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SCHÄFER KANN NICHTS MEHR AUS DER RUHE BRINGEN. AUSSER VIELLEICHT: TOTE MÖRDER IN WIEN, DIENSTVERSETZUNGEN NACH SALZBURG UND EXISTENIELLE FRAGEN NACH GUT UND BÖSE. SCHÄFER IST WIEDER DIENSTREIF und er ist besser gelaunt denn je. Schließlich war der POLIZEIMAJOR in seinem letzten Fall dem Wahnsinn wesentlich näher als der Aufklärung der Morde. Antidepressiva sei Dank geht es ihm nun bestens. Fast zu gut, findet Bergmann, der neben den Pillen seines Kollegen nicht mehr der einzige Assistent Schäfers ist. MANISCH RECHTHABERISCH wie immer stürzt der Major sich in den WIENER POLIZEI-ALLTAG, doch gewöhnlich ist an seinem neuen Fall rein gar nichts: Ein Nationalrat im Ruhestand liegt tot in seinem Arbeitszimmer. Von seinem mit Flusssäure überschüttetem Kopf hat der Täter nichts mehr übriggelassen. Und dann auch noch das: DNA-Spuren führen den mürrischen Major zu einem Verbrecher, der seit fünfzehn Jahren tot ist. DER NATIONALRAT, DAS MÄDCHEN UND DER MAJOR IN NÖTEN Als wären ein toter Nationalrat und ein ebenso toter Mörder nicht schon genug, wird Schäfer auch noch ein WEITERES MORDOPFER beschert: Ein Mädchen wird mit einem Messer in der Brust gefunden. Als die Zahl der Mordopfer steigt, schrumpft Schäfers Antidepressiva-Ration immer weiter. Und nachdem er sich etwas – sagen wir – ungeschickt anstellt, wird Schäfer nach SALZBURG verfrachtet. Doch zum Glück entpuppt sich das als Diensturlaub verkleidete Exil als Treffer, DENN SCHÄFERS FAUXPAS IST NICHT DAS EINZIGE, DAS DORTHIN FÜHRT. DIE TOTEN IN WIEN, DOCH WO SIND DIE TÄTER? Zwischen Stadtbergen und der Salzach trifft Schäfer – nicht unbedingt ein menschliches Vorzeigeexemplar – auf WELTVERBESSERUNGS-APOSTEL IN DEN DIENSTEN … ja, von wem eigentlich? Der Major sucht nun AUF MEHR ALS NUR DER FRAGE NACH DEN TÄTERN Antworten: Heiligt der Zweck alle Mittel? WER ENTSCHEIDET AM ENDE ÜBER RICHTIG UND FALSCH? Oder sind Gut und Böse nur von Menschenhand erschaffene Illusionen?
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Georg Haderer
Der bessere Mensch
Kriminalroman
Wien, den 19.5.1984
Werter Max,
die Unterlagen, die ich Dir zu senden versprochen habe, sind nun über eine Woche auf meinem Schreibtisch gelegen. Jeden Tag nahm ich mir vor, sie mit einer kurzen persönlichen Notiz zu versehen und zur Post zu bringen. Warum ich es so hinausgezögert habe – sei versichert, dass es nicht um den heiklen Inhalt der Dokumente geht. Nach unseren Gesprächen in Magdeburg könnte mein Vertrauen in Dich diesbezüglich größer nicht sein. Wissen wir doch beide sowohl um die Dimension als auch die damit verbundene Verantwortung, die uns solch ein Projekt auferlegt. Ich bemerke, dass ich erneut abschweife und mich dem eigentlichen Beweggrund meines Schreibens entziehe. Eine Ironie, die Dir sicher nicht entgeht: Doktor Hofer, eine Koryphäe, wenn es darum geht, die conditio humana aus den Funktionsweisen des Gehirns zu entschlüsseln – und selbst vermag ich nicht viel anders zu denken und zu verdrängen als jene, die nichts wissen über die Biologie unseres Geistes.
Wie eitel ich nach Magdeburg gereist bin, mit meinem Wissen und meinen Erfolgen. Wie klein und ohnmächtig ich nun bin. So tief und aufwühlend sind die Eindrücke, die unsere Gespräche in mir hinterlassen haben. All die Dinge, die ich vergangen und entschuldigt geglaubt hatte durch meine scheinbar so großmütigen Taten. Wo Dein Herantreten an mich, ohne Vorwürfe, ohne Hass – sine ira et studio gewissermaßen, wie der große römische Denker sagte –, wohl großmütiger war als alles, was ich je geleistet habe. Nicht ich war es, wirst Du wiederum sagen. Doch wie könnte ich mich lösen von der Schuld, von den unsäglichen Verbrechen, die Dir und Deiner Familie angetan worden sind. Fast dreißig Jahre trage ich dieses Wissen in mir. Jetzt ist es aufgebrochen wie ein schwärender Abszess. Endlich, möchte ich sagen. Wenn es denn dazu beitragen kann, dass wir aus diesem Bösen etwas wahrhaft Gutes schaffen können, wie Du gemeint hast. Für diese Deine Zuversicht bewundere ich Dich. Nur deshalb wage ich zu hoffen, dass unser Treffen in Magdeburg den Grundstein gelegt hat nicht nur für eine vielversprechende Zusammenarbeit, sondern auch für eine tiefe Freundschaft.
Mit dem Ausdruck herzlicher Zuneigung
Gernot
PS: Solltest Du über die beigelegten Dokumente hinaus noch zusätzliche Informationen zu diesem Fall benötigen, stehe ich Dir jederzeit zur Verfügung.
Ja verdammt, sie hatten ihn gewarnt. Aber wer war er denn, dass er sich von Kovacs und dem anderen uniformierten Grünschnabel Ratschläge erteilen lassen musste. Herr Major, Sie sollten da besser nicht hineingehen. Hö hö, was glaubten die? Dass er beim Anblick einer Leiche den Handrücken auf die Stirn pressen und ohnmächtig zu Boden sinken würde wie eine Schwarzweißfilmdiva im Laudanumrausch? Fast zwanzig Jahre bei den Gewaltverbrechen. Da hatte sich sein Gehirn eine passable Schutzeinrichtung zugelegt. Klappte herunter wie die Brille eines Schweißers, wenn der Teufel am Tatort seine bösen Funken schleuderte. Geharnischt, geharnischt. Jetzt lehnte Schäfer über der Steinbrüstung und erbrach die Vormittagsjause auf die Pfingstrosen unter ihm. Argh, wargh, schlussendlich ein brauner Speichelfaden, holladrio, Herr Major, ein letzter Gruß des doppelten Espressos aus dem Büro. Jetzt ja kein blödes Wort, Kollegen, dachte er, während sein Magen von Krämpfen gewürgt wurde. Doch Kovacs sah nur einen Moment sorgenvoll zu ihm hin, verschwand hinter dem Haus und kam mit einem Glas Wasser zurück, das er dankbar entgegennahm.
„Was ist das für ein bestialischer Gestank?“, wollte Schäfer wissen, auch um klarzustellen, dass es nicht der schleimige und so gut wie kopflose Torso im Wohnzimmer gewesen war, der ihm so auf den Magen geschlagen hatte.
„Wahrscheinlich Phosphorsäure“, brachte sich der Uniformierte ein, dessen Gesicht die Farbe der beiden neorömischen Gipsstatuen hatte, die den breiten Terrassenaufgang zierten. „Deshalb auch die Schutzmasken.“
Kommentarlos wandte sich Schäfer ab, schritt langsam über die Steintreppen hinunter, prüfte das Gras mit der Hand auf Feuchtigkeit und setzte sich dann an den Stamm einer üppigen Magnolie. Phosphorsäure, bravo. Und das im Villenviertel von Grinzing. War ein Jagdgewehr plötzlich nicht mehr en vogue? Der sich um den Hals schnürende Bademantelgürtel zu pöbelhaft? Dass irgendwer diese Sauerei wegmachen musste, hatte der Verantwortliche in der Aufregung wohl vergessen. Esperanza, por favor, meinem Mann ist im Salon ein kleines Malheur passiert, lassen Sie das Silber doch einen Moment liegen und kümmern Sie sich darum. Gracias, Esperanza.
„Ruhe da oben!“, knurrte Schäfer seinen verrückt dahingaloppierenden Gedanken zu. Er stieß sauer auf und atmete ein paarmal tief durch, noch immer benommen von den Dämpfen, unfähig, sich auch nur ein ungefähres Bild davon zu machen, was in der Villa geschehen sein könnte. Über die Auffahrt sah er drei weiße Schutzanzüge in Richtung Haus gehen, in der rechten Hand den Koffer, in der linken die Gasmaske. Hoffentlich hinterließ das Zeug keine bleibenden Schäden. Schäfer hob eine Hand zum Gruß. Phosphorsäure, wer lässt sich so einen Scheiß einfallen … nun, zumindest die Identität des Toten stand mit hoher Wahrscheinlichkeit fest. Anhand der Kleidung und dessen, was vom Körper übrig geblieben war, hatte die Besitzerin der Villa bestätigt, dass es sich um ihren Mann, Hermann Born, handelte. Der Gärtner hatte ihn kurz vor neun Uhr gefunden, durch die Terrassentür gesehen, als er seinen Arbeitgeber fragen wollte, ob er den Rasen am Vormittag oder besser am Nachmittag mähen sollte. Wegen dem Lärm, verstehen Sie, hatte der geschockte Mann gemeint, wegen dem Lärm, dass Herr Born nicht gestört wird in seinen … was immer er auch um diese Zeit in seinem Wohnzimmer tat. Na, darum brauchen Sie sich jetzt wohl keine Sorgen mehr zu machen, hatte Schäfer geantwortet, bevor er ins Haus gegangen war. Jetzt, im Halbschatten der Magnolie, fragte er sich, woher dieser Sarkasmus kam, mit dem er in letzter Zeit seine Mitarbeiter des Öfteren verstörte. Noch eine Nebenwirkung der Medikamente? Oder bloß eine natürliche Schutzfunktion, um sich diesen ganzen Wahnsinn nicht mehr so nahegehen zu lassen. Wer waren denn die schärfsten Zungen, wenn nicht die Gerichtsmediziner, Mordermittler, Rettungswagenfahrer … wir sprühen unser geistiges Gift wie andere Unkrautmittel, dass es uns nicht zuwuchert, parasitär aussaugt, dachte Schäfer, wunderte sich kurz über diese poetische Anwandlung und stand dann mit einem Stoßseufzer auf.
„Wo ist Bergmann?“, rief er Kovacs zu, die gerade konzentriert in ein Notizbuch schrieb.
„In der Gartenlaube, hinter dem Haus“, erwiderte Kovacs, und als er sich auf den Weg dorthin machte, fügte sie rasch hinzu: „Mit Frau Born!“, was Schäfer als dezenten Hinweis interpretierte, dass er sich in Anwesenheit der Witwe zu benehmen hätte.
Gemächlich ging er auf die Gartenlaube zu, blieb kurz davor stehen und hörte der Befragung zu, die sein Assistent wie gewohnt einfühlsam durchführte. Etwas, das Schäfer in den letzten Wochen ein wenig abhandengekommen war, wie er sich selbst eingestehen musste. Zuletzt hatte er einen Jugendlichen an den Haaren durch den Verhörraum geschleift; hätte dessen Vater nicht Verständnis für diese Überreaktion aufgebracht, wäre Schäfer ein Disziplinarverfahren sicher nicht erspart geblieben. Dann der Bulgare, der mit der Hand in die Stahltür des Verhörraums gekommen war, als Schäfer sie eben schließen wollte. Böser Zufall, na, mit dem sechsfach gebrochenen Prätzchen wird er jedenfalls kein Messer mehr führen können, hatte der Arzt anbiedernd gemeint, was Schäfer bewogen hatte, ihn einen Faschisten zu schimpfen. Er hatte sich nicht unter Kontrolle; schrieb es den Tabletten zu, die er seit zwei Monaten nahm: Serotonin- und Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer, die ihm sein Therapeut verschrieben hatte, um die Depressionen und Panikattacken loszuwerden, die ihn fast zwei Jahre lang gepeinigt hatten. Aggressionsschübe und euphorische Phasen waren als Nebenwirkungen bekannt – das wird sich legen, hatte ihm der Arzt versichert, notfalls solle er übergangsweise leichte Tranquilizer nehmen. Na sicher nicht! Zum ersten Mal seit sehr langer Zeit ging es ihm gut, wirklich gut; er war konzentriert, arbeitete schnell und vor allem gern, trieb mindestens viermal die Woche Sport … das würde er sich nicht nehmen lassen; und wenn sich ein paar Strolche deswegen hin und wieder eine Ohrfeige einfingen oder ein paar Knochen zu Bruch gingen: Berufsrisiko.
„Natürlich hatte er Feinde“, hörte Schäfer die Frau sagen, „Sie haben doch bestimmt seine politische Laufbahn verfolgt … er hat mehr Feinde als Freunde gehabt … vor allem nach dieser unappetitlichen Geschichte damals …“
„In den letzten Wochen“, setzte Bergmann fort, „hat es da irgendwelche Drohungen gegeben … Briefe, anonyme Anrufe, Mails …?“
„Wenn, dann hat er mir nichts davon erzählt … das hat sich auch beruhigt, seit er nicht mehr in der vordersten Reihe sitzt …“
Schäfer ging zum Eingang der Laube, räusperte sich, nachdem weder Bergmann noch Frau Born von ihm Notiz genommen hatten, und stellte sich der Frau vor.
„Angesichts der Umstände“, bemühte sich Schäfer, dem brutalen Mord ein sachliches Gewand umzuhängen, „also dass wir es hier mit einem Raub zu tun haben, ist sehr unwahrscheinlich. Auf den ersten Blick gibt es auch keine Einbruchspuren … möglicherweise hat Ihr Mann den Täter sogar selbst ins Haus gelassen.“
Frau Born sah Bergmann an, als erwarte sie eine Übersetzung dessen, was Schäfer eben gesagt hatte.
„Gibt es Bekannte, Freunde, Verwandte, die Ihren Mann regelmäßig besucht haben?“, fuhr Bergmann fort.
Die Frau tupfte sich mit einem Taschentuch die zerflossene Wimperntusche von den Wangen, schnäuzte sich mit abgewandtem Gesicht und schüttelte den Kopf.
„Ein paar alte Parteifreunde … Alfons, sein Schachpartner … unsere Tochter … aber die hat sich schon seit einem halben Jahr nicht blicken lassen …“
„Wäre es Ihnen möglich, eine Liste aufzustellen mit allen Personen, die Ihnen einfallen?“
„Selbstverständlich“, antwortete sie und starrte auf die Tischplatte, bis das Läuten ihres Handys sie aus ihren Gedanken riss. Sie stand auf und stellte sich mit dem Rücken zu den beiden Beamten an das Holzgeländer der Laube. Schäfer sah seinen Assistenten an, hob das Kinn und zog die Augenbrauen hoch, was Bergmann als Frage nach neuen Informationen interpretierte und den Kopf schütteln ließ. Schäfer, der eigentlich wissen wollte, ob die Frau glaubwürdig war, versuchte nun, dem Telefongespräch zu folgen, konnte aber nur ein paar Satzfetzen aufschnappen. Ja … nein … gerade hier … nicht da … zum Glück … ja … beim Pavillon. Als Frau Born auflegte, zerrieb Schäfer gerade ein paar weiße Blüten in seiner Hand, gedankenlos von einem kleinen Strauch gerupft, der in einem Terrakottatopf neben ihm stand. Ein starker Duft stieg ihm in die Nase. Hm, wie der Tee im Chinarestaurant, dachte er und warf die Blütenreste verlegen in die Wiese, nachdem ihm Frau Born einen verständnislosen Blick und das Wort „Jasmin“ zugeworfen hatte.
„Meine Schwester … sie ist auf dem Weg hierher … wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich gerne …“
„Natürlich“, erwiderte Bergmann im Aufstehen und reichte ihr mit einer leichten Verbeugung die Hand, „wir melden uns bei Ihnen. Und sollte Ihnen inzwischen …“
„Dann rufe ich Sie an, selbstverständlich, Herr Inspektor“, meinte sie beherrscht, begleitete sie ein paar Schritte in Richtung Haus und blieb dann wie angewurzelt stehen. Schäfer und Bergmann hielten ebenfalls inne, wandten sich ihr zu und kauten unschlüssig auf den Lippen. Einen Augenblick später löste sich Frau Born aus ihrer Erstarrung und fiel ihrer Schwester in die Arme, die, von den beiden Polizisten unbemerkt, über den Rasen gekommen und auf sie zugetreten war. Theater, ging es Schäfer durch den Kopf, der sich nicht vorstellen konnte, dass hinter diesem Chanel-, Hermes- und Perlenpanzer echte Gefühle wohnten.
Er drehte sich um und deutete Bergmann mit einer Kopfbewegung, ihm zu folgen. Während sie zur Vorderseite der Villa gingen, nahm er sein Handy heraus und rief den Gerichtsmediziner an, der sich im Haus aufhielt. Es sprach nichts dagegen, dass sie die Wohnung betraten. Zur Sicherheit sollten sie aber eine Schutzmaske aufsetzen. An der Eingangstür hantierte einer der Forensiker. Schäfer wechselte ein paar Sätze mit ihm und lieh sich dann dessen Maske aus. Bergmann solle inzwischen draußen warten und Kovacs anweisen, mit dem anderen Polizisten die ersten Nachbarn zu befragen.
Umständlich stülpte Schäfer die Gasmaske über – zum letzten Mal hatte er so ein Ding wohl beim Bundesheer getragen – und trat in den Vorraum, der mit seinen geschätzten vierzig Quadratmetern eher den Namen Atrium verdiente. Ein erster Eindruck zeugte von einem offen ausgetragenen Geschmackskonflikt der Eheleute: An den Wänden wechselten sich goldgerahmte Landschaftsbilder in freudlosen Ölfarben mit großformatigen abstrakten Gemälden ab, der Treppenaufgang in den Oberstock wurde begleitet von Rotwildgeweih und afrikanischen Stammesmasken. Schäfer ging in Richtung Esszimmer, stolperte über ein paar Regenstiefel und konnte sich gerade noch an einer massiven Eichenholzkommode abfangen. Das mit dem eingeschränkten Blickfeld war noch in den Griff zu bekommen. Er querte das Esszimmer, Silberkandelaber auf dem Tisch, wurde wahrscheinlich nur bei größeren Empfängen als solcher genutzt, und betrat das Wohnzimmer, wo Borns Leichnam immer noch neben dem Lederfauteuil in der Position auf dem Boden lag, in der ihn Schäfer zuvor gesehen hatte. Wie ein übergroßer Heiligenschein hatte die Säure rund um die breiigen Reste des Kopfs das Parkett weggeätzt und war bis auf den Estrich durchgedrungen. Teufelszeug, murmelte Schäfer. An der Terrassentür machte sich ein Beamter der Spurensicherung mit einer durchsichtigen Plastikfolie zu schaffen, Koller, der Gerichtsmediziner, hatte den Tatort offenbar schon verlassen. Schäfer schritt langsam den Raum ab. Vor dem offenen Kamin stand eine Sitzgruppe aus weißem Leder, dazwischen ein Couchtisch aus naturbelassenem Buchenholz, auf dem ein Stapel Magazine lag und eine Vase mit weißen Pfingstrosen stand. Bevor er das Anwesen verließ, musste er noch den Gartenschlauch nehmen und die Blumen von seinem Erbrochenen säubern, sagte er sich, während er die Wände entlangging. Hier hatte offensichtlich der Hausherr bei der Dekoration das letzte Wort gehabt: zahlreiche Fotos und gerahmte Zeitungsausschnitte, Born mit ehemaligen Machthabern aus Politik und Wirtschaft, mit den Altherren seiner rechtsextremen Burschenschaft, bei Wahlveranstaltungen, dazu nicht nur die einschlägigen Lobhuldigungen aus parteinahen Zeitungen, sondern auch Artikel, die mit dem ehemaligen Obmann hart ins Gericht gingen: Antisemitismus, Rassismus, Volksverhetzung, Wiederbetätigung, kaum eine rechte Schandtat, derer Born von der Presse nicht beschuldigt worden war. Warum hängte sich jemand so etwas an die Wand? Viel Feind, viel Ehr – ein Wahlspruch, den Schäfer auf einem Bierkrug entdeckte, der neben anderen fragwürdigen Devotionalien in einem Kasten hinter einer Glastür stand; ein Tabernakel aus der Hitlerzeit, der allein schon das Verfahren aufgrund von Wiederbetätigung gerechtfertigt hätte, das Born nach nur zwei Wochen Amtszeit seinen Ministerposten gekostet hatte. Dabei hatte er nur ein paar jungen Neonazis geholfen, ihre Propagandaschriften zu verbreiten; was seine Ehefrau schlichtweg eine unappetitliche Geschichte nannte … Teufelszeug, murmelte Schäfer.
Er ging auf den Forensiker zu und fragte ihn, wo Koller sei. Der Mann sah sich verwundert um und zuckte mit den Schultern. Im Bad vielleicht, rief er dann durch die Maske und widmete sich wieder seiner Arbeit.
Im Bad vielleicht, murrte Schäfer. Was war denn das für ein Forensiker, der mutmaßte, dass ihr Gerichtsmediziner sich im Schaumbad den Leichengestank abwusch und mit der Quietschente turtelte. Schon mal was von Spuren gehört? Dass sich der Täter nach dieser Horroraktion die Hände gewaschen hatte, war doch mehr als wahrscheinlich. Kopfschüttelnd trat Schäfer in den Vorraum, nahm die Maske ab, atmete vorsichtig prüfend durch die Nase ein und rief dann nach Koller.
„Hier!“, kam es vom hinteren Ende des Flurs. Schäfer folgte der Stimme und stand kurz darauf in der Küche. Der Gerichtsmediziner stand an der Anrichte über einen Laptop gebeugt und tippte mit den Zeigefingern auf der Tastatur herum. Koller und Computer, das hätte Schäfer bis zu diesem Tag auch nicht für möglich gehalten. Wortlos ging er zur Spüle und wusch sich den Schweiß ab, den ihm die Gummimaske aufs Gesicht getrieben hatte.
„So eine Sauerei“, wandte er sich Koller zu, während er sich mit einem Geschirrtuch abtrocknete.
„Warte kurz“, wehrte der Gerichtsmediziner ab und tippte konzentriert weiter, was Schäfer mit einem Grinsen beantwortete.
„Du und Computer“, meinte er hämisch, nahm ein Glas aus dem Schrank und füllte es mit Wasser. „Ab jetzt heißt du bei mir mit zweitem Namen Digitalis.“
„Mein Gott, Schäfer, deine Scherze werden auch immer primitiver“, erwiderte Koller und streckte seinen Rücken durch. „So! Was willst du wissen?“
Schäfer, der mit Koller nun schon seit über fünfzehn Jahren zusammenarbeitete, legte den Kopf schief und öffnete den Mund zu einem debilen Gesichtsausdruck.
„Na gut“, meinte der Gerichtsmediziner, „er ist wohl etwa gegen fünf Uhr gestorben. Oder besser gesagt: das war ungefähr der Zeitpunkt, zu dem ihm die Säure auf den Kopf gekippt wurde. Sonst wären die Dämpfe nicht mehr so aggressiv gewesen …“
„Heißt, dass er auch an was anderem gestorben sein kann …“
„Ja … könnte genauso gut erschossen worden sein … in den Kopf meinetwegen … aber was hätte es dann gebracht, ihm zusätzlich Phosphorsäure überzugießen … das ist auch für den, der sie handhabt, ein ziemliches Risiko …“
Schäfer sah aus dem Fenster in den Garten, wo einer der Forensiker mit gesenktem Blick langsam über den Rasen schritt wie ein Minensucher.
„Sieht nicht so aus, als hätte sich Born großartig gewehrt“, meinte er dann. „Ich meine: Wenn mir jemand Säure über den Kopf gießen will, dann bleibe ich nicht sitzen wie an der Waschschüssel beim Friseur … gibt’s irgendwelche Hinweise, dass er gefesselt worden ist?“
„Nein … vielleicht wurde er bewusstlos geschlagen oder sonst wie betäubt … dafür spricht zumindest, dass seine Muskulatur kaum kontrahiert war …“
„Das soll jemand kapieren … wenn ich jemanden verschwinden lassen will und dafür so eine Säure nehme, gut, alles schon da gewesen … aber als Tötungsmethode … seltsame Botschaft …“
„Was für eine Botschaft?“, wollte Koller wissen.
„Hä?“, fragte Schäfer, der mehr zu sich selbst gesprochen hatte. „Heute laufen deine Nervenleitungen nicht gerade auf Breitband, oder? Einbrechen, ausrauben, erschießen oder erschlagen: eine Sache … hassen, erstechen, erwürgen: auch klar … aber das hier … mehr als seltsam …“
„Na, darum sind wir alle so froh, dass wir dich haben.“ Koller nahm seinen Laptop und zwängte ihn in eine lederne Aktentasche, die eindeutig aus der vordigitalen Zeit stammte.
„Gott zum Gruße, Herr Major“, meinte er zum Abschied und verließ die Küche.
„Der war hier schon länger nicht mehr“, murmelte Schäfer und zog gedankenverloren einige Schubladen auf in der Hoffnung, Zigaretten zu finden. Eigentlich und offiziell hatte er mit dem Rauchen aufgehört; doch in Momenten wie diesem, wo es sich über den persönlichen Genuss hinaus auch um ein Ritual handelte, um die bösen Geister auszuräuchern – gut, solche Momente kamen in seinem Leben so gut wie jeden Tag vor, machte er sich nichts vor und ging ins Freie.
„Gibt’s schon was?“, fragte er den Forensiker, der jetzt die Alarmvorrichtungen an den Fenstern überprüfte.
„Keine erkennbaren Schäden … das Haus ist abgesichert wie die Nationalbank … entweder der hat einen Schlüssel gehabt oder Born hat ihn selbst hereingelassen.“
„Und die Kameras?“
„Ausgeschaltet … wahrscheinlich auch von Born, weil man einen Code dafür braucht …“
„So“, erwiderte Schäfer, machte ein paar Schritte in Richtung Garten und schrie: „Bergmann!“
Der kam kurz darauf um die Ecke, bedachte seinen Chef mit einem hoffnungslosen Blick und steckte sein Notizbuch in die Jacketttasche.
„Los, fahren wir!“
An prunkvollen und traurig blickenden Villen vorbei fuhren sie in Richtung Gürtel, bis Schäfer seinen Assistenten plötzlich aufforderte, bei der nächsten Gelegenheit zu parken. Bergmann schaute ihn verwundert an, nahm jedoch ohne Kommentar die erste freie Parklücke.
„Was ist passiert?“
„Nichts“, antwortete Schäfer und öffnete die Tür, „haben Sie den Gastgarten da hinten nicht gesehen? Da trinken wir jetzt was.“
„Wenn Sie meinen …“
Sie setzten sich unter einen mächtigen Kastanienbaum und warteten schweigend auf die Bedienung. Nach ein paar Minuten stand Schäfer genervt auf und ging ins Gasthaus.
„Ich habe Ihnen einen gespritzten Apfelsaft bestellt … hoffe, das passt …“, meinte er nach seiner Rückkehr.
„Mit Leitungswasser?“
„Ja, auf einen halben Liter.“
„Danke.“
Schäfer nahm einen Bierdeckel und fing an, einen Würfel daraus zu formen. Der Kellner kam und stellte die Getränke vor ihnen ab.
„Was halten Sie davon?“, fragte Schäfer, nachdem jeder einen großen Schluck getrunken hatte.
„Krank … Phosphorsäure … ziemlich böse … für gewöhnlich will man damit jemanden auslöschen …“
Eine riesige Wolke schob sich über die Sonne und versetzte den Gastgarten für kurze Zeit in eine seltsame Abendstimmung.
„Er hat ihn nicht gefesselt …“ Schäfer blickte fasziniert in den Himmel.
„Und?“
„Wenn der Täter Born nicht verschwinden lassen wollte … also auslöschen, wie Sie sagten … dann kann es doch nur darum gehen, ihn zu foltern … aber dazu muss man das Opfer wohl fesseln und bei Bewusstsein lassen … stattdessen hat er ihn wahrscheinlich betäubt …“
„Wer sagt das?“
„Koller … wegen der Muskelkontraktion oder so was …“
„Ich kann Ihnen nicht ganz folgen …“
„Ich mir auch noch nicht“, gab Schäfer zu und zerriss den Bierdeckelwürfel in mehrere Teile, „wir brauchen auf jeden Fall schnelle Ergebnisse … wenn sich Mugabe und der Innenminister an dem Fall festbeißen, wird das Ganze wieder ein sinnloses Politikum …“
„Tut mir leid … aber zurzeit denken Sie etwas zu schnell für mich …“
„Born war ein Rechter, ein extremer Rechter, Sie müssen sich mal den Scheiß ansehen, den der in seinem Wohnzimmer hortet … vor zehn Jahren war das Aas in der Regierung, wenn auch nur für zwei Wochen … und wer waren die Koalitionspartner damals? Eben die debilen Gesinnungsbrüder von unserem Innenminister … Sie können sich ja vorstellen, wohin der die Ermittlungen bewegen wird …“
„Nein.“
„Bergmann! Was wohl … erst wird er uns gegen die linken Autonomen aufhetzen, dann gegen irgendwelche Altkommunisten … und wenn da nichts dabei rauskommt, ist wahrscheinlich der Mossad dran … das meine ich mit Politikum.“
„So habe ich das noch gar nicht betrachtet …“
„Sie haben ja auch die Fußarbeit erledigt … hat Ihnen die Born irgendwas erzählt, das uns weiterbringen könnte?“
„Nicht wirklich.“ Auch Bergmann fing jetzt an, einen Bierdeckel zu zerlegen. „Sie wird uns die Drohbriefe der letzten Jahre heraussuchen … die hat ihr Mann alle aufgehoben … das hat ihn offensichtlich stolz gemacht, dass ihn so viele gehasst haben …“
„Irgendein Name?“
„Nein … so wie ich das einschätze, hat sich Frau Born aus dem politischen Geschäft herausgehalten, so gut es ging … was nicht heißen soll, dass sie es nicht verstanden hat …“
„Weil es da viel zu verstehen gibt, bei diesen Dumpfbacken …“
„Ja, nein … was ich sagen wollte: Sie hat ihn wohl nicht wegen seiner politischen Ansichten geliebt …“
„Born, die Sexmaschine … so habe ich das noch gar nicht gesehen … das könnte doch ein Hinweis …“
„Mein Gott“, meinte Bergmann verzweifelt, „können wir uns nicht Schritt für Schritt voranarbeiten … diese Sprunghaftigkeit … seit Sie diese Tabletten nehmen …“
„Ach, Bergmann … lösen Sie sich doch einmal von den Konventionen. Lassen Sie Ihrem Gehirn freien Lauf …“
„Mein Gehirn muss im Gegensatz zu Ihrem mit seiner natürlichen Menge an Neurotransmittern auskommen …“
„Ah“, sagte Schäfer anerkennend, „Neurotransmitter … Sie haben sich informiert …“
„Natürlich“, erwiderte Bergmann gereizt, „wen treffen denn die Nebenwirkungen?“
„Wollen Sie sagen, dass ich gemein zu Ihnen bin? Ich bringe Ihnen Überraschungseier mit, stelle Ihnen Tulpen auf den Schreibtisch …“
„Eben … wieso machen Sie das? Das sind doch gar nicht Sie …“
„Also bitte: Ich zeige Ihnen meine Wertschätzung und … lassen wir das … wie machen wir weiter?“
„Wir beide?“
„Mit dem Fall, Sie Esel … Entschuldigung.“
„Ach so … die Überprüfung der Telefonate habe ich veranlasst, Kovacs hat mit den Nachbarn begonnen …“
„Gibt’s eigentlich Personal?“
„Eine Putzfrau, die dreimal die Woche kommt … eine Köchin, die sie bei Bedarf bestellt … und den Gärtner.“
„Schön“, meinte Schäfer und winkte den Kellner heran, um die Rechnung zu verlangen, „dann setzen wir uns jetzt mit der gesamten Knechtschaft zusammen und besprechen, wer morgen was zu tun hat … Säure … so ein Arschloch …“
Er stand auf, griff in seine Hosentasche, holte eine Handvoll Kleingeld heraus und legte dem Kellner den genauen Betrag auf den Tisch. Der strich die Münzen kommentarlos in seine Geldtasche, räumte den Tisch ab und ging wieder.
„Arschlochservice“, murmelte Schäfer und ging mit dem kopfschüttelnden Bergmann im Schlepptau zum Wagen.
Auf dem Weg ins Kommissariat drückte Schäfer am Autoradio herum, um herauszufinden, ob irgendein Sender den Mord schon in den Nachrichten hatte. Er kam nur bis zu einem Lied von Johnny Cash, das er auf keinen Fall abwürgen wollte. Take this weight from me, let my spirit be unchained. Auch gut – dass die Medien zu spät von der Sache Wind bekamen, musste er ohnehin nicht befürchten. Plötzlich prasselten dicke Regentropfen auf die Windschutzscheibe. Bergmann drückte ungerührt den Hebel für die Scheibenwischer nach oben, während Schäfer erstaunt in den Himmel blickte. Seltsames Wetter für Ende Juni. Grauweiße Wolken, die hastig nach Süden flohen, die Stadt im Wechselspiel mit der Sonne in ein launisches Schattenspiel tauchten, immer wieder ein wenig Regen abschüttelten, als ob es nur darum ginge, auf sich aufmerksam zu machen.
„Ist ja wie im April“, sagte Schäfer zum Seitenfenster und drehte seinen Kopf auf der Suche nach einem Regenbogen.
„Hm“, machte Bergmann und bog auf den Gürtel ein, „wenigstens nicht so heiß.“
Da konnte Schäfer ihm nur zustimmen. Bis jetzt waren sie mit Ausnahme von zwei Tagen von Temperaturen über dreißig Grad verschont geblieben. Und wenn es nach ihm ging, konnte es den ganzen Sommer so bleiben. Denn ebenso launisch wie er auf Hitze reagierte, missfielen ihm klimatisierte Räume; und in feuchte Leintücher gehüllt nach Mördern zu jagen, war auch keine Lösung.
Bergmann hupte den Kleinbus eines Paketdienstes an, der die Einfahrt zur Tiefgarage verstellte. Der Mann im Führerhaus schrieb unbeeindruckt in seiner Mappe weiter. Erst als Schäfer „Weg da, du Penner!“ aus dem Fenster schrie und für ein paar Sekunden Blaulicht und Sirene einschaltete, entschuldigte sich der Fahrer mit einer Geste und suchte sich einen anderen Parkplatz.
Auf dem Weg ins Büro rief Schäfer seine Kollegen zusammen und ersuchte sie, in zehn Minuten in den Besprechungsraum zu kommen. Er wollte ihnen einen kurzen Überblick verschaffen, bevor er Kamp über den Fall aufklärte. Sosehr er den Oberst schätzte – aber die Jahre in der Führungsriege und der daraus resultierende ständige Kontakt mit dem Innenminister und anderen polizeifremden Funktionären hatten Kamp unweigerlich infiziert. Manchmal verlor er seinen kriminalistischen Blick und fing an, politische Interessen in die Ermittlungsarbeit einzubringen. Schäfer ärgerte sich oft darüber – andererseits schützte Kamp die Gruppe auch so gut es ging vor diesen Politsoldaten; dafür war Schäfer bereit, ihm einiges nachzusehen, und nannte seinen Hochmut Großmut.
Er füllte den Wassertank der Espressomaschine, ließ zwei kleine Tassen volllaufen und stellte Bergmann eine davon ungefragt auf den Schreibtisch. Rauchen wäre jetzt gut, dachte er, während er mit dem Kaffee in der Hand aus dem Fenster schaute. Mit den Tabletten wird Ihnen das Aufhören leichter fallen, hatte sein Therapeut gemeint. Serotonin und Dopamin und irgendwas mit dem Belohnungszentrum in seinem Gehirn, das auch für sein Suchtverhalten verantwortlich sei. Aber wie sollte die Belohnung, die er für jede Zigarette, die er nicht rauchte, bekam, mit dem Genuss des Rauchens mithalten?
„Sie haben nicht zufällig irgendwo eine Zigarette herumliegen?“
Bergmann schaute ihn nur schelmisch an und hob scheinbar bedauernd die Schultern.
„Na gut … dann starten wir die Maschinen.“
Kovacs, Schreyer sowie Gruppeninspektor Leitner, der erst seit Kurzem zu Schäfers Gruppe gehörte, waren bereits anwesend.
„Wo ist Strasser, der stinkende Affe?“, blaffte Schäfer in die Runde, worauf Schreyer in ein gackerndes Lachen ausbrach.
„Was ist so komisch?“ Schäfer schaute den Inspektor erstaunt an.
„Nichts … nur dass …“
„Auf der Uni“, antwortete Bergmann.
„Was macht er da?“
„Seinen BWL-Abschluss … und das nicht erst seit gestern …“
„Na gut, ’tschuldigung.“ Schäfer trat an die Wandtafel. „Also: das Mordopfer heißt Hermann Born … ich muss Ihnen ja nicht erklären, wer das ist, besser gesagt war … ehemaliger Obmann unserer weitum geschätzten Nationalpartei … Kurzzeitminister, den ein Verfahren wegen Wiederbetätigung zu Fall gebracht hat … das macht die Suche nach Motiven einfach, und die Suche nach Tätern umso umfangreicher … außerhalb der rechten Wählerschaft war ihm wohl keiner sehr zugeneigt … was uns weiterhelfen kann bei unseren klassischen großen W …“
„Welche W?“, wollte Schreyer wissen.
„Gott, Schreyer … wer, wo, was, wie, warum … das ist doch während der Ausbildung sicher schon einmal gefallen, oder?“
„Jetzt, wo Sie es sagen …“
„Gut … also das Wie: Born wurde nach den bisherigen Erkenntnissen entweder durch Phosphorsäure getötet oder zuvor ermordet und dann mit der Säure übergossen … warum auch immer … aber das ist eine Vorgangsweise, die den Täterkreis auf jeden Fall einschränkt. Ich werde einen Gerichtspsychiater ins Boot holen, der uns da weiterhilft … aber ich greife vielleicht schon zu weit vor. Morgen steht natürlich die weitere Befragung der Nachbarn, Verwandten und Bekannten an. Außerdem wird uns Borns Ehefrau alle noch auffindbaren Drohbriefe geben, die ihr Mann bekommen hat … das wird erst einmal viel Laufarbeit und Materialsichtung … ich werde mir heute noch überlegen, wen ich wo einsetze … auf jeden Fall brauchen wir jemanden, der sich in wirtschaftlichen Dingen auskennt. Born hat meines Wissens wie die meisten seiner Art einige Aufsichtsrats- und Vorstandsposten und Beteiligungen gehabt …“
„Da wäre Strasser doch genau der Richtige“, meinte Bergmann.
„Stimmt … außerdem hat er gute Kontakte zu den Schwarzen … die werden ihm sicher weniger Prügel in den Weg legen, als sie es bei uns täten …“
„Steine“, unterbrach Schreyer Schäfers Ausführungen.
„Was?“
„Ähm … Sie haben ‚Prügel in den Weg legen‘ gesagt … aber eigentlich heißt es ‚Steine in den Weg legen‘ …“
„Schreyer! Jetzt schicke ich dich dann zum Drogentest … sei von mir aus bei deinen Recherchen pedantisch, aber lass mir meine Phrasen … also, wo war ich?“
„Dass Strasser sich um Borns Geschäfte kümmern soll“, half ihm Kovacs weiter.
„Genau … dann werden wir natürlich auch die Autonomen durchleuchten müssen … und wenn es nur der Vollständigkeit halber ist …“
„Was ist mit den … also mit jüdischen Verbindungen?“, brachte sich Leitner ein.
„Puh“, stieß Schäfer einen Seufzer aus, „liegt natürlich irgendwie auf der Hand … aber da müssen wir uns eine sehr sensible Herangehensweise überlegen … da stehen die Fettnäpfe dicht an dicht … auch wenn man das laut Duden so nicht sagt, Kollege Schreyer … ich werde jedenfalls heute noch mit Oberst Kamp reden und morgen treffen wir uns um acht Uhr wieder …“
„Entschuldigung“, meldete sich Kovacs zu Wort, „ich habe heute noch keine Zeit gehabt, es Ihnen zu sagen … bei diesem LKW-Fahrer gibt es eine neue Spur … da würde ich morgen gerne noch ein paar Leute befragen … wenn sich das irgendwie ausgeht …“
Schäfer schaute sie ratlos an. LKW-Fahrer … ah, klingeling: LKW-Fahrer – Raststätte Auhof – Pistole Kaliber 22 – fanden sich die Eckpunkte dieses Falls in seinem Kopf zusammen wie die Symbole auf einem einarmigen Banditen.
„Ja, natürlich … gut gemacht … reden wir morgen früh darüber. Also: schönen Abend.“
Keiner der Anwesenden stand auf. Was sollten sie mit dem, was ihnen ihr Vorgesetzter da hingeworfen hatte, anfangen? Wer sollte denn nun was machen? Würde das jetzt ständig so sein? Dass Schäfer sie als lebendiges Back-up nutzte, um seine sich überschlagenden Gedanken zu speichern, bevor er sie vergaß, ohne ihnen mitzuteilen, wie sie sie verarbeiten sollten? Bergmann, der die Unsicherheit der Beamten spürte, rückte als Erster seinen Stuhl nach hinten und meinte, dass die genaue Aufgabeneinteilung am nächsten Tag erfolgen würde. Bis dahin sollten sie sich gefühlsmäßig auf viel Arbeit in den kommenden Wochen einstellen. Und noch einmal richtig ausschlafen.
„Danke, Meister Bergmann“, schloss Schäfer und verließ den Raum.
Zurück im Büro, rief Schäfer Oberst Kamp an. Das Festnetz war aufs Handy umgeleitet, Kamp war beim Polizeipräsidenten. Ja, die Pressemeldung sollte auf jeden Fall erst am nächsten Tag hinausgehen. Man müsse da sehr umsichtig vorgehen, um die Spekulationswut der Medien so gut wie möglich in Zaum zu halten.
„Können Sie mich morgen bei der Pressekonferenz vertreten?“, wandte sich Schäfer an Bergmann, nachdem er aufgelegt hatte.
„Warum?“
„Weil … na ja … ich fühle mich im Umgang mit der Öffentlichkeit zurzeit ein wenig …“
„Unkontrolliert …“
„Na, wenn Sie es wissen, wieso fragen Sie mich dann?“
„Weil es respektlos wäre, wenn ich es Ihnen von mir aus vorschlage …“
„Sehr diplomatisch … also?“
„Wenn Kamp nichts dagegen hat, sicher.“
„Gut … wollen Sie mit mir heute laufen gehen?“
„Heute? … Lieber wäre mir morgen … ich habe jemanden zum Essen eingeladen und muss noch …“
„Jemanden … also haben Sie jetzt ‚jemanden‘?“
„So genau kann man das noch nicht sagen …“
„Verstehe … immer schön diskret … aber wenn Sie irgendwann entführt werden und zerstückelt in einem Straßengraben landen, machen Sie mir keinen Vorwurf, dass ich keine Ahnung von Ihrem Beziehungsleben hatte …“
„Ich sperre das erste Weinglas, das mein Gegenüber berührt, immer gleich in den Wandtresor, um Fingerabdrücke zu haben … außerdem werde ich zerstückelt keine Vorwürfe mehr machen können …“
„Ich kann Ihnen nicht folgen … na, dann eben morgen … gehe ich heute halt zu Fuß heim.“
Eine gute Stunde lang besprachen sie die Aufgabenverteilung für den nächsten Tag und wie sie den Medien gegenüber auftreten sollten. Dass Born ermordet worden war: gut, Hass hatte er genug gesät; doch die Vorgehensweise … die war leider zu ausgefallen, als dass sich nicht zumindest ein Journalist einen einprägsamen Spitznamen für den Mörder würde einfallen lassen. Säurekiller, der Ätzer, was auch immer.
Schäfer meldete sich am Empfang ab und verließ das Kommissariat. Es sah nach Regen aus, dennoch ging er die gut sechs Kilometer zu seiner Wohnung zu Fuß. Sonst würde er zu Hause nur wieder unruhig werden, sich unausgelastet fühlen und gegen Mitternacht in der nahe gelegenen Kleingartensiedlung laufen gehen, wo ihn die Woche zuvor ein Hund angefallen hatte, gegen den ihm nur ein gezielter Fußtritt geholfen hatte.
In einem türkischen Geschäft kaufte er Erdbeeren, Tomaten, Oliven, Schafkäse und ein halbes Kilo sehr fetthaltiges Joghurt. Ständig war er hungrig; Gewichtszunahme gab der Beipackzettel als häufige Nebenwirkung an; doch das würde er mit ausreichend Bewegung schon in den Griff bekommen.
In der Wohnung stellte er die Einkäufe ab und öffnete die Balkontür, um frische Luft hereinzulassen. Am Nachbarbalkon stellte ein Mann, den Schäfer nicht kannte, Blumentröge in die Eisenhalterungen an der Brüstung.
„Schönen Abend“, grüßte Schäfer.
„Ah, guten Tag … Sie sind dann wohl der Polizist, ja … ich ziehe hier gerade ein … ist doch gut, wenn man neben einem Polizisten wohnt …“
„Kann ich nicht sagen … habe noch nie neben einem gewohnt.“
„Natürlich … ich heiße übrigens Peter Wedekind …“
„Johannes Schäfer … aber das wissen Sie offenbar schon …“
„Ja … die Maklerin hat gemeint, dass ich mich hier sehr sicher fühlen werde, weil … ja …“
„Ich bin bei der Mordkommission, kein Leibwächter … außerdem ist das doch eine ziemlich sichere Gegend hier …“
„Wahrscheinlich … ich bin ein ängstlicher Mensch, das gebe ich zu …“
„Na dann … ich muss mich um mein Abendessen kümmern … bis demnächst.“
„Ja … hat mich gefreut … Herr … Major …“
Schäfer ging ins Bad, zog sich aus und stellte sich unter die Dusche. Dass er einen neuen Nachbarn bekommen würde, hatte er gewusst. Und nachdem er mit der lebenslustigen Studentin, die zuvor neben ihm gewohnt hatte, bis auf ein paar sporadische Faustschläge gegen seine Schlafzimmerwand immer gut ausgekommen war, hatte er der Ankunft eines neuen Nachbarn mit einer gewissen Spannung entgegengesehen. Und jetzt dieser paranoide Geranienfreund; der beim ersten Sturm, der an den Balkonmöbeln rüttelte, an Schäfers Tür hämmern und ihn bitten würde, in seinem Bett schlafen zu dürfen … mit der Pistole unter dem Kopfkissen. Er trocknete sich ab, zog Shorts und ein T-Shirt an und ging in die Küche, um das Abendessen zuzubereiten. Als er fertig war, horchte er auf den Balkon hinaus. Nichts. Er nahm seinen Teller, ein Stück Weißbrot und eine Flasche Bier und setzte sich damit an den kleinen Balkontisch. Langsam kauen, ermahnte er sich, genießen. Nachdem er fertig gegessen hatte, ließ er sich in den Liegestuhl fallen, nahm einen Schluck aus der Bierflasche und schaute über die Häuserdächer. Wie ein abgeschnittener Fingernagel sah der Mond aus. Aus der Nebenwohnung hörte er seinen neuen Nachbarn Möbel verrücken. Das Folgetonhorn eines Polizeiautos. Er hörte ihm zu, bis es sich irgendwo in den Außenbezirken verlor. Nichts, das ihn etwas anging. Schäfer stellte die leere Bierflasche auf den Boden und zupfte ein Blatt vom Basilikumstrauch, der in der Ecke stand. Ein Geschenk von Isabelle. Die erste Pflanze auf seinem Balkon; mittlerweile hatte er ihr einen Lavendel und einen Oleander zur Gesellschaft gebracht. Und Isabelle? Sie würde nach Den Haag gehen, an den Internationalen Gerichtshof. Eine Berufung, die sie auf keinen Fall ablehnen durfte. Aber sie hätte Nein gesagt, das wusste Schäfer. Er hätte Nein sagen können. Und sie wäre geblieben. Stattdessen … stattdessen hatte er sich dahinter verschanzt, dass sie ihre Entscheidung allein treffen müsse; er wolle ihr auf keinen Fall im Weg stehen, wenn es um ihr berufliches Weiterkommen ging; wozu solle sie es denn bringen in Wien, in diesem bornierten Männerverein; er hatte ihre Rolle als emanzipierte Frau gegen sie ausgespielt, um nicht zugeben zu müssen, dass er zu feige war, sich auf eine feste Beziehung einzulassen. Denn dass sie das wollte, war ihm klar. Und er? Kinder? Zwanzig Jahre war er jetzt Polizist; und dieser Gedanke kam ihm vor, als schlüge ihm jemand in einem Wiener Wirtshaus vor, frittierte Vogelspinnen zu probieren. Was? Jetzt gleich? Hier? Natürlich war dieses Bild noch irgendwo in seinem Kopf: er mit einer kleinen Tochter auf dem Schoß, im Garten, auf einer Holzbank an der Hausmauer sitzend, den rechten Arm um sie gelegt, die linke Hand an der Stirn zum Schutz vor der Sonne, ui, lag da gar noch ein Hund neben ihnen? Doch dieses Bild war auf altem Fotokarton, mit dem typischen Sepiaton der Verklärung, archaisch und schwer in die Wirklichkeit zu holen, wo das Böse Tag für Tag in echten Farben über die Bildschirme lief. Wie sollte er das ertragen, sein eigenes Kind in dieser Welt zu wissen; doch er wollte Isabelle nicht verlieren, auf keinen Fall; morgen würde er sie anrufen, irgendwie würden sie das schon hinkriegen, bestimmt. Er zerrieb das Blatt zwischen seinen Fingern und roch daran. Basilikum, eindeutig. Er lächelte. Wie er sich im Augenblick fühlte … Glück wollte er dazu nicht sagen. Aber wie sonst sollte man es denn nennen.
Es war die Amsel, nicht der Wecker. Dennoch stand Schäfer gleich nach dem Erwachen auf so konnte er den Tag mit einem langen Frühstück auf dem Balkon beginnen und in aller Ruhe mit Isabelle telefonieren. Er ging ins Bad, rasierte sich, duschte. Mit einem Handtuch um die Hüfte und der Zahnbürste im Mund stellte er sich auf die Waage. Drecksding, hämisches Mistvieh, fluchte er leise, putzte seine Zähne fertig und ging in die Küche, um aus den Einkäufen vom Vortag ein ausgiebiges Morgenmahl zu bereiten.
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