paris, um Französisch zu studieren. Dort lud mich ein junger Franzose zu einem unvergesslichen Event ein: Ich sah und hörte die Beatles, den Franzosen habe ich vergessen. Die große Welt traf sich in Paris und nicht in Graz, und ich gehörte zu denen, die die große Welt kannten.
Ich erinnere mich daran, dass ich immer wieder Angst hatte, dass meine Mutter zu viel arbeitete, zu viel putzte, sich zu sehr um andere Sorgen machte. Einmal weinte sie in der Kirche während der Christmette. Ich war unsicher, ob meine Mutter nur erschöpft war oder ganz andere Sorgen hatte.
Es war in einer kalten Nacht 1953, als das Bett neben Mutti leer stand. Ich schlief im gleichen Zimmer und hörte sie weinen. Mitfühlend fragte ich sie, wo Vater geblieben sei. „Vater ist krank, er ist im Sanatorium.“ Waren es Tränen des Glücks, weil er gut versorgt wurde, oder Tränen der Angst und Trauer?
Im Schlafzimmer war es eiskalt. Ich schlüpfte immer tiefer unter die Decke, zog meine Beine hoch, mit den Händen umfasste ich meine Knie. Wie ein Ei lag ich am Bettende meiner Mutter. Sollte ich sie trösten, bei ihr Schutz suchen, Fragen stellen? Ich hatte Angst, Mutti könnte zum Vater eilen. Angst, allein zurückzubleiben. Ich wollte nicht vor zwei leeren Betten die Nacht verbringen. Ich wollte mit meinen Cousinen, Onkeln und Tanten lachen – wie damals, als Vaters Geburtstag gefeiert wurde. Mutti hatte eine kleine Geburtstagsrede gehalten: „Lasst uns Gott danken, dass unser Vater wegen eines Magengeschwürs dem Kriegsgeschehen entkommen konnte. Dass Gott ihn nach Hause schickte, dass wir gemeinsam heute seinen Geburtstag feiern dürfen.“
Ob Gott auch dieses Mal an Vater dachte?
„Bitte lieber Gott, vergiss Mutti und mich nicht, ich bin am Erfrieren und Muttis Sorgen werden sie noch umbringen.“
Mit dem Gedanken an Gott kam der Schlaf wieder. Als mein Vater zwei Wochen später nach Hause kam, erzählte er strahlend, dass seine Freunde, die Ärzte, und nicht Gott ihm ein zweites Mal sein Leben geschenkt hatten.
Wenn mein Vater damals in meiner Mittelschulzeit die Geschichte-, Religion- und Philosophieskripten mit mir durcharbeitete, war ich ihm ganz nah. Er konnte viele Fragen beantworten, ließ aber auch viele Fragen offen, so als ob nur ich selbst sie beantworten könne. Er warnte mich vor „Viren des Geistes“ – Glaubenssätzen, die wie Viren den befallenen Organismus zur Weiterverbreitung ihres eignen Erbguts anregten.
Kein Wunder, dass ich Geschichte und Philosophie studierte, um in Erfahrung zu bringen, was er damit wohl meinen könnte.
Mein Hauptaugenmerk als Studentin richtete sich aber auf Partys, Kinobesuche, Sport und auf die Männerwelt.
Einmal stand meine Mutter im Nachthemd auf der Straße, während ich mit meinem Freund Christian im Auto über die Welt philosophierte.
„Es ist Zeit, dass du nach Hause kommst!“ Ich rutschte vor Scham auf den Boden des Autos. Christian fand die Szene lustig.
Es war das Jahr 1967. Wie im Märchen stand er eines Tages vor mir, Prinz Georg. Er forderte mich zum Tanz auf, erklärte und zeigte mir die Welt. Mit mir wollte er sein Leben teilen und Kinder haben. Ein Prinz, der mich liebte, verehrte und mich zum Traualtar führen wollte, war der Richtige. Er konnte sehr gut tanzen, ganz zu schweigen von seinen furchtlosen Bewegungen im Tiefschnee. Was er sagte, hatte Hand und Fuß und klang nach Abenteuer, nach fremden Welten.
1967 heirateten wir in der Kapelle des Schlosses Eggenberg.
Das Renaissanceschloss der Fürsten Eggenberg ist umgeben von einem herrlichen Park. Ich schlenderte wie eine Prinzessin durch den Park, bevor ich den Bund fürs Leben schloss.
1972 kam unsere erste Tochter Lisa zur Welt. Um 18 Uhr ging ich ins Sanatorium, um 7 Uhr in der Früh war sie dann da. Die Nacht war lang, umso größer die Freude, als sie dann in meinen Armen lag.
Im Februar 1974 folgte unsere zweite Tochter Nora. Es war eine einfache Geburt. Wir beide ließen uns im Sanatorium von den Schwestern und Ärzten verwöhnen. Als wir nach Hause kamen, war für die kleine Familie alles liebevoll vorbereitet. Ende 1974 zog die junge Familie in ihr Traumhaus nach Salzburg. Hier blickte ich gerne die Bibliothekswände entlang hinaus in den Garten. Im Esszimmer hing ein Portrait meiner Mutter, das sie als Siebzehnjährige zeigte: Die Haare zu einem Bubikopf geschnitten, schöne braune, mandelförmige Augen, leicht wulstige Lippen, ein gespitzter Mund, markante Wangenknochen, eine gleichmäßige Nase, ein lächelnder und gleichzeitig ernster Blick. Kein Wunder, dass mein Vater sich in dieses Mädchen verliebt hatte.
Mein Blick wanderte von dem Bild meiner Mutter zur Löwin aus Ton, die im Wohnzimmer auf einem geschwungenen Eisengestell thronte. Sie saß majestätisch wie eine Königin auf ihren muskulösen Hinterbeinen. Ihre Pranken konnten Angst einflößen. Sie waren zudem fantasievoll verziert. Ihre Vorderbeine stützten den graziösen Körper und anmutigen Kopf. Sie war eine natürliche Schönheit. Ich liebte ihre wachsamen Augen und Ohren, ihre feinfühlige Nase. Sie roch jede Gefahr zur rechten Zeit, um die Familie zu schützen. Darum wollte ich so sein wie sie, eine liebende Partnerin und Mutter. Die Familie, so dachte ich, ist das kleinste soziale Netz der Gesellschaft. Wenn sich Familien gesund entwickeln, wird sich die Welt zum Besseren ändern.
Ich war keine Frau, die auf den Feldern arbeiten musste. Ich war eine Frau mit normalen Händen, nicht zu breiten und auch nicht zu schmalen Fingern. Die Adern meiner Hände waren gut sichtbar und fühlbar. Lebensadern, die keine Narben erkennen ließen. Die Haut, die meine Hände umhüllte, war nicht sehr geschmeidig, aber auch nicht schrumpelig. Meine Fingernägel waren kurz und ohne Lack. Ob meine Hände und Füße attraktiv waren, danach hatte ich mich damals, als junge Frau und Mutter, nicht gefragt. So wie ich auch auf anderen Ebenen nicht viele Fragen stellte. Wie schön oder hässlich ich war, wie ich auf andere Menschen wirkte, welcher Körper mich durch die Gassen trug, wie ich meine Arme, Beine, Hüften schwang, wenn sich Menschen näherten. Ich sprach, ging, saß und bewegte mich „normal“. Für mich bedeutete normal damals, dass ich keine andere sein wollte als die, die ich war.
Die Familie war mein Lebensinhalt. Mutterschaft war für mich eine hegende Beziehung im gegenseitigen Vertrauen, in Liebe und Spiel, Selbstrespekt und Respekt vor dem anderen. Wenn Lisa zu weinen begann, nahm ich sie in meine Arme und zeigte ihr Haus und Garten. Gerne erzählte ich ihr Geschichten und sang sie in den Schlaf. Und ich liebte die verzweifelten Minifältchen auf Lisas Gesicht, wenn sie zu weinen anfing und noch nicht wusste, ob sie sich freuen sollte, dass der Schlaf vorbei war und das Leben mit all den Abenteuern wieder begann, oder ob sie sich ärgern sollte, weil sie aus ihrer Traumwelt gerissen worden war. Bald würde Lisa scharfe Messer, offene Türen und Fenster entdecken, Sand, Cremen, saure Saucen, Putzmittel kosten wollen. Ihre winzige Hand berührte meine Fingerspitzen. Ihr kleiner nackter Fuß meinen Oberschenkel. Einmal stupste ich Lisa, dann Lisa mich. Ich wollte, dass Lisa mir zeigte, wie viel Nähe oder Distanz sie brauchte. Ich wartete geduldig auf Lisas Reaktionen, um zu entscheiden, wie es weiterging.
Jeder Tag war für alle neu und aufregend, das Leben wunderschön.
Ende April 1974 fuhren Georg und ich mit Freunden zum Skifahren nach Les Menuires. Ich erinnerte mich dabei an unsere erste Sommerfahrt nach Les Menuires. Georg hatte sich damals den Jaguar seines Vaters ausgeborgt. Wir wollten die romantischen Bergstraßen erklimmen. Doch leider, der weinrote Schlitten mit dem aus Holz geschnitzten Lenkrad war zu tief gebaut. Bei jeder Unebenheit der Straße drohte das Auto aufzusitzen. Wir drehten um und rasten die Autobahnen entlang. Schon damals liebten wir Frankreich, die Menschen, die Sprache, den Wein, das gute Essen.
Jetzt im April lagen die herrlich präparierten Skipisten vor uns. Es gab immer wieder einen neuen Lift zu entdecken, das Skigebiet war unendlich weit. Salade Niçoise, Camembert und herrliche Weine hoben die Stimmung von Minute zu Minute. Überall lagen die Menschen in Liegestühlen und erfreuten sich an der Sonne und den schneebedeckten Bergspitzen.
Mit unseren Freunden ließen wir uns auf den Sesseln der Skilifte den Berg hinauftragen und rasten im Tiefschnee dem Tal entgegen. Wir zählten die Hänge, die Schwünge und sahen stolz auf unsere Wedelspuren zurück. Der Durst wurde immer größer. Weinbergschnecken mit Knoblauch und Petersilie waren etwas Besonderes. Die Franzosen konnten mit ihrer Küche punkten, wir Österreicher mit unseren Skiassen.
Die Pisten leerten sich. Niemand blickte auf die Uhr. Als die Sonne hinter den Bergen versank, waren die Lifte bereits geschlossen. Der Pistendienst schon abgefahren. Die Liftsessel baumelten verlassen im Wind hin und her.
Wir mussten, ohne Ortskenntnisse, irgendwie selber ins Tal finden. Freund Helmut hatte kein Problem mit dieser Zwangslage. Als ehemaliger Studentenrennfahrer kannte er keine Gefahr und wollte direkt die Lawinenhänge hinunterfahren. Georg widersprach sofort, wog Vorteile und Nachteile ab, sodass ich schon fürchtete, die Zeit würde nicht mehr reichen, um bei Tageslicht ins Tal zu kommen. Freund Julius fand alles nur komisch. Jörg schwieg. Die Frauen wurden immer stiller. Ich hatte Angst, dachte an die Kinder. Ein Schüttelfrost packte meinen Körper. Die Befehle in meinem Kopf wurden immer schriller und bestimmter. Ich hatte keine Ahnung, wie ich mich bei einem Lawinenabgang verhalten sollte. Für mich gab es nur zwei Möglichkeiten: Entweder wir kamen durch, oder wir waren tot.
Nein, ich wollte nicht unter die Lawine kommen! Ich hatte doch gerade erst mein zweites Kind geboren!
Der Tod war ganz nah bei mir. Er umarmte mich mit seinen eiskalten Händen.
„Ich will nach Hause“, brüllte meine Freundin Herta.
„Wir fahren jetzt alle los!“, befahl Helmut. Er war der Erste, Jörg der Zweite, dann kamen die Frauen. Georg fuhr zum Schluss. Wie ein Leichenzug begannen wir unseren Weg nach unten.
Bitte, Kinder, verzeiht uns! Es war allein unsere Schuld, wir haben als Eltern versagt. Frei sein wollten wir, wie die Blumenkinder in San Francisco.
Gott sei Dank, die Ski waren schneller als meine Gedanken. Nur nicht fallen. Vor allem nicht nach rückwärts schauen, ob die Lawine kommt. Wenn sie anrollte, das wusste ich jetzt, musste ich ihr davonfahren, musste ich schneller sein als sie.
Wir kamen unversehrt im Tal an. Unser Lachen war unnatürlich laut, und alsbald verschwanden wir in unsere Zimmer. Ich warf mich erschöpft und glücklich auf mein Bett. Als ob ich tagelang gegen Wind und Wetter gekämpft hätte und nun am Gipfel des Himalaya angekommen wäre, so fühlte ich mich. Tränen rollten mir über das Gesicht. Ich ließ sie fließen. Erst die Erinnerung an das Lachen der Kinder brachte mich in die Realität zurück.