Der Bienenkönig - Willi Schissler - E-Book

Der Bienenkönig E-Book

Willi Schissler

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Beschreibung

Ein Mann wird auf dem Grundstück eines Hobbyimkers zwischen Wiebelsbach und dem Weiler Frau Nauses vor dessen Bienenstöcken tot aufgefunden. Behauptet der Imker zumindest. Niemand will ihm so recht glauben, denn der angebliche Tote ist plötzlich verschwunden. In den Aspen, dem Wald zwischen den Otzberger Ortsteilen Hering und Ober-Klingen, wird von einem Landwirt ein toter Mann aufgefunden. Die Ermittler des K10 vom Polizeipräsidium Südhessen in Darmstadt zerbrechen sich die Köpfe, allerdings ohne ihren Ersten Kriminalhauptkommissar Heiner Dröger, der sich wegen eines chronischen Rückenleidens zur Kur begeben musste.

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Die Handlung des Romans ist frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen und realen Begebenheiten ist rein zufällig.

»Manchmal muss man auch das hören, was nicht gesagt wird.« (Lena Endre als Staatsanwältin Katarina Ahlsell in Mankells Wallander »Der Kurier»)

Und Schmul Meier bleibt verschwunden Und so mancher reiche Mann Und sein Geld hat Mackie Messer Dem man nichts beweisen kann (Aus »Mackie Messer« - »Dreigroschenoper« – von Bertolt Brecht)

Für Karin und Yvonne mit Michael

Inhaltsverzeichnis

PROLOG: In jungen Jahren

Fünfzehn Jahre später

Montag, 6. Juni

Dienstag, 7. Juni

Mittwoch, 8. Juni

Donnerstag, 9. Juni

Freitag, 10. Juni

Samstag, 11. Juni

Montag, 13. Juni

Dienstag, 14. Juni

Mittwoch, 15. Juni

Donnerstag, 16. Juni

Freitag, 17. Juni

Samstag, 18. Juni

Montag, 20. Juni

Dienstag, 21. Juni

Mittwoch, 22. Juni

Donnerstag, 23. Juni

Einige Tage später

EPILOG

DIE GERICHTSURTEILE

Äußerst rätselhafte Geschichte

PROLOG

In jungen Jahren

Nach einem langen, trüben, nasskalten, überwiegend schneelosen Winter, einem verregneten März und einem launischen April, wie man ihn eh gewohnt war, war es endlich Frühling geworden. Bäume schlugen aus, Sträucher und Blumen blühten in einzigartiger bunter Pracht. Bienen und Hummeln hatten längst ihre Arbeit aufgenommen.

Die Menschen sehnten sich nach dieser tristen Winterzeit nach Wärme und vor allem nach Sonne, die sich in den letzten Monaten doch sehr rar gemacht hatte.

So kam der Event WEIN UND MEER bei der Winzergenossenschaft Vinum Autmundis in Groß-Umstadt an diesem herrlichen Sonntag im Mai gerade recht. Endlich mal wieder eine Festlichkeit im Freien. Endlich mal wieder Frühlingsluft atmen.

Entsprechend war der Betrieb im Vinum Autmundis. Alle hübsch dekorierten, buntgedeckten Tische und Stehtische sowohl im Freien als auch in den Innenräumen waren bis auf den letzten Platz besetzt. Lachende, gutgelaunte Menschen, sowie schmissige Jazzmusik von der Band EI GUDE, WIE? sorgten für eine außerordentlich fröhliche Stimmung. Es war richtig was los in Umstadt.

An diesem sonnigen Tag trat Danica, eine Kroatin aus dem istrischen Rovinj in Tonis bisher unaufgeregtes Leben. Sie stand inmitten einiger Frauen und Männer an einem der Stehtische, in der Hand ein Glas Rotwein.

Die rassige Frau fiel Toni sofort auf, er holte an der Theke eine Flasche Spätburgunder, ging zu ihr hin (woher auch immer er den Mut nahm), fragte schüchtern, ob er sich dazugesellen dürfe. Sie lächelte freundlich: »Selbstverständlich, gerne.«

Eine der Frauen griff nach Danicas Hand, beäugte Toni argwöhnisch. Was will der?

Tonis Freundin Claudia Schultz, gebürtige Hannoveranerin, wohnte in Groß-Umstadt und arbeitete als Journalistin für eine bekannte Illustrierte. Derzeit war sie in Rottach-Egern am Tegernsee, wo ein Kriminalfilm mit der aus Michelstadt im Odenwald stammenden Jessica Schwarz und dem Urbayer aus München, Michael Fitz in den Hauptrollen, gedreht wurde. Sie sollte darüber berichten.

Toni lud die hübsche Danica auf ein weiteres Glas Wein ein. Sie ließ die Hand der Frau mit dem flammend roten Haar neben sich los. Eifersüchtig drehte diese sich weg, wandte sich einem der Männer zu, stieß mit ihm an, wobei sie Danica provozierend anschaute. Auch der Mann sah sie mit zusammengekniffenen Augenlidern und verzogenem Mund giftig an.

Danica ignorierte ihre Blicke, drehte sich lächelnd Toni zu. »Warum nicht?« Ihre makellosen weißen Zähne bildeten einen reizvollen Kontrast zu den dezent geschminkten Lippen und dem typisch dunklen Teint einer Südländerin.

Es kam zunächst zu zurückhaltenden, belanglosen Gesprächen zwischen Toni und Danica. Nachdem sie ihren Rotwein ausgetrunken hatten, schwand die anfängliche Schüchternheit, sie wurden einander vertrauter. Er erfuhr, dass sie in Groß-Umstadt wohnte und als Kosmetikerin in einer Parfümerie arbeitete.

Sie gingen zur Theke, die mit einer vielfältigen Art von Meeresfrüchten aufwartete, bestellten Austern, die sie genüsslich verzehrten, tranken dazu Sekt Pinot Rosé.

Mit ihrer charmanten Art und dem kroatischen Akzent zog die äußerst attraktive, schlanke Frau mit dem außergewöhnlich schönen Gesicht und dem pechschwarzen Haar den jungen Mann dermaßen in ihren Bann, dass er sich Hals über Kopf in sie verliebte. Ihr erging es ebenso, der gutaussehende dunkelhaarige Mann gefiel ihr.

So kam es, wie es kommen musste (womit Toni niemals gerechnet hatte und was er eigentlich auch gar nicht wollte.)

Zwei Tage später kam Claudia nach Hause. Sie stellte ihren Koffer ab und fuhr gleich weiter zu Toni, der in der Odenwaldstraße in Wiebelsbach, einem Stadtteil von Groß-Umstadt, ein schmuckes Haus besaß, das er von seinen Eltern geerbt und komplett renoviert hatte. Als er sie begrüßte und sie nur zaghaft küsste, spürte sie instinktiv, dass etwas nicht stimmte. »Was ist los? Du bist so sonderbar.«

»Weißt du, Claudia, es ist so: Ich … ich habe … ach Mist! Ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll«, druckste er herum. »Ich …« Er brach den Satz ab, presste die Lippen zusammen. Sie setzten sich auf die Couch im Wohnzimmer.

»Was ist?«, fragte Claudia. »Sag schon. So schlimm kann es nicht sein.« Sie strich sich über die schwarzen Haare.

»Schlimmer!« Toni gestand bedrückt, dass er sich von ihr trennen wolle. »Ich … ich habe mich in eine andere Frau verliebt.« Verlegen hob er die Schultern.

Sie starrte ihn ungläubig an. »Was?«

»Es tut mir leid«, sagte er heiser.

»Sag, dass das nicht stimmt!« Ihre Lippen vibrierten, ihr Körper bebte. Langsam begann sie zu begreifen, brach fassungslos in Tränen aus. Die schwarze Farbe ihres Mascaras lief ihr übers Gesicht. Er reichte ihr ein Taschentuch, womit sie sich schluchzend mit zitternden Händen das Gesicht abtrocknete. Nach ein paar Minuten kam sie ein wenig zur Ruhe. »Das kann’s doch nicht gewesen sein«, flennte sie und stand auf.

»Doch«, gab er kurz zur Antwort. »Es tut mir wirklich sehr leid.«

Claudia musste diese Nachricht schweren Herzens akzeptieren. Sie lief wortlos zu ihrem Wagen und fuhr weg. Toni ging zum Fenster, schaute ihr nach. Tränen stiegen ihm in die Augen. Verdammt, dachte er, das muss mir passieren. Ausgerechnet mir! Er öffnete das Fenster, schaute hinaus auf den Rasen, wo eine Amsel herumhüpfte, um wahrscheinlich einen Wurm anzulocken.

Demnächst ist wieder Mähen angesagt, wollte er sich ablenken. Es gelang ihm nicht. Toni kam sich schäbig vor.

Am nächsten Tag rief Claudia ihn an, versuchte ein letztes Mal, ihn umzustimmen.

»Nein, Claudia, es ist vorbei.« Er erklärte ihr, warum das mit Danica so plötzlich gekommen war. Sie wollte es nicht verstehen, doch er hatte sich gegen sie entschieden.

Es war ganz einfach vorbei.

Claudia Schultz war beileibe kein unbeschriebenes Blatt. Durch ihren Beruf als Journalistin bereiste sie die gesamte Bundesrepublik und die Nachbarländer Schweiz und Österreich, auch den Balkan, überwiegend Slowenien und Kroatien. Sie lernte viele Menschen kennen, darunter viele Männer. Man traf sich meistens abends in Hotelbars, wo sich so manches Techtelmechtel ergab und das Treffen sich dann oft im Hotelzimmer fortsetzte.

Aber auch zuhause hatte sie ihre Affären …

Im Jahr darauf heiratete Anton Buchinger, den jeder, der ihn kannte, Toni nannte, die attraktive Kroatin Danica Barić. In der festlich geschmückten Scheune auf seinem mit Obstbäumen bestandenen Grundstück zwischen Wiebelsbach und Frau Nauses, auf dem sich auch seine Bienenstöcke befanden, und auf dem Platz davor, wo ein großer gemauerter Grill stand, wurde bei herrlich sonnigem Wetter gebührend gefeiert. Eine imposante Kaffeetafel mit verschiedenen Sorten Kuchen, Torten und allerlei Gebäck begrüßte das Brautpaar, als es von der Trauung auf der Veste Otzberg eintraf.

Gegen Abend wurde der Grill angefeuert, Champagner und edle Weine wurden vom Cateringteam ausgeschenkt, auch die Bierzapfanlage war ununterbrochen in Betrieb.

Mit einem Wiener Walzer eröffneten Danica und Toni den Tanz. Bei vielen romantischen, auch lustigen Klängen, dargeboten von der Band EI GUDE, WIE?, die bei dieser Feier nicht fehlen durfte, konnten alle Tanzwilligen sich ausgiebig vergnügen.

Es war mit Verwandten und Freunden ein rauschendes Fest mit allen Spezialitäten, die die kroatische Halbinsel Istrien und der hessische Odenwald zu bieten hatten, das erst in den frühen Morgenstunden sein Ende fand.

Eingeladen waren auch Tonis Freund Karl Vogt und Claudia, die inzwischen mit Karl zusammen war, den sie später heiratete.

Fünfzehn Jahre später

Toni Buchinger und Danica, die nach der Heirat ihren Job in der Parfümerie aufgegeben hatte, besaßen inzwischen am Marktplatz in Groß-Umstadt ein Obst- und Gemüsegeschäft, in dem ihr vierzehnjähriger Sohn Oliver eine Lehre absolvierte. Er sollte später das Geschäft übernehmen.

Toni hatte als Imker einige Preise für seinen Honig gewonnen, den er ebenfalls im Geschäft anbot.

Auch war mit den Jahren der Alltag eingekehrt, Toni sowie Danica hatten sich verändert. Er neigte manchmal zu irgendwelchen Hirngespinsten, auch hatte er einiges an Gewicht zugelegt, die Haare wurden lichter.

Sie war immer noch schlank und hübsch, wenn sich auch kleine Lachfalten gebildet hatten, die ihr gut zu Gesicht standen. Doch auch Danica hatte ihre Marotten, die Toni zuvor von ihr nicht kannte.

Neben der Scheune war ein geräumiger Anbau errichtet worden, in dem ein Anhänger und ein betagter, noch tadellos funktionierender Traktor, sowie eine Honigschleuder und alle möglichen Gerätschaften untergebracht waren, die ein Imker für seine aufwendige Arbeit braucht. Das Grundstück war umrahmt von Sträuchern, Hecken und Bäumen. Zwischen den Bienenstöcken fand sich immer wieder mal Unkraut, das Toni bewusst nicht wahrnehmen wollte. Viele Dinge waren ihm gleichgültig, was Danica fürchterlich ärgerte. Und genau diese Gleichgültigkeit hatte Folgen. Wen wundert‘s?

Mehrere Tische und Bänke befanden sich in der Scheune, in einer Ecke stand eine Couchgarnitur mit einem ovalen Tisch.

Die Scheune diente eigentlich Familienfesten und sonstigen Feierlichkeiten. Eigentlich!

Hin und wieder spielten sich dort noch andere Dinge ab … außer Familienfesten und sonstigen Feierlichkeiten …

Der gesamte Bereich war mit Verbundsteinen gepflastert und grenzte an eine Wiese mit besagten Obstbäumen. Zahlreiche Butterblumen, Gänseblümchen und noch viele Blumen mehr wuchsen auf der Wiese, so dass die Bienen ihre Freude hatten.

Der Frühling war endgültig angekommen.

In Tonis unmittelbarer Nachbarschaft stand ein Zweifamilienhaus zum Verkauf. Karl und Claudia kauften es, Claudia ließ ihre Eltern von Hannover nach Wiebelsbach kommen. Die immer noch hübsche, blondierte Margot und der hochgewachsene Ludwig Schultz mit dem weißen, gepflegten Vollbart bezogen das Obergeschoss. Ludwig konnte manchmal barsch und unfreundlich sein, wenn er gereizt wurde und er sich ärgerte. Margot versuchte dann immer, ihn zu bremsen, was ihr meistens gelang. Im Grunde waren sie umgängliche Menschen, die keine Probleme hatten, sich dem Landleben anzupassen.

Montags beim Frühschoppen des Winzerfestes in Groß-Umstadt lernten Margot und Ludwig die Schroinemischels kennen. Zwischen den beiden Männern entwickelte sich eine Freundschaft, die später in eine Art Hassliebe umschlug. Sie hielten jedoch immer fest zusammen, wenn es um Meinungsverschiedenheiten oder gar um Streitigkeiten mit anderen ging. Hatten sie ihre Meinung durchgesetzt, kam es meistens wenig später zu einem Streit zwischen ihnen, genau wegen der Sache, die sie soeben erfolgreich beendet hatten, der jedoch nie lange dauerte. Anschließend tranken sie einige Schoppen Rotwein, mit Vorliebe trockenen Dornfelder von der Odenwälder Weininsel, wie Groß-Umstadt von den Einheimischen stolz genannt wurde, und alles war vergessen … bis zum nächsten Mal.

Ihre Frauen hielten sich dann immer zurück und ließen sie einfach in Ruhe. Margot und Emma, die Schroinemischels Emma, verstanden sich prächtig, auch wenn ihre Männer hin und wieder heftige Diskussionen führten.

Fritz, der einen ansehnlichen Bauch vor sich herschob und die um einiges kleinere, propere Emma hießen eigentlich Meier. Ganz einfach Meier. Sie wohnten in Frau Nauses (Fraa Nausisch.)

Fraa Nausisch gehörte bis zum Jahre 1971 zu Wiebelsbach (Wiwwelschboch), wurde dann zusammen mit Wiwwelschboch in die Stadt Groß-Umstadt eingegliedert.

Der Spitzname Schroinemischel (Odenwälder Dialekt) stammte aus langer Familientradition. Fritz‘ Großvater hieß mit Vornamen Michael (Mischel) und betrieb seinerzeit eine kleine Schreinerei (Schroinerei) in Fraa Nausisch, die seit seinem Tode nicht mehr existierte. Der Uzname ist geblieben. Nach wie vor hieß es in Frau Nauses und in Wiebelsbach, wenn Fritz mit seiner Frau irgendwo gesehen wurde: EI GUGG EMOL, DO KUMME DIE SCHROINEMISCHELS.

Montag, 6. Juni

Es war einer der vielen sonnigen Tage in diesem Jahr (am Nachmittag nicht mehr, da begann es, ergiebig zu regnen.)

Ein fettleibiger Kerl und eine sportlich wirkende Frau hatten die hübsche Schwarzhaarige schon seit dem frühen Morgen im Visier, beobachteten sie beim Einkaufen, waren ihr dann unauffällig gefolgt, bis sie in die Scheune Buchingers hineinging. Hinter einem Brombeerstrauch versteckten sie sich und warteten.

Wenig später sahen sie, wie ein Mann sein Fahrrad abstellte und ebenfalls hineinging. »Habe ich’s doch gewusst!«, murmelte der Dicke leise. Sie nickte. »Du hattest recht!«

Nach ungefähr zehn Minuten schlich er zur Tür, öffnete sie einen Spalt breit, lugte hinein. Sein Blick fiel auf das Paar, das sich, spärlich bekleidet, auf der Couch leidenschaftlich umarmte. Er drehte sich zu der hinter ihm stehenden Frau um, flüsterte ärgerlich: »Sie hat sich nicht geändert. Sie ist genau wie früher. Sie macht, was sie will.«

»Hast du was anderes erwartet?«, erwiderte grimmig seine Begleiterin, die jetzt auch hineinspähte. »Die wird sich nie ändern, diese Hure!« Ihre Augen blitzten. »Die hat immer nur ihren Spaß haben wollen, wobei ihr egal war, ob Männlein oder Weiblein. Ob früh oder spät. Das war noch nie anders. Das weißt du doch!«

»Klar weiß ich das«, antwortete er. Zornig ballte er die Fäuste: »Trotzdem!«

»Trotzdem! Was soll das? Wir wissen beide, dass sie an dir nicht interessiert ist. Immer noch nicht.« Sie betrachtete ihn verächtlich. »Sie war es nie gewesen. Hast du das endlich kapiert?«

»Na ja … ich habe gedacht …«

»Hör auf! Finde dich damit ab.« Sie hob die Hand: »So, das war‘s. Ich verschwinde.«

»Warum? Was soll das jetzt?« Er schaute sie erstaunt an.

»Ich wollte dir nur die Augen öffnen, weil du immer noch geglaubt hast, du hättest bei diesem Luder eine Chance.« Sie schüttelte den Kopf: »Jetzt siehst du, was los ist. Ich habe zumindest kapiert, dass sie sich nie ändern wird. Auch mir gegenüber nicht. Mir reicht's!«

Der Dicke antwortete frustriert: »Dann hau doch ab!«

»Genau das tu ich!«, entgegnete seine Begleiterin … und weg war sie.

Da er der gutaussehenden Frau schon lange nachgestellt und sie ihn immer wieder abgewiesen hatte, packte ihn jetzt der heilige Zorn. Wütend stieß er die Tür auf, das Quietschen der Scharniere ließ das Pärchen aufschrecken. Der schwergewichtige Mann stürmte mit lautem Schrei in die Scheune, marschierte zielstrebig auf das zutiefst erschrockene Paar zu, dem gar nicht bewusst wurde, wie ihm geschah. Alles ging rasend schnell. Ohne zu zögern schlug er dem Liebhaber der Frau die Faust ins Gesicht, worauf dieser zu Boden stürzte und mit blutender Nase und blutenden Lippen regungslos liegen blieb.

Die Frau konnte hastig ihr Kleid überziehen und überstürzt nach draußen fliehen. Kurzatmig verfolgte sie der dicke Kerl.

Erst nachdem sie gestrauchelt war, konnte er sie fassen, wollte sie mit seinem Hosengürtel, den er eilig abgenommen hatte, erwürgen. Mit einer geschickten Drehung befreite sie sich aus seiner Umklammerung und riss nach einem gezielten Tritt in den Unterleib dem tollpatschigen Dicken den Gürtel aus der Hand. Er schrie laut auf, sie schlang ihm blitzschnell den Gürtel um den Hals und zog mit aller Kraft zu. Der ungelenke Mann stolperte gegen einen der Bienenstöcke, warf den Stock um, bevor er röchelnd zu Boden fiel, wobei er versuchte, den Gürtel mit der Hand zu lockern. Dabei blieb er am Kragen seines Hemdes hängen und riss sämtliche Knöpfe ab.

Geistesgegenwärtig ergriff sie einen abgebrochenen Ast, der unter einem Birnbaum lag, schlug ihm damit mehrere Male gegen den Kopf. Mit weit aufgerissenen Augen blieb er erstarrt mit dem Kopf auf dem gepflasterten Teil des Grundstücks liegen. Blut trat aus einer Wunde und tropfte auf das Pflaster.

Nach Luft ringend ließ die wütende Frau den Ast fallen, stemmte für wenige Augenblicke die Arme in die Hüften, legte den Kopf in den Nacken, schloss die Augen. Die schwarzen Haare hingen ihr wirr ins verschwitzte Gesicht.

Ungestüm schwärmten die Bienen aus dem umgefallenen Stock, stachen auf den jetzt entblößten Oberkörper des Störenfrieds ein. Auch die Frau hatte Stiche von den übernervösen Bienen abbekommen, was sie in ihrer Aufgeregtheit zunächst nicht wahrnahm. Die Bienen, die zugestochen hatten, hatten sich bald verflüchtigt, um naturgemäß irgendwann irgendwo zu verenden.

Sie sah, dass der Eindringling am ganzen Oberkörper zerstochen war. Zunge und Hals waren ebenfalls zerstochen und angeschwollen. Sie ertastete seine Halsschlagader. Mein Gott, kein Puls! »Der ist tot!«, keuchte sie fassungslos. Verzweifelt schlug sie die Hände vors Gesicht.

In panischer Angst hastete sie zurück in die Scheune, sah ihren Liebhaber, immer noch bewusstlos, mit blutüberströmtem Gesicht am Boden liegen. Als sie laut »Wach auf, wach auf!« schrie, ihm die Wangen tätschelte und ihn rüttelte, kam er langsam zu sich. Stöhnend richtete er sich auf. »Was … was ist passiert?«, fragte er mit verwaschener Stimme und flatternden Augenlidern. Sie drückte ein Taschentuch fest auf seine blutenden Lippen, presste ein weiteres unter seine Nase, die auch immer noch blutete. Auch auf seinen Oberkörper war Blut getropft.

»Schnell! Steh auf! Der ist tot!« Völlig außer Atem japste sie: »Der muss weg!«

«Tot? Wer ist tot? Wer muss weg? Wovon redest du?« Er schaute sie verstört an, wischte sich übers Gesicht. Ungläubig starrte er auf seine Hand, die jetzt auch voller Blut war.

»Der ist tot!«, wiederholte sie laut. »Der Dicke!«

»Wer?«

»Der dicke Kerl ist tot! Ich habe ihn umgebracht … oder es waren die Bienen … was weiß ich!« Sie schrie mit sich überschlagender Stimme: »Der muss weg!«

»Nicht so laut!« Sein Kopf dröhnte, er schüttelte sich, versuchte, klare Gedanken zu fassen. Langsam erholte er sich, sein Gedächtnis kam zurück, er konnte sich nun an den in die Scheune walzenden Mann erinnern. Mehr hatte er nicht mitbekommen, dessen Schlag hatte ihn mit voller Wucht getroffen. Sie erklärte ihm, vollkommen außer sich, was geschehen war.

Erst jetzt spürte sie, dass sie fünf Stiche von den Bienen abbekommen hatte.

»Du musst den wegschaffen!«, beschwor sie ihn mit tränenden Augen, während sie stöhnend die Stacheln an beiden leicht angeschwollenen Armen mit den Daumennägeln entfernte.

»Jaja, klar, ich … ich muss erst mein Auto holen«, nuschelte er und erhob sich langsam, vorsichtig sein schmerzendes Gesicht abtastend, das nach und nach mehrere Farben annahm. Glücklicherweise waren wenigstens die Blutungen weitgehend gestillt.

»Beeil dich!«, schluchzte sie, reichte ihm ein Taschentuch. Immer noch benommen wischte er sich damit das Blut von Gesicht, Hand und Brust, zog sich ächzend an, folgte ihr mit schleppenden Schritten hinaus, wo der Tote lag, beugte sich zu ihm hinunter. Fassungslos stammelte er. »Du … du … du hast …! Hast … hast du ihn wirklich umgebracht?«

»Wahrscheinlich« flennte sie, »deshalb muss er weg. Schnell!«

»Ja doch!« Er fasste sich mit beiden Händen an den dröhnenden Kopf. »Ich mach ja schon.«

Sie tupfte sich die Tränen aus den Augen, schaute ihn an. »Hast was gut bei mir.«

»Immer?«

»Wann immer du willst«, flüsterte sie erschöpft.

Die läutenden Kirchenglocken erinnerten sie daran, dass es zwölf Uhr war. Der Zwischenfall hatte ihren Plan durcheinandergebracht. Jetzt war sie in Eile, Kochen musste heute schnell gehen. Ihr Mann bestand auf pünktliches Mittagessen. Sie entschied sich für Eier mit Speck und Brot.

Wer hätte geglaubt, dass so etwas passiert? dachte sie verbittert.

»Hol dein Auto! Ich fahr nach Hause, bevor mich hier jemand sieht«, sagte sie noch schnell zu ihrem Liebhaber.

»Ja, mach, dass du wegkommst«, antwortete er kraftlos, setzte sich auf einen der Findlinge, die in Abständen die Grenze zwischen Pflaster und Wiese markierten. Während er tief durchatmete, dachte er darüber nach, wie es weitergehen sollte.

Ihm wurde bewusst, dass er den dicken, schweren Mann nicht allein würde tragen können. Er versuchte mehrfach, seine Geliebte anzurufen, die soeben weggefahren war. Sie nahm nicht ab. Enttäuscht wählte er eine andere Nummer. Besetzt! »Verdammt!«, fluchte er, versuchte es weiter.

Mit seinem Mountainbike hetzte der Blonde in rasender Fahrt über die schmale Straße Richtung Wiebelsbach. Sein Kopf dröhnte immer noch. Dass zwei ältere Damen dort spazieren gingen, fiel ihm in seiner Eile erst auf, als es fast zu spät war.

Der Biker war knapp an den Frauen vorbeigerast, was diese heftig erzittern ließ. Eine fasste sich seufzend ans Herz, musste sich an den Wegesrand setzen. Die andere redete ihr zu: »Mach nicht schlapp, Elsbeth.« Wenig später konnten sie ihren Weg fortsetzen. Elsbeth ging es wieder gut. »So ein Vollidiot!«, beklagte sie sich.

»Aber wirklich! Ich muss schon sagen …«, pflichtete Margarete ihr bei.

Beide waren sehr verärgert über den egoistischen Radfahrer.

Der Hobbyimker Toni Buchinger kam am frühen Nachmittag zu seinem krankgeschriebenen Freund und Nachbarn, der auf der Bank im Garten seines Hauses saß. Aufgeregt sprang er aus dem Wagen, eilte auf ihn zu. Karl Vogt sah ihn schon von weitem kommen und erhob sich langsam, denn schnell konnte er nicht, die Gicht plagte ihn. Beide Knie waren in Mitleidenschaft gezogen, dazu neuerdings die linke große Fußzehe.

»Ich … ich muss dir was …, ganz schlimm, ganz schlimm, sag ich dir«, sprudelte es aus Toni nur so heraus, als er mit großen Schritten durch das niedrige Holztürchen in den Garten stürmte.

»Du hast mir gerade noch gefehlt«, brummte Karl unfreundlich, schaute ihn mit zusammengebissenen Zähnen wehleidig an.

»Jetzt bin ich ja da«, meinte Toni ungerührt. Karl rollte die Augen.

»Ich wäre schon eher gekommen, aber wir haben vorhin erst zu Mittag gegessen. Wir waren heute spät dran«, sagte Toni.

»Wir auch. Es war schon nach zwölf«, entgegnete Karl mürrisch. »Ich habe…« Er winkte ab.

Toni wischte sich schnaufend über die Stirn, verzog den Mund: »Au weh! Haste wieder ‘n Anfall?«

»Mann, Mann, das kannste laut sagen«, stöhnte Karl.

»Haste wieder ‘n Anfall?«, schrie Toni laut.

Karl rollte erneut die Augen: »Schrei nicht so! Ich bin nicht taub!«

»Du hast eben gesagt, ich könnte … ach so!«

Karl schüttelte den Kopf. »Toni, Toni! Du kapierst mal wieder gar nichts.«

Toni schaute jetzt ziemlich belämmert drein. »Tut mir leid. Ich …«

»Vergiss es!« Karl wetterte: »Egal, was ich esse und trinke, ich komm von dieser verdammten Gicht nicht los. Es wird immer schlimmer. Jetzt auch noch der große Onkel. Es ist zum Kotzen!«

»Du bist zu dick!«, bemerkte Toni trocken. »Dann passiert sowas.«

»Zu dick! Das musst gerade du sagen.« Karl schaute auf: »Arbeitest du heute nicht? Es ist Montag, nicht Sonntag.«

»Ich weiß, dass Montag ist. Oliver ist im Laden«, antwortete Toni. »Ich habe mal nach den Bienen gesehen.« Mit einem Mal war er wieder ganz aufgeregt. »Ich kann dir sagen, was ich da …«

Karl interessierte im Moment nicht, was Toni ihm erzählen wollte. Er hatte andere Probleme, unterbrach ihn stöhnend: »Saublöde Gicht! Es gibt nichts Schlimmeres.«

»Du … du … du wirst es nicht glauben«, stotterte Toni, »es … es gibt noch Schlimmeres.« Er fuhr sich fieberhaft über das feuerrot angelaufene Gesicht. Seine Augenlider zuckten unkontrolliert. »Was ich …«

Karl unterbrach ihn wieder. »Noch Schlimmeres? Das kann ich mir nur schwer vorstellen. Was glaubst du, was ich aushalten muss? Was soll da noch schlimmer sein?« Er setzte sich ächzend wieder auf die Bank, sah Toni mit schmerzverzerrtem Gesicht an, wies auf den Platz neben sich, sagte leise: »Setz dich her.« Er hob die Hand. »Oder warte, hol uns erst was zu trinken. Ich kann im Moment nicht so gut laufen. Claudia ist zum Einkaufen gefahren. Ich weiß nicht, wo die so lange bleibt. Heute Vormittag war sie schon mal weg.« Ihm fiel ein: »Komisch, sie hat gar nicht gesagt, wo sie war.« Abwinkend meinte er. »Naja, ist auch wurscht.« Er blickte Toni an, sagte: »Du siehst, wir müssen uns selbst bedienen, das heißt, du musst uns ...«

»Hat Claudia Urlaub?«, fiel Toni ihm ins Wort.

»Nein. Warum fragst du?«

»Ei ja, weil sie nicht auf der Arbeit ist?«

»Sie ist seit einiger Zeit freie Journalistin. Das weißt du doch.«

»Ach so, ja. Hatte es vergessen. Aber sie schreibt noch, oder?«

»Ja klar, allerdings hat sie sich ziemlich zurückgezogen. Ab und zu schreibt sie für verschiedene Zeitungen Reportagen über Amateursportvereine. Nach den kleinen Vereinen fragt doch keiner. Alle sind immer nur an den Proficlubs interessiert. Sie findet das sehr schade. Ich übrigens auch. Claudia …«

»Ich auch«, meinte Toni beipflichtend.

»Gut! Du auch!« Karl runzelte verärgert die Stirn. Der mit seinen Unterbrechungen. Mann! Er setzte seine Rede fort. »Claudia versucht, nicht nur die sportlichen Ereignisse, sondern auch die Sorgen der kleinen Vereine zu veröffentlichen. Dazu kommt …«

»Geht mir genau so, ich mache mir auch Sorgen um die kleinen Vereine, besonders um unseren Imkerverein.

Der …«

»Ist ja schon gut«, schnaubte Karl. »So, und jetzt geh Bier holen.«

Toni nickte, ging ins Haus, holte zwei Flaschen Bier aus dem Kühlschrank in der Küche, setzte sich neben seinen Freund, reichte ihm eine. Sie stießen an, ließen sich das frische Pils schmecken.

Karl schaute an sich herunter. Zu dick? Hm!

»Wie lange bist du noch krankgeschrieben?«, fragte Toni. Er schien vergessen zu haben, was er Karl so Wichtiges mitteilen wollte.

Karl hob die Achseln. »Ich weiß es nicht. Momentan kann ich absolut nicht arbeiten. Als Lokführer! Da muss man fit sein, verstehste?«

»Na ja, die Bahn wird auch ohne dich zurechtkommen«, meinte Toni lapidar. »Deinetwegen wird keine Fahrt ausfallen.«

»Moment!«, entgegnete Karl wichtigtuerisch. »Es ist mir ein Rätsel, wie die mich ersetzen wollen, bis ich wieder arbeitsfähig bin. Bei dem Personalmangel heutzutage.« Er zog eine Grimasse. Die Gicht!

Seine Frau kam zurück. Sie schaute kurz zu den Männern hinüber. »Ei, der Bienen-Toni!«, rief sie, öffnete den Kofferraum ihres Wagens, nahm den Einkaufskorb heraus. »Sekunde, ich bin gleich wieder da.« Sie brachte den Korb ins Haus, ging dann hinaus in den Garten. »Wie geht’s?«

Toni wiegte den Kopf. Die hübsch anzusehende, gut gebaute Dreiundvierzigjährige ging auf die Männer zu, die mit Mitleid erregenden Gesichtern auf der Bank saßen. Resolut sagte sie: »Was ist denn mit euch los? Seid ihr dem Leibhaftigen begegnet?« Sie schmunzelte: »Was ich euch ja mal gönnen würde. Und du, Toni, du brauchst den da«, sie deutete auf ihren Mann, »du brauchst den da überhaupt nicht zu bedauern. Der ist selbst schuld an seiner Gicht.«

Karl brauste auf: »So ist es nun auch wieder nicht.«

Toni hob den Zeigefinger, wollte unterbrechen. Offensichtlich erinnerte er sich jetzt daran, weshalb er hergekommen war. Claudia ließ sich jedoch nicht beirren. »Doch, so ist es«, beharrte sie. »Es ist bekannt, dass früher Kaiser und Könige und alle Reichen von der Gicht heimgesucht worden sind. Das Fußvolk hat darunter nicht leiden müssen. Dafür haben die am Hungertuch genagt. Ein altes Lied.«

»Na, na, Claudia, nun mach mal langsam«, warf ihr Mann ein, »reich bin ich schon gar nicht. Außerdem waren das andere Zeiten.«

»Im Grunde hat sich da nichts geändert. Die Oberen haben gefressen und gesoffen, dass die Schwarte krachte, während ihre Untertanen auf einem Ranken Brot rumgebissen haben und froh waren, wenn sie sauberes Trinkwasser hatten. Wenn es hochkam, hatten die mal noch ein paar Kartoffeln und vielleicht ein Stückchen Fleisch. Nur vielleicht! Das hatten sie meistens noch gestohlen. Und wehe, sie sind dabei erwischt worden, dann …«

»Es reicht, Claudia!«, unterbrach Karl ärgerlich. Claudia war nicht aufzuhalten. »Du machst die gleichen Fehler wie damals die Großkopferten. Mach nur so weiter, friss dich immer voller. Dann jubelt deine Gicht umso mehr. Das ist nämlich eine Wohlstandskrankheit. Dir geht’s zu gut, mein Lieber! Wir werden einiges ändern müssen. Zum Beispiel deine Ess- und Trinkgewohnheiten. So geht es mit dir nicht weiter«, schimpfte sie. »Ein bisschen Sport würde dir gewiss auch nicht schaden.« Jetzt hob sie den Zeigefinger: »Ich habe schon …«

»Ich habe gesagt, es reicht!«, fiel Karl erneut seiner besseren Hälfte ins Wort. Er fuhr sie an: »Wo warst du eigentlich heute Morgen? Du warst auf einmal verschwunden.«

»Ich war beim Schuster«, konterte sie. »Hat halt ‘ne Weile gedauert, bis ich drankam. Vor mir waren noch die Merkers Gerda und die Müllers Lotte. Du weißt ja, was Leo für ein Laberer ist. Ganz besonders, wenn Frauen da sind.«

»Was hast du beim Schusterhannese Leo gemacht?«

»Du nervst, Karl! Deine schwarzen Schuhe müssen neu besohlt werden.« Sie blickte ihn vorwurfsvoll an. »Dir fällt ja so etwas nicht auf. Du würdest es nicht mal merken, wenn keine Sohlen mehr dran wären.«

»Quatsch!« Er maulte: «Du hättest ruhig was sagen können.«

«Hätte ich auch getan, wenn du nicht mehr geschlafen hättest. Wenn ich dich geweckt hätte, wäre es auch nicht recht gewesen, oder?«, gab sie zur Antwort. »Außerdem war ich noch beim Bäcker.«

»Ach!« Er schob seine Brille auf die langsam ins Grau übergehenden, lichten Haare. »Was hast du beim Bäcker gemacht? Vorhin hast du noch gesagt, ich müsste abnehmen. Dazu würden Brötchen und Kuchen nicht gut passen, oder was hast du von dem mitgebracht?«

»Ein Stück Schwarzwälder Kirsch und ein Stück Bienenstich für heute Nachmittag.«

Karl lachte. »Sag ich doch! Das passt nicht zu deiner Theorie.«

»Oh doch! Es passt zu meiner Theorie. Hundertprozentig!« Sie grinste ihren Mann ironisch an: »Der Kuchen ist für mich.«

Karl schürzte die Lippen. »Meinst du nicht, du würdest ein bisschen übertreiben?«, sagte er kleinlaut. »So dick bin ich nun auch wieder nicht, dass ich auf alles verzichten muss.«

»Nicht auf alles, nur auf so manches!« Claudia richtete ihren Blick auf Toni, der auch nicht gerade schmal war. »Dich habe ich auch schon mal schlanker gesehen. Es wäre sicher kein Fehler, wenn du ein paar Gramm weniger auf den Rippen hättest.«

»Jetzt hör bloß auf«, empörte sich Toni mit saurer Miene. »Schlanker war ich früher mal. Außerdem geht dich mein Aussehen nichts an. Ich bin nicht hier, um dir meinen Körper zu präsentieren.« Er holte tief Luft, platzte heraus: »Bei meinen Bienenstöcken liegt ein Toter.«

»Was?« Karl schaute seinen Freund betroffen an. »Was sagst du da?«

»Du hast richtig gehört, Karl.« Der Imker senkte den Kopf.

»Warum hast du das nicht gleich gesagt, Mensch?« Claudia setzte sich neben ihren Mann.

»Ihr habt mich ja nicht zu Wort kommen lassen.« Toni begann zu schwitzen, wischte sich über die feuchte Stirn. »Und du«, er blickte Claudia erbost an, »du hast uns einen Vortrag gehalten, der niemanden interessiert.« Mürrisch setzte er hinzu: »Und mich schon gar nicht.« Er stand schwerfällig auf, murmelte: »Ich weiß nicht, was ich machen soll.«

»Hast … hast du ihn umgebracht?«, stammelte Claudia leise mit jetzt wachsbleichem Gesicht.

»Wen?«, fragte Karl und starrte sie an.

»Den Toten«, gab sie tonlos, die Hände hebend, zur Antwort.

»Der war doch schon tot, oder?« Verständnislos sah Karl seinem Freund ins stoppelbärtige Gesicht.

»Ja, klar«, erwiderte Claudia ungeduldig, »ich habe Toni ja nur gefragt, ob er ihn umgebracht hat.« Ihr Herz begann, schneller zu schlagen.

»Den Toten? Der war doch schon …« Karl kniff die Augen zusammen.

Claudia kratzte sich nervös an der Wange. »Mann, bis du was begreifst. Du kommst in die Jahre, Karl.«

»Unsinn! Es ist die verdammte Gicht. Die macht mich verrückt«, stöhnte er.

»Was ist jetzt, Toni, hast du den Toten umgebracht?«, fragte sie eindringlich.

»Was … was redest du denn für einen Stuss, Claudia?« Toni stieß den Kopf vor. »Der … der war doch schon tot.« Er fügte hinzu: »Ach so, du meinst … Du spinnst doch!«

»Wie jetzt?« Claudia blickte ihn verwirrt an.

»Was?«

»Der war schon … stimmt! Das hast du gesagt.« Claudia nickte heftig.

»Genau!« Toni Buchinger verdrehte die Augen.

Karl schob die Unterlippe vor, brummelte: »Jetzt weiß ich gar nichts mehr.«

»Als ob du jemals was begriffen hättest. Hätte mich auch gewundert.« Toni betonte laut und deutlich: »Der war schon tot, als ich zu den Bienenstöcken gekommen bin.«

»Der Tote!« Karl zupfte sich unsicher an der Nase. Toni schlug genervt die Hände vors Gesicht: »Ja, der Tote!«, brachte er mühsam über die Lippen. »Der war noch dicker als du.«

»Schau mal in den Spiegel«, moserte Karl beleidigt. »Du bist auch nicht viel dünner.«

»Wie aufgebläht war der«, fuhr Toni dessen ungeachtet fort. »Der ist vermutlich erwürgt worden. Ein Gürtel hing um seinen Hals. Oder er ist von den Bienen totgestochen worden, oder erstickt, oder … was weiß ich.«

Karl schob abermals die Unterlippe vor: »Der Tote! Mhm!« Er schloss die Augen, rieb sich nachdenklich die Stirn.

Toni blies die Backen auf, knurrte ungehalten: »Ja, der Tote! Seine Zunge war dick angeschwollen. Sein Hals auch.«

Karl sah plötzlich auf, als habe er erst jetzt verstanden, um was es geht. »Wir müssen sofort die Polizei verständigen«, meinte er aufgeregt. »Die haben doch so einen … einen Untersuchungsdienst.«

»Ja, die haben so einen Untersuchungsdienst.« Toni war mit den Nerven am Ende. »Wenn ich die Polizei anrufe, werden die als erstes mich verdächtigen.«

»Ganz recht! Ruf die bloß nicht an! Die denken dann, du hättest die Bienen auf ihn gehetzt«, warf Claudia ein. Vorsichtig fragte sie ihn: »Hast du?«

»Was?« Toni schaute sie verwirrt an.

»Die Bienen auf ihn gehetzt?«

»Auf wen?«, fragte Karl mit gerunzelter Stirn.

»Auf den Toten, du Hirni«, grantelte Claudia ungehalten. Der schnallt mal wieder gar nix!

»Toni hat doch gesagt, der wäre schon …« Karl verstummte. Er blickte nicht mehr durch.

Toni sah Claudia grimmig an: »Die Bienen auf ihn gehetzt! So einen Blödsinn habe ich mein Lebtag noch nicht gehört. Warum hätte ich das tun sollen? Ihr seid mir eine große Hilfe. Ich wäre besser nicht hergekommen.« Er wandte sich zum Gehen.

Claudia sprang auf, nahm ihn am Arm: »Bleib hier, Toni. Wir wollen dir ja helfen. Wir müssen uns was einfallen lassen. Hast du Danica Bescheid gesagt?«

Der Imker zog die Stirn in Falten: »Nein, ich wollte sie nicht beunruhigen.«

»Ach ja? Aber uns! Uns kannst du beunruhigen!«, motzte sie aufgeregt.

»Na ja, ich … ich … habe gedacht …«

»Oh! Du hast gedacht! Seit wann denkst du? Ich war immer der Meinung, du lässt denken. Von Danica!« Sie winkte ab: »Ist jetzt schnuppe.« Nachdenklich fuhr sie sich über die schwarzen, halblangen Haare.

»Wir lassen den Toten verschwinden«, sagte sie plötzlich. Karl, der sich mit verzerrtem Gesicht auf eine Lehne der Bank gestützt hatte, sah auf. »Bist du wahnsinnig?«, empörte er sich stöhnend, »das ist gegen das Gesetz.«

»Weißt du was Besseres?«, motzte seine Frau. »Ach so, stimmt ja. Du weißt zwar nichts, doch du weißt alles besser.«

Karl fiel die Kinnlade runter, er fuhr sie an: »Du hättest im Haus bleiben sollen. Dann hätten wir uns dein Geschwätz nicht anhören müssen.« Er knurrte schlecht gelaunt: »So! Genug!« und haute mit der Faust auf den Tisch, dass sein Freund Toni zusammenfuhr. Dieser sagte leise: »Hört auf zu streiten. Das nützt am allerwenigsten.« Er tippte sich mehrfach mit dem Zeigefinger versonnen an die Lippen, meinte dann: »Claudia hat vielleicht recht.«

»Jetzt aber!« begehrte Karl auf und wollte von der Bank hochschnellen. Die Gicht zwang ihn, sitzen zu bleiben. Er wollte weiter protestieren, da schob sein Schwiegervater, der vierundsiebzigjährige Ludwig Schultz laut fluchend sein Fahrrad durchs Gartentürchen. Schlagartig waren alle still. Ludwig räusperte sich mit bösem Blick: »Habt ihr’s von mir gehabt, weil ihr so ruhig seid?«

»Ach was, Papa!«, antwortete Claudia. Sie schaute ihn fragend an: »Wieso schiebst du dein Rad?«

»Der alte Hirsch hat ‘nen Platten.« Er zog an dem Zigarrenstummel, der zwischen seinen Lippen hing, blies den Rauch aus … genau in Karls Gesicht. Der hustete, wedelte den Qualm vor seiner Nase weg, murmelte: »Als hätte man nicht schon genug Probleme.«

»Wie meinen?« Sein Schwiegervater blickte geringschätzig an ihm hoch. Karl verzog den Mund.

»Ich wollte zum Schroinemischels Fritz nach Frau Nauses, plötzlich habe ich gemerkt, dass ich auf den Felgen gefahren bin«, wetterte Ludwig. »Ständig ist was anderes mit dem alten Vehikel.«

»Stell das Rad in die Garage. Ich flicke später den Platten«, bot Karl an.

»Hör mir bloß auf. Du mit deiner Gicht. Ich mach das schon selbst.« Ludwig stellte ächzend das Fahrrad auf den Kopf, begann, das Vorderrad abzumontieren.

»Sei froh, dass er es selbst macht«, flüsterte Claudia ihrem Mann zu, »dem kannst du eh nichts recht machen.«

Karl nickte, Toni grinste: »Die Alten! Kenn ich.«

»Wir haben eigentlich etwas anderes vor«, erinnerte Claudia.

»Ja, richtig!« Toni wandte sich ihr zu »Was machen wir mit dem Dicken?« Das Wort TOTEN nannte er absichtlich nicht. Er hatte Bedenken, Ludwig könne es hören.

Ludwig hatte tatsächlich etwas mitbekommen, er hatte es nur anders verstanden. »Der soll nicht so viel fressen!« Er betrachtete seinen Schwiegersohn einen Moment lang, sagte verächtlich: »Du wirst immer fetter. Eines Tages wirst du platzen.«

Karl war sauer, wollte eine passende Antwort geben. Er verzichtete darauf. Warum soll ich mich mit ihm anlegen?