Der Bezauberer - Vladimir Nabokov - E-Book

Der Bezauberer E-Book

Vladimir Nabokov

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Beschreibung

Ursprünglich als «Der Zauberer» erschienen und erst in den Achtzigern in Nabokovs Nachlass wiederentdeckt, wurde der Text noch mal vom Nabokov Experten Dieter E. Zimmer durchgesehen und der Titel zu «Der Bezauberer» geändert. Der Protagonist der Erzählung ist, wie in «Lolita», ein Mann in den Vierzigern mit pädophilen Neigungen. In einem Park beobachtet er ein präpubertäres Mädchen auf Rollschuhen und fühlt sich zu ihm hingezogen. Kurze Zeit später heiratet er die als ein wenig abstoßend beschriebene, verwitwete Mutter des Mädchens, um es täglich sehen zu können. Doch was als die Erfüllung seiner geheimsten Wünsche beginnt, endet in einem Albtraum.

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Seitenzahl: 130

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Vladimir Nabokov

Der Bezauberer

Erzählung

Deutsch von Dieter E. Zimmer

Über dieses Buch

«Der Bezauberer» ist «ein nachdenkliches und vielschichtiges Prosastück von beängstigender Intensität». (Marcel Reich-Ranicki)

 

Ein Mann beobachtet in einem Park ein präpubertäres Mädchen auf Rollschuhen und fühlt sich zu ihm hingezogen. Kurze Zeit später heiratet er die als ein wenig abstoßend beschriebene, verwitwete Mutter des Mädchens, um es täglich sehen zu können. Doch was als die Erfüllung seiner geheimsten Wünsche beginnt, endet in einem Albtraum.

 

«Der Bezauberer» ist eine erste faszinierende kürzere Version des «Lolita»-Themas, mit dem der begnadete Schriftsteller Vladimir Nabokov seinen Weltruhm begründete.

 

Der Text entstand 1939, kurz vor Vladimir Nabokovs Aufbruch in die USA. Das Manuskript verschwand bei einem von Nabokovs zahlreichen Umzügen und tauchte erst Anfang der achtziger Jahre im Nachlass wieder auf. Ursprünglich als «Der Zauberer» erschienen, wurde der Text noch mal vom Nabokov Experten Dieter E. Zimmer durchgesehen und der Titel zu «Der Bezauberer» geändert.

Vita

Vladimir Nabokov ist einer der wichtigsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts.

Er entstammte einer großbürgerlichen russischen Familie, die nach der Oktoberrevolution von 1917 emigrierte. Nach Jahren in Cambridge, Berlin und Paris verließ Nabokov 1940 Europa und siedelte in die USA über, wo er an verschiedenen Universitäten arbeitete.

In den USA begann er seine Romane auf Englisch zu verfassen, «Lolita» war Nabokovs Liebeserklärung an die englische Sprache, wie er im Nachwort selber schrieb. Nach einer anfänglich schwierigen Publikationsgeschichte wurde «Lolita» zum Welterfolg, der es Nabokov ermöglichte, sich nur noch dem Schreiben zu widmen.

Nabokov zog in die Schweiz, wo er schrieb, Schmetterlinge fing und seine russischen Romane ins Englische übersetzte.

Er lebte in einem Hotel in Montreux, wo er am 2. Juli 1977 starb.

 

Der Herausgeber, Dieter E. Zimmer, geboren 1934 in Berlin, 1959 bis 1999 Redakteur der Wochenzeitung «Die Zeit», seit 2000 freier Autor. Zahlreiche Veröffentlichungen über Themen der Psychologie, Biologie und Anthropologie, literarische Übersetzungen (u.a. Nabokov, Joyce, Borges).

 

Das Gesamtwerk von Vladimir Nabokov erscheint im Rowohlt Verlag.

Der Bezauberer

«Welchen Vers nur soll ich mir auf mich machen?», dachte er, wenn er dachte. «Lüsternheit kann es nicht sein. Die grobe Sinnlichkeit ist eine Allesfresserin; die raffinierte Sorte setzt Sättigung voraus. Zwar habe ich fünf oder sechs normale Affären gehabt – doch wie lässt sich ihre fade Beliebigkeit mit meiner einzigartigen Flamme vergleichen? Wie es erklären? Gewiss nicht mit der Arithmetik orientalischer Ausschweifung, bei der die Zartheit der Beute ihrem Alter umgekehrt proportional ist. Oh nein, für mich ist es nicht der Grad eines Allgemeinen, sondern etwas völlig anderes als das Allgemeine; nicht etwas besonders Schätzenswertes, sondern unschätzbar. Was also ist es dann? Eine Krankheit? Eine kriminelle Neigung? Und verträgt es sich mit Gewissen und Scham, mit Skrupelhaftigkeit und Furcht, mit Selbstbeherrschung und Empfindlichkeit? Denn auch nur in Erwägung zu ziehen, dass ich Schmerz verursache oder unvergesslichen Widerwillen errege, bringe ich nicht über mich. Unfug – ich bin keiner, der vergewaltigt. Den Grenzen, die ich meinem Verlangen gesetzt habe, den Masken, die ich dafür erfinde, wenn ich mir im wirklichen Leben eine absolut unsichtbare Methode herbeizaubere, meine Leidenschaft zu stillen, ist eine gnädige Spitzfindigkeit eigen. Ich bin ein Taschendieb, kein Einbrecher. Obwohl, auf einer kreisrunden Insel vielleicht, mit meinem kleinen weiblichen Freitag … (es wäre keine Frage bloß der Sicherheit, sondern der Lizenz, ein Wilder zu werden – oder ist das ein Teufelskreis mit einer Palme in der Mitte?).

Da ich mit dem Verstand weiß, dass die Euphrat-Aprikose nur als Konserve schädlich ist; dass Sünde und bürgerliche Sitte untrennbar sind; dass jede Hygiene ihre Hyäne hat; da ich darüber hinaus weiß, dass ebendieser Verstand nicht abgeneigt ist, zu vulgarisieren, wozu ihm sonst der Zugang verwehrt ist … Doch ich will alles dies beiseitelassen und mich auf eine höhere Ebene begeben.

Was, wenn der Weg zur wahren Wollust tatsächlich durch eine noch zarte Membran führte, die noch keine Zeit hatte, hart zu werden, sich überwuchern zu lassen, den Duft und den Schimmer einzubüßen, durch die man zu dem funkelnden Stern jener Wollust dringt? Selbst innerhalb dieser Grenzen gehe ich auf kultivierte Weise wählerisch vor; nicht zu jedem Schulmädchen, das mir über den Weg läuft, fühle ich mich hingezogen, ganz und gar nicht – wie viele bekommt man auf einer grauen Morgenstraße zu sehen, die drall sind oder dünn oder ein Halsband aus Pickeln haben oder eine Brille auf – diese Art interessiert mich in amouröser Hinsicht so wenig wie andere vielleicht irgendeine unansehnliche Bekannte. Jedenfalls fühle ich mich mit Kindern allgemein ganz einfach wohl, unabhängig von irgendwelchen besonderen Empfindungen; ich weiß, dass ich einen höchst liebevollen Vater im üblichen Sinn des Wortes abgäbe, und kann bis heute nicht entscheiden, ob es sich da um ein natürliches Komplement handelt oder um einen dämonischen Widerspruch.

Hier berufe ich mich auf das Gesetz der Gradation, das ich verworfen habe, wo ich es beleidigend fand: Oft habe ich versucht, mich beim Übergang von einer Art der Zärtlichkeit zu einer anderen zu ertappen, von der einfachen zur besonderen, und sehr gern wüsste ich, ob sie sich gegenseitig ausschließen, ob sie schließlich doch verschiedenen Gattungen zugewiesen werden müssen oder ob die eine in der Walpurgisnacht meiner düsteren Seele eine seltene Blüte der anderen ist; denn wenn sie zwei verschiedene Wesenheiten sind, dann muss es auch zwei verschiedene Arten von Schönheit geben, und wenn der ästhetische Sinn zum Essen geladen wird, setzt er sich krachend zwischen zwei Stühle (das Los eines jeglichen Dualismus). Andererseits finde ich die Rückreise vom Besonderen zum Einfachen ein wenig verständlicher: Jenes wird sozusagen im Moment der Befriedigung subtrahiert, und das scheint doch darauf hinzudeuten, dass die Summe der Empfindungen in der Tat homogen ist, falls die Regeln der Arithmetik hier tatsächlich anwendbar sind. Es ist sonderbar, sonderbar – und am sonderbarsten ist vielleicht, dass ich unter dem Vorwand, mir bemerkenswerte Gedanken zu machen, lediglich eine Rechtfertigung suche für meine Schuld.»

 

Solchermaßen ungefähr zappelten seine Gedanken. Er hatte das Glück, einen kultivierten, präzisen und recht einträglichen Beruf auszuüben, einen, der seinen Geist erfrischte, seinen Tastsinn zufriedenstellte, seinem Gesichtssinn mit einem glänzenden Punkt auf schwarzem Samt Nahrung gab. Es gab da Zahlen und Farben und ganze Kristallsysteme. Zuzeiten war seine Phantasie monatelang gefesselt, und nur gelegentlich einmal klirrte die Kette. Da er sich mit vierzig Jahren zudem durch fruchtlose Selbstaufopferung ausreichend gequält hatte, hatte er seine Begierde beherrschen gelernt und sich heuchlerisch mit dem Gedanken abgefunden, dass schon überaus glückliche Umstände zusammenzukommen hätten, das Schicksal ihm höchst unversehens ein günstiges Blatt zuteilen müsste, damit es je zu einem augenblicksweisen Anschein des Unmöglichen kommen konnte.

Sein Gedächtnis bewahrte jene wenigen Augenblicke mit melancholischer Dankbarkeit (sie waren ihm ja doch zuteilgeworden) und melancholischer Ironie (er hatte schließlich das Leben doch überlistet). So hatte er in seinen Studententagen am Polytechnikum kein einziges Mal die jüngere Schwester eines Kommilitonen gestreift, der er Nachhilfeunterricht in Geometrie gegeben hatte – ein schläfriges, blasses Mädchen mit samtenem Blick und einem Paar schwarzer Zöpfe –, doch die bloße Nähe ihres Wollkleids hatte genügt, dass die Zeilen auf dem Papier erzitterten und sich auflösten, dass alles in angespanntem, heimlichem Trott in eine andere Dimension hinüberwechselte – und hinterher war da wieder der Holzstuhl, die Lampe, das kritzelnde Schulmädchen. Seine anderen Glücksmomente waren von der gleichen lakonischen Art gewesen: ein zappeliges Kind mit einer Haarlocke über einem Auge in einem ledergepolsterten Büro, wo er auf ihren Vater wartete (das Klopfen in seiner Brust – «Sag mal, bist du kitzlig?»); oder jene andere, die mit den pfefferkuchenfarbenen Schultern, die ihm in der durchgestrichenen Ecke eines sonnenhellen Hofs etwas schwarzen Salat zeigte, der ein grünes Kaninchen fraß. Es waren dies armselige, hastige Augenblicke gewesen, zwischen denen Jahre des Umherstreifens und der Suche lagen, doch hätte er sich jeden von ihnen sonst etwas kosten lassen. (Kuppler jedoch blieben aufgefordert, sich herauszuhalten.)

Wenn er sich jene äußerst seltenen Vorkommnisse ins Gedächtnis rief, jene kleinen Geliebten, die des Inkubus nicht einmal gewahr geworden waren, dann staunte er auch, wie ihm ihr späteres Schicksal auf geheimnisvolle Weise hatte entgehen können; und dennoch, wie oft hatte ihn auf einem schäbigen Rasen, in einem vulgären Stadtbus oder auf einem Stück Strandsand, der höchstens als Futter für ein Stundenglas zu brauchen war, eine schlimme, voreilige Wahl betrogen, hatte das Schicksal seine innigen Bitten ignoriert, war seine Augenfreude unterbrochen worden von der rücksichtslosen Wende, die die Dinge nahmen.

Dünn, mit trockenen Lippen, einem schon leicht kahl werdenden Schädel und immer wachsamen Augen – so nahm er jetzt Platz auf einer Bank in einem städtischen Park. Der Juli hatte die Wolken abgeschafft, und einen Augenblick später setzte er den Hut auf, den er in seinen weißen, schmalfingrigen Händen gehalten hatte. Die Spinne hält inne, der Herzschlag setzt aus.

Links von ihm saß eine ältliche Brünette mit roter Stirn, die Trauerkleidung trug; zu seiner Rechten strickte eine Frau mit schlaffem, stumpfblondem Haar fleißig vor sich hin. Mechanisch folgte sein Blick den Kindern, die im farbigen Dunst hin und her flitzten, und seine Gedanken waren anderswo – bei seiner gegenwärtigen Arbeit, der einnehmenden Form seiner neuen Fußbekleidung –, als er neben seinem Schuhabsatz zufällig eine große, von den Kieseln teilweise verdeckte Nickelmünze bemerkte. Er hob sie auf. Das lippenbärtige Weib zur Linken reagierte auf seine entsprechende Frage nicht; das farblose zur Rechten sagte:

«Stecken Sie sie ein. An ungeraden Tagen bringt sie Glück.»

«Wieso nur an ungeraden Tagen?»

«So sagt man in meiner Heimat, in …»

Sie nannte den Namen einer kleinen Stadt, wo er einst die verschnörkelte Architektur einer winzigen schwarzen Kirche bewundert hatte.

«… na ja, wir wohnen auf der anderen Flussseite. Am Hang sind überall Gemüsegärten, es ist reizend da, es gibt weder Staub noch Lärm …»

Eine Geschwätzige, dachte er – sieht aus, als müsste ich mich anderswohin setzen.

Und an dieser Stelle geht der Vorhang hoch.

Auf Rollschuhen, die nicht rollten, sondern auf dem Kies knirschten, wenn es sie mit kleinen japanischen Trippelschritten hob und senkte, kam schnell und bestimmt ein veilchenblau gekleidetes zwölfjähriges Mädchen (er irrte nie) durch das unstete Glück des Sonnenscheins auf ihre Bank zu. In der Folge (solange es eine Folge gab) kam es ihm vor, als hätte er sie auf der Stelle, gleich im allerersten Moment ganz und gar, von Kopf bis Fuß in sich aufgenommen: die Lebhaftigkeit ihrer rostbraunen (unlängst geschnittenen) Locken; das Strahlen ihrer großen, ein wenig leeren Augen, das irgendwie an durchscheinende Stachelbeeren erinnerte; ihren fröhlichen warmen Teint; ihren rosa Mund, der leicht offen stand, sodass zwei große Schneidezähne knapp auf der vorspringenden Unterlippe auflagen; die sommerliche Färbung ihrer bloßen Arme mit den glatten, fuchsartigen Härchen auf den Unterarmen; die undeutliche Zartheit ihrer immer noch engen, aber schon nicht mehr ganz flachen Brust; die Art, wie sich die Falten ihres Rocks bewegten; deren Knappheit und weiche Höhlungen; die Schlankheit und das Glühen ihrer unbesorgten Beine; die groben Riemen ihrer Rollschuhe.

Sie blieb vor seiner redseligen Nachbarin stehen, die sich abwandte, um in etwas zu kramen, das zu ihrer Rechten lag, eine Scheibe Brot mit einem Stück Schokolade darauf zutage förderte und sie dem Mädchen aushändigte. Unter raschem Kauen löste Letzteres mit seiner freien Hand die Riemen und mit ihnen die ganze gewichtige Masse der Stahlsohlen und massiven Räder. Dann kehrte sie heim zu unseresgleichen auf die Erde, richtete sich mit einer sogleich sich einstellenden Empfindung himmlischer Barfüßigkeit auf, die nicht sofort als das Gefühl rollschuhloser Schuhe identifizierbar war, und ging bald zögernd, bald leichtfüßig davon, bis sie schließlich (wahrscheinlich weil sie mit dem Brot fertig war) geschwind davonschoss, die befreiten Arme schwenkend, bald sichtbar und bald unsichtbar, sich mit dem verwandten Spiel des Lichts unter dem Veilchenblau und Grün der Bäume vermengend.

«Ihre Tochter», bemerkte er unsinnigerweise, «ist schon ein großes Mädchen.»

«Aber nicht doch – wir sind nicht verwandt», sagte die Strickerin. «Ich selber habe keine, und ich bereue es nicht.»

Die Alte in Trauerkleidung begann zu schluchzen und ging. Die Strickerin sah ihr nach, setzte ihre flinke Arbeit fort und zog von Zeit zu Zeit mit einer blitzartigen Bewegung den schleppenden Schwanz ihres Wollfetus zurecht. Lohnte es sich, das Gespräch fortzusetzen?

Die Fersenstützen der Rollschuhe glänzten neben dem Fuß der Bank, und die lederbraunen Riemen starrten ihm ins Gesicht. Dieses Starren war das Starren des Lebens. Seine Verzweiflung war jetzt verdoppelt. Die noch immer lebendigen früheren Verzweiflungen waren überlagert von einem neuen und besonderen Ungeheuer … Nein, er durfte nicht bleiben. Er lüftete den Hut («Adieu», erwiderte die Strickerin freundlich) und entfernte sich quer über den Platz. Seinem Selbsterhaltungstrieb zum Trotz wehte ihn ein geheimer Wind zur Seite, und sein ursprünglich als gerade Transversale angelegter Weg wich nach rechts in Richtung der Bäume ab. Obwohl er aus Erfahrung wusste, dass jeder weitere Blick seine hoffnungslose Sehnsucht nur verschärfen würde, vollendete er die Schwenkung hin in den schillernden Schatten, und verstohlen suchten seine Augen inmitten der anderen Farben den veilchenblauen Tupfen.

Auf der Asphaltbahn ertönte betäubender Rollschuhlärm. Am Rand war ein privates Hopsespiel im Gange. Und da … Sie wartete, dass sie an die Reihe käme, hatte einen Fuß seitwärts ausgestreckt, verschränkte die glühenden Arme über der Brust, hielt den verschleierten Kopf gesenkt, strahlte eine wilde, kastanienbraune Hitze aus, und unter seinem schrecklichen, unbemerkten Blick schwand sie, schwand die veilchenblaue Schicht, löste sich auf in Asche … Nie zuvor jedoch war der Nebensatz seines furchtsamen Lebens von dem Hauptsatz vervollständigt worden, und mit zusammengebissenen Zähnen ging er vorüber, erstickte seine Ausrufe und Seufzer und lächelte flüchtig einem kleinen Kind zu, das ihm zwischen die scherengleichen Beine gelaufen war.

«Zerstreutes Lächeln», dachte er übertrieben gefühlvoll. «Aber schließlich sind nur Menschen fähig zur Zerstreutheit.»

Bei Tagesanbruch ließ er benommen sein Buch sinken, so wie ein toter Fisch die Flosse anzieht, und begann sich plötzlich selber Vorwürfe zu machen: Warum, fragte er, hast du der Niedergeschlagenheit der Verzweiflung nachgegeben, warum hast du nicht versucht, eine richtige Unterhaltung anzuknüpfen und dich dann mit dieser Strickerin, dieser Schokoladenfrau, dieser Gouvernante oder was weiß ich anzufreunden? Und er stellte sich einen jovialen Herrn vor (dessen innere Organe im Augenblick seinen eigenen glichen), der auf diese Weise – dank eben seiner Jovialität – die Gelegenheit herbeizuführen vermochte, «Dich-schlimmes-kleines-Mädchen-dich» zu sich auf den Schoß zu nehmen. Er wusste, er war nicht sehr umgänglich, doch erfinderisch, hartnäckig und imstande, sich lieb Kind zu machen; mehr als einmal hatte er in anderen Gefilden seines Lebens einen Tonfall improvisieren oder sich zähe Mühe geben müssen, unbeirrt davon, dass sein unmittelbares Ziel bestenfalls in mittelbarer Beziehung zu seiner entfernteren Absicht stand. Doch wenn das Ziel dich blendet, dir die Luft raubt, dir die Kehle zuschnürt, wenn gesunde Scham und kränkliche Feigheit jeden deiner Schritte verfolgen …

 

Inmitten der anderen kam sie über den Asphalt gerasselt, schwang weit vornübergeneigt rhythmisch die entspannten Arme, sauste mit siegesgewisser Geschwindigkeit vorbei. Als sie sich behände umwandte, flappte ihr Rock hoch und entblößte ihren Schenkel. Dann saß ihr das Kleid hinten so eng, dass es einen kleinen Spalt zeichnete, während sie mit einer kaum wahrnehmbaren Schlängelbewegung ihrer Waden langsam rückwärts rollte. War es sinnliche Begierde, diese Qual, die er empfand, während er sie mit den Augen verschlang, ihr gerötetes Gesicht anstaunte, die Kompaktheit und Vollkommenheit jeder ihrer Bewegungen (besonders wenn sie, kaum dass sie zur Bewegungslosigkeit erstarrt war, wieder davonschoss und dabei geschwind mit den vorstehenden Knien pumpte)? Oder war es die Pein, die stets einherging mit seinem hoffnungslosen Verlangen, der Schönheit etwas zu entnehmen, es für einen Augenblick festzuhalten, etwas mit ihm zu machen – gleichgültig was, solange es nur irgendeine Art von Kontakt gab, der irgendwie, gleichgültig wie, jene Sehnsucht zu stillen vermochte? Warum darüber rätseln? Sie wurde wieder schneller und verschwand – und morgen würde eine andere vorübersausen, und so verginge sein Leben, ein Verschwinden nach dem andern.