Der begehbare Affe - Oliver Ruppel - E-Book

Der begehbare Affe E-Book

Oliver Ruppel

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  • Herausgeber: epubli
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2024
Beschreibung

Wir müssen es zudem als eine der drängenden Fragen unserer Zeit sehen: Wie können wir uns vor den Rettern retten? Es gilt ja jedweder Disziplin zu misstrauen, die antritt, um den jeweilig anderen zu verändern. Es hat sich ein unüberschaubares Heer von Tätern formiert, sie erscheinen in den Masken der Coaches, der Therapeu­ten, der Politiker und Aktivisten, der gläubigen Technokraten und Kaufleute, der Bürokraten und Verwalter, der Lehrer und Karitativen, die unsere Wahrnehmung, unser Verhalten und unsere Verhältnisse manipulieren wollen, damit wir ihrer Gesinnung entsprechen. Sie dringen in unsere Körper und unsere Seelen und operieren in ihnen herum.

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Seitenzahl: 409

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Vorwort

Als der Bremer Kaufmann F.W. Oelze 1932 eine Antwort auf seinen Brief an den Dichter Gottfried Benn erhielt, stand Folgendes darin geschrieben:

„Sehr geehrter Herr Oelze,

vielen Dank für Ihren Brief. Mir eine große Freude, wenn Ihnen meine Aufsätze gefallen haben. Eine mündliche Unterhaltung würde Sie enttäuschen. Ich sage Ihnen nicht mehr, als was in meinen Büchern steht.

Seien Sie vielmals gegrüsst.

Ihr sehr ergebener

Dr Gottfried Benn“

Es entwickelte sich eine 24 Jahre andauernde, tiefe Freundschaft zwischen beiden Männern.

Spurensuche

„Die Frage ist immer dieselbe: Wo kommt diese ganze Verrücktheit her?“ Dieser Satz fiel in einer kurzen Unterhaltung, die ich mit Oliver Ruppel 2023 in einem seiner CTW – Hypnosetherapie – Seminare führte. Und damit war die Unterhaltung auch schon wieder beendet, denn wie kann man sich über etwas unterhalten, das nicht in die Kategorie der Unterhaltung passt, sondern einer langen, tiefen und ausführlichen Spurensuche bedarf?

Mit der Menschheit ist etwas passiert. Etwas, das uns aus uns selbst und aus unserer Verbundenheit mit dem Anderen und der Natur herauskatapultiert hat, worunter wir leiden, ohne es formulieren zu können. Wir sind blind für die Zusammenhänge geworden, die uns in dieses Leid bringen. Wir spüren uns selbst kaum noch, suchen im Außen nach Lösungen und nach jemandem, der zuständig ist für uns, unser Wohlbefinden und unser Leid. Wir suchen Abhilfe in technokratischen Lösungen, in der Existenzbestätigung durch andere und in der Sichtbarkeit. Wir optimieren uns bis in das Maschinenhafte hinein und finden doch keinen Frieden im ewigen Krieg gegen die Realität und unsere eigene, in die natürliche Begrenztheit eingebettete Existenz.

Wie konnte das passieren? Und warum hält sich dieser Zustand so hartnäckig und spitzt sich sogar zusehends weiter zu?

Kapitel 1

Wuppertal, 1964 - 1973

Womit fängt man an, wenn man eine Geschichte zu erzählen hat, die einen so dermaßen in die Interesselosigkeit bringt, dass man am besten eigentlich überhaupt gar nichts erzählen sollte? Vielleicht mit einem Zitat. Da gibt es ein schönes aus Ben Wheatleys Film „A Field in England“, und das geht so: „Er hat dich weder mit der Welt bekannt gemacht, noch mit dir selbst.“{1} Und dieses Zitat ist vielleicht das schönste, das ich seit langer Zeit gehört habe, weil es so eindeutig in die richtige Richtung zeigt: auf den Vorgang der Erziehung. Alles beginnt mit der Idee, dass der weiße Mann aus Europa der eigentliche Mensch sei. Jedenfalls hat dieser seit dem16. Jahrhundert die exzeptionelle Rolle für die Weltbevölkerung übernommen. Er, der Mensch, der Rest: die anderen Homo sapiens, auch was an Leben und Objekten in der Welt so sei, der untergeordnete Rest. Georg wird geboren. Wir sind in Deutschland, es ist etwa 1964. Die Gruppe, die seine Eltern und zwei weitere Kinder, Zwillinge, bilden, ist als das organisiert, was wir eine „Familie“ nennen. Die Stadt heißt Wuppertal, sie hat damals etwas über 400.000 Einwohner und ist ein Zusammenschluss inhomogener Städte, die kaum zusammen wollen. Die Städte haben die industrielle Revolution mit der Textilindustrie hinter sich. Der größte Zusammenschluss besteht zwischen Barmen, der damals Anfang des 20. Jahrhunderts ärmsten Stadt Deutschlands, und Elberfeld, der Stadt der Bleicher am Wupperufer. Mit dem Reichtum seiner Familie hatte der Barmer Friedrich Engels Karl Marx finanziert. Während in Wuppertal die verrückte Dichterin Else Lasker-Schüler am Bürgerlichen litt und „Meinwärts“{2} wollte. Die Eltern von Georg erlebten die Nazizeit als Jugendliche. Sie folgten. 1964 lebten sie im Mietshaus von Georgs Opa, der einem fliehenden reichen Juden kurz vor dessen Flucht zwei Häuser „für einen Appel und ein Ei“, so sagte meine Mutter, abgeluchst hatte. Später beschwerte sich “der Dicke Fritz“, wie mein Vater seinen Vater nannte, darüber, dass er die Häuser, nach geleisteten Reparaturzahlungen, zweimal habe bezahlen müssen. Das zweite Haus, gleich neben dem Mietshaus gelegen, war ein Kutscherhaus, dort betrieb „der Dicke Fritz“ eine Klempnerei mit einigen Angestellten. Er selbst wohnte mit seiner Frau, für mich Oma Änne, in der Kutscherwohnung. Beide Häuser hatten im Wuppertal, das beidseitig der Wupper steil ansteigt, interessante große Terrassengärten, die bis hoch in den nahen Wald, die Kaiserhöhe, führten. Das Kutscherhaus „Nützenberger Straße, Ecke Bismarckstrasse“ in Elberfeld gelegen, stellte die Übergangszone von Proletariat zum Großbürgertum dar, das im Briller Viertel lag: ein Bereich prachtvoller Villen und Häuser ehemaliger Textilunternehmer. Übrigens wuchs auf einer anderen Seite dieses Viertels, ebenfalls in einer solchen Wechselzone, Jahrzehnte zuvor dieschon erwähnte Else Lasker-Schüler auf. Der Dicke Fritz betonte gerne, welche guten Autobahnen Hitler gebaut habe und dass, ob man ihn mochte oder nicht, Heino eine sehr gute Stimme habe. Zur gleichen Zeit fanden die ersten Prä-Fluxus-Veranstaltungen mit Beuys et al. unweit von ihm im Briller Viertel in der Galerie Parnaß statt. Joseph Beuys stellte nun eindeutig einen Gegenpart zum Dicken Fritz dar, dessen Sohn, mein Vater Rolf, Künstler hatte werden wollen, aber dann eine kaufmännische Ausbildung einschlug. Wenn man solche Fakten beschreibt, dann sind das natürlich gar keine Fakten. Ich erzähle einfach, was mir in den Sinn kommt, um mir meine eigene Existenz verständlich zu machen, von der ich aber gar nicht reden will. Deshalb ist auch die Geschichte von Georg, der später Bademeister wurde und stets von seinen Zwillingsbrüdern exkludiert war, ohne weitere Bedeutung. Georg und ich sind Teil eines größeren Organismus, dessen unterschiedliche strukturelle Ebenen mich interessieren. Der Mensch als Person, im Sinne der Begriffsbedeutung von „Maske, Bühnenrolle“, als Narr und Bademeister in seiner gesellschaftlichen Funktion und der Mensch als Mensch, wobei es zu erforschen gilt, was das bedeuten kann und könnte. Die 1960er Jahre konnte man auch in Wuppertal als eine Wechselzone von Autoritarismus („Der Muff von tausend Jahren unter den Talaren“ sollte gelüftet werden) zu echtem Demokratieversuch erleben. Die äußerst angepassten 50er Jahre, die „das Land wieder aufbauten“, waren in ihrer Enge erdrückend spürbar, die nach Ausbruchsuchte.

Meine Eltern versuchten den Ausbruch noch vor meiner Geburt, sie wanderten aus nach Südafrika. Zur gleichen Zeit zog Dr. Ronald Laing mit schizophrenen Patienten in London in eine Wohngemeinschaft und sagte: „Wenn eine Position der primären ontologischen Sicherheit erreicht wurde, stellen die gewöhnlichen Lebensumstände keine fortwährende Bedrohung der eigenen Existenz dar. Wenn eine solche Lebensgrundlage nicht erreicht wurde, bilden die gewöhnlichen Situationen des tagtäglichen Lebens eine kontinuierliche und tödliche Bedrohung. Nur wenn man sich das klarmacht, ist es möglich zu verstehen, wie bestimmte Psychosen sich entwickeln können.“{3} Mit dem Konzept der sogenannten ontologischen Sicherheit wollte Laing einfach ausdrücken, dass Lebewesen ein Vertrautheitsgefühl zu ihrer Umwelt derart empfinden können, dass sie sich als sicher innerhalb dieser wahrnehmen. Dieser Zustand stellt den Normalzustand dar. Notlagen gibt es, jedoch als Ausnahmen. Wenn ein Mensch nun versucht, in einen anderen Teil der Erde zu gelangen, lässt sich dies deutlich als Indikator für eine Verunsicherung ontologischer Art nehmen. Er sucht nach anderen Lebensgrundlagen. Materiell prekär war die Lebensgrundlage Mitte der sechziger Jahre nicht, insofern finde ich es äußerst spannend herauszufinden, welche andere Form der Prekarität hier vorgelegen haben muss. Sicher, alle Nazis waren noch da, die Nürnberger Prozesse, von denen ich später als großem Aufräumprozess hörte, hatten ganze acht Menschen verurteilt. Das war’s, die anderen machten weiter im Namen einer oktroyierten Demokratie amerikanischen Vorbilds. Der führende amerikanische Politologe Sheldon Wolin schrieb 1960: „Während die durch Nationalsozialismus und Faschismus repräsentierten Versionen des Totalitarismus ihre Macht durch die Unterdrückung liberaler politischer Praktiken festigten, die nur oberflächliche kulturelle Wurzeln geschlagen hatten, stellt Supermacht einen Drang zur Totalität dar, der aus dem Umfeld stammt, in dem Liberalismus und Demokratie seit mehr als zwei Jahrhunderten etabliert sind.“{4} Es handelt sich um einen auf den Kopf gestellten Nationalsozialismus, einen „umgekehrten Totalitarismus“. Obwohl es sich um ein System handelt, das nach Totalität strebt, wird es von einer Ideologie des Kostengünstigen und nicht voneiner „Herrenvolk“-Ideologie, vom Materiellen und nicht vom „Idealen“ angetrieben“. Wolin stellt also fest, der Totalitarismus wurde letztlich einfach umgestülpt und eine Volksherrschaft liege nicht vor, sie sei Fassade. Der Dicke Fritz war nun recht deutlich ein bestimmender Signifikant, ein kleiner dicker Klempnerkönig mit einem Prinzen, meinem Vater, der an dieser symbolischen Ordnung nicht beteiligt werden wollte und sich davon machte. Wollte er ein eigenes Königreich gründen, als er auszog? Die sogenannte westliche Welt wollte eindeutig ja auch etwas anders haben als bislang, die 68er-Bewegung der Hippies nahm langsam Fahrt auf, während Heinosang: „Schwarzbraun ist die Haselnuss, schwarzbraun bin auch ich.“ Ich frage mich heute natürlich, was meine Eltern wohl erwartet hatten, in Südafrika zu finden: weniger Totalitarismus? Und meinerAuffassungnachkennzeichnetdenTotalitarismuseinealleLebensbereichederMenschen durchdringende Ideologie von Unterwerfung, Verdrängung, Angst, Projektion und Entlebendigungsversuchen mit dem Zweck, trotz monströser Bedrohung existieren zukönnen. Vielleicht weisen wir in diesem Buch die vielen Gesichter des Totalitarismus nach und kommen seinem Beginn und seiner Verbreitung auf die Spur. Meine Eltern zumindest hätten sich denken können, dass das Südafrika der 1960er ein rassistisches Scheißloch war, das dem Deutschland, aus dem sie flohen, nicht nachstand. Die Erkenntnis kam schnell, dort ließ sich keine Freiheit finden. Meine Mutter hochschwanger, kamen sie nach anderthalb Jahren auf einem Kreuzfahrtschiff - die Fahrt ist ja bekanntlich lustig - zurück, um im Mietshaus vom Dicken Fritz, gleich unter der Schwester meines Vaters mit ihren drei Kindern, zu wohnen. Der zurückgekehrte Prinz wurde zur Armee eingezogen, und ich wurde geboren. Gleich ein paar Monate später wurde der friedlich demonstrierende Student Benno Ohnesorg durch die Kugel eines Polizisten getötet, was den Zeitpunkt darstellte, ab dem viele Studenten in Deutschland gegen die totalitäre Ordnung der Kultur antraten und eine Revolution anstrebten. Im Grunde war schon vieles in dieser Kultur als narzisstisch und traumabedingt analysiert: es traten Figuren aus dem totalitären Nebel, die Lichtgestalten der Hoffnung junger Leute wurden: Max Horkheimer, Herbert Marcuse, Theodor W. Adorno, Ronald D. Laing und viele weitere hatten die symbolische Ordnung durchleuchtet und ein Scheitern der Aufklärung diagnostiziert. Der sogenannte Westen bekam ein Problem, junge Menschen hinterfragten alle Regeln und einige waren bereit, einen Sprung ins Unbekannte zu machen. Über die Popkultur wurden neue Ideologien verbreitet: Bob Dylan und Joan Baez sangen: „We shall overcome“ und mein Vater verweigerte den Wehrdienst und bekam einen Gerichtsprozess der alten Ordnung verpasst, in welchem sein Gewissen geprüft werdensollte. Sein Kampf wurde der Kampf gegen die Macht seines Vaters. Das alte Protestlied „We shall overcome“ aus Bürgerkriegszeiten wurde jedoch auch eine Parole der Gegenseite. Der amerikanische Präsident Lyndon B. Johnson nutzte sie, doch mit ihm war die Hoffnung der jungen Leute nach dem Tod von John F. Kennedy dahin. Eine halbe Million junger Amerikaner versank zunehmend im Sumpf eines kriegerischen Wahnsinns im Kampf gegen den Kommunismus in Vietnam. Die Aufklärung bewies sich als gescheitert und die eigene Welt bekämpfte den Lichtblick einer Änderung von narzisstischem Kapitalismus und Fassadendemokratie: die marxsche Idee der Befreiung. Vordergründig zumindest waren das harte Zeiten für Narzissten, die ja von der Wahrnehmungsverzerrung und der Beißhemmung der Anderen leben. Es schien eine kritische Masse erreicht zu sein, die den Wahnsinn des Westlers und Siedlers (The wild, wild West) endgültig beenden wollte. Die symbolische Ordnung schrie Propaganda durch Megafone und die jungen Menschen antworteten mit „Woodstock: An Aquarian Exposition – 3 Days of Peace & Music“ und Ton Steine Scherben sangen: „Keine Macht für Niemand“ und „Macht kaputt, was euch kaputt macht“. Mein Vater hat nun lange Haare und Koteletten und eine „Studentenkneipe“ eröffnet, ganz im Sinn der Jugendkultur. Er wird zu einer beliebten Figur dieses Aufbruchs in Wuppertal: es findet sich ein Plakat mit „Rolf Ruppel for President“ und er wird zu einem großen Casanova in wuppertaler Format, lebt aber nach wie vor, wenn auch mit libertärer Haltung, mit seiner jungen Familie im Mietshaus seines Vaters, über ihm seine 12 Jahre ältere Schwester, die eine Dopplung seiner Mutter darstellte. Aber er reagiert mit Humor und Freiheitdrang: seine Freiheit scheint bedingt gut zu gelingen. Und der Narzissmus macht, was er immer macht, seine wichtigste Qualität ist das Mimikry. Er schafft Fassaden von Freiheit und Lebendigkeit und zersetzt die Opposition durch Spaltung. Ich werde aus meinem Umfeld in einen Kindergarten verschleppt und der symbolischen Ordnung unterworfen und realisiere, dass die laisser-fairen Eltern keine Macht gegen die gesellschaftlichen Regelndarstellen und sich jederzeit in eine Art Monster im Namen der Macht verwandeln können: Am Ende macht man doch, was man macht, und „Keine Macht für Niemand“ ist eine hübsche Illusion. Für mich ist der Traum aus und ich hasse die Wirklichkeit der Ideologie, in die ich hineingezwungenwerde. Die jungen Erwachsenen haben eine Zeitlang mehr gefickt und gesoffen und die Drogen, die schon den Alltag im Nationalsozialismus bestimmt hatten, verbreiteten sichepidemisch. Währenddessen saß ich in wechselnden Käfigen fest. Nicht etwa war der Traum aus, sondern die Wirklichkeit war einfach nicht zu leben. Die Narzissten hatten damals schon so viele Symbole aufgestellt, dass alles voll stand, und der Bürger war ein Meister in der narzisstischen Unterwerfung. Mein eigenes Leben ist ab hier schon gar nicht mehr berichtenswert, ich habe die Geschichte aufgelöst, eine, die innerhalb der Matrix stattfindet, ist keineswegs wichtig. Da bin ich ganz der Auffassung Slavoj Zizeks, der auf die Frage antwortete, wer er denn sei: „KeineAhnung, und es interessiert mich auch nicht.“{5} Die Ideologie des Narzissmus ist einfach eine lächerliche Veranstaltung. Ein echter Mensch möchte so etwas wie eine narzisstische Geschichte nicht haben. Wie, um Himmels Willen, sind wir auf die Idee gekommen, uns selbst zu observieren, wie wurden wir bitte unser eigener Gesprächspartner, der sich sein eigenes Leben erzählt? Jetzt lässt sich natürlich sagen: „Was hat er nur, der Mann? Ich fand es nie so schlimm, und außerdem wäre ich gerne prominent und reich und würde von den andern bewundert werden, und das ist doch auch normal.“, und das verstehe ich gut, ich habe mich lange gefragt, warum den Anderen die Unterwerfung mit einer solchen Leichtigkeit gelingt und habe heute Antworten. Begleiten Sie mich auf meiner Reise, die nicht von mir erzählt, jedoch von meiner Wahrnehmung. Ich ordne und erkläre die Begriffe, von denen Sie oben gelesen haben und gebe Beispiele. Es wird eine essayistische Tour de Force durch dieScheiße

Colonia Dignidad, Chile, 1961 - 2010

Neben Kuba ging den USA 1970 der zweite südamerikanische Staat an den Kommunismus verloren und 1973 hatten sie den Divisionsgeneral Augusto Pinochet soweit aufgebaut, dass er einen Militärputsch gegen die Regierung Salvador Allendes gewann. Mit Chile haben wir das erste interessante Beispiel einer bewussten Anwendung einer Strategie als politischem Mittel, welches zuvor lange Zeit nur intuitiv ausgeübt worden war: dem Schock. Bekanntermaßen versetzt ein Schock Lebewesen in ein genetisch determiniertes Notprogramm, es entsteht also eine systemische Veränderung mit folgenden Kernpunkten: 1. Die Wahrnehmung reduziert sich auf ein einfaches Modell, das der Freund-Feind- Kennung dient. 2. Die Möglichkeit zur Reaktion wird auf eine Fight-Flight-Faint-Response eingeschränkt. 3. Das Wesen, soviel zumindest wissen wir vom Menschen, entselbstet sich, d.h., es schafft sich die Illusion, nicht es selbst zu sein, seelisch-geistig steht es neben sich, um den möglichen Schmerz nicht zu fühlen und noch handeln zu können. 4. Es entstehen Gruppenstrukturen in Hierarchien, aufgrund unbewusster Kategorisierung in Opfer und Täter. 5. Der geschockte Mensch empfindet sich aufgrund seiner Dissoziation als isoliert. Die Welt selbst erscheint ihm fremd und bedrohlich. 6. Er befindet sich in einer vermeintlichen Mangelsituation und versucht, Besitz zu sichern.

Zumindest seit Edward Bernays, Neffe von Sigmund Freud und Erfinder der Propaganda (welche er später euphemistisch in Public Relations umbenannte), war die Psychologie, die vormals noch den verräterischen Namen Psychotechnik trug, Beutegebiet machtsuchender Narzissten. Jede neue Erkenntnis wurde ausgeschlachtet und funktionalisiert. War „Die Psychologie der Massen“ von Gustav LeBon schon Goebbels kleine Bibel, so wurde nun im großen Stil analysiert, wie Menschen gelenkt werden können. Es war ein wahres El Dorado der Offiziere der Eliten. So gelangte die Psychotechnik von der Beschäftigung „alter Männer in Hinterzimmern“ (Rainer Mausfeld) in den Fokus der narzisstischen Gesellschaft. Heute sucht jeder Tipps und Tricks zur Manipulation des Anderen, denn jeder ist des Anderen Konkurrent, für bedrohliche Lagen typisch: dort benötigt man den dauernden Vergleich und eine Zeitempfindung wie bei einer tickenden Bombe. Man ist im Wettstreit um Ressourcen. Jeder ist isoliert in seinem Käfig, wir haben uns einen Zoo gebaut und jeder ist Insasse, Wärter, Zoodirektor und Marketingabteilung in einer Person und kämpft um seine Existenz, die sich dadurch beweist, dass er gesehen und gemocht wird. Alle sind im Zoo geboren, keinem fällt etwas auf. Bis auf die Käfigerkrankungen natürlich: Entfremdung, Entselbstung, Entlebendigung, algorithmisches Leben: Zwänge, Süchte, Ängste, Depressionen, Psychosen, Paranoia als natürliche Folge der Käfighaltung. Aber die externalisiert man, indem man sich hygienistisch im Käfig isoliert, die eigenen Erkenntnisse banalisiert, die Besucher misstrauisch observiert, sich der Zooordnung feudalistisch unterwirft und in den Algorithmen technokratisch das Heil sucht, vom algorithmischen Yogaablauf bis zu allen technischen Lösungen, die uns erretten sollen. „Wer im Käfig lebt, er möge ewig leben, denn das Monster seines Traumas kann ihn nicht verschlingen, also muss er wohl ewig leben, denn er ist beschützt;esistanstrengend,abersoarbeitenwiramFortschritt.Damüssenwirdurch.“

Nach Chile wandert der Jugendbetreuer Paul Schäfer im Jahr 1961 aus, er ist auf der Flucht, denn er wird in Deutschland mit Päderastievorwürfen verfolgt. Schäfer zieht junge Menschen an, die eine christliche Heimat suchen und vom Wirtschaftsaufschwung in Deutschland nicht profitieren konnten. Arme Familien schicken ihm Kinder und sind froh, ihre Verantwortung für die Kinder los zu sein, Schäfer spielt den narzisstischen Retter. Wie alle narzisstischen Retter gibt er versteckt die Gewalt, unter welcher er leidet, weiter: er hasst seine Mutter und er fickt junge männliche Kinder. Er ruft zur Auswanderung in den chilenischen Dschungel auf: dort soll eine deutsche Kolonie entstehen. Auch für fliehende Nazifunktionäre war Südamerika schon ein geeigneter Platz gewesen. Mit einer Handvoll junger Männer zieht er in Chile ein und nimmt ein Stück Dschungel eigenmächtig in Besitz. Es werden harte Jahre für seine Anhänger: der Dschungel wird gerodet und erste Gebäude gebaut. Die Jüngeren dürfen kaum ruhen, Pausen gibt es dann, wenn Schäfer Parolen und Predigten austeilt, er selbst ruht fast nur, lässt sich bedienen und hat in jeder Nacht einen Jungen im Bett. Die Kolonie der Würde eben. Wobei die Chilenen schon seit den1840er Jahren Erfahrungen mit deutschen Kolonien und seit über vierhundert Jahren mit der spanischen Kolonialisierung hatten. Die verrückten Europäer waren dort schon lange Gewohnheit, die neuen verrückten Deutschen wurden kaum beachtet. Schäfers Deutsche Sekte brachte immer weitere Mitglieder ins Land, die Kolonie wuchs. Der Deutsche bewältigt die wilde Natur mit Fleiß, Disziplin und Subordination, er unterwirft sich der Ordnung und gedeiht, er gedeiht krank und lässt sich lenken und missbrauchen, aber er gedeiht. Und Schäfer indoktriniert. Wie ein Krebsgeschwür versorgt sich die Colonia und wächst zu einem Dorf im Dschungel mit deutscher Gründlichkeit. Man betreibt Bergbau und verkauft Kies, dann gründet Schäfer sogar ein Krankenhaus, in welchem die chilenische Bevölkerung versorgt wird. Schäfer bildet die symbolische Ordnung, verzehrt die männlichen Kinder und hasst die Frauen. Sexualität verbietet er, dort fickt nur einer. Er trennt Männer und Frauen, Kontakt ist verboten. Furchtbare Züchtigungen sind alltäglich. Die Kolonie wächst ihre Kontakte ins Land hinein. Erfolgversprechende Mitglieder werden an Universitäten geschickt und akademisch ausgebildet. Dann kommt der Militärputsch gegen Allende und Schäfer ist begeistert. In der Folge produziert die Colonia Dignidad Waffen für Pinochet und vergräbt dessen tote Folteropfer auf ihrem Gelände. Die Lieblinge vom Dicken Fritz, Politiker wie Franz Josef Strauss und andere, sind gern gesehene Freunde und Unterstützer der Kolonie. Zudem kann über sie die Waffenversorgung Chiles von Deutschland aus organisiert werden. Alles blüht und gedeiht. Und Schäfer zelebriert die narzisstischen Superkräfte: Hygienismus, Feudalismus, Observation, Banalisierung und Technokratie mit ihm als elitärem, patriarchalem Gegenweltgott, welcher gegen den Dschungel des Lebens, oder man kann sagen: gegen die Mutter Gaia - im Chile der damaligen Zeit vielleicht Pachamama - antritt. Die Kommunikation geschieht einseitig in der Struktur des Amphitheaters: Ein Sender richtet sich an die Anderen als Empfänger. Diese Art der Kommunikation kennzeichnet den Totalitarismus. Die Medien haben die Funktion des Senders übernommen, die, wie Baudrillard es über die Bildschirme schrieb, „für immer jede Antwort verweigern“{6}. Das patriarchale Prinzip dringt ein und spritzt sein Sperma. Zuvor muss der Empfänger die Onanie aushalten. Der Nationalsozialismus ist ohne die Technologie des Radios schwer vorstellbar. „Führer befiehl, wir folgen dir.“ Und Schäfer ist auf der Höhe der Zeit, er verweigert sein Sperma der Mater und spritzt es inKnaben. Schließlich wird die endgültige technokratische Lösung des Narzissten das Erschaffen von Wesen ohne Geschlechtlichkeit werden. Er bereitet hier also schon einen wichtigen Schritt vor und lässt die Frau schon gänzlich links liegen. So verbietet er den alltäglichen Kontakt von Männern und Frauen in der Kolonie und nur zum noch unumgänglichen Zweck der Vermehrung der Kolonie plant er Verpaarungen.

Vermutlich werden viele Menschen zustimmen, wenn man sagt, dass systemisches Denken für uns sinnvoller wäre als das von uns meist genutzte lineare. Eine alten Zen-Geschichte erzählt, dass es zwar stimme, dass 1 und 1 gleich 2 sei, dass aber trotzdem ein Fehler in der Antwort läge, weil man dabei das „und“ vergesse. Die Quantität drückt doch recht wenig aus. Zum Beispiel auch nicht, dass 1 und 1 gleich 2 und 2 gleich 1 sind, auch rein quantitativ. Zumal: Sind 1 und 1 „gleich“? Ein Regenwurm und ein Regenwurm sind ähnlich, ein Regenwurm und ein Elefant sind nicht besonders ähnlich, aber sie sind zwei Tiere. Ob sie eins sind oder werden, ist komplex. Sie mögen einander als eins wahrnehmen, oder aber von anderen biologischen Systemen als eins wahrgenommen werden. Es gibt allerdings Menschen, die darauf bestehen, nichts anderes zu sehen, als dass 1 und 1 gleich 2 sei, was dann für sie selbst bedeutet, sich nicht mehr vereinigen zu können, weil sie sich selbst vereinzeln. Wer sich selbst vereinzelt, versucht entweder die eigene Vereinzelung zu schützen oder aber sich sinnloserweise gleichmachen zu wollen. Definieren wir Wahrheit als eine möglicherweise unendliche Informationsmenge, die überall anwesend ist, so bestimmt sich der Begriff Wirklichkeit aus der Bildung eines biologischen Systems mit Teilen der Wahrheit zu einer gemeinsamen Wirklichkeit. 1 und 1 wird 1. So kann also gelten: 1 und 1 gleich 1, ebenso wie 1 und 1 gleich 1 und 1, als auch 1 und 1 gleich 2, wie aber auch 1 und 1 gleich 3, wenn die Wirklichkeit fruchtbar zu einer neuen Wirklichkeit führt, welche eine eigene Dynamik entwickelt.

Die selbstimmunisierenden Strategien gegen die Einsicht in die Wahrheit und damit zur Verhinderung einer Wirbildung, also gegen die Schaffung einer Wirklichkeit als Wir-k-lichkeit, die ich die „Entscheidung zur Dummheit“ nenne, finde ich außergewöhnlich spannend. Vor allem, weil deutlich wird, dass es um aktive Entscheidungen geht, die man traf (als man sich dumm stellte), derer man sich also wieder selbst ermächtigen kann, um ein Wir mit der Wahrheit zu bilden: der einzige Weg, temporär Wahrheit zu erleben (das auch zur Wissenschaftskritik), eben durch Interaktion. Es dreht sich immer um die Erkenntnis: It takes two to Tango. Wirklichkeit istein Prozess, der Wahrheit sucht und teilen will. Wirklichkeit entsteht nicht aus zweiter Hand. Das „Second Hand Life“ wehrt sich gegen das Andere, es wehrt sich gegen die Vereinigung, es hat Angst um sich und weicht der Erfahrung aus. Der Avatar kann ja eben nicht ein lebendiges Ganzes erkennen und begreifen, sondern nur töten und Leichen fleddern. Er reißt nur heraus, was für ihn wichtig scheint, was ihm dient.

Es stellt sich also in jedem Moment des Lebens die Frage: Wie schaffe ich mit dem, wo ich örtlich und zeitlich bin, ein Wir? Das ist der konträre Ansatz zu der narzisstischen Frage: Was bedeutet das für mich?, die auf eine Ausbeutung abzielt und stets ein gewetztes Messer in Händen hat. Der Narzisst zieht alles ins Imaginäre, um es dort zu entbeinen.

Der Ideologe spricht viel, um nicht zu fühlen; vor allem spricht er mit sich selbst. Wirbildung ist jedoch kein Prozess des Sprachdenkens. Insofern kennt der Osten eine Tradition, die sich gegen das Sprachdenken richtet, während der Westen sich klar für das Sprachdenken entschieden hat. Will man das Sprachdenken nicht bekämpfen, wird eine Anleitung zur Wirbildung schwierig. Wie soll man dem ideologischen Affen Wirbildung erklären, er verwechselt sie sofort mit seiner narzisstischen suchthaften Klebrigkeit, die er als Alternative zur Abwehr nur noch kennt.

Durch Berührung und Bewegung erfahren Systeme Feedback und gehen in Kommunikation. Diese Kommunikation ist mit einem Sender-Empfängermodell nicht richtig beschreibbar, denn 1 und 1 wird umgehend 1, bleibt aber auch 2, wird 3 und bestätigt 1 und 1. 1 ist so erst 1. 2 ist so erst 2. 2 ist so erst 1. Und 2 wird so erst 3.

Interessant ist die Frage, wie gewinnt oder verliert die 1 die Fähigkeit zur Wirklichkeitsbildung? Wie kommt sie in Bewegung und zur Berührung, und wodurch stoppt das Ganze? Erst einmal gilt es festzustellen: sie lebt, d.h., hier ist die 1 notwendig ein biologisches System, damit sie für und durch sich Wirklichkeiten schaffen kann. Zur Lebendigkeit gehört die Selbstorganisation, die durch Rückkoppelungen, durch Feedbackschleifen agiert. So ergeben sich die biologischen Basiskonzepte: Struktur und Funktion, Kompartimentierung, Stoff- und Energieumwandlung, Steuerung und Regelung, Information und Kommunikation, Reproduktion, Variabilität und Angepasstheit und Evolution. Damit ist die 1 eben kein Objekt, und die rein kaufmännische Zählung erweist sich nur noch als Karikatur des Lebendigen. Wir sprechen also erst einmal der Objektwelt die Fähigkeit zur Wirbildung ab und richten die Aufmerksamkeit auf dieSubjekte.

Damit ist dann auch gleich die erste Vermutung also, dass hier Subjekte zu Objekten umgewidmet werden, womit sie dann den Wirbildungen entzogen werden. Höhere biologische Systeme kennen einen Zustand, der genetisch determiniert tief in die Basiskonzepte der Systeme greift. Aus den Erkenntnissen von Verhaltensbiologie, Neurobiologie und Psychologie können wir beim Menschen auf einen angelegten Notzustand schließen, für den wir folgende Bedingungen angeben können: Reduktion des Informationsaustausches, Isolation des Systems in einer bedrohten Lage, die Agentivität des Systems beschränkt sich auf die Notlagenmodi Kämpfen (Wirklichkeitserzeugung ohne Wirbildung: Psychose), Fliehen (Externalisieren der Aggression: Neurose), Totstellen (Internalisieren der Aggression: Depression). Die Systeme, die psychotisch reagieren, machen folglich das Andere zum Objekt, um es definieren und gestalten zu können. Hier gilt, die Lebendigkeit des anderen Systems soll nicht sein. Die neurotisch reagierenden biologischen Systeme fliehen dagegen vor dem Lebendigen und weichen der Wirbildung aus, während das depressiv reagierende System sich selbst entlebendigt.

Nimmt also das System sich nicht als bedroht wahr, ist die Wirbildung mit der Wahrheit zur Wirklichkeit ein natürlicher Akt, nimmt es sich als bedroht wahr, vereinzelt es sich. Die Feedbackschleifen sind also da, sie können vom System ein- und ausgeschaltet werden. Wenn ein System jedoch für einen längeren Zeitraum die Feedbackschleifen einschränkt, hat dies ökologische Probleme, da die Regulationen des Systems mit falschen, fehlerhaften und zu geringen Informationen nicht mehr gut ablaufen können. Die objekthaften Subjekte erzeugen reduzierte Wirklichkeiten, durch die sie sich linear bewegen. Für sie gibt es dann nur 1 und 1 gleich 1 und 1 und 1 und 1 gleich 3. Die anderen Dimensionen fehlen. Um es mit Edwin Abbott zu sagen: “I call our world Flatland, not because we call it so, but to make its nature clearer to you, my happy readers, who are privileged to live in Space.”{7} Die objekthaften Subjekte leben im Flächenland. Raum ist nicht zugänglich. Für Lebenslagen mit Säbelzahntigerbedrohungen mag dies auch gut sein, für das Leben im friedlichen Raum ist es nicht adäquat. Hier benötigenwir Lebendigkeit: Berührung und Bewegung. Ganz nach Donella Meadows: „We can’t control systems or figure them out. But we can dance with them!“{8} Die subjektiven Subjekte sind stets reaktiv, sie sind Kompartimente der Wahrheit, des Lebens. Sie sind Teil eines lebendigen Universums. Da sie Teil sind, sind sie nicht bedroht. So, könnte man herleiten, kommt es zu dem für Flächenländer provokanten Satz von Zizek{9}: „Liebe dein Symptom wie dich selbst.“ Denn das Symptom ist lebendige Information in einer Feedbackschleife und gibt an, dass das biologische System lebt. Subjektive Subjekte sind für das Leben in allen Aspekten geöffnet, eben auch dem Schmerz und der Auflösung. Sie verstecken sich nicht, fliehen nicht und wollen das Leben nicht definieren, da ihnen sonst die Wirbildung ja nicht gelingt, die aber ihr Grundzustand ist.

Folglich geht es hier um eine geschmackliche Entscheidung für oder gegen das Lebendige, und wir können mit Mark Twain schließen, der im Vorwort zu Tom Sawyer sagt: “Persons attempting to find a motive in this narrative will be prosecuted; persons attempting to find a moral in it will be banished; persons attempting to find a plot in it will beshot.“{10}

Wenn Schäfer also nicht schwer traumatisiert gewesen wäre, hätten wir in der „Kolonie der Würde“ wohl eine gleichwürdige Gruppe ohne strukturelle Gewalt gefunden. Das gleiche lässt sich sicher auch über Pinochet sagen. Dabei ist der Glaube an die Macht der Täter allerdings sicher ein großer Unsinn. Eine nicht-traumatisierte Gesellschaft würde solche Figuren verlachen und stehenlassen.

In Deutschland geht man mit radikaler Polizeigewalt gegen die demonstrierenden jungen Leute vor. 1973 formiert sich die Rote Armee Fraktion, die nach südamerikanischem Guerillavorbild verzweifelt versucht, die patriarchalen, narzisstischen Strukturen zu bekämpfen. Das Patriarchat aber beschützt sich durch die Verteidigung ihrer Hoffnungen, und die Bürger sind durchdrungen davon: Wir müssen da durch, und dann, wenn wir einmal da durch sind, dann ist alles gut: das Trauma wäre besiegt. Und das Trauma ist das dauernde Hintergrundrauschen, das Klingeln im Ohr, das Unbequeme im Sein. Der Traumatisierte findet die Quelle seiner Qualen im Sein selbst. Und das will er deshalb selbst gestalten. Das Narrativ des Fortschritts ist die Verheißung der Todüberwindung als Seinsüberwindung. Dass zu Beginn der 2000er Jahre Zombiefilme die amerikanische Kultur durchsetzten, erscheint in diesem Licht ganz verständlich. Diese Ideologie ist die kulturelle Basis, vor welcher der Kotau gemacht werden muss.

Hitler, der Dicke Fritz, Pinochet und Paul Schäfer hatten jedoch ein Adaptionsproblem, sie waren noch nicht Modelle der neue psychologischen Erkenntnisse. Hier beginnt der Turbokapitalismus ab den 1990er Jahren als patriarchal-narzisstische Kultur bis in alle Lebensbereiche zu dringen, und das tut er als der gute Retter und Helfer, als freundlicher Mann, der Gutes tut. Das Böse hat er outgesourct: es ist der Drache vor den Toren der Stadt und er ist der Geschichten erzählende Kaufmann, der durch die Städte zieht. Der Kaufmann ist ein Meister des Mimikry, er bietet immer das, was dem Verkaufen dient. Hier eine kleine Drachenkollektion: Kommunismus, Ölpreiskrise, neue Eiszeit, Ozonloch, AIDS, Atombedrohung, Waldsterben, Artensterben, Überbevölkerung, Terrorismus, Bedrohung durch den Islam, Klimakrise usf. Und wer tritt auf als Retter: der Kaufmann. Er inszeniert ein Schauspiel im Drachenkampf. Der Drache steht immer für für eine endzeitliche Bedrohung. Hier wird der Positivismus von Auguste Comte das neue Gewand: „Be happy und halt die Klappe.“ Hier wurde der Diktator zum verständnisvollen Manipulator, dessen wichtiges Mittel das Zeigen von Empathie ist.

Hier stellt sich die Frage: Ist der empathische Mensch der gute Mensch? Das ist eine interessante Frage, an die sich für mich gleich die Frage anschließt: Ist der gute Mensch ein guter Mensch? Denken wir erst einmal darüber nach, was der Begriff Empathie denn meint. Empathie ist kein Gefühl, sie ist eine Reaktion, die auf die Interpretation der Lebenslage des Anderen folgt. Darauf hat nicht zuletzt Paul Ekman verwiesen. Die Analyse des Anderen ist zuerst einmal weder gut noch schlecht, und sie kann Gefühle in mir auslösen, die aber selbstverständlich immer meine Gefühle (nicht etwa die des Anderen) sind. Das meint auch, Konflikte, die mir die Anwendung von Empathie macht, sind immer meine eigenen Konflikte. Carl Rogers hat die Empathie in den 1970ern heilig gesprochen und alle Narzissten haben sich freudig die Hände gerieben. Schließlich sind sie die Meister der Analyse des Anderen, und sie lieben es, im Namen des Guten aufzutreten, als narzisstische Retter. Immanuel Kant gehörte zu den ersten, die auf den möglichen Missbrauch der Empathie durch Politiker in einer Demokratie hingewiesen haben. Das Motiv der vermeintlichen Einfühlsamkeit durch Analyse verhilft wunderbar zum Übergriff in die Belangedes Anderen, weil man es ja sogar besser als er selber weiß. Der Narzisst sagt: „Ich kenne dich besser als du selbst und werde dir helfen. Ich rette dich.“ Er ist ein Spezialist in der Emotionserkennung. Er lebt ja geradezu von den Emotionen, die er in seinem Gegenüber auslösen kann wie der Vampir vom Lebensblut seiner Opfer. Interessanterweise heißt Empathie im Neugriechischen Voreingenommenheit, Feindseligkeit, Gehässigkeit. Und selbstverständlich darf sich niemand vormachen, er fühle, was der Andere fühlt, tatsächlich handelt es sich eben um eine Interpretation, die grundsätzlich unserer Kommunikationfähigkeit dient, die eben aber auch in unserer Kultur dauernden Manipulationen unterliegt. Das führt uns denkerisch gleich zu solchen seltsamen Begriffen wie Altruismus, Harmonie und Perfektion, die bei vielen geradezu den Antrieb zu eigener und fremder Folter bilden. Solche Begriffe binären Denkens machen nur dann Sinn, wenn man uns Menschen, und eigentlich der Welt selbst eine inhärente Böswilligkeit unterstellt, der man meint, etwas entgegenhalten zu müssen. Dann beginnt man mit solchen Begriffen wie Altruismus, Empathie, Harmonie, Perfektion zu argumentieren, als seien diese technologische Erfindungen, die den Menschen ins Paradies führten. „Ich kann nicht anders, ich bin halt gut.“ Das sagt der, der sich selbst und der Welt misstraut, weil er zu sich selbst den Verdacht hegt, nicht gut, nicht okay zu sein und meint, eine massive Bemühung zum Gutsein dem entgegenstellen zu müssen. Das hat immer den Eindruck von plastikhafter Künstlichkeit, die sagen will: „Schau, ich bin gut, denn ich bemühe mich, ich bin der, den du willst und nicht das böse Wesen. Nimm mich an und liebe mich.“ Das Gegenstück zu Egoismus ist nicht etwa Altruismus, da der Egoismus eben auf einem netten, kooperativen Wesen basiert, und dieses Wesen, wenn es eben nicht korrumpiert ist, hat in Geschenkökonomien gelebt. Welches furchtbare Menschenbild braucht jemand, um dem Selbstsein etwas besseres entgegenstellen meinen zu müssen. Erfinder dieses Begriffs war der Begründer des Positivismus Auguste Comte, und damit weiß man schon, wes' Geistes Kind er war. Dieser Positivismus ist die nächste Geißel des modernen Menschen, der in seinem binären Denken auf eine absurde Weise die Welt zu spalten versucht, um sich selbst auf der guten Seite zu wähnen. Man kommt von dort aus zu dem Begriff der Harmonie, der sich ableitet von Übereinstimmung und Fügen. Wir merken, worauf all' das hinausläuft: da ist ein Wesen, das sich als nicht gut empfindet und sich massiv bemüht, als gut gesehen zu werden, um dazuzugehören. Und schon sind wir wieder beim Hänsel-und-Gretel- Motiv, das jedem Kind seit der Geburt angedroht wird. Dieses Wesen betreibt ein Marketing für sich und über sich mit der Parole: „Schau, ich bin gut, altruistisch, positiv, empathisch und liebe die Harmonie. Verstoße mich nicht, nimm mich an.“ Also macht man sich hier zu jemandem, von dem man weiß, man ist es nicht, und bleibt gerade deshalb aber auch an der ewigen Frage hängen: „Wer bin ich denn tatsächlich?“ Wer sich aber selbst fragt: „Wer bin ich?" sollte vielleicht erst einmal die Frage stellen, wer denn auf diese Frage dann antwortet. Und hier, bin ich der Meinung, kommen wir zu dem Punkt, der begründet, warum wir Menschen die Welt spalten: Wir sind gespalten, haben in uns ein Kasperletheater fragmentierter Selbstanteile erschaffen, und wir wissen darum: wir wissen um unseren Wahnsinn. Deshalb trauen wir uns selbst nicht, denn wir sind nicht kongruent, sind unsere eigenen Feinde und kämpfen konstant. Und wir wollen nicht, dass das jemand sieht, denn wir glauben, nur wir seien so. Und, wenn das ans Licht käme, dann würden wir ausgestoßen werden aus der Gemeinschaft der Menschen. Also leben wir in der dauernden Furcht und im ständigen Schauspiel, in der Bemühung, altruistisch selbstveräussernd, positiv und nett, sympathisch, empathisch, lächerlich verbogen und mit einem dauernden Grinsen im Gesicht. Dann rufen wir den Anderen zu: „Lebe, liebe, lache“ und tief in uns liegt die Seele in Schutt und Asche. Das darf man aber niemandem zeigen, auch sich selbst natürlich nicht. Wir haben Abwehrstrategien für diese Erkenntnis, die schon vorbewusst greifen: Wir grenzen durch die dualistische Unterscheidung ab: das ist gut, das ist schlecht. Das, was schlecht ist, darf nicht sein. Man muss sich auf das Gute konzentrieren und das Schlechte meiden und ausgrenzen. Hier feuert die symbolische Ordnung aus allen Rohren gegen die Welt, wie sie nicht sein darf: da man in dieser ein schlechtes Wesen ist – vermeintlich, immerhin hat das, was wir Erziehung nennen zur Grundlage, das neue Wesen in seinem Selbstsein abzulehnen und neu zu definieren, indem die Erwachsenen es geistig besetzen. So entsteht der Wahnsinn dessen, sein eigener Gesprächspartner zu werden. Nun hat das Kind eine Welt aus Verboten mit der ersten Regel, dass das Selbstsein verboten ist und das Spielen einer erwarteten Rolle geboten ist, um existieren zu dürfen. Der Name für die Lücke zwischen Selbst und gespielter Rolle heißt symbolische Kastration. In dem Wissen um die Kastration lauert das Monströse, welches uns ein Leben lang mit Schuld- und Schamgefühlen antreibt, das wir vor uns selbst niemals aufdecken dürfen, da wir sonst gefährden, die Welt der Anderen zu verlassen. Das, was kastriert wird, sind die Deutungshoheit zum Erlebten und die Lenkung der eigenen Aufmerksamkeit. Dort tut man sich selbst ein andauerndes Leid an, da man sich selbst, nach Drohung der Anderen, immerwieder kastriert. Das bedeutet, wir haben es hier mit einer Selbstkastration zu tun, die in einer rituellen Aufführung einer Sisyphosstrafe ähnlich ist. Warum reden wir vom männlichen Problem mit dem Phallus? Das lässt sich einfach beantworten: das Problem der Entlebendigung ist ein patriarchales und es ist höchst bedauerlich, dass sich die Frauen dort haben hineinziehen lassen; jedoch nicht nur das, sie haben sich an die erzieherische Spitze dieses Prozesses begeben. Sie wurden zur phallischen Spitze dessen, was Ronald Laing einmal so beschrieb: „Lange bevor uns ein thermonuklearer Krieg vernichtet, haben wir uns unsere geistige Gesundheit selbst in Schutt und Asche gelegt. Mit den Kindern fangen wir an. Es gilt, sie rechtzeitig zu erwischen. Ohne eine gründliche schnelle Gehirnwäsche würden unsere dreckigen Tricks schließlich auffliegen. Kinder sind ja erst einmal keine Dummköpfe, doch wir müssen sie zu Trotteln machen; nur wenn möglich, natürlich mit einem hohem IQ. Ab dem Zeitpunkt seiner Geburt wird das Steinzeitbaby von der modernen Mutter der Gewalt ausgesetzt, die wir Liebe nennen, ebenso wie deren Mütter und Väter und die letzten Generationen davor. Diese Kräfte wollen sein Potential zerstören, und im großen Ganzen ist dieses Unternehmen sehr erfolgreich.“{11} Und um all das zu verdecken, haben die Täter Begriffe erfunden wie Empathie und Altruismus und Positivismus und Gut und Böse und Perfektion und Harmonie und so weiter und so fort. Der Traumatisierte soll im Konflikt bleiben und nicht etwa glauben, er könne sich dem Leben anvertrauen. Ihm darf das Leben nicht einfach sein, er braucht Konflikte zur Kastration am Selbst. So wird er gehalten in einem ewigen illusorischen Kampf gegen Gut und Böse inihm.

Pinochet verliert 1990 seine Machtposition und auch für Schäfer wird es schwerer. Die äußere politische Ordnung bietet ihm, trotz weiterhin guter Kontakte, weniger Schutz und er vergewaltigt nun auch chilenische Kinder, die jedoch ihre Eltern informieren. Es gibt Anklagen, auch von einem geflohenen Sektenmitglied, das nach Deutschland zurückgekehrt ist. Im Verlauf der nächsten Jahre gilt Schäfer jetzt als unauffindbar: er versteckt sich in einem unterirdischen Bunkersystem, so wie Hitler, der, ohne wieder Licht zu sehen, sein Leben vegetativ in der Wolfsschanze verbrachte. Um seine Taten zu verdecken machte Schäfer dann aus der Colonia Dignidad ein Ferienlager, zu Ehren seines Freundes Franz-Josef Strauß in bayrischem Ambiente. 2006, als Pinochet unverurteilt starb, wurde Schäfer dann doch ein Prozess gemacht. Er starb - wie auch sein Unterstützer Pinochet - im Gefängniskrankenhaus an einem Herzinfarkt. Die „Villa Baviera“ gehört zu einer Aktienholding, die auch noch eine Lebensmittelproduktion und einen Steinbruch beinhaltet. So wurde das Sektenvermögen gerettet und auf einzelne Mitglieder verteilt, unter anderen findet sich sich hier auch die Adoptivtochter Schäfers unter den Eignern. Es leben noch heute viele Opfer und Täter gemeinsam an diesem Ort, leer und entmenschlicht. Ganz so, wie viele Deutsche in Deutschland, aber wer will das schon so denken.

Wenn die Haltung nicht als die Erscheinung des Ergebnisses meiner Wahrnehmungsstruktur erlebt wird, sondern als die Art der Wahrnehmung selbst, bekomme ich Zugang zu der Erkenntnis über meine eigene Metaphysik der Umwandlung des Immateriellen zur Handlung im Gegenständlichen. Gelingt mir hier Klarheit, verstehe ich, wo ich im Tatsächlichen lebe, wo im Imaginären und wo in der Ideologie. So wird mir die Materie nicht zum Material. Ich korrigiere damit den Montagepunkt meiner Wahrnehmung ins Imaginäre und bin in der Möglichkeit, die Ideologie als Schimäre zu überwinden. Dies geschieht durch eine Haltungskorrektur, die die Separation von Selbst, Ich und Avatar durch Erkenntnisklarheit überwindet. Zu dieser Klarheit benötigt es keine schwierigen alchemistischen Handlungen (denn diese stammen ja aus der Ideologie), da das Imaginäre eine eigene selbstorganisatorische Struktur besitzt, eine Form, in welche sie zurückspringt, wenn die Kräfte der Angst aufhören, sie zudeformieren.

Bei uns gilt das Beschriebene als eine Erfahrung, aus welcher wir eine Meinung erschließen, die im Beschriebenen transportiert wurde. Aber nur durch die Lüge kann Beschriebenes zu Wissen werden. Indem ich die Erfahrung in mir imitiere, muss ich mich um die Erfahrung selbst betrügen. Indem ich mich um die Erfahrung betrüge, nehme ich mir mein tatsächliches Leben. Die Lebenserfahrung ist oft nur eine Erzählung, die im weiteren jede gemachte eigene Erfahrung (soweit sie noch vorkommt) nivelliert und umdeutet. Erfahrung entsteht nicht ursprünglich im Denken. Wer seine Erfahrungen aber aus Geschichten nimmt, begibt sich in das Fantasyland der Ideologie.

Wissen Sie noch, wie es war, als Sie geboren wurden? Vermutlich nicht, oder? Ihr Bewusstsein war noch nicht entwickelt und versuchte noch nicht, die Welt festzuhalten; insofern erinnern Sie sich nicht bewusst. Was vermutlich relativ bald nach Ihrer Geburt geschah, war, dass Sie beiseitegelegt wurden. „Du bist da, aber du bist nicht wichtig, wir legen dich zur Seite.“ Das wird Sie mehrals nur erstaunt haben, es wird Sie erschüttert haben und Sie wurden den existentiellen Gefühlen Ihrer Hilflosigkeit ausgeliefert. Es war ein Schock. Ein Schock in einer endlosen Reihe von Schocks, die folgten. Dieser Schock hat Sie dermaßen erschüttert, dass Sie die Illusion erschaffen mussten, gar nicht Sie selbst zu sein. Die Illusion ist: Ich bin nicht ich, ich beobachte die Welt, die Illusion beobachtet die Welt, die Illusion beobachtet die Illusion, über die die Illusion nachdenkt. Der Avatar wird durch eine Selbstbeobachtung mit der Illusion einer Fremdperspektive erzeugt. Das massive Sprachdenken folgt aus dem verbauten Zugang zur Gefühlshaftigkeit des Körperlichen, des Lebendigen. So ergibt sich ein Leben in der Lüge (man sei man selbst und sei wirklich). Die Lüge ist immer ein Imitat des Echten. Das von der Wirklichkeit isolierte Sprachdenken erzählt sich nun die Welt und kann nicht mehr zwischen seiner Ideologie und der Wirklichkeit unterscheiden. Im erzählten Erlebnis kann man sehr gut die Eigenverantwortung unterbringen, die man dadurch vermeintlich loswird. Nur stören die Signale des Wirklichen, die als Symptome auf den zu folgernden Konflikt verweisen. Hinter allen Symptomen liegen Konflikte. Sie verweisen auf das Grundproblem, das in der Ideologie nie gelöst werden kann: man ist nicht Selbst und es existiert kein unabhängiger Geist. Das Leid wird erhalten durch eine konstante Re-Inszenierung eines alten Konfliktes. Der Mensch führt ein Leben auf. Er erlebt es nicht, lässt nicht das Leben durch ihn fließen, ist nicht Teil davon, er inszeniert. Er ist ein total verrückter Icherzähler mit einem God’s View, wie man im Filmgeschäft sagt. Wir sind im Anthropozän, leben in der Fantasie die „Welt“ zu lenken, im Wahn exzeptionell andere Wesen zu sein, Ameisen, die ihre Ichillusion auf die gesamte Existenz ausgebreitet haben und an deren Inhalt leiden. Denn der Inhalt tut was er will, und das darf nicht sein; wir wollen das nicht mehr. Der Gott, den wir uns halluzinieren, der da oben auf einem Thron auf den Wolken sitzt, soll aufhören uns zu gängeln. Das ist das Zeitalter der Befreiung. Wir machen das alles selbst. Wir schaffen die Welt ab und wir erschaffen eine eigene Welt, wir erschaffen uns selbst und erschaffen alles selbst - und wir tun das in der Matrix unserer Erzählung, mit den Stimmen.

Die aus der Agrikultur entstandene Haltung erzeugt eine Reduktion der Wahrnehmung, es entsteht innerhalb des Imaginären ein Teilgebiet: die Ideologie. Von dort aus verteidigt der Sprachdenker sein kartesisches Weltbild. Er hat sich in seiner Ideologie verschanzt und beschützt sich mit Abwehrstrategien. Um es mit Ronald Laing zu sagen: „Was wir «normal» nennen, ist ein Produkt von Verdrängung, Verleugnung, Isolierung, Projektion, Introjektion und anderen Formen destruktiver Aktion gegen die Erfahrung.“{12} Sich der Erfahrung zu verweigern und dem Narrativ als der Wirklichkeit zu trauen, ist der Weg des Siedlers. Dieser hält durch, um einmal in das Paradies zu gelangen, welches er erschuf. Er opfert sich und die Existenz derIdeologie.

Und was ist das für eine Haltung, die wir als „normal“ empfinden? Eine Haltung, die sich angstvoll in einem Teilbereich des Imaginären isoliert hat und von dort aus Raubzüge in die Wirklichkeit plant, eine Haltung, die so sehr an ihren Plänen haftet, dass ihr die illusionierte Vergangenheit und die illusionierte Zukunft als Wirklichkeit erscheinen und damit ein Geisterreich erschaffen hat, in dem es von Menschen, Situationen, Dingen und Orten wimmelt, die in der Wirklichkeit nicht zu finden sind. Der Reiz, der die Reaktion veranlasst, stammt aus dem Imaginären selbst, welches eine Beschädigung durch Angst erlitten hat.

Und so ist dann der Teilbereich des Imaginären, die Ideologie, voller Geister aus Vergangenheit und Gegenwart und Zukunft, die illusionistisch ein Eigenleben führen und als Mächte erscheinen. Der ideologische Mensch ist also ständig damit beschäftigt diese Geister manipulieren zu wollen oder aber vor ihnen zu kapitulieren und sich zu unterwerfen. Für den ganzheitlich denkenden, autonomen Menschen erscheint der ideologische Mensch wahnhaft, da dieser ja konstant auf seine eigene Imagination referiert. Für den Autonomen ist der Ideologe schwer zu verstehen, da er auf eine Welt reagiert, die nicht in der Wirklichkeit der ersten Ordnung stattfindet. Zudem agiert er aus vielen unterschiedlichen Ichmodellen heraus, ihm fehlt ein konsistentes Ichmodell.

Alle eigenen Bemühungen der narzisstischen Opfer und Täter müssten sich darauf richten, die Ideologie aufzubrechen und das Imaginäre wieder in seine Funktion als Adaptionsmodell für die Wirklichkeit erster Ordnung zu bringen. Opfer und Täter betätigen sich hier als Geisterjäger, damit die Welt, wie sie im Realen ist, auch innerseelisch wieder ebenso stattfindet.

Durch Erziehung wird der Mensch zum Geist gemacht, gleichgültig, ob durch autoritäre bestrafende oder nette manipulative Täter wird der junge Mensch existentiell verunsichert, bis er sich soweit verliert, dass er nicht mehr dem entspricht, was er ist, er ist entselbstet worden. Im Alter von sechs bis acht Monaten jedoch trifft ihn eine Erkenntnis wie ein Schlag: ihm begegnet ein technologisches Mittel, das ihn abbildet und erst durch dieses wird er wieder existent. Der Spiegel, und zunehmend heute der Bildschirm, bestätigt das Sein, das ihm die Anderen nicht bestätigten. Die ontologische Sicherheit, d. h., die natürlicherseits von ihm selbst erwartete Sicherheit gibt ihm sein Abbild: er scheint zu leben, solange er sich in Spiegel und Bildschirm finden kann. Wenn wir uns fragen, wo beginnt der Narzissmus und wie entsteht er: hier ist unser Modell. Und hier erklärt sich Baudrillards Erkenntnis, dass wir nur noch durch Bildschirme leben und mittlerweile selbst zu Bildschirmen geworden sind, erst richtig. Es hat eine inhärente Notwendigkeit, jedes und jeden zum spiegelnden Objekt zu machen, wenn ich ein Geist bin, der in einer konstanten Verunsicherung ist, ob er denn existiert. Somit verlange ich von meinem Gegenüber immer wieder eine Bestätigung, und zwar eine möglichst positivistische. Wenn der andere mich nicht spiegelt, bedroht er mein Leben. So erklärt sich auch die Gier nach Macht, Geld und Prominenz als nichts anderes als ein suchthaftes Verlangen nach Existenzbeweis. Dies betrifft die Täter und die Opfer. Ehrlicherweise gibt es erst einmal keinen entscheidenden Unterschied zwischen ihnen.

Du gehörst dazu, oder du gehörst nicht dazu. Dazuzugehören heißt, dass du lebst, nicht dazuzugehören heißt, dass du nicht lebst. Nicht zu leben heißt, dass du nicht existierst. Existieren kannst du dadurch, dass du tust, was wir wollen und nicht tust, was wir nicht wollen. Zu tun, was wir wollen, bedeutet für dich, dass du nicht entwickelst, wer du bist. Das ist unser Ziel, weil wir ein wichtiges Projekt betreiben, das keine Querläufer vertragen kann. Wenn du nicht lieb bist, musst du also auf dein Zimmer gehen, bis du wieder lieb bist, oder aber, ich spreche nicht mit dir, bis du endlich das Richtige tust, das ich dir ja schon erklärt habe, das du tun musst, und wenn du dann in die Schule kommst, da wirst du schon sehen, da lernst du Disziplin: man lernt dort genauso zu denken, wie man es muss, und das macht man jeden Tag viele Stunden und