Der Banker - Siegfried Schneider - E-Book

Der Banker E-Book

Siegfried Schneider

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Beschreibung

Der Mord an dem angesehenen Meraner Bankier Waldner erschüttert die Kurstadt. Entsprechend groß ist das öffentliche Interesse an der Aufklärung des Falls und der Druck auf die Ermittler. Aber für Lukas Farner, Chefinspektor der Meraner Kriminalpolizei, und Giovanni Terranostra, Maresciallo bei den Carabinieri, die der Staatsanwalt zur Zusammenarbeit verdonnert hat, ist es auch eine Zerreißprobe. Die beiden kennen sich seit ihrer Schulzeit – und können sich nicht ausstehen. Aber als erfahrene Polizisten decken sie nach und nach auf, dass dieser Waldner, der mit einem alten italienischen Militärgewehr hinterrücks erschossen wurde, alles andere als ein Ehrenmann war, und dass es in seinem Umfeld, geschäftlich und privat, einige Leute gab, die ihm den Tod gewünscht haben.

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Inhaltsverzeichnis

Oberhalb von Meran gibt es einen Platz, der den Beschreibungen des Himmels am nächsten kommt …

Donnerstag, 24.9.

Freitag, 25.9.

Samstag, 26.9.

Sonntag, 27.9.

Montag, 28.9.

Dienstag, 29.9.

Oberhalb von Meran gibt es einen Platz, der den Beschreibungen des Himmels am nächsten kommt …

Die Schwärmerei hat Tradition, dachte Waldner und legte die vergilbte Postkarte auf den Nachttisch zurück. Stoddard, der amerikanische Reiseschriftsteller, fiel ihm ein, der etwas Ähnliches gesagt hatte. Rilke, Kafka, Stefan Zweig; alle haben Meran mit dem Paradies verglichen. Früher war ihm das viel zu pathetisch vorgekommen, aber jetzt spürte er selber diese Neigung zur Überschwänglichkeit.

Der warme Abendwind fing sich in den Fenstervorhängen und trug den Geruch frisch gepflückter Äpfel in Franziskas Schlafzimmer. Waldner atmete tief durch, als könne er das Glücksgefühl mit der Luft einsaugen und die Wärme und Leichtigkeit, die er empfand, für immer festhalten. In einem solchen Moment, ging es ihm durch den Kopf, verschwendet man keine Gedanken an regnerische Tage und fragt sich auch nicht, ob man mit 50 zu alt für die Liebe ist. Seine Liebe lag nackt und entspannt in seinen Armen und lächelte ihn an. Zärtlich strich er die blonde Haarsträhne aus ihrem Gesicht.

»Wer hat das geschrieben?«

»Du meinst, die Postkarte?«

»Ja.«

»Ein Freund meines Großvaters. Er hat ihn eingeladen, herzukommen.«

Sie lachte. »Hergelockt hat er ihn. Und einige Monate später hat mein Großvater dieses Haus gekauft.«

Waldner beugte sich über sie und küsste sie auf die Stirn.

»Das war sehr anständig von deinem Großvater. Sonst hätten wir uns wahrscheinlich nie kennengelernt.«

»Wer weiß«, lächelte sie. »Es heißt, Menschen, die füreinander bestimmt sind, begegnen sich auch. – Früher oder später.«

»Ein schönes Märchen.«

Er sah auf die Uhr. »Ich muss gehen.«

Vorsichtig zog er seinen Arm unter ihrem Kopf hervor, um aufzustehen. Er hatte ihr gesagt, dass er nicht die ganze Nacht bleiben könne. Sie hatte es mit einem leisen Schade hingenommen, ohne zu diskutieren. Sie fordert nichts, dachte Waldner, als er sich anzog. Das macht diese Beziehung so frei, so unkompliziert und so anders. Anders als alles, was er bisher mit Frauen erlebt hatte.

Die Nacht zum 22. September war wolkenlos und mild. Im Licht der Straßenlaterne tanzten die Mücken ihren letzten Sommertanz, und die Fledermäuse spielten wie übermütige Kinder Fang mich.

Waldner hielt die junge Frau, die ihn bis zur Straßenpforte begleitet hatte, fest im Arm. »Pass auf dich auf«, sagte sie, gab ihm einen Kuss und ging zum Haus zurück. Er schaute ihr nach, sah, wie sie sich auf der Treppe noch einmal umdrehte, ihm zuwinkte und dann im Haus verschwand.

Langsam löste er sich aus der Verzauberung und machte sich auf den Weg. Wie immer in den letzten Wochen, seit er zum ersten Mal hier heraufgekommen war, hatte er seinen Wagen in der Nähe der Zenoburg abgestellt und war die letzten 300 Meter bis zu ihrem Haus zu Fuß gegangen. Anfangs aus Vorsicht, um ihr Verhältnis nicht ins Gerede zu bringen. Inzwischen war es ihm nicht mehr so wichtig, was die Leute sahen und dachten. Er hatte sich längst entschieden, mit Franziska Dahlberg ein neues Leben anzufangen. Trotzdem war es dabei geblieben. Der kleine Fußmarsch zu ihr war zu einer Art Ritual geworden, das ihm half, den Stress des Tages abzuschütteln, bevor er sie in seine Arme schloss. Und der Rückweg ließ ihm Zeit, sich wieder den Unabänderlichkeiten des Alltags zu stellen.

Er dachte an Tessa, seine Frau, die in den nächsten Tagen Post von seinem Anwalt bekommen würde. An seine Tochter Leonie, die sich ihm immer mehr entzog und die er nach einem heftigen Streit, der schon einige Tage zurücklag, nicht mehr gesehen hatte. Und er dachte an den Mann, den er morgen in der Schweiz treffen würde. Wenn alles wie vereinbart über die Bühne ging, konnten sich einige Herrschaften hier auf ein paar schlaflose Nächte gefasst machen.

Waldner hatte seinen Wagen erreicht, blieb einen Moment stehen und blickte sich um. Er glaubte Schritte gehört zu haben und das Knacken eines trockenen Zweiges. Aber die Straße war leer. Da war nichts. Er öffnete die Zentralverriegelung und trat an den Wagen, um einzusteigen. Wieder war da ein Geräusch, diesmal hart und metallisch. Das war … Plötzlich ging alles ganz schnell und ihm blieb keine Zeit mehr, die Ursache des Geräusches herauszufinden.

Waldner sah das Mündungsfeuer, bevor er den Schuss hörte. Instinktiv ließ er sich zu Boden fallen. Das Geschoss verfehlte ihn und schlug hinter ihm in einen Baum ein. Er hörte das Nachladegeräusch. Panik überfiel ihn. Er sprang auf und lief auf die Mauer zu, die die alte Burganlage umgab. Die Mauer war nicht hoch, aber darüber war ein Zaun. Seine Finger verkrallten sich im Maschendraht. Es gelang ihm, sich hochzuziehen und auf der anderen Seite fallen zu lassen. Er stürzte, rappelte sich wieder auf. Seine Hände bluteten. Keuchend rannte er weiter.

Der zweite Schuss streifte seinen Unterarm und fetzte ihm die Armbanduhr vom Handgelenk. Er stolperte, verlor einen Schuh, fing sich wieder und hastete durch das Unterholz eine kleine Anhöhe hinauf. Der dritte Schuss traf ihn in den Rücken. Der Schmerz breitete sich warm und weich wie eine Emulsion in seinem Körper aus. Das Gelände vor ihm fiel steil ab. Er taumelte, verlor den Boden unter den Füßen und stürzte in die Tiefe. Als sein Fall schon nach wenigen Metern von einem Strauch und zwei kleinen Erlenbäumen, die in der Felswand wuchsen, abgefangen wurde, war er nicht mehr am Leben.

Donnerstag, 24.9.

Früh aufstehen, den Tappeinerweg vom Pulverturm bis zum anderen Ende in Gratsch – je nachdem, wie er drauf war – ein- oder zweimal im Pfadfinderschritt* hin und zurück, eine halbe Stunde schwimmen, danach ein entspanntes Hotelfrühstück und ein kurzer Blick in die Zeitung, bevor er sich auf den Weg ins Kommissariat machte.

Eher unbewusst hatte sich Lukas Farner bei seiner Rückkehr nach Südtirol die alte Weisheit seines Großvaters zu eigen gemacht: Die Stunden, die man morgens verschläft, kann man den ganzen Tag über nicht mehr aufholen. Er genoss dieses Für-sich-Sein, wenn man den Gedanken noch freien Lauf lassen konnte, bevor sie von der Geschäftigkeit des Tages an die Leine genommen wurden.

An diesem Morgen hatte er zum ersten Mal nach längerer Zeit wieder an Liesbeth gedacht. Ausgelöst vermutlich durch das Paar, das beim Frühstück am Nebentisch gesessen hatte. Die beiden hatten vor zwei Tagen ihre Hochzeit in dem Hotel gefeiert. Und wie. Mit Verwandten und Freunden, mit Musik, Tanz, Konfettiregen und bunten Luftballons. Ein rauschendes Fest, das die ganze Nacht dauerte und an dem er, wohl oder übel, im Halbschlaf teilgenommen hatte. Der Anfang ist immer ein Fest, dachte Farner, und man schwört sich: Bis dass der Tod uns scheidet. Aber vor dem Tod scheidet meistens schon das Leben, und wenn so eine Beziehung dann vorzeitig zu Ende geht, steigen keine bunten Luftballons in den Himmel, und von der Hochzeitsgesellschaft ist auch keiner mehr dabei.

Liesbeth und er hatten nie über Heirat gesprochen. Sie hatten sich bei der Geburtstagsfeier eines holländischen Kollegen kennengelernt und wurden schon kurz darauf ein Paar. Liesbeth Matthijsen war die jüngste Professorin an der Amsterdamer Uni, und sein Vertrag als Europol-Liaison Officer in Den Haag lief noch zweieinhalb Jahre. Es war von Anfang an eine Liebe auf Zeit. Sie wusste, dass er danach wieder nach Südtirol zurückgehen würde, und er wusste, dass es keine Option für sie war, mit ihm zu gehen. Und so war ihre Geschichte nach zwei Jahren ganz undramatisch zu Ende gegangen.

Seine Tage in dem Hotel in der Verdistraße, in dem er sich vorübergehend einquartiert hatte, waren gezählt. Gestern hatte ihn der Makler angerufen und ihm gesagt, dass er in der nächsten Woche in das Apartment im Steinach-Viertel einziehen könne.

Es gab nicht viel, an dem sein Herz hing. Die alte Truhe, das holländische Bett, ein paar alte Stiche, darunter die Romeinsche Hof-Gallery von 1788, die ihm Liesbeth zum Geburtstag geschenkt hatte, zwei antike Lampen, ein Dutzend Bücher und die CDs passten in einen Kleintransporter. Der Spediteur in Den Haag, bei dem er die Sachen eingelagert hatte, wartete auf seinen Anruf.

Als Lukas Farner das Polizeigebäude am Kornplatz betrat und den Jungen sah, der maulend hinter seiner Mutter herschlurfte, fiel ihm ein, dass er noch ein Geburtstagsgeschenk für Leo, den Sohn seines Bruders, besorgen musste. Im selben Moment meldete sich Eleanor Rigby, der Klingelton seines Handys. Auf dem Display sah er, dass es seine Mutter war, die anrief.

»Stör ich gerade?«

Das war reine Koketterie.

»Nein. Ich bin auf dem Weg ins Büro.«

Während er die Treppe zum ersten Stock hinaufging, erinnerte sie ihn daran, dass Leo am Sonntag Geburtstag hat.

»Er wird zehn.«

»Hat er gesagt, was er sich wünscht?«

»Ja. Ein Computerspiel. Eins mit schnellen Autos. Es heißt Speed oder so ähnlich.«

»Danke für den Tipp.«

Er wollte das Gespräch beenden, aber sie ließ ihn noch nicht los.

»Sonst alles in Ordnung? Ich bin ja so froh, dass du wieder im Lande bist. Was macht die Arbeit? Hast du dich schon eingelebt? Wenn du Hilfe brauchst bei der Einrichtung der Wohnung …«

»… melde ich mich.«

»Das ist nicht nur so dahingesagt?«

»Nein. Wir sehn uns am Sonntag.«

»Lukas …«

Ihre Stimme klang jetzt strenger, und Farner fühlte sich augenblicklich in alte Zeiten zurückversetzt, wenn sie genau in diesem Ton zu einer Strafpredigt ansetzte.

»Ja?«

»Hast du eigentlich jemanden, der sich um dich kümmert?«

»Was meinst du?«

»Ich meine, dass die meisten Männer in deinem Alter längst verheiratet sind.«

Und die meisten von ihnen können ihr Glück kaum fassen. Aber das sagte er nicht laut.

»Hör zu, ich muss Schluss machen. Wir reden ein andermal darüber. Mach’s gut.«

Er drückte die Ausschalt-Taste und holte tief Luft.

Die Anrufe seiner Mutter waren jedes Mal ein Härtetest. Wenn er den bestanden hatte, konnte ihn so leicht nichts mehr aus der Fassung bringen.

Auf dem Flur wäre er beinahe mit Ivo Gebhard zusammengestoßen. Der Kollege mit dem Flinserl* im Ohr, der in seiner Freizeit in einer Schützenkapelle spielte, war mit einem randvollen Kaffeebecher unterwegs und konnte mit einem schwungvollen Side Step gerade noch ausweichen, wobei der Kaffee leicht überschwappte.

Gebhard beschwichtigte.

»Keine Sorge, ich weiß, wie man Kaffeeflecken wieder rauskriegt.«

»Mit der Schere.«

»Genau.«

Er nahm einen Schluck aus dem Becher und folgte Farner in dessen Büro am Ende des Flurs. Farner zog sein Jackett aus, öffnete das Fenster und drehte sich zu Ivo Gebhard um, der in der Nähe der Tür stehen geblieben war.

»Fällt dir was auf?«

»Du hast den Schreibtisch umgestellt.«

»Ein Schreibtisch gehört ans Fenster und nicht an die Wand.«

»Feng Shui?«

»Raumästhetik. Was ist daran komisch?«

»Dein Vorgänger, der Frühpensionist, hatte dieselbe Macke. Nur andersherum. Er hat den Schreibtisch vom Fenster an die Wand gestellt.«

Farner nahm eine Mappe vom Schreibtisch und blätterte darin.

Die Stimmung schlug von einer Sekunde zur anderen um.

»Ein verdammtes Armutszeugnis ist das. Da bringt sich einer um, und wir sind nicht in der Lage, herauszufinden, warum er es getan hat.«

»Es gibt viele Gründe, warum sich Menschen das Leben nehmen«, warf Gebhard ein.

»Was du nicht sagst.« Farner legte die Mappe zurück und setzte sich. »Uns interessiert aber nur das Motiv von Stöckl.«

»Ist mir klar. Aber solange die Frau nicht vernehmungsfähig ist, kommen wir nicht weiter. Wenn sie’s überhaupt überlebt.«

Das Drama auf dem Stöckl-Hof lag drei Tage zurück. Hubert Stöckl, ein Bergbauer aus dem Passeier, hatte in der Nacht zum Dienstag seinen Hof angezündet und sich an einem Balken in der Küche des Hauses erhängt. Eine Tragödie, die überall große Bestürzung und Anteilnahme ausgelöst hatte. Es gab keinen Abschiedsbrief, nur eine SMS auf dem Handy seiner Frau, die an diesem Tag mit den beiden Kindern zu einem Besuch bei ihrer Schwester ins Pustertal gefahren war. Aber auch daraus ging nicht hervor, was den 40-jährigen Familienvater zu dieser Verzweiflungstat getrieben hatte.

›Es gibt keinen anderen Ausweg. Gott beschütze Dich und die Kinder.‹

Stöckl galt als introvertiert und verschlossen; ein Mann, der offenbar mit niemandem über seine Probleme gesprochen hatte. Und so gab es auch in seinem engsten Umfeld nur Vermutungen, wie es zu diesem Unglück hatte kommen können.

Franz Reisinger, der Dienstälteste in Farners Team, hatte Stöckls finanzielle Verhältnisse unter die Lupe genommen, weil er dies für die wahrscheinlichste Erklärung hielt. Aber seine Nachforschungen hatten nichts Auffälliges ergeben. Kein Darlehen, keine Hypotheken, keine größeren Schulden, von einem Minus auf seinem Konto bei der Sparkasse abgesehen, das gerade mal 2000 Euro betrug. Deshalb bringt man sich doch nicht um.

Elisabeth Stöckl hatte versucht, ihren Mann aus dem brennenden Haus zu retten, und dabei schwerste Verletzungen erlitten. Wahrscheinlich war sie die Einzige, die ihnen sagen konnte, was zu dieser unfassbaren Tat geführt hatte.

Ivo Gebhard trank den Rest Kaffee aus seinem Becher.

»Und nun?«

»Hoffen wir auf die göttliche Eingebung.«

»Du hast bestimmt einen Plan B.«

Der Spott in Gebhards Stimme war unüberhörbar. Aber Farner ließ sich nicht provozieren.

»Ist in Arbeit.«

Er hatte keine Lust, mit Gebhard noch mal darüber zu diskutieren, warum sie den Fall nicht einfach ad acta legen konnten.

Unten, zwischen den Verkaufsständen auf dem Kornplatz, war es in den letzten Minuten immer lauter geworden. Farner stand auf und schloss das Fenster.

»Wo ist Reisinger?«

»Mit Furlan im Vernehmungszimmer. Sie haben den Barmann am Wickel, der dem Albaner geholfen hat, den Koks zu verkaufen. Wenn du mich fragst, es sind immer nur die kleinen Fische, die hier ins Netz gehen …«

Er brach ab, weil in diesem Moment Hans Eller seinen Kopf zur Tür reinsteckte. Eller – Ende 20, aus dem oberen Vinschgau – war vor einem halben Jahr vom Streifendienst zur Kripo gewechselt. Ein aufgeweckter junger Kollege, der sich mit Reisinger nebenan ein Büro teilte.

»Ich hab hier was für euch.«

Er reichte Farner einen Zettel, auf dem ein Name und eine Telefonnummer standen.

»Rudi Steinhauer. Wer ist das?«

»Ein Cousin von Stöckl. Er ist Fitnesstrainer in der Therme und hatte angeblich engen Kontakt zu Hubert Stöckl.«

»Woher hast du das?«

»Reiner Zufall. Kennst du die Cortina-Bar in der Romstraße?«

»Noch nicht.«

»Wir haben da ab und zu ’n Kaffee getrunken, als ich noch bei der Streife war. Vorhin hab ich den Wirt auf der Straße getroffen. Wir reden über dies und das, und das Gespräch kommt auch auf Hubert Stöckl. Er sagt, wenn einer den Stöckl gekannt hat, dann der Steinhauer. Die beiden hätten sich in seinem Lokal mit zwei, drei anderen regelmäßig zum Watten getroffen.«

Farner gab den Zettel an Gebhard weiter. »Dann ruf da mal an. Er soll herkommen, sobald er kann.«

»Aye, aye, Sir.« Gebhard beförderte den leeren Kaffeebecher in den Papierkorb und zog ab.

Eller war noch nicht fertig.

»Das Krankenhaus hat angerufen. Elisabeth Stöckl ist immer noch bewusstlos. Allerdings …«

»Ja?«

»Der Arzt sagt, es gibt Anzeichen für eine Rückbildung des Komas.«

»Das heißt was?«

»Dass sie in zwei, drei Tagen ansprechbar sein könnte. Könnte. Die Ärzte lassen sich ja immer ein Türchen offen.«

»Hast du rausgefunden, ob Stöckl eine Lebensversicherung hatte?«

»Ich bin da noch dran.«

»Wär ja nicht das erste Mal, dass sich einer umbringt, nachdem er eine Lebensversicherung abgeschlossen hat, um seine Familie abzusichern.«

»Aber es darf nicht nach Selbstmord aussehen.«

»Du sagst es. Sonst noch was?«

»Ja. Dieser Dr. Beermann, der Arzt aus dem Krankenhaus …«

Er schaute sich kurz um, als Gebhard wieder hereinkam.

»Red weiter.«

»Dieser Doktor Beermann hat gesagt, dass sich noch jemand nach dem Zustand von Elisabeth Stöckl erkundigt hat.«

»Wer?«

»Das weiß er nicht. Eine Frau hat eine der Schwestern und ihn nach Frau Stöckl gefragt.«

»Eine Verwandte?«

»Vielleicht.«

»Da gibt’s doch Überwachungskameras. Bleib da mal dran.

»Mach ich.«

Nebenan klingelte das Telefon, und Eller ging in sein Büro zurück.

»Du hast Verspätung«, sagte Gebhard und riss das obere Kalenderblatt

von dem Wandkalender ab, der neben der Tür hing.

»Wusstest du, dass er Vater wird?«

»Eller?«

»Ja. Seine Verlobte ist im fünften Monat.«

»Ich wusste gar nicht, dass er verlobt ist.«

»Eine Walsche*. Er hat deshalb eine Menge Ärger zu Hause.«

»So was gibt’s noch? Ich dachte, die Zeiten sind vorbei.«

»Du warst lange weg.«

»Erzähl. Was ist mit Stöckls Cousin?«

»Ich hab ihn nicht erreicht. Dauernd besetzt.«

»Dann fahrn wir da mal hin. Du kommst mit.«

»Wann?«

»Jetzt gleich.«

»Das geht nicht. Ich muss um zehn beim Zahnarzt sein.«

»Verschieb es.«

»Würde ich ja machen, wenn ich deine Zähne hätte. Nein, im Ernst, ich hab den Termin schon zweimal verschoben. Wenn ich noch mal absage, kann ich mir einen neuen Zahnarzt suchen.«

Er überlegte. »Du könntest mich da absetzen. Das ist ganz in der Nähe. Ich komm dann nach.«

Seit sie in den Wagen gestiegen waren, kämpfte Lukas Farner mit einer dicken Hummel, die es abwechselnd auf den ledernen Lenkradbezug und auf seine Haare abgesehen hatte.

»Die hat einen Narren an dir gefressen«, grinste Ivo Gebhard, der neben ihm auf dem Beifahrersitz saß und in einem Geo-Magazin blätterte.

Aus dem Radio drang eine Kastratenstimme, die in einem weinerlichen Sprechgesang einer verlorenen Liebe nachtrauerte. Gebhard stellte den Ton lauter. Augenblicklich gab die Hummel auf und flog durch das halb geöffnete Fenster ins Freie.

»Siehst du, so wird das gemacht.«

»Zufall«, sagte Farner, der jetzt auch schmunzeln musste. Er schaltete das Radio aus. »Das ist keine Musik, das ist Körperverletzung.«

Gebhard nickte. »Ich hör auch lieber die Spitzbuam.«

Er schlug das Heft zu und verstaute es in der Seitenablage.

»Wusstest du, dass die Bienen …«

»Das war eine Hummel«, unterbrach ihn Farner.

»Egal. Wissenschaftler haben prophezeit, wenn die Bienen sterben, sterben auch die Menschen. Keine Bienen, keine Bestäubung. Keine Bestäubung, keine Nahrung. Keine Nahrung, keine …« Weiter kam er nicht.

Der Radfahrer, mit dem sie fast auf gleicher Höhe waren, zog plötzlich ohne Vorwarnung nach links, direkt vor ihren Wagen. Lukas Farner reagierte blitzschnell. Er riss das Steuer herum und trat voll auf die Bremse. Gebhard presste es neben ihm in den Gurt.

»Mein lieber Mann, das war knapp.«

Sie sahen, dass der Mann auf dem Fahrrad keinerlei Notiz von dem Beinahe-Crash nahm und, ohne sich auch nur einmal umzudrehen, seine Fahrt fortsetzte.

»Und dieser Scheißkerl fährt einfach weiter«, schimpfte Gebhard, während Farner den Wagen wieder in Fahrtrichtung brachte.

»Deine Reflexe sind jedenfalls in Ordnung«, stellte Gebhard sachlich fest. »Reisinger hat schon gesagt, dass du ein guter Autofahrer bist.«

»Er übertreibt.«

Farner hielt an der nächsten Ampel.

»Er hat erzählt, dass du ihn neulich nachts vom Weintal nach Hause gefahren hast.«

»Das hat er doch gar nicht mitgekriegt. Er hat den ganzen Weg geschlafen.«

»Du kennst ihn nicht. Er schläft nicht, wenn er schläft. Er tut nur so, damit er nicht reden muss.«

»Genial.«

Die Ampel sprang auf Grün.

Hundert Meter nach der Kreuzung zeigte Gebhard auf das Haus, in dem er seinen Zahnarzttermin hatte. »Da vorn ist es.«

»Das kurze Stück hättest du auch zu Fuß gehen können.«

»Wir wollten doch sowieso in die Therme.«

Lukas Farner hielt vor einer Ausfahrt. Ivo Gebhard öffnete den Gurt und hob das Geo-Heft auf, das bei dem Bremsmanöver aus der Ablage gefallen war. Farner konnte sich die Bemerkung nicht verkneifen, dass diese schlauen Zeitschriften stapelweise in den Wartezimmern der Ärzte ausliegen.

»Was glaubst du, wo ich das Heft herhabe. Als ich das letzte Mal hier war, habe ich angefangen, darin zu lesen. Und weil ich nicht fertig geworden bin, hab ich das Heft mit nach Hause genommen und dort zu Ende gelesen. Und nun bring ich es zurück. Ist das okay?«

»Das musst du den Zahnarzt fragen.«

Gebhard öffnete die Beifahrertür und stieg aus.

»Beeil dich«, rief Farner ihm nach.

»Das musst du dem Zahnarzt sagen.«

Er parkte den Wagen in einer Seitenstraße und machte sich auf den Weg zur Therme.

Die Suche nach dem Motiv. Farner war sich dessen bewusst, dass dieser Aspekt bei ihm in den letzten Jahren keine große Rolle gespielt hatte. Wer den internationalen Terrorismus und das grenzüberschreitende, organisierte Verbrechen, illegalen Waffenhandel, Kinderpornografie und Geldwäsche bekämpft, muss nicht lange nach den Motiven der Täter fragen.

»Vergessen Sie Ihre Arbeit bei Europol«, hatte Reno Martell, der Staatsanwalt in Bozen, gesagt, bei dem er in der vergangenen Woche seinen Antrittsbesuch gemacht hatte. »Hier geht es nicht um Statistiken, Analysen und Trends, sondern um kriminalistische Arbeit vor Ort, um die Fälle von nebenan und um eine gründliche Aufklärung. Aber wem sag ich das. Sie kennen sich ja hier aus. Betrachten Sie das also nicht als Belehrung, sondern«, er zögerte einen Moment, »als kleine Orientierungshilfe für unsere Zusammenarbeit.«

Und als Lukas Farner schon beim Hinausgehen war, hatte Martell ihm noch ein freundliches »Schön, Sie wieder bei uns zu haben« nachgerufen.

Er bezweifelte, dass Reno Martell schon mal in Den Haag war und wusste, wie die Europol arbeitete. Aber er hatte recht. Das war ein himmelweiter Unterschied.

Er überquerte die Piavestraße und ging an der Passer entlang in Richtung Thermenplatz. Von dieser Seite hatte man einen malerischen Blick auf das Kurhaus und den Turm der Pfarrkirche, auf die Villen am Hang des Küchelbergs und auf den Pulverturm, an dem die Südtiroler Fahne aufgezogen war. Und irgendwo da oben verlief der Tappeinerweg, den er heute Morgen schon gelaufen war.

An der Fußgängerbrücke, die über die Passer zur Promenade hinüberführte, gab sich ein Straßenmusikant mit seiner Geige alle Mühe, die untergegangene Welt der Operette wieder auferstehen zu lassen, was vor allem die älteren Passanten entzückte: Schenkt man sich Rosen in Tirol, Steig in die Gondel, Freunde, das Leben ist lebenswert, bei Immer nur lächeln wurde sogar geklatscht. Der Mann genoss den Applaus und bedankte sich für die Münzen, die in dem offenen Geigenkasten vor seinen Füßen landeten.

Farner steuerte auf den Thermeneingang zu und musste sich einen Weg durch eine lärmende Schulklasse bahnen, die ins Freie drängte.

Innen war alles groß und hell. Er blieb in der Nähe der Tür stehen, um sich zu orientieren. Er sah das Hinweisschild mit der Aufschrift Fitnesscenter und folgte dem Pfeil. Der Gang führte an einer langen Glaswand vorbei, durch die man auf eine Poollandschaft runterschauen konnte, die in den Sommermonaten bis in den Thermenpark hinausging. Die großen bunten Ringe und Ballons, die unter der hohen Decke hingen, verbreiteten eine heitere Stimmung.

Am Eingang zum Fitnessbereich saß ein Rocky-Balboa-Typ im Turnhemd an der Rezeption und telefonierte. Jemand erkundigte sich nach den Öffnungszeiten und den Preisen. Farner hörte unfreiwillig mit und erfuhr, dass man hier zwischen 9 und 22 Uhr trainieren konnte, dienstags und donnerstags sogar schon ab 6, dass ein Jahresabo 82 Euro kostete und dass es einen Kinderhort gab, in dem man seine Kinder abgeben konnte. Kostenlos. Dann legte der Mann auf, und Farner fragte nach Rudi Steinhauer.

»Der hat sich einen Tag freigenommen.«

»Hat er kein Handy?«

Der Mann drehte sich um und griff in ein Regalfach.

»Hat er hier liegen lassen. Soll ich ihm was ausrichten?«

»Nicht nötig. Danke.«

Langsam schlenderte er zum Ausgang zurück. Es war erst kurz nach zehn, und er beschloss, draußen an einem der Tische, die zu dem Thermen-Café gehörten, auf Gebhard zu warten.

Es war voller geworden auf dem Platz vor der Therme. Die Menschen genossen den schönen Spätsommertag. Im Radio hatten sie 26 Grad vorhergesagt. Die Sonne spiegelte sich in den Fenstern des Cafés, und über dem Penegal verzogen sich die letzten kleinen Wolken. Farner fand einen freien Tisch und setzte sich so hin, dass er von seinem Platz aus sehen konnte, wenn Gebhard auftauchte.

Bei der Bedienung, einem jungen Mädchen mit einer grünen Haarsträhne im Gesicht und einem T-Shirt, bei dem der Stoff nur für eine Schulter gereicht hatte, bestellte er einen Espresso.

Die Enttäuschung, dass er Steinhauer nicht angetroffen hatte, hielt nicht lange an. Seine Gedanken machten sich auf die Suche nach einem anderen Anhaltspunkt. Irgendetwas an dieser Geschichte ließ ihn nicht los.

Hubert Stöckl hatte sich umgebracht. Daran bestand kein Zweifel. Aber es wäre nicht das erste Mal, dass ein Mensch in den Selbstmord getrieben wurde. In Innsbruck hatte es vor einigen Jahren einen ganz abscheulichen Fall gegeben. Ein Apotheker war von einer Angestellten wegen Vergewaltigung angezeigt worden. Der Mann hatte seine Unschuld beteuert, aber niemand glaubte ihm. Die Zeitungen fielen über ihn her. Er verlor den Pachtvertrag für die Apotheke, seine Verlobung ging in die Brüche, und seine Eltern trauten sich nicht mehr auf die Straße. Einen Tag nachdem ihn das Gericht zu einer längeren Haftstrafe verurteilt hatte, brachte er sich in seiner Gefängniszelle um. Und dann der Hammer. Monate später stellte sich heraus, dass die Frau alles erfunden hatte.

Gab es auch im Fall Stöckl einen Schuldigen? Er ermahnte sich, sich nicht zu verzetteln.

Die Kellnerin brachte den Espresso, und Farner zahlte gleich.

Es gab Hinweise in den Zeitungen – Gerüchte über jahrelange Streitereien zwischen Stöckl und seinem Schwiegervater Johann Gottwald. Um einen versetzten Grenzstein, um eine Schafweide, die beide für sich beanspruchten, um gefällte Bäume und, und, und. Und all das habe schließlich zu dem Drama geführt. Im Konjunktiv natürlich. »Heißt es«, »sagt man«, »sagt einer, der nicht genannt werden will« – was Journalisten so schreiben, wenn sie im Nebel herumstochern und Gerüchte, schlecht oder gar nicht recherchiert, als Tatsachen verkaufen. Tatsache war, dass man nicht alles, was in den Zeitungen stand, auf die Goldwaage legen durfte.

Sie hatten den Schwiegervater am Morgen nach der Brandnacht als einen der Ersten befragt, aber dabei war nicht viel herausgekommen.

Johann Gottwald war ein mürrischer alter Mann, der unweit von den Stöckls, noch um einiges höher gelegen, seinen eigenen Hof bewirtschaftete, so gut oder so schlecht das ein Mann in seinem Alter – Farner schätzte ihn auf Anfang 70 – noch bewerkstelligen konnte, und den das Leben auf 1000 Metern Höhe im Laufe der Jahre unfreundlich und wortkarg gemacht hatte.

Gottwald hatte eingeräumt, dass er mit seinem Schwiegersohn, den er für einen Versager hielt, seit Jahren über Kreuz war und deshalb schon lange keinen Kontakt mehr zu der Familie seiner Tochter hatte. Sie hatten es, so kurz nach dem tragischen Geschehen, dabei bewenden lassen. Farner glaubte nicht, dass Gottwald etwas mit dem Tod seines Schwiegersohns zu tun hatte, aber er konnte auch nicht ausschließen, dass der alte Sonderling mehr wusste, als er ihnen gesagt hatte. Sein Entschluss stand fest. Sie würden noch mal zu Gottwald fahren und ihn erneut befragen.

Als Ivo Gebhard kurz darauf um die Thermenecke bog, stand er auf und machte sich mit einem Pfiff auf zwei Fingern bemerkbar. Gebhard reagierte sofort und schaute zu ihm herüber. Farner steckte das Restgeld ein, das noch auf dem Tisch lag, und ging auf ihn zu. Mit einem Blick erkannte er, dass dem Kollegen die gute Laune von vorhin abhandengekommen war.

»Eigentlich höre ich nicht darauf, wenn jemand pfeift«, sagte er mit einem Gesicht, mit dem man kleine Kinder erschrecken konnte.

»Eigentlich pfeif ich auch nicht. Aber bevor ich dich in die Irre laufen lasse … Komm, gehen wir.«

Sie machten sich auf den Weg zurück zum Wagen.

»Was ist passiert?«

»Scheiße ist passiert«, polterte es aus Gebhard heraus. »Du gehst zum Zahnarzt und denkst, in einer halben Stunde ist alles erledigt. Und dann erzählt dir dieser Typ ganz nebenbei, dass es Zwei-Acht nicht mehr lange macht. Du weißt, wer Zwei-Acht ist?«

»Ich vermute, die Bezeichnung für einen Zahn.«

»Linker oberer Backenzahn, auch Mahlzahn oder Weisheitszahn genannt.«

Farner hielt sich zurück. Jetzt nur keine anzügliche Bemerkung, sonst explodiert er.

»Und der Eins-Sechs gefällt ihm auch nicht.«

»Hast du Schmerzen?«

»Nein. Die kommen über Nacht, hat dieser Zahnklempner gesagt.«

»Dann schieb das nicht auf die lange Bank. Kollegen mit Zahnschmerzen sind der Horror.«

»Was hat der Fitnesstrainer gesagt?«

»Nichts. Er war nicht da. Wir können ihn erst morgen erreichen.«

»Was hast du jetzt vor?«

»Wir fahren noch mal zu Gottwald.«

Farner sah die Unmutsfalte auf Gebhards Stirn. »Ist das dein Ernst? Das bringt doch nichts.«

»Wir werden sehen.«

Eine Weile gingen sie wortlos nebeneinanderher. Als sie an dem Busparkplatz vorbeikamen, stieß Gebhard gegen eine Abfalltonne, murmelte etwas, das sich anhörte, als entschuldige er sich bei der Mülltonne, und trat noch mal nach.

»Die ganze Geschichte ist Müll. Wem nutzt es was, wenn wir herausfinden, warum sich der Mann umgebracht hat. Dieses ganze Geschwätz vom öffentlichen Interesse ist doch nur vorgeschoben. Das ist nichts anderes als Sensationsgier und Heuchelei. Und wir bedienen das auch noch. Wir quälen die Angehörigen, die lieber nicht darüber reden, weil sie es als Schmach empfinden, dass sich jemand aus ihrer Familie umgebracht hat. Und der Selbstmörder? Kriegt der posthum mildernde Umstände, wenn wir herausgefunden haben, warum er sich umgebracht hat? Das ist doch lächerlich.«

Farner wollte einwerfen, dass man in so einem Fall ermittelt, um einen Mord, ein Gewaltverbrechen auszuschließen. Aber das sollte Gebhard eigentlich selber wissen.

»Bist du fertig?«

»Ja.«

»Dann ruf Reisinger an und sag ihm Bescheid.«

Gebhard wollte protestieren, beließ es aber bei einem Achselzucken. Er holte sein Handy heraus, blieb ein paar Schritte zurück und telefonierte.

Farner hatte ihn ausreden lassen.

Mit einigem, was Gebhard rausgelassen hatte, gab er ihm sogar recht. Aber diese Skrupel halfen ihnen nicht bei der Aufklärung des Falles.

Während er darauf wartete, dass Gebhard sein Telefonat beendete, wurde er auf eine Frau aufmerksam, die die Straße überquerte und auf ihn zukam. Groß, schlank, leger gekleidet. Alter ungewiss. Die große Sonnenbrille verbarg ihren Jahrgang. Farner glaubte ein Lächeln auf ihrem Gesicht gesehen zu haben, als sie an ihm vorbeiging. Die weiße Sporttasche ließ vermuten, dass sie auf dem Weg in die Therme war.

Er schaute ihr nach. Sie ging, wie Frauen gehen, die wissen, dass man ihnen nachschaut. Plötzlich blieb sie stehen und drehte sich zu ihm um.

»Lukas Farner?«

»Ja.«

Sie schob die Sonnenbrille über die Haare und kam zurück.

»Hab ich mich doch nicht getäuscht.«

Er war sich sicher, dass er die Frau nicht kannte.

»Ariane. Ariane Falk. Erinnerst du dich nicht? Ich war mit meinem Vater einige Male in den Ferien bei euch auf dem Ritten. Das ist lange her.«

Er kramte in seiner Erinnerung. Und auf einmal dämmerte es ihm.

Er sah das Mädchen von damals, eine hübsche Göre in seinem Alter, die schon auf erwachsen machte. Lorenz und er hatten sich beide in sie verknallt. Aber gegen seinen zwei Jahre älteren Bruder hatte er keine Chance.

»Du bist die Kleine, die meinen Bruder verführt hat.«

Gebhard war inzwischen dazugekommen. Er schien sich beruhigt zu haben. Ariane Falk nickte ihm kurz zu. Dann sah sie Farner an und lachte.

»Hat er das erzählt?«

»Nein. Ich habe euch gehört. In dem hinteren Stadel. Du hast geschrien wie ein …« Er suchte nach einem passenden Vergleich, ohne gemein zu sein. »Wie ein Marderweibchen.«

Gebhard grinste. Ariane Falk war kein bisschen verlegen.

»Nun übertreib mal nicht.«

Sie trat einen Schritt zurück, musterte ihn.

»In natura siehst du schmaler aus. Ich hab ein Bild von dir in der Zeitung gesehen, von deiner Einführung als Inspektor.«

»Chefinspektor«, korrigierte Gebhard.

»Verzeihung, Chefinspektor.« Der leise Spott in ihrer Stimme verriet, dass sie es mit Titeln nicht so genau nahm.

»Du warst lange im Ausland, hab ich gelesen.«

»Ja. Fünf Jahre.«

»Und wie geht’s deinem Bruder?«

»Er hat das Hotel übernommen. Meine Eltern mischen zwar noch mit, aber Lorenz hat jetzt das Sagen.«

»Bist du verheiratet?«

»Nein. Du?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich hab’s ein paarmal versucht, aber es hat nicht geklappt.«

Gebhard stand daneben und zeigte, dass er sich langweilte.

Farner wollte nicht unhöflich sein.

»Dein Vater war Tierarzt, glaube ich. Praktiziert er noch?«

»Oh ja. Zurzeit ist er im Urlaub.«

Sie sah auf ihre Armbanduhr.

»Ich muss los. Mein Trainer sucht sich sonst eine andere, die er quälen kann. Wir sollten uns mal auf einen Kaffee treffen.«

»Das machen wir.«

Sie gab erst ihm die Hand und dann Gebhard.

»Auf Wiedersehen, Herr …?«

»Gebhard.«

»Ich habe eine Patientin, die so heißt. Gudrun Gebhard.«

»Das ist meine Mutter.«

»Grüßen Sie sie von mir.«

Sie schob die Sonnenbrille wieder auf die Nase und entfernte sich rasch.

Farner deutete mit dem Kopf in Richtung der kleinen Seitenstraße, in der er den Wagen abgestellt hatte.

»Wir müssen da rüber.«