Der begrabene Leuchter - Stefan Zweig - E-Book + Hörbuch

Der begrabene Leuchter Hörbuch

Zweig Stefan

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Beschreibung

Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur. Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK. 1936 schreibt Stefan Zweig den ›begrabenen Leuchter‹, dessen erscheinen in Deutschland 1937 verboten wird: »Es ist dies eine große Legende, angelehnt an das Schicksal des siebenarmigen Leuchters, der von Jerusalem nach Babylon wanderte, von dort zurückkam, dann wieder von Titus nach Rom gebracht wurde, von Rom geraubt wurde durch die Vandalen nach Karthago, aus Karthago wieder von Belisar erobert und nach Byzanz gebracht, die merkwürdigste Wanderung über die Erde, die ein religiöses Kunstwerk vielleicht je erlitten und von mir deshalb als Symbol der ganzen jüdischen Wanderschaft gedeutet.« Doch dem Raub und schließlich der Zerstörung der Menorah kann Stefan Zweig, der zunehmend an der europäischen Zivilisation verzweifelt, in seiner poetischen Legende einen Keim der Hoffnung einpflanzen.

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Zeit:4 Std. 54 min

Sprecher:Matthias Hinz
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Stefan Zweig

Der begrabene Leuchter

Legenden

 

 

 

 

Inhalt

Der begrabene Leuchter

Anhang

Editorische Notiz

Daten zu Leben und Werk

Stefan Zweig

Der begrabene Leuchter

Eben hatte an einem hellen Junitage des Jahres 455 im Zirkus Maximus von Rom der Kampf zweier riesenhafter Heruler gegen eine Meute hyrkanischer Eber blutig geendet, als um die dritte Stunde des Nachmittags steigende Unruhe sich unter den Tausenden von Zuschauern zu verbreiten begann. Zuerst war es nur den nächsten Nachbarn aufgefallen, daß in der abgesonderten, mit Teppichen und Standbildern reich geschmückten Tribüne, wo inmitten seiner Hofbeamten der Kaiser Maximus saß, ein Bote eingetreten war, staubbedeckt und sichtlich eben abgesprungen nach hitzigem Ritt, und daß, kaum hatte er dem Kaiser seine Nachricht gemeldet, dieser gegen alle Sitte sich inmitten des aufgeregten Spieles erhob; ihm folgte mit gleich auffälliger Eile der gesamte Hof, und bald leerten sich auch die den Senatoren und andern Würdenträgern zugewiesenen Sitze. Ein dermaßen überstürzter Aufbruch konnte nicht ohne gewichtige Ursache sein. Vergebens, daß neuerdings scharfe Fanfaren einen abermaligen Tierkampf ankündigten und aus dem gehobenen Gitter mit dumpfem Gebrüll ein schwarzbemähnter numidischer Löwe den kurzen Messern der Gladiatoren entgegengejagt wurde – die dunkle Woge der Unruhe, von dem blassen Gischt fragender und ängstlich erregter Gesichter überschäumt, hatte sich schon unwiderstehlich erhoben und lief weiter von Reihe zu Reihe. Man sprang auf, man deutete hinüber zu den leeren Plätzen der Vornehmen, man fragte und lärmte und rief und pfiff; da verbreitete sich auf einmal, niemand wußte, wer es zuerst ausgesprochen, das wirre Gerücht, die Vandalen, diese gefürchteten Piraten des Mittelmeers, wären mit mächtiger Flotte in Portus gelandet und schon unterwegs gegen die unbekümmerte Stadt. Die Vandalen! Erst lief das Wort nur als blasses Geflüster von Mund zu Mund, dann plötzlich ward es ein grell aufspringender Schrei »Die Barbaren, die Barbaren!«, hundertstimmig, tausendstimmig das steinern gestufte Rund des Zirkus durchdröhnend, und schon jagte, wie von einem gewittrigen Windstoß aufgerissen, die ungeheure Menschenmasse in rasender Panik dem Ausgang zu. Alle Ordnung brach zusammen. Die Garden, die Wachsoldaten verließen ihre Plätze und flüchteten mit; man sprang über die Sitze, man hieb sich mit Fäusten und Schwertern einen Weg, man zertrat kreischende Frauen und Kinder, an den Ausgängen bildeten sich kreiselnde, kreischende Trichter zusammengequirlter Massen. Nach wenigen Minuten war der weite Zirkus, der eben noch achtzigtausend Menschen in einen dunklen tönenden Block zusammengepreßt, völlig ausgefegt. Marmorn und stumm und leer wie ein verlassener Steinbruch lag das gestufte Oval in der sommerlichen Sonne. Nur unten in der Arena stand – die Fechter waren längst den andern nachgeflüchtet –, die schwarze Mähne schüttelnd, der vergessene Löwe und brüllte herausfordernd in die plötzliche Leere.

Es waren die Vandalen. Bote auf Bote hetzte jetzt heran und jede Nachricht war schlimmer als die frühere. Mit Hunderten Seglern und Galeeren waren sie gelandet, ein behendes, bewegliches Volk; schon flitzten auf der Portuensischen Straße mit raschen, langhalsigen Hengsten die weißmäntligen berberischen und numidischen Reiter dem eigentlichen Heere voraus; morgen, übermorgen mußten die Räuberscharen schon vor den Toren stehen, und nichts war zur Abwehr bereit. Die Söldnerarmee kämpfte irgendwo weit bei Ravenna, die Befestigungsmauern lagen, seit Alarich die Stadt geschleift, in Trümmern. Niemand dachte an Verteidigung. Die Reichen und Vornehmen rüsteten hastig, um mit dem Leben zumindest auch einen Teil ihrer Habe zu retten, Maultiere und Karren. Aber schon war es zu spät. Denn das Volk wollte es nicht dulden, daß im Glück die Vornehmen es preßten und im Unglück feig verließen. Und als Maximus, der Kaiser, mit seinem Troß dem Palast entweichen wollte, sausten zuerst Flüche und dann Steine ihm entgegen; schließlich fiel der erbitterte Pöbel über den Feigen her und erschlug seinen kläglichen Kaiser mit Keulen und Äxten auf der Straße. Zwar sperrte man nachher, wie jeden Abend, die Tore; aber eben dadurch war die Angst in der Stadt völlig verschlossen; schwer drückend wie ein fauler sumpfiger Dunst lag das Vorgefühl eines Fürchterlichen über den verstummten, lichtlosen Häusern, und wie eine erstickende Decke bauschte das Dunkel sich nieder über die verlorene Stadt, die in Schauer und Schrecken verging; unbekümmert und leicht aber leuchteten oben die ewig gleichgültigen Sterne, und an die azurne Wand des Himmels hängte wie allnachts der Mond sein silbernes Horn. Schlaflos und mit bebenden Nerven lag Rom und wartete auf die Barbaren wie ein Verurteilter, das Haupt bereits über den Block gepreßt, auf den unabwendbaren und schon angeschwungenen Schlag.

Langsam, sicher, planhaft, sieghaft zogen unterdes die Vandalen auf der leeren Römerstraße vom Hafen heran. Wohlgeordnet marschierten die blonden, langhaarigen germanischen Krieger, Hundertschaft nach Hundertschaft, im gutgelernten militärischen Schritt, und unruhig voraus stiebten bügellos und mit flirrenden Wendungen ihre schönen Vollblutpferde tummelnd die Hilfsvölker der Wüste, die dunkelhäutigen und pechschwarzen Numidier. Mitten im Zuge ritt Genserich, der König der Vandalen. Lässig zufrieden lächelte er vom Sattel herab auf seine marschierende Volksschar. Der alte erfahrene Krieger wußte längst durch Späher, daß ernstlicher Widerstand nicht zu befürchten war, daß sie diesmal nicht zu entscheidender Feldschlacht rüsteten, sondern nur zu ungefährlicher Bedeutung. In der Tat: kein feindlicher Krieger zeigte sich. Erst an der Porta Portuensis, wo die schön geebnete Hafenstraße das innere Geviert Roms erreicht, trat dem König Papst Leo entgegen, geschmückt mit allen Insignien und funkelnd umringt von der ganzen Klerisei, Papst Leo, derselbe weißbärtige Greis, der erst wenige Jahre zuvor den schrecklichen Attila so glorreich bewogen, Rom zu verschonen, und dessen Bitte sich damals der heidnische Hunne in unbegreiflicher Demut gefügt. Auch Genserich stieg sofort vom Pferde, als er des majestätischen Weißbarts ansichtig ward, und hinkte ihm (sein rechter Fuß war verkürzt) höflich entgegen. Aber weder küßte er die Hand mit dem Fischerring noch beugte er fromm das Knie, weil er als arianischer Ketzer den Papst bloß als Usurpator des wahren Christentums betrachtete, und die beschwörende lateinische Anrede des Papstes, er möge die heilige Stadt doch schonen, nahm er mit kühlem Hochmut entgegen. Nein, keine Sorge, ließ er durch seinen Dolmetsch antworten, man solle nichts Unmenschliches von ihm befürchten, er sei selber ein Kriegsmann und Christ. Er werde Rom nicht mit Feuer verbrennen und nicht zerstören, obwohl diese herrschsüchtige Stadt tausend und tausend Städte geschleift und dem Erdboden gleichgemacht. Er werde in seiner Großmut sowohl das Kirchengut als auch die Frauen verschonen und nur »sine ferro et igne« beuten nach dem Recht des Stärkeren und des Siegers. Aber nun rate er – und dies sagte Genserich drohend, während ihm sein Stallmeister schon wieder in den Bügel half –, ohne jeden weiteren Verzug ihm die Tore Roms zu öffnen.

Es geschah, wie Genserich es gefordert. Kein Speer wurde geschwungen, kein Schwert gezückt. Eine Stunde später gehörte ganz Rom den Vandalen. Aber nicht wie eine unbeherrschte Horde ergoß sich die siegreiche Piratenschar über die wehrlose Stadt. In geschlossenen Reihen, gezähmt von Genserichs eiserner, herrischer Hand, marschierten sie ein, die hohen und festen flachsblonden Krieger, durch die Via Triumphalis, und starrten nur manchmal neugierigen Blicks auf die tausend und tausend weißäugigen Statuen, die mit ihren stummen Lippen Beute zu versprechen schienen. Genserich selbst begab sich sofort nach dem Einmarsch in das Palatinum, die verlassene Wohnung des Kaisers. Aber weder nahm er die beabsichtigten Huldigungen der Senatoren entgegen, die in ängstlicher Reihe warteten, noch ließ er ein Festmahl rüsten; kaum einen Blick warf er auf die Geschenke, mit denen die reiche Bürgerschaft seine Strenge zu beschwichtigen hoffte, sondern sogleich entwarf der harte Soldat, über eine Karte gebeugt, seinen Plan zur schnellsten und zugleich gründlichsten Schatzung der Stadt. Jeder Distrikt wurde einer andern Hundertschaft unterstellt und jeder der Unterführer für die Mannszucht seiner Leute verantwortlich gemacht. Denn was nun anhob, war keine wilde und regellose Plünderung, sondern planvoll-methodischer Raub. Zunächst wurden auf Genserichs Befehl die Tore geschlossen und mit Posten besetzt, damit nicht eine Spange oder eine Münze in der riesigen Stadt ihm entkomme. Dann beschlagnahmten seine Soldaten die Kähne, die Fuhrwerke, die Tragtiere und preßten Tausende der Sklaven zum Dienst, auf daß mit möglichster Eile alles, was Rom an Schätzen berge, vollzählig in das afrikanische Raubnest übersiedelt werden könne. Nun erst begann, planhaft und mit kalter, lautloser Sachlichkeit, die Plünderung. Gemächlich und kunstfertig, wie ein Metzger ein getötetes Tier zerstükkelt, wurde in diesen dreizehn Tagen die lebendige Stadt ausgeweidet und Stück auf Stück aus ihrem nur leise zuckenden Leibe gerissen. Von Haus zu Haus, von Tempel zu Tempel gingen die einzelnen Trupps, geführt von einem der vandalischen Edelinge und begleitet von einem Schreiber, und holten, eines nach dem andern, alles heraus, was kostbar und beweglich war, die goldenen und silbernen Gefäße, die Spangen, die Münzen, die Juwelen, die Ambraketten aus Nordland, die Pelze aus Transsylvanien, den pontischen Malachit und die persischen gehämmerten Schwerter. Sie zwangen die Werkleute, sauber das Mosaik von den Wänden der Tempel abzulösen und die porphyrnen Fliesen wegzubrechen aus den Peristylen. Alles geschah vorbedacht, geübt und genau. Mit Winden, damit sie nicht beschädigt würden, holten die Werkleute die erzenen Gespanne von den Triumphbogen herab, und von den Sklaven ließen sie Ziegel für Ziegel, nachdem sie das Gebäude ausgeraubt, das vergoldete Tempeldach des Jupiter Capitolinus abdecken. Nur die erzenen Säulen, die zu übermächtig groß waren, um in der Eile verladen zu werden, hieß Genserich mit Hämmern zerschlagen oder zersägen, um das Metall zu gewinnen. Straße um Straße, Haus nach Haus wurde sorglich ausgeräumt, und sobald sie die Wohnungen der Lebenden restlos geleert hatten, erbrachen sie die Tumuli, die Stätten der Toten. Aus den steinernen Sarkophagen rissen sie die juwelenen Kämme vom erloschenen Haar verstorbener Fürstinnen und die goldenen Spangen vom fleischlosen Gebein, die metallenen Spiegel raubten sie und die Siegelringe den Leichen, und selbst den Obolus, den man den Toten mit in das Grab tat, daß sie den Fährmann bezahlen könnten ins andere Reich, stahlen ihre gierigen Hände. Die gesamte Beute all dieser einzelnen Plünderungen wurde dann in getrennten Haufen auf einem vorausbestimmten Platz zusammengetragen. Da lag die goldgeflügelte Nike neben der mit Steinen geschmückten Truhe, die Gebeine einer Heiligen enthielt, und dem Spielwürfel einer vornehmen Dame. Silberne Barren häuften sich neben Purpurgewändern, köstlicher Glasguß neben grobem Metall. Jedes Stück vermerkte mit steifen nordischen Lettern der Schreiber auf seinem langen Pergament, um dem Raub den Schein einer gewissen Rechtlichkeit zu geben; Genserich selbst mit seinem Gefolge hinkte durch das Gewühl, tastete mit dem Stock die Dinge an, prüfte die Juwelen, lächelte und lobte. Wohlgefällig sah er zu, wie Karren für Karren und Kahn für Kahn hochbeladen die Stadt verließ. Aber kein Haus brannte, kein Blut wurde vergossen. Ruhig und regelmäßig, wie in einem Bergwerk die Förderwagen auf- und niedersteigen, leer der eine, gefüllt der andere, wanderten dreizehn Tage lang die Karrenzüge vom Hafen zum Meer und vom Meer zum Hafen. Gefüllt wanderten sie hinab, leer kamen sie zurück, und schon keuchten die Ochsen und die Maultiere unter der Last, denn solange man rückdachte in der Zeit, war nie in dreizehn Tagen so viel erbeutet worden wie bei diesem vandalischen Raube.

Dreizehn Tage lang hörte man in der tausendhäuserigen Stadt nicht mehr die menschliche Stimme. Niemand redete laut. Niemand lachte. Es schwieg das Saitenspiel in den Häusern, und in den Kirchen erhob sich kein Gesang. Nur das Hämmern vernahm man, mit dem man das Beständige losbrach von seiner Stelle, das Poltern der stürzenden Quadern, das Knarren der überbelasteten Wagen und das dumpfe Muhen der ermüdeten Zugtiere, auf die immer und immer wieder die Geißel der Peiniger schlug. Manchmal heulten die Hunde, denen Nahrung zu geben man in der eigenen Angst vergessen, manchmal dröhnte dunkel ein Tubaton über die Wälle, wenn die Wachen sich ablösten. Die Menschen selber aber in den Häusern hielten den Atem an. Gefällt lag die Stadt, die Siegerin der Welt, und wenn nachts der Wind hinging durch die leeren Gassen, klang es wie das matte Stöhnen eines Verwundeten, der das letzte Blut seinen Adern entströmen fühlt.

 

An jenem dreizehnten Abend der Plünderung saßen am linken Ufer des Tibers, dort, wo der gelbe Fluß sich träge krümmt wie eine überfütterte Schlange, die Juden der römischen Gemeinde zusammen im Hause Mose Abthalions. Er war keiner der Großen unter den andern und kein Kenner der Schrift, nur ein alter harter Arbeitsmann, aber sie hatten sein Haus gewählt zur Zusammenkunft, weil die ebenerdige Werkstatt mehr Raum bot als die andern engen, verwinkelten Stuben. Seit dreizehn Tagen saßen sie so täglich alle beisammen mit grauen, übermüdeten Gesichtern, in ihren weißen Sterbegewändern, und beteten im Schatten der verschlossenen Läden zwischen den aufgehängten Rollen, den getünchten Tüchern und breiten Bottichen mit einer dumpfen und fast schon betäubten Beharrlichkeit. Bisher hatten sie noch nichts Böses erlitten von den Vandalen. Zwei- oder dreimal waren Trupps, begleitet von Edelingen und Schreibern, durch die niedere, enge Judengasse gezogen, wo die Nässe von vielen Überschwemmungen her wie Schwamm in den Fliesen der Häuser saß und in kalten Tränen von den versinterten Wänden niederrann; ein verächtlicher Blick genügte den geübten Räubern, um zu erkennen, daß von dieser Erbärmlichkeit nichts zu erbeuten war. Hier schimmerten keine marmorgetäfelten Peristyle, keine goldblitzenden Triklinien, hier bargen sich nicht erzene Statuen und Vasen. So zogen die Raubtruppen gleichgültig an ihnen vorbei und keine Brandschatzung, keine Plünderung drohte. Aber dennoch waren die Herzen der Juden Roms bedrückt, und sie drängten zusammen in beängstigtem Vorgefühl. Denn Unglück in der Stadt, in dem Land, wo sie wohnten – das wußten sie nun schon seit Geschlecht und Geschlecht –, wandte sich schließlich immer zum Unglück für sie. Im Glück vergaßen die Völker sie und achteten ihrer nicht. Da schmückten sich die Fürsten und bauten und trieben Prunk und der Pöbel hatte seine grobe Lust mit Hatzen und Jagden und Spielen. Aber immer, wenn Notstand kam, gab man ihnen die Schuld. Schlimm war es, wenn die Feinde siegten, schlimm, wenn eine Stadt geplündert wurde, schlimm wenn Pest oder Krankheit in die Länder kam. Alles Böse der Welt, sie wußten es, wurde unweigerlich zum Bösen für sie, und sie wußten auch längst, daß es gegen dies ihr Schicksal kein Auflehnen gab, denn überall und allerorts waren sie wenige, überall und allerorts waren sie schwach und ohne Gewalt. Ihre einzige Waffe war das Gebet.

So beteten die Juden Roms jeden Abend bis tief in die Nacht, all diese dunklen und gefährlichen Tage der Plünderung. Denn was konnte der Gerechte anderes tun in einer ungerechten und rohen Welt, wo immer wieder die Gewalt obsiegt, als weg von der Erde sich zu Gott hinwenden? Jahre und Jahre ging das schon. Bald kamen sie vom Süden, bald vom Osten und Westen, die blonden, die dunklen, die fremden Völker, und alle räuberisch, und kaum hatte eine Rotte gesiegt, so fiel schon eine andere über sie her. Überall auf der Erde kriegten die Gottlosen und ließen den Frommen nicht Frieden. So hatten sie Jeruscholajim genommen, Babylon und Alexandria, und heute erlitt es Rom. Wo man rasten wollte, war Unrast, wo man Frieden suchte, war Krieg; man konnte dem Schicksal nicht entkommen. Einzig im Gebet war auf dieser verstörten Erde Zuflucht, Ruhe und Trost. Denn wunderbar ist das Gebet. Es betäubt die Angst mit großer Verheißung, es schläfert die Schrecknis der Seele ein mit singender Litanei, es hebt die Schwere des Herzens zu Gott auf seiner murmelnden Schwinge; gut ist es darum, zu beten in der Not, und noch besser, gemeinsam zu beten, denn alles Schwere wird leichter, wenn gemeinsam getragen, und alles Gute besser vor Gott, wenn verbunden getan.

So saßen die Juden der römischen Gemeinde zusammen und beteten. Das fromme Murmeln floß aus ihren Bärten leise und stetig wie vor den Fenstern das Plätschern des Tiberstromes, der still und beharrlich die Planken der Spülbänke scheuerte und die Ufer mit seinem weichen Wandern wusch. Keiner der Männer blickte auf den andern und doch wiegten ihre alten morschen Schultern sich gleichmäßig im Takt, indes sie singend und sagend ebendieselben und selben Psalmen beteten, die sie hundert- und tausendmal gebetet und ihre Väter vor ihnen und deren Väter und Vorväter schon. Die Lippen wußten kaum, daß sie sprachen, die Sinne nicht, was sie fühlten; wie aus einem dunklen benommenen Traum floß dieses zagende und klagende Getön.

Plötzlich schraken sie auf, ein Ruck riß schroff die gebeugten Rücken empor. Außen war heftig der Klopfer an die Tür gefallen. Und immer, es saß ihnen schon im Blute, erschraken sie vor allem Plötzlichen, die Juden der Fremde. Denn was konnte Gutes kommen, wenn eine Tür ging in der Nacht? Das Murmeln riß ab, wie mit einer Schere zerschnitten, deutlicher jetzt vernahm man durch die Stille den gleichgültig weiterplätschernden Fluß. Alle horchten mit gekrampfter Kehle. Da fiel noch einmal der Klopfer, ungeduldig rüttelte eine Faust an der äußeren Tür. »Ich gehe schon«, sagte wie zu sich selber Abthalion und schlurfte hinaus. Das auf dem Tisch angeklebte Wachslicht bog seine Flamme flüchtend unter dem scharfen Luftzug der geöffneten Tür; wie innerlich die Herzen all dieser Menschen, zitterte die Flamme plötzlich und stark.

Der Atem kam den Erschreckten erst wieder, als sie den Eintretenden erkannten. Hyrkanos ben Hillel war es, der Schatzmeister der kaiserlichen Goldpräge, der Stolz der Gemeinde, weil ihm als einzigem Juden Zutritt verstattet war in den kaiserlichen Palast. Jenseits von Trastevere zu wohnen, war ihm als besondere Gunst vom Hofe erlaubt, und er durfte vornehme farbige Kleider tragen; jetzt aber war sein Mantel zerrissen, sein Antlitz beschmutzt.

Alle umringten ihn – denn sie ahnten, er hatte eine Botschaft – ungeduldig, daß er hastig erzähle, und doch voraus schon verstört, weil sie Unheil erfühlten an seiner Erregung.

Hyrkanos ben Hillel atmete tief. Man sah, ein Wort war in seiner Kehle verkrampft und wollte nicht vor. Schließlich stöhnte er:

»Es ist vorbei. Sie haben ihn. Sie haben ihn gefunden.«

»Was gefunden? Wen gefunden?« Es jappte aus allen wie ein Schrei.

»Den Leuchter, die Menorah. Ich hatte sie verborgen, als die Barbaren kamen, unter dem Abhub im Küchenraum. Mit Absicht ließ ich die andern Heiligtümer in der Schatzkammer, den Tisch mit den Schaubroten und die silbernen Trompeten und den Aronstab und die Weihrauch spendenden Gefäße, denn zu viele im Gesinde wußten von unseren Schätzen, als daß ich alles hätte bergen können. Nur eines wollte ich retten von den Geräten des Tempels, den Leuchter Mosis, den Leuchter aus Schelomos Haus: die Menorah. Und schon hatten sie alles im Schatze erbeutet, schon starrte die Kammer leer, schon forschten sie nicht weiter, schon fühlte ich das Herz mir gesichert, daß wir zumindest dies eine der heiligen Zeichen für uns errettet. Aber einer der Sklaven, es verdorre seine Seele, hatte gespäht, da ich den Leuchter barg, und verriet es den Räubern, um selber sich freizukaufen. Er wies ihnen die Stelle, sie gruben ihn aus. Jetzt ist alles geraubt, was einstens im Allerheiligsten stand, in Schelomos Haus, der Tisch und die Gefäße und die Stirntafeln des Priesters und die Menorah. Heute nacht, noch heute, schleppten die Vandalen den Leuchter fort zu den Schiffen.«

Einen Augenblick schwiegen alle. Dann brach es wirr aus den erblaßten Mündern, Schrei um Schrei.

»Der Leuchter … Wehe, noch einmal … Die Menorah … Gottes Leuchter … Wehe, wehe … Der Leuchter vom Tisch des Herrn … Die Menorah!«

Die Juden taumelten gegeneinander wie Trunkene, sie schlugen sich mit Fäusten die eigene Brust, sie hielten sich klagend die Hüften, als brenne sie ein Schmerz, wie plötzlich Geblendete tobten die alten bedächtigen Männer.

»Still!« gebot plötzlich stark eine Stimme, und alle verstummten sogleich. Denn es war der Oberste der Gemeinde, der Älteste, der Weiseste, der ihnen Schweigen gebot, der große Deuter der Schrift, Rabbi Elieser, den sie Kab ve Nake, den Reinen und Klaren, nannten. Achtzig Jahre fast war er alt und schlohweiß umrauschte der Bart sein Antlitz. Zerfurcht war seine Stirn von der schmerzhaften Pflugschar unerbittlichen Denkens, aber das Auge unter dem Busch der Brauen war wie ein Stern geblieben, gütig und klar. Er hob die Hand, schmal war sie und gelblich zerfurcht wie die vielen Pergamente, die er beschrieben, und waagerecht schnitt er mit ihr durch die Luft, als wollte er den Lärm wegstoßen wie einen schlimmen Rauch und reinen Raum schaffen für besonnene Reden.

»Still!« wiederholte er. »Kinder schreien im Schreck, Männer bedenken. Setzt euch jeder und laßt uns beraten. Der Geist ist besser rege, wenn der Leib dabei ruht.«

Beschämt setzten sich die Männer auf Schemel und Bänke. Rabbi Elieser redete leise vor sich hin, und es war, als ratschlagte er mit sich selbst:

»Es ist ein Unglück geschehen, ein großes Unglück. Lange schon hatte man sie uns genommen, die heiligen Geräte, und keiner von uns hat jemals sie schauen dürfen in des Kaisers Kammer, nur dieser eine, Hyrkanos ben Hillel. Aber doch, wir wußten, sie waren seit Titus’ Tagen geborgen, sie waren noch da und waren uns nah. Freundlicher schien uns die römische Fremde, wenn wir gedachten, die heiligen Dinge, die durch tausend Jahre gewandert, die in Jeruscholajim gewesen und Babel und immer wieder heimgekehrt, nun ruhten sie aus, die geraubten, mit uns in der gleichen Stadt. Wir durften keine Brote legen auf den heiligen Tisch, und doch, immer, wenn wir ein Brot brachen, dachten wir an diesen Tisch. Wir durften kein Licht stecken an den heiligen Leuchter, aber immer, wenn wir ein Licht entzündeten, besannen wir uns der Menorah, die ohne Licht waiste in dem fremden Haus. Nicht uns gehörten die heiligen Dinge mehr, aber wir wußten, sie waren gesichert und geborgen. Und nun soll sie noch einmal anheben, die Wanderung des Leuchters, und nicht in die Heimstatt, wie wir meinten, sondern fort schleppt man ihn, und wer kann es erdenken, wohin. Aber klagen wir nicht. Klage allein schafft nicht Rat. Laßt uns alles durchdenken.«

Die Männer lauschten stumm, die Stirnen gebeugt. Die Hand des Alten irrte noch immer den Bart auf und nieder. Noch immer wie mit sich selbst allein, ratschlagte er:

»Der Leuchter ist von geläutertem Gold, und oft habe ich gesonnen, warum hat Gott unsere Gabe so kostbar gewollt? Warum hat er gefordert von Moses, daß der Leuchter schwer sei im Gewicht, siebenkelchig und mit getriebenem Zierat und Kränzen und Blumen? Oft habe ich gedacht, ob dies nicht ihm Gefährdung schuf, denn