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Frank Stebes Forschergeist erwacht zu neuem Leben, als vor der Ostseeinsel Bornholm ein rätselhaftes Schiffswrack entdeckt wird. Doch der Tauchgang in die Unterwasserwelt bringt ihn nicht nur seinem einstigen Traum näher, der Entdeckung des sagenumwobenen Nibelungenschatzes – plötzlich steht er auch im Fadenkreuz einer fanatischen Organisation, die vor nichts zurückschreckt. Thorsten Oliver Rehms hochkarätiges Roman-Debüt setzt Puzzleteile zusammen, die seit jeher Forscher und Wissenschaftler gleichermaßen in ihren Bann ziehen. Frank Stebe wird von einem ehemaligen Forschungskollegen zu Hilfe geholt, dieser steht vor einem Rätsel: Schiffstyp und Fundstücke eines in der Ostsee aufgespürten Wracks ergeben keinen Sinn. Als Frank selbst dann ein antikes römisches Schwert samt Reitermaske aus der Tiefe holt, wird seine gewagte Theorie allmählich zur Gewissheit – und die uralte Sage vom Nibelungenschatz zu einer gefährlichen Realität. Denn nicht nur in Wissenschaftskreisen schlägt ihm Misstrauen entgegen; von anderer Seite droht eine viel größere Gefahr: Eine fanatisch-nationalistische Organisation operiert unerkannt und im Geheimen. Sie versucht nicht nur, an das legendäre Gold zu gelangen – durch das magische Schwert und die sagenumwobene Tarnkappe des Drachentöters Siegfried will sie uneingeschränkte Macht erlangen! Als Frank begreift, welche Türen seine Entdeckungen aufgestoßen haben, ist es fast zu spät.
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Seitenzahl: 584
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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Alle in diesem Buch geschilderten Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären zufällig und nicht beabsichtigt.
ISBN 978-3-920793-30-6
ISBN 978-3-920793-40-5 (epub)
ISBN 978-3-920793-41-2 (mobi)
Copyright © Ruhland Verlag, Bad Soden 2017
Thorsten Oliver Rehm, Der Bornholm-Code
Lektorat: G. Lentzen BGP
Umschlagbild: © cihancagli / istockphoto LP
Alle Rechte vorbehalten.
www.ruhland-verlag.de
Thorsten Oliver Rehm
Der Bornholm-Code
Roman
Ruhland Verlag
Für den Glauben. Die Hoffnung. Und die Liebe.
Und für meine Frau und unsere Kinder.
Ruf aus der Vergangenheit
»Seid ihr bereit, in eine andere Welt einzutauchen?«
Frank Stebe sah seinen Tauchschülern tief in die Augen. Die Mischung aus Vorfreude und Anspannung, die er in ihren Gesichtern entdeckte, rief selbst in ihm ein Kribbeln hervor.
»Ich muss euch warnen, Tauchen kann süchtig machen. Noch könnt ihr euch für ein weniger fesselndes Hobby entscheiden und hier abbrechen«, scherzte Frank, worauf allgemeines Gelächter folgte. Frank wusste um die übliche Nervosität der Lehrgangsteilnehmer. Seine lockere Art tat ihnen gut.
»Also, los geht’s. Baut bitte eure Ausrüstungen zusammen und dann machen wir das Briefing.«
Beschwingte Samba-Rhythmen kündigten einen Anruf an.
Frank schritt über das Deck des Tauchbootes, auf dem sie in einer verträumten Bucht Mallorcas vor Anker lagen. Dort unterhielt er eine Tauchbasis, Ableger seiner Hauptbasis im Allgäu, die seit zehn Jahren sein beruflicher Mittelpunkt war. Frank griff nach seinem Handy auf dem Tisch, an dem sie kurz zuvor gemeinsam gefrühstückt hatten.
»Zeichne schon mal die Tauchgangsplanung auf die Schreibtafel«, wies er seinen Assistenten Ralf Jansen an, der gerade unter Deck hervorkam. Frank und Ralf hatten sich vor Jahren beim Tauchen kennengelernt, es war eine intensive Freundschaft entstanden. Vor drei Jahren ließ sich Ralf von Frank zum Tauchlehrer ausbilden und half nun hin und wieder aus.
»Mach ich.« Ralf griff gut gelaunt nach der Schreibkreide.
»Stebe«, meldete sich Frank knapp, aber freundlich.
»Lars hier«, erklang eine vertraute Stimme.
»Lars? Was für eine Überraschung. Lange her, seit wir uns zuletzt gesprochen haben. Wie geht es dir?«
»Ich stecke gerade mitten in einem Projekt vor Bornholm, deswegen ruf ich auch an.«
Franks eben noch angenehmes Kribbeln im Bauch wich einem flauen Gefühl. Bornholm. Ostsee. Damit verband er Erlebnisse, die er seit über zehn Jahren zu verdrängen versuchte. Adrenalin schoss ihm in die Blutbahn. Seine Gelassenheit wich einem Zustand der Anspannung und Verwirrung. Gedankenblitze am Gefühlshorizont.
Offensichtlich rief sein früherer Kollege Lars nicht an, um sich mit ihm auf ein Bier zu verabreden.
»Kannst du kommen?«, fragte Lars ohne Umschweife.
»Warum sollte ich? Du weißt, dass ich mit dem Institut nichts mehr zu tun haben will. Damit habe ich abgeschlossen.«
»Ich benötige dringend deine Hilfe«, sagte Lars.
»Wie stellst du dir das vor? Ich bin nicht mehr dabei. Außerdem bin ich mit meiner Kursgruppe in Spanien. Ihr habt doch Leute, du vornean.«
Eine kurze Pause entstand. Dann brach Lars die Stille:
»Wir sind wieder im Spiel, mein Guter.« Er sprach die Worte bedächtig aus, als wolle er eine besondere Wirkung erzielen. Was ihm auch gelang, denn Frank wusste sofort, was Lars meinte. Frank verstummte, aber innerlich schrie er auf.
~
Lars schaltete das Satellitentelefon aus. Gedankenverloren strich er mit der Hand über seine Bartstoppeln und blickte auf die an diesem Tag raue See. Trotz des Seegangs hatten die Forschungstaucher seines Teams heute die übliche Anzahl Tauchgänge unternommen. Die Zeit für das Projekt war knapp bemessen, jeder Tag auf See kostete riesige Summen. Der Etat für diese Expedition war nur widerwillig genehmigt worden. Umso effizienter musste die Mannschaft arbeiten, wenn er eine Chance auf Verlängerung des Projekts haben wollte. Seit den gestrigen Ergebnissen wusste er, dass die angesetzten elf Tage auf See nicht reichen würden.
Er schlenderte zum Heck der »Baltic Sea Explorer I«, dem besten Forschungsschiff des archäologischen Instituts, für das er seit nunmehr dreizehn Jahren tätig war. Das Gespräch mit Frank war ein Flop gewesen. Lars hätte darauf gewettet, dass er seinen früheren Partner aus der Reserve locken würde, doch dessen war er sich nun nicht mehr sicher. Zweifelsohne waren sie hier, vor der Küste der dänischen Ostseeinsel Bornholm, auf sensationelle Funde gestoßen. Diese würden ihn auf die nächste Sprosse seiner Karriereleiter führen. Doch ihm fehlten die entscheidenden Teile im Puzzle. Alles hier ergab für ihn in archäologischer und historischer Hinsicht noch keinen Sinn. Er brauchte Frank – seine Kompetenz, seine Erfahrung, und vor allem seinen Riecher!
Franks wissenschaftliche Spürnase hatte sie beide immer zum Erfolg geführt. Fast immer zumindest, denn bei ihrem letzten gemeinsamen Projekt war es anders gelaufen; doch sie würden an dem damaligen Punkt wieder anknüpfen. Da war sich Lars sicher! Ja, er war auf eine heiße Spur gestoßen, auch wenn er noch nicht einschätzen konnte, wohin sie ihn führen würde.
»Dr. Behrends! Dr. Behrends!«, rief ein Mann aus der Tauchereinheit aufgeregt. »Kommen Sie schnell! Das müssen Sie sich ansehen!«
An Bord befanden sich Salzwasserbecken. Dort legten sie die aus dem Meer geborgenen Fundstücke ein, um sie möglichst unter Luftabschluss zu halten. Lars sah ein paar Leute des Teams um eines der Becken stehen und debattieren.
Als er in die große Wanne blickte, weiteten sich seine Augen. Er zog Handschuhe über und nahm eines der Objekte aus dem Bottich heraus.
»Das kann nicht sein«, die Stimme versagte ihm. Lars räusperte sich. »Aus welchem Wrack habt ihr es?«
»Aus Wrack B«, antwortete ein anderer Taucher, der sich gerade aus seinem Trockentauchanzug pellte.
Lars erstarrte.
»Das kann nicht sein«, wiederholte er benommen, wohl wissend, dass es doch so war – denn der Crew unterliefen bei den Aufzeichnungen keine Fehler. Trotz seiner Funktionsjacke bekam er eine Gänsehaut. »Das kann einfach nicht sein.«
~
Nach zehn Tagen Mallorca wieder in Deutschland angekommen, war Frank soeben dabei, seinen Koffer auszupacken. Der Tauchkurs war ein voller Erfolg gewesen. Alle Teilnehmer hatten mit Bravour bestanden und fanden von Anfang an so viel Gefallen an ihrem neuen Hobby, dass sie Franks Tauchclub beitraten. Für die frischgebackenen Taucher war es das Beste, wenn sie am Ball bleiben, Erfahrung und Routine sammeln und weiterführende Kurse absolvierten. Für Frank wiederum war diese Phase die eigentlich gewinnbringende.
Die Anfängerkurse waren so knapp kalkuliert, dass kaum Profit absprang. Erst die Taucherzukunft der Neulinge brachte etwas ein – vor allem dann, wenn die Tauchsprösslinge ihre Ausrüstung in seinem Tauch-Shop kauften. Nach dem Durchlaufen der offiziellen Kurse genossen sie im Gegenzug seine Tauchlehrerkompetenz. Frank, Freund von Win-win-Situationen, besaß den Erfolgsschlüssel eines Tauchbasisbesitzers. Zudem bot er mit seiner Basis auf Mallorca für den Tauchernachwuchs eine beliebte Anlaufstelle für Urlaubszeiten. Auch Taucher, die nicht bei ihm gelernt hatten, waren jederzeit willkommen und erschienen zahlreich, denn er wurde von seinen Schülern regelmäßig weiterempfohlen. Ansonsten arbeitete er mit Reiseveranstaltern und einheimischen Hotels zusammen, die keine eigene Tauchbasis boten, und sorgte für Internetpräsenz. Mit einem stetigen Basiszulauf versah ihn jedoch die gewogene Mund-zu-Mund-Propaganda.
Während er nun ein Kleidungsstück nach dem anderen in den Wäschekorb legte, wanderten seine Gedanken zu Lars‘ Anruf zurück. Wann immer Frank in den vergangenen Tagen nicht mit seiner Arbeit beschäftigt war oder sich nicht auf die Kursgruppe konzentrierte, schweiften seine Gedanken zu dem kurzen Telefonat mit Lars. Er stand kurz vor der Zerreißprobe – als würde von zwei Seiten an ihm gezogen. Er wollte das ganze Bornholm-Drama von einst von sich schieben – aber er konnte kaum mehr an etwas anderes denken. Sollte er Lars anrufen, um Genaueres zu erfahren? Vor ein paar Tagen hatte er das Gespräch abgeblockt. Doch seither zog die Neugierde an ihm – ein Strudel, der ihn hinabzureißen drohte. Er musste eine Entscheidung treffen.
Da klingelte das Telefon.
»Stebe.« Die Vorwahl von Dänemark kannte Frank nur zu gut. Dänemark, das Land, in dem er Jahre zuvor jäh einen Lebensabschnitt beendet, vielmehr abgebrochen hatte und das er vor allem mit einer Person, Lars, in Verbindung brachte. Die Entscheidung für oder gegen ein weiteres Gespräch fiel schneller als erwartet.
»Guten Abend, Dr. Stebe«, meldete sich eine tiefe Männerstimme. Es war nicht Lars, aber die Stimme kam ihm bekannt vor. Mit Doktor Stebe wurde er schon lange nicht mehr angesprochen. Frank hatte seinen Doktortitel, zusammen mit dem Institutsausweis und seinen damaligen Träumen und Zielen, in Rostock abgeworfen. Sinnbildlich zumindest. Nach allem, was vorgefallen war, hatte ihm sein akademischer Grad nicht mehr viel bedeutet. Damals hatte Frank mit vielen und vielem gebrochen und neu angefangen, wobei es ihn zunächst ins Allgäu verschlagen hatte.
»Professor Clausen? Sind Sie das?«, fragte Frank zögernd. Was wollte der Leiter des »Instituts für Unterwasserarchäologie Ostsee«, kurz »IUAO« genannt, von ihm? Frank überlegte, ob es jetzt zur Gewohnheit werden würde, dass immer, wenn das Telefon klingelte, sein Puls in die Höhe schoss. Zumindest bei Anrufen aus der nördlichen Hemisphäre. Er dachte an Lars, und da er eins und eins zusammenzählen konnte, war ihm klar, dass dieser Anruf eine Folge des ersten war.
Es war tatsächlich Professor Clausen. »Herr Dr. Stebe«, fuhr der Chef des IUAO fort, »ich komme ohne Umschweife zum Thema.«
Hat sich nicht verändert, der Mann, dachte Frank.
»Wir brauchen Ihre Unterstützung. Als freier wissenschaftlicher Mitarbeiter sozusagen.«
Aha, als freier Mitarbeiter. In Frank stieg Wut empor. Gleichzeitig weckte der Anruf seine Neugier, denn dass diesmal nicht Lars anrief, sondern Clausen selbst, hatte etwas zu bedeuten.
»Und um es gleich vorwegzunehmen, die Lösung des Problems, für das ich Sie benötige, soll am Geld nicht scheitern. Das Projekt hat höchste Priorität beim IUAO und genießt einen gewaltigen Zuschuss«, fügte Clausen hinzu. »Sie haben die Leitung, und wir geben Ihnen freie Hand«, schloss er sein Eingangsplädoyer ab.
»Wäre nett, wenn Sie mir sagen würden, um was es überhaupt geht«, entgegnete Frank kühl.
»Wir haben etwas gefunden – etwas, nach dem Sie all die Jahre gesucht haben. Drei Mal dürfen Sie raten, was.«
Frank konnte förmlich hören, dass der Professor süffisant lächelte. Doch er musste sich eingestehen, dass er schon an der Leine zappelte – denn es war klar, worum es ging. Er hatte den Köder geschluckt und wusste, gleich würde er wieder Koffer packen. Nur müsste die Kleidung wärmer sein, die Ostsee war nicht das Mittelmeer. Ein Prickeln durchfuhr ihn, sein Blick wurde glasig und in seinen Gedanken war er schon vor Bornholm.
Nie hätte er gedacht, dass er sich wieder auf den damals verlassenen Pfad begeben würde, doch nun musste er es einfach tun. Es war seine Bestimmung, seine Leidenschaft, sein Traum – und dieser Traum war plötzlich wieder ganz nah. Zum Greifen nah. Als ob es gestern gewesen wäre.
Noch einmal wollte er es versuchen, nur noch ein letztes Mal. Er konnte nicht widerstehen, alles in ihm zog ihn zurück in sein altes Leben, das er irgendwo da draußen in der Ostsee versenkt zu haben glaubte. Doch anscheinend nicht tief genug, denn es war gerade dabei, wieder an die Oberfläche zu drängen. Mit einer Geschwindigkeit, die ihm den Atem raubte – es fühlte sich bedrohlich gut an.
~
»Sie wollten mich sprechen?« Lars Behrends betrat die Kabine von Prof. Clausen.
»Setzen Sie sich.« Der Direktor des IUAO würdigte Lars keines Blickes, er unterschrieb erst noch provozierend langsam ein paar Schriftstücke, zog im Zeitlupentempo die Brille ab, legte den edlen Kugelschreiber beiseite und lehnte sich in dem überdimensionalen Ledersessel zurück. Er grinste nun, arrogant und siegessicher.
»Ich habe Stebe.«
»Er kommt?« Lars zuckte zusammen, sein Stuhl quietschte auf den Dielen, während er sich vorbeugte.
»Stebe war sofort klar, dass wir genau das gefunden haben, von dessen Existenz er mich seinerzeit ohne jeden Beweis überzeugen wollte. Jetzt haben wir Dinge, die er mir damals nicht präsentieren konnte. Er wird es sich nicht nehmen lassen, diese – seine – Sache zu Ende zu bringen. Stebe hat angebissen. Wie immer musste ich die Sache eben erst selbst in die Hand nehmen.« Sein Grinsen nahm die ganze Breite des Raumes ein.
»Als ich ihn anrief, hatten wir zwar einiges vorliegen, aber nicht das. Sonst hätte ich ihn auch …«, wollte Lars sich gerade verteidigen.
Doch Clausen fuhr unbeirrt fort: »Jetzt liegt es an Ihnen, Behrends. Holen Sie die Informationen aus ihm heraus, die er uns damals verschwiegen hat. Die fehlenden Fakten und Details seiner utopischen Theorie, die er nach dem Vorfall nicht einmal mehr mit Ihnen teilen wollte. Sailer können wir nicht mehr fragen. Er hätte ohnehin dichtgemacht. Stebe ist der Mann der Stunde, er wird sich diese zweite Chance nicht entgehen lassen. Holen Sie die ganze Wahrheit aus ihm heraus. Er kennt den Schlüssel. Ja, er ist der Schlüssel. Nur Stebe kann uns die Tür zur Lösung aufschließen. Wenn er nicht mitspielt, können wir das vergessen. Oder aber es kostet uns Zeit, viel Zeit! – und die haben wir nicht. Die Investoren drehen uns den Geldhahn zu, wenn wir nicht endlich liefern. Vermasseln Sie es nicht!«
Lars atmete tief aus und verkniff sich eine Antwort. Stattdessen bemühte er sich, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken.
»Dafür, dass es denen um nichts anderes geht als um den Profit, sind die meiner Meinung nach zu sehr an Details interessiert. Das passt nicht zusammen. Ist mehr so ein Bauchgefühl. Aber da gab es die Tage ein paar Vorfälle, die ließen mich stutzig werden. Ich halte es für besser, wenn wir denen gegenüber zunächst mal –«
Erneut fiel ihm Clausen mitten im Satz ins Wort: »Das Geschäftliche überlassen Sie mir! Habe ich mich da klar ausgedrückt?« In gemäßigterem Tonfall fuhr er fort: »Hören Sie, Behrends. Sie wollen vorwärtskommen? Insgeheim sägen Sie doch schon an meinem Stuhl, lange bevor ich auch nur anfange darüber nachzudenken, ob ich mich in den Ruhestand verabschiede. Wollen Sie immer in der zweiten Reihe bleiben? Sie kümmern sich um die Grabungen und um das, was Ihrer Karriere hilft – und ich kümmere mich um die Belange des Instituts.« Sein selbstgefälliger Blick durchdrang Lars.
Der Direktor wusste, welche Knöpfe er drücken musste, das musste Lars sich eingestehen. Einmal mehr fragte er sich, wie es so weit hatte kommen können. Zu Beginn seiner Laufbahn hatte er die Dinge schwarz-weiß gesehen, doch nun driftete er in Graunuancen ab. Seine früheren Ideale hatte er den heutigen, wohl eher wirtschaftlichen Zielen geopfert, er hatte Vorkommnisse ignoriert, die fragwürdig und mit jedem wissenschaftlichen Ethos unvereinbar waren. In letzter Zeit beschlich ihn zunehmend der Eindruck, dass ein Teil seines Ichs zwar Stufe für Stufe die Erfolgsleiter erklomm, der andere Teil jedoch unterdessen einen Fuß nach dem anderen hinab in eine dunkle Spiegelwelt seiner Selbst setzte.
Diese Erkenntnis schmerzte. Während er die großen Etappen auf dem Erfolgsweg gewann, verlor er Schritt für Schritt sich selbst. Es schauderte ihn, und mitunter glaubte er, sich selbst immer weniger zu kennen.
Nach all den Jahren verstand er Frank mehr und mehr. Clausen widerte ihn an, doch anders als Frank war er nicht bereit, es sich mit ihm zu verscherzen. Die Geradlinigkeit, die er an Frank insgeheim so bewunderte, hatte er selbst nicht aufgebracht. Clausen war nun mal die Schaltzentrale für seine Karrieregleise, ob es ihm gefiel oder nicht. Und mit dem IUAO zu brechen, so wie Frank es getan hatte, kam für Lars dann doch nicht in Frage. Zu sehr hatte er für all das gearbeitet. Da schloss er lieber Kompromisse und warf seinen Idealismus über Bord. Wohl fühlte er sich aber nicht dabei.
Allenfalls ein Türspalt wies in die entmachtete Sphäre seines Inneren, wo der Widerstand gegen Clausen sich Bahn brach. Doch nur hin und wieder war der Druck, die Tür aufzustoßen, stark genug. Was er dann wahrnahm, ließ ihn jedes Mal erschaudern. Er hatte, ohne es zu bemerken, eine Grenze überschritten, und eine leise Stimme mahnte zur Umkehr, sie flüsterte ihm zu: Es ist noch nicht zu spät! – doch er wollte ihr kein Gehör schenken.
»Stebe wird die Spur wiederaufnehmen, wie ein Rüde der Fährte einer läufigen Hündin folgt. Und das IUAO und ich folgen dem Duft des Geldes«, tönte Clausen.
»Sie kennen Stebe. Wenn er mitbekommt, dass es hier ausschließlich um Profit geht, blockt er ab. Er ist ein Idealist – durch und durch – und wenn ihm klar wird, für welche Zwecke wir ihn hier einspannen, bricht er sowieso alles ab. Er kann einfach nicht anders.« Der Gedanke, Frank gegenüber nicht mit offenen Karten zu spielen, widerstrebte Lars. Doch was sollte er tun?
»Er kann aber auch nicht anders, als seinem Traum zu folgen. Sorgen Sie dafür, dass das sein Antrieb bleibt. Und wenn er seine Nase zu tief hineinsteckt und mir reinpfuscht, dann garantiere ich eines: Aus seinem großen Traum wird sein größter Albtraum – und Ihrer gleich mit!«
~
Max Brenner nahm die Kopfhörer ab und griff zum Telefon. Er tippte die Nummer ein, die er in den vergangenen Jahren wiederholt gewählt hatte.
»Brenner hier. Ich denke, heute habe ich wieder was für Sie – etwas, das Sie interessieren könnte.« Er drückte eine Taste auf der Konsole vor sich.
Nachdem er seinem Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung ein paar Minuten lang eine Tonaufnahme vorgespielt hatte, fuhr er fort: »Aus den übrigen Kabinen und Konferenzräumen nur das Übliche. Nichts von Bedeutung. Aber ich dachte, die bemerkenswerte Unterhaltung zwischen Clausen und Behrends muss ich Ihnen durchgeben, bevor ich die nächste Datei sende. Was soll dieser plötzliche Wirbel um die Sache?«
»Sie werden dafür bezahlt, dass Sie Ihre Aufgabe erledigen – und nicht dafür, sich Gedanken um Dinge zu machen, die Sie nichts angehen«, kam mit eiskalter Stimme die Antwort von der anderen Seite der Leitung.
»Natürlich«, pflichtete Brenner kleinlaut bei – und begann plötzlich zu frösteln. Er hatte seinen Auftraggeber nie persönlich kennengelernt, wusste weder dessen Namen noch Aufenthaltsort. Aber eines war klar: Fragen durfte er keine stellen.
Er hätte sich nun ohrfeigen können, dass er sich einen solchen Fehler erlaubt hatte. Mit dem Mann war nicht zu spaßen, das wusste er, er hatte schon zu viel mitbekommen. Nicht genug, um sich ein Bild über die Zusammenhänge machen zu können – doch zu viel, als dass er sich noch hätte einreden können, von diesem Mann jemals wieder weg und aus der Sache heil herauszukommen. Er steckte schon zu tief drin. So tief, dass ihm in seiner Haut zu eng wurde.
~
Die Reise nach Bornholm verlief reibungslos. Frank war nicht müde, obwohl er schon fast dreißig Stunden auf den Beinen war. Nach dem Telefonat mit Clausen blieb ihm keine Zeit auszuruhen, zu viel war für die überstürzte Abreise nach Dänemark vorzubereiten. An Schlaf war auch nicht zu denken, dafür war er viel zu aufgewühlt, jetzt, wo die Vergangenheit ihn einzuholen begann.
Frank stand an der Anlegestelle der Fähre, sein spärliches Gepäck neben sich. Er schaute auf seine Taucheruhr und ließ den Blick über den kleinen Hafen schweifen. Lars hatte sich verspätet. Typisch. Frank hatte es nicht anders erwartet, Pünktlichkeit war nicht seine Stärke, generell aber konnte man sich auf Lars verlassen.
Frank wollte gerade zum Handy greifen, da ertönte hinter ihm wild eine Autohupe.
»Hi, alter Schwede!«, rief Lars ihm zu, noch bevor er mit dem Jeep richtig zum Stehen kam. Er strahlte über das ganze Gesicht.
Lars stellte den Motor ab und sprang aus dem Auto. Frank umarmte ihn fest. Wenn der Anruf in Spanien ihn zunächst auch misstrauisch gemacht hatte, so lag das nicht an Lars – vielmehr waren es die Erinnerungen, die der Anruf in Frank geweckt hatte. Lars aber war ihm stets ein guter Kollege gewesen, mehr als das – ein Freund.
»Du hast dich prima gehalten, mein Freund. Siehst noch immer gut aus.« Lars musterte Franks sonnengebräuntes Gesicht: ein paar Lebensspuren mehr als noch vor ein paar Jahren zeigten sich zwar um Franks türkisblaue Augen und seine lachenden Mundwinkel, doch es waren eher Lachfalten als die Folgen des Alterns.
Franks markantes Gesicht mit den ausgeprägten Wangenknochen hatte ausgesprochen männliche und zugleich freundliche Züge.
»Du treibst unverändert Sport, was?«, fragte Lars, nachdem er einen kleinen Schritt zurückgetreten war, um seinen alten Forscherkollegen von oben bis unten zu mustern. Frank war mit seinen ein Meter und achtzig von durchschnittlicher Größe, dabei enorm durchtrainiert. Nach all denJahren noch immer muskulös, wohl proportioniert. KeinBodybuildertyp, sondern von der Sorte Fitnesstrainer, denen die Frauen scharenweise hinterherliefen. Frank trug zu seiner Jeans ein locker sitzendes Hemd, das darunter die sportlich durchtrainierten Muskeln erahnen ließ.
»Ich tu, was ich kann. Du zurzeit aber wohl weniger«, neckte Frank. Er wusste, Lars nahm ihm das nicht übel. Wenn Lars eines nicht war, dann eine Mimose. Dass er ein paar Kilo mehr als bei ihrem letzten Treffen draufhatte, war Frank sofort aufgefallen. Er kannte Lars‘ Ehrgeiz in Sachen Fitness. Mal war er in Topform, mal ließ er sich gehen. Derzeit war wohl eher Letzteres der Fall, schlussfolgerte Frank.
Verschämt grinsend griff Lars sich an den Bauch.
»Im Ernst, du hast dich auch nicht verändert, ganz der Alte, kratzige Stoppeln im Gesicht wie eh und je. Zum Glück bin ich nicht deine Freundin!«, scherzte Frank und fasste ihn mit der Hand an den Oberarm. Er konnte sich Lars ohne Bart gar nicht vorstellen. Er selbst trug ab und an einen Dreitagebart, der ihm – so die Meinungen der meisten Leute in seinem Umfeld – sehr gut stand. Er sehe damit noch lässiger aus, hieß es. Dennoch war Frank meist glattrasiert, so auch heute.
»Ich bin gerade mal wieder Single. Und du weißt ja, so habe ich es am liebsten«, konterte Lars und grinste.
Frank schüttelte den Kopf und lachte.
»Und bei dir? Alles klar mit Jenni?«, fragte Lars.
»Ist schon okay. Nur zu wenig Zeit miteinander. Du kennst das.« Für einen Augenblick wurde Frank ernst. Er bedauerte, dass nach dem gestrigen Telefonat keine Zeit geblieben war, um auf Jennifer zu warten. Sie würde morgen aus Kanada zurückkommen, und er hätte sie um einen Tag verpasst. Dabei hatten sie sich fast zwei Wochen nicht gesehen.
Gemeinsame Zeit war in ihrer Ehe ein knappes Gut, das brachten ihre Berufe mit sich. Jennifer arbeitete als Flugbegleiterin, vorwiegend im Langstreckeneinsatz, was oftmals eine mehrtägige Abwesenheit mit sich brachte. Zum Ausgleich hatte sie danach meist einige Tage frei. Nicht immer war Frank dann zu Hause, und viel zu selten hatten sie gemeinsam frei. Diesmal wäre es aber so gewesen.
Vor seiner Abreise hatte Frank an der Rezeption des Hotels in Toronto, wo Jennifer untergebracht war, eine Telefonnotiz für sie hinterlassen. Sie selbst konnte er nicht erreichen. Zudem hatte er ihr eine E-Mail gesendet, ohne darin näher auf die Gründe seines Aufbruchs einzugehen. Nur dass Lars seine Hilfe brauche, hatte er vage angedeutet, und die Dauer seines Fortbleibens hatte er auf fünf Tage geschätzt.
Er wollte sie am nächsten Tag aus Dänemark anrufen – dann war sie wieder in Deutschland.
»Wie war die Reise?« Lars öffnete die Fahrertür.
»Lang und anstrengend, auch aufgrund meiner Heimkehr aus Spanien direkt davor – aber ansonsten lief alles wie am Schnürchen.« Rasch stiegen sie ins Auto.
Frank hatte den ersten Flug nach Rostockgenommen, um noch einen Abstecher zum IUAOzu machen. Dann war er mit einem Mietauto nach Rügen gefahren und hatte von dort die Fähre nach Bornholm genommen. Nicht der direkteste Weg, aber so ließ sich alles unter einen Hut bringen.
Schon bei der Ankunft in Rostock diese Mischung aus Freude und Wehmut – verband er doch einen seiner besten Lebensabschnitte mit dieser Ostseestadt. Aber da war auch jene tiefe Enttäuschung, die lange an ihm genagt hatte. In den vergangenen Tagen hatte er sich wiederholt gefragt, ob er sie jemals wirklich überwunden hatte. Warum nur machte ihm diese Bornholmsache, damals wie heute, so zu schaffen?
Je näher sein Ankunftsziel rückte, desto unruhiger wurde er. Obwohl diese Insel nicht seine Heimat war, schien es ihm, als würde er nach Hause kommen – die Insel zog ihn an wie ein Magnet, die Kompassnadel in seinem Kopf spielte verrückt.
Doch er war sich nicht sicher: Hatte er nun den richtigen Weg eingeschlagen? Oder würde er auf diesem Weg verloren gehen und ins offene Messer laufen?
~
»Science Investment, guten Tag«, meldete sich eine monotone Frauenstimme, der deutlich anzumerken war, wie oft am Tag sie diese Worte wiederholen musste.
»Professor Waldemar Clausen, Direktor des IUAO. Bitte stellen Sie mich zu Herrn Heinz Gerber durch.«
Clausen hatte ein paar Tage nicht mit seinem Kontaktmann am Berliner Sitz von Science Investment gesprochen. Ein Routineanruf war überfällig, er wusste, was sie von ihm erwarteten.
»Einen kleinen Moment, bitte.« Eine Melodie erklang. Sie kam Clausen bekannt vor, doch zuordnen konnte er sie nicht.
Bevor er Stebe in Empfang nehmen würde, wollte er die ruhigen Minuten für ein paar Telefonate nutzen. Das Wichtigste an erster Stelle. Die Beziehung zu den Geldgebern schien an einem seidenen Faden zu hängen. Da kam es gerade recht, eine Neuigkeit wie die von Stebes Anheuerung kundzutun, das hielt die Herren bei Laune.
Seit dem Gespräch mit Behrends kürzlich hatte er ein besonderes Augenmerk auf ihn geworfen. Er war ihm einen Hauch zu aufmüpfig, zu widerspenstig erschienen. Und er warf seine Bedenken bezüglich der Investoren in den Raum. Behrends hatte er hundertprozentig an der Leine, oder nicht? Nicht, dass er daran zweifelte, aber es schien ihm angebracht, nun besonders achtsam zu sein. Immerhin war Behrends mit seiner früheren freundschaftlichen Beziehung zu Stebe ein Bindeglied – Clausens Marionette, deren Fäden er im Hintergrund ziehen musste. Keine Fehler – kein Pardon.
»Gerber«, meldete sich eine Stimme, die jünger klang, als die Person war. Clausen hatte Gerber schon mehr als einmal getroffen. Ein aalglatter Bursche, der zielstrebig die Interessen seines Firmenvorstands vertrat.
Die Damen und Herren der oberen Etage waren Clausen jedoch völlig fremd. Sie traten auch in der Öffentlichkeit nicht in Erscheinung. Clausen hatte bei Gesprächen mit Gerber bisweilen sogar zunehmend das Gefühl, dass nicht einmal er die wirklichen Drahtzieher der Gesellschaft kannte, für die er tätig war. Weil man so gut wie nichts über sie wusste und sie nie zu Gesicht bekam, nannte die Wirtschaftspresse den Vorstand der riesigen Unternehmensgruppe »Die Unsichtbaren«. Eine der vielen Tochtergesellschaften war Science Investment.
Die Unsichtbaren – das traf den Nagel auf den Kopf. Clausen aber war das egal, so lange sie das IUAOgroßzügig sponserten.
»Wir haben einen der weltweit führenden Archäologen – zumindest war er das früher – für unsere Grabung gewinnen können. Er wird uns aus der Sackgasse helfen. Er war an der Sache hier vor zehn Jahren so nah dran wie keiner. Und weiß mehr, als er damals an die Öffentlichkeit gab. Warum ich das weiß, ist jetzt nebensächlich. Vertrauen Sie mir, er kennt die fehlenden Puzzleteile und wird kooperieren. Dafür sorge ich. Frieren Sie jetzt die Mittel nicht ein. Sie bekommen, wonach Sie suchen. Wir liefern Ihnen, was immer Sie wollen. Für Wissenschaft und Museen wird genügend bleiben, um den Schein zu wahren und sie im Glauben zu lassen, dass alles ausschließlich im Dienst von Archäologie und geschichtlicher Forschung geschähe. Vom Kuchen kriegen sie ausreichend ab, und sie werden zufrieden sein.«
»Wir sind über die jüngsten Entwicklungen im Bilde, es ist also nicht nötig auszuschweifen. Viel mehr sorgen wir uns um die internen Abläufe auf Ihrem Schiff. Sind Sie sicher, dass Sie alles unter Kontrolle haben?« Etwas Zwingendes lag in Gerbers Stimme.
»Selbstverständlich.«
»Auch Ihren Projektleiter Behrends?«
»Natürlich.«
»Er stellt zu viele Fragen.«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Wie gesagt, wir sind im Bilde.«
»Aber …«
»Die ganze Angelegenheit droht früher oder später zu eskalieren. Die Frage ist, ob wir davon profitieren. Sorgen Sie dafür, dass Stebe ausplaudert, was er weiß, und unsere Sache zum Erfolg führt. Aber unterschätzen Sie Stebe nicht! Er ist ein Pulverfass, es wird früher oder später explodieren. Entscheidend ist, ob er uns den Weg freimacht oder verriegelt. Sie wollen sicherlich nicht unter den Trümmern seines Handelns verschüttet werden. Also – seien Sie wachsam, Professor Clausen.«
Clausen schluckte nervös. Den Namen Stebe hatte er bisher mit keiner Silbe erwähnt. Er fragte sich, vor wem er hier eigentlich auf der Hut sein musste.
~
Frank und Lars fuhren zu dem nahen Küstenabschnitt, wo die Baltic Sea Explorer Ilag. Lars wollte Frank an Bord bringen, so schnell es ging.
Frank genoss den lauen Fahrtwind im offenen Jeep, der ihm durch das mittelblonde, nackenlange, mit hellen Strähnen durchsetzte Haar blies. Spürbar wich nun die Anspannung, zum ersten Mal am heutigen Tage. Am Ziel angekommen, bestiegen sie ein Festrumpfschlauchboot, mit dem sie das drei Seemeilen vor der Küste liegende Forschungsschiff ansteuerten.
»Na, was sagst du zu unserem neuen Baby?«, fragte Lars, gegen den Lärm des Außenborders anschreiend. Seine grüngrauen Augen funkelten schelmisch wie die eines Jungen, der gerade einen Streich ausgeheckt hatte.
»Wow! Ich bin baff. Hightech-Forschung vom Feinsten. Woher fließen denn die Gelder? Was ist passiert, seit ich weg bin?« Frank staunte, er traute seinen Augen kaum. Majestätisch präsentierte sich vor ihnen das Schiff.
»Tja, die Zeiten haben sich geändert, Franky. Einiges wurde umstrukturiert, und für neue Projekte gibt es neue Gönner. So sind wir immer weniger auf staatliche Mittel angewiesen und erhalten immer mehr Unterstützung aus der Wirtschaft.«
»Sind da Interessenskonflikte nicht vorprogrammiert? Welchen Preis zahlt die Forschung dabei?«
»Wir versuchen den Schaden so gering wie möglich zu halten. Aber so läuft die Sache nun mal. Hauptsache, wir behalten das große Ganze im Auge, das wir bei unseren Projekten verfolgen.« Lars schien mehr sich selbst zu beschwichtigen als Franks Argwohn etwas entgegensetzen zu wollen.
Lars war Idealist. Und Frank war sich sicher: Falls er sich in den letzten Jahren nicht um hundertachtzig Grad gedreht haben sollte, betrachtete Lars diese Entwicklung sicherlich mit Skepsis, auch wenn er sich das nicht anmerken ließ.
Sie machten am Schiff fest und begaben sich an Deck. Dort herrschte das rege Treiben von Arbeitern, die unterschiedlichsten Tätigkeiten nachgingen. Frank staunte noch immer über die Größe der Besatzung, da hörte er Clausens sonore Stimme.
»Willkommen an Bord, Dr. Stebe.«
Frank spürte in sich schon einen Anflug von Verwunderung über die unerwartete Höflichkeit Clausens – da besann dieser sich und wechselte in die gewohnte alles und jeden bestimmende Art.
»Folgen Sie mir, ich zeige Ihnen die Fundstücke. Wir haben keine Zeit zu verlieren!« Ganz der Alte …
Clausen blickte Frank eine Sekunde lang über die auf der Nasenspitze sitzende Brille an und fuhr sich mit der Hand über die fast vollständige Glatze. Wie immer trug er seinen Anzug mit einer Fliege. Er schien noch etwas sagen zu wollen, drehte dann aber auf dem Absatz um und schritt los.
Frank verdrehte die Augen, sah Lars an underntete seinerseits ein Achselzucken. Beide folgten dem Leiter des IUAOüber das Schiffsdeck Richtung Forschungslabor. Frank konnte sich nicht erinnern, Clausen jemals weniger steif gekleidet gesehen zu haben, selbst bei Einsätzen auf rauer See nicht. Wenngleich der Leiter des IUAO meist in seinem Büro in Rostock war, hatte er sich doch auch früher schon hin und wieder an der Front blicken lassen. So wie heute.
Als die Männer die Räumlichkeiten betraten, kam ihnen ein Labormitarbeiter von schmächtiger Statur entgegen. Er begrüßte Frank mit Handschlag, stellte sich als Herbert Reimer vor, nickte Clausen und Lars zu und bat alle an eine große Arbeitsbank.
»Einen Augenblick, die Herren«, brummte er, verschwand in einem Nebenraum, um kurz darauf mit einer Kunststoffkiste zurückzukommen. »Bitte sehr, die Objekte aus Wrack B.« Er rückte einen Schritt zur Seite, damit Frank an den Tisch treten konnte.
Frank warf einen prüfenden Blick auf die Fundstücke. Er bemühte sich, ruhig zu wirken, doch sein Herz raste. »Ein gutes Dutzend römischer Münzen. Anfang erstes Jahrhundert, würde ich sagen«, fasste er dann zusammen, seine Stimme klang erstaunlich gelassen.
»Wir sind zwar noch nicht so weit, um uns festlegen zu können, doch deutet derzeit alles darauf hin, dass es sich bei der Grabungsstelle um Reste zweier Wracks aus der Wikingerzeit handelt«, sagte Lars.
»Die Münzen scheinen also nicht aus einem anderen, noch nicht lokalisierten Wrack aus einer jüngeren Epoche zu stammen? Einer Kogge aus dem dreizehnten Jahrhundert beispielsweise, die mit solchen antiken Münzen Handel trieb? Oder gar einem noch weniger alten Wrack, oder aus der Gegenwart?«, hakte Frank nach. Er ahnte die Antwort.
»Wir haben in den vergangenen Jahren die Gründe hier ausgiebig abgesucht. Wir haben mit Sicherheit keine Wrackstelle übersehen, zumal auch die Vielzahl der Münzen darauf schließen lässt, dass sie zu diesem Objekt gehören«, antwortete Lars mit Nachdruck.
Franks Puls begann fühlbar zu rasen.
»Pass auf, der Hammer kommt erst!« Lars forderte Reimer mit einer Handbewegung auf, die zweite Kiste zu holen. Die Vorstellung der Artefakte inszenierte er wie eine bühnengerechte Show und genoss es sichtlich, die Sache spannend zu machen. Reimer kam mit einer weiteren Kunststoffkiste zurück und stellte sie ab. Lars trat neben Reimer, bereit, für Frank den großen Moment der Überraschung zu zelebrieren. Behutsam griff er nun in die Box – und was er zum Vorschein brachte, verschlug Frank die Sprache.
»Hier.« Lars legte eines von drei Fundstücken aus der zweiten Kiste in Franks Hände. Es war ein antiker Teller aus Silber, Frank nahm ihn wie betäubt entgegen. Ihn irritierte weniger die Tatsache, dass allem Anschein nach Gegenstände aus der Römerzeit an Bord eines Wikingerschiffes waren. Es ließen sich Erklärungen finden, warum nordische Krieger sie auf ihrem Schiff transportiert hatten, mit dem sie erst Jahrhunderte später als die Römer in völlig anderen Gefilden durch die Meere gekreuzt waren.
Wenn auch solch eine Konstellation für die Archäologie eine Besonderheit war. Nein – es war die Tatsache, dass das gute Stück sauber in der Mitte durchtrennt war! Ein wertvolles antikes Stück aus der Römerzeit, sauber zweigeteilt, als wäre es ein Holzscheit, zweckentfremdet und zerstört.
Es hatte schon zuvor, lange bevor Frank diesen Beruf ergriffen hatte, Funde solcher Art gegeben, in größerer Anzahl von Archäologen geborgen. In Deutschland. Im Rhein. Und dann, als Frank seine ersten Karriereschritte machte, einmal auch woanders. Damals, als sie die Geschichte neu hätten schreiben können, dann aber alles zwischen ihren Fingern zerronnen war. Genau hier, in der Ostsee. Sie hatten sich im Zenit ihrer beruflichen Laufbahn gewähnt, doch dann waren all ihre Träume wie Sternschnuppen verglüht.
»Das war noch nicht alles.« Lars klappte eine kleine Schachtel auf und hielt sie Frank unter die Nase – wie ein Liebender, der seiner zukünftigen Frau den Verlobungsring reicht, in der mit Samt ausgeschlagenen Juwelierbox.
Wie in Zeitlupe griff Frank in das Behältnis und nahm eine Silbermünze heraus. Mit offenem Mund starrte er auf die Prägung. Dann drehte er sich langsam zu den Männern um. Seine Gesichtsfarbe hatte für den Moment einen Teil der Mallorca-Bräune eingebüßt, er schaute in die Runde und murmelte: »Das kann nicht sein – das kann einfach nicht sein.«
»Meine Worte«, entgegnete Lars amüsiert.
Die beiden schauten sich schweigend an. Frank war wie elektrisiert, er spürte eine aufkommende Hitze, die seine Augen zum Glühen brachte. Sein Blick sprühte Funken, die blitzartig auf Lars übersprangen und in den beiden Männern ein Feuer entfachten, das sie seit vielen Jahren erloschen wähnten.
Lars hatte Recht – sie waren wieder im Spiel, und es hatte gerade erst begonnen.
~
»Lass uns das alles kurz zusammenfassen«, schlug Lars vor. Frank und er saßen in Lars’ Kabine, jeder eine Tasse Kaffee vor sich. »Meiner Meinung nach reichen die Funde bei Weitem aus, Franky. Anders als vor zehn Jahren. Es besteht doch nun kein Zweifel mehr! Alles Artefakte aus der Römerzeit, teils datiert auf Anfang des ersten Jahrhunderts. Erst die halbierten Funde, solche sind nirgendwo sonst außer am Rhein und hier aufgetaucht. Und jetzt die Münze. Mehr kann man kaum in die Hände bekommen, um die einstigen Spuren wieder aufzugreifen, meinst du nicht auch? Auf so etwas hatten du und Sailer damals doch gehofft. Eurer Theorie nach waren wir seinerzeit genau da dran. Darum ging es doch! Hätten wir einst die Resultate von heute gebracht, woran hätte es dann noch fehlen können? Ich verstehe dein Zögern nicht, Franky. Wo ist das Problem?«, bohrte Lars.
»Es ist doch viel komplexer, da hängt noch viel mehr dran.«
»Klar, die großen Fragen: Wie ist das alles hier in der Ostsee gelandet? Und warum auf einem Wikingerschiff?«
»Das meine ich nicht. Ja, auch. Aber nicht nur.«
»Kannst du aufhören in Rätseln zu sprechen?« Lars schien genervt.
Frank gestand sich ein, dass er ihm auch allen Grund dafür gab, er verhielt sich reservierter und verschlossener, als er eigentlich wollte. Doch er musste die Geschehnisse erst einmal verarbeiten.
Vor ein paar Tagen hatte er sich noch inmitten der Ordnung befunden, die er über die letzten Jahre aufgebaut hatte. Doch dann hatten ihn die Anrufe von Lars und Clausen unvermittelt herausgerissen. Und nun schien er in einen Kinofilmtrailer geraten zu sein, der ihn mitriss, ohne jede Chance, die Abfolge der Ereignisse, geschweige denn das Gesamtbild der Handlung richtig einzuordnen. Das Leben, in dem er sich seit dem Bruch mit dem IUAO eingerichtet hatte, erschien ihm nun wie ein Kokon – doch der platzte plötzlich auf.
Würde er als Schmetterling daraus hervorgehen – oder doch eher als verendete Raupe? Vielleicht würde er nun ein zweites Mal scheitern, ganz kurz vor seinem Ziel, und das war ein bitterer Gedanke.
Und doch ertappte er sich wiederholt dabei, ans Scheitern zu denken, aber er schob den Gedanken sogleich beiseite.
»Ich meine, die Sache ist weitaus größer als das.«
»So in der Art waren auch deine Andeutungen, als du damals einfach gegangen bist. Es waren Andeutungen, die niemand verstand. Mir geht es ehrlich gesagt auch jetzt nicht anders. Willst du dich dazu nach zehn Jahren noch immer ausschweigen? Oder gedenkst du, irgendwann Klartext zu reden?« Lars stieß hörbar den Atem aus, verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf.
»Das war damals meine Wut – Frust, Trauer und Enttäuschung! Meine Art, Clausen einen Denkzettel zu verpassen!« Eine Weile rührte Frank in seiner Kaffeetasse, den Blick gesenkt. »Die Wahrheit ist, es hat mir damals nichts mehr bedeutet. Nicht nach dem, was in jener Nacht geschah. Nichts mehr war dann noch wie an dem Tag davor. Und selbst wenn meiner Theorie Gehör geschenkt worden wäre – meine Leidenschaft dafür war in jener Nacht gestorben. Zumindest dachte ich das. Ich fühlte kein Verlangen mehr, die Lösung des Rätsels zu erzwingen. Wahrscheinlich hätten alle ohnehin meine Thesen für absurd gehalten. Du weißt doch, welch scharfer Wind uns entgegenschlug, damals, als wir unsere Idee äußerten, und das war und ist für mich nicht einmal der halbe Teil des großen Rätsels. Ich konnte mir nicht vorstellen, da noch eins draufzusetzen. Mag sein, dass mir der Mut fehlte – ich weiß es nicht.« Frank legte den Kaffeelöffel zur Seite, hob den Kopf, sah Lars mit zurückgekehrter Selbstsicherheit fest an. Dann sagte er: »Vielleicht sieht die Sache jetzt aber anders aus.«
»Na, ich bin gespannt!« Lars klopfte ihm auf die Schulter, ermutigend – doch über ihnen schwebte auch Beklommenheit, wie ein verletzter Seevogel.
~
Am nächsten Morgen hatte Frank ausgewählte Mitarbeiter des Teams zu einer Lagebesprechung in den Konferenzraum unter Deck geladen. Frank und Lars saßen an der oberen Stirnseite nebeneinander. Clausen beschlagnahmte das untere Ende des großen rechteckigen Tisches für sich alleine. An den Längsseiten hatten jeweils vier Mitglieder der Gruppe Platz genommen und erwarteten voller Spannung, was ihnen der neue Projektleiter zu verkünden hatte. Auch wenn Franks Ruf als einer der bekanntesten Archäologen ihm vorausgeeilt war, verstanden die meisten der Mitarbeiter noch nicht, warum das IUAOihn nun mit ins Boot geholt hatte, hielten sie doch Lars Behrends für einen fähigen Mann, der die Expedition bis zu diesem Zeitpunkt bestens geleitet hatte.
»Wie gut sind Sie über die Ausgrabungen von Kalkriese im Bilde?«, eröffnete Frank die Sitzung.
»Meines Wissens nach begannen die Ausgrabungen in den Achtzigerjahren. Seit langem hält man das Gebiet nahe Osnabrück für den Schauplatz der historischen Varusschlacht. Es spricht vieles dafür. Letztlich fand die Schlacht also nicht im Zentrum des Teutoburger Waldes statt, sondern eher in dessen Ausläufern. Aber die Bezeichnung »Schlacht im Teutoburger Wald« ist noch immer gemeinhin üblich und auch nicht ganz falsch. Dieser Wald erstreckt sich über eine riesige Fläche, und das Kampfgeschehen spielte sich gewiss auch über einen größeren Bereich hinweg ab. Trotz der erdrückenden Indizien für Kalkriese als Ort des dramatischen Geschehens aber hält ein Teil der Wissenschaftler weiterhin daran fest, dass die Schlacht sich nicht in Kalkriese, sondern im Herzen des Teutoburger Waldes zugetragen hat«, meldete sich eine Kollegin mit Dutt-Frisur. Rita Schropp war Frank ein Begriff, sie galt als eine fähige und ehrgeizige Wissenschaftlerin, in Archäologenkreisen hochgeschätzt.
Kurt Lehmann, ein grauhaariger Mittfünfziger, meldete sich nun zu Wort: »Ende der Neunziger stießen Kollegen sogar auf Reste eines Palisadenwalles, zwischen dem Kalkrieser Berg im Süden und dem großen Moor im Norden. Vermutlich lauerten die Germanen hinter dem Wall den Römern auf – für den entscheidenden dritten Schlachttag.«
»Den Beweis für ein antikes Schlachtfeld liefern mittlerweile mehr als sechstausend militärische Funde. Teile römischer Rüstungen, Schwert- und Dolchfragmente sowie Geschoss- und Lanzenspitzen. Ein besonderes Prunkstück ist die eiserne Maske eines römischen Reiterhelmes, einst mit Silberblech überzogen. Sie ist zur Ikone Kalkrieses geworden. Wirklich beachtliche Fundstücke! Größtenteils wurden sie im Museum ausgestellt, nach und nach. Ich war selbst schon dort«, sagte Schropp sichtlich beeindruckt. Offensichtlich kam sie bei Fachthemen schnell in Fahrt. Dann fuhr sie fort: »Alles spricht für die Vernichtung einer römischen Armee. Entlang des Gebietes haben Wissenschaftler über einen Bereich von zehn Kilometern Kampfspuren nachgewiesen, woraus man Theorien über die Kampfszenarien ableiten kann. Übrigens fand man in Kalkriese bis heute mehr als eintausendachthundert römische Münzen.«
Frank nickte. Ihm kam ihre Erwähnung der Münzen gelegen, er griff sie sofort auf: »Die Münzen stammen aus der Zeit vor der Varusschlacht. Keine Münze wurde später als 9 nach Christus geprägt, dem Jahr der Schlacht. Außerdem fand man Münzen, die mit dem Gegenstempel des damaligen für die römische Provinz eingesetzten Statthalters Varus eingeschlagen waren: »VAR«, die aus drei Buchstaben bestehende Kontermarke auf der Münzvorderseite. Das ist ein wichtiges Indiz dafür, dass sie während seiner Amtszeit – also zwischen 7 und 9 nach Christus – dort in den Boden gelangten. Dies erhärtet nun die Annahme, dass der berühmte Befreiungskampf der Germanen gegen die Besatzungsmacht Rom tatsächlich dort stattfand. Die Schlacht im Teutoburger Wald ereignete sich demnach mehr als hundert Kilometer nördlich vom Zentrum des Mittelgebirgszugs. Oder sie hat sich bis dorthin erstreckt. Aber was sehen wir als das Zentrum an? Auch das ist die Frage. Das Gebiet des Teutoburger Waldes lässt sich ohnehin schwer eingrenzen. Immer also eine Frage der Perspektive, was man dazuzählt und was nicht. Falsch ist die Bezeichnung »Schlacht im Teutoburger Wald« also eigentlich nicht, denn auch das Gebiet um Kalkriese kann man miteinschließen.
Nichtsdestotrotz halten noch immer viele Fachleute an ihrer Meinung fest. Wenn es nach ihnen ginge, dann handelte es sich bei anderen ebenfalls entdeckten Schlachtfeldern um den Ort des Geschehens. Abschließende Beweise gibt es aber weder für die eine noch die andere Meinung. Die Indizien, die für Kalkriese sprechen, sind allerdings nicht von der Hand zu weisen. Es muss eine grauenvolle Schlacht gewesen sein – ein Gemetzel, dessen Ausmaß mit mindestens zwanzigtausend Gefallenen für uns auch heute unvorstellbar ist«, erläuterte Frank ernst, während er zu der kleinen Schachtel griff, die ihm Lars im Labor gegeben hatte. »Diese Münze aus Wrack B hat ebenfalls den Gegenstempel des Varus.« Er reichte die Schachtel herum.
Ein Raunen ging durch den Raum. In dem kleinen Saal knisterte die Luft. Hatten die zerteilten Silberteile nicht schon für genug Verwirrung gesorgt?
»Vor zehn Jahren schon haben wir ein Fundstück ähnlicher Art hier nahe Bornholm entdeckt. Es ist allerdings unglücklichen Umständen und diversen Interessenskonflikten zu verdanken, dass das damalige Projekt kurz vor unserem Durchbruch eingestampft wurde. Ich hatte eine Theorie, die ich nahezu stichfest hätte beweisen können. Wir hatten damals bereits drei Jahre in diese Sache investiert«, sagte Frank unüberhörbar gereizt. Er blickte in Clausens Richtung – eine Sekunde zu lang, alle im Raum konnten den in seinen Augen lohenden Vorwurf gegen den IUAO-Chef sehen.
»Und was ist aus dem Fundobjekt geworden? Mir ist keine Veröffentlichung eines solchen Ostseefundes bekannt. Warum wurde hierzu nichts publik?«, fragte Rita Schropp sichtlich irritiert.
Frank trat zum Bullauge und schaute hinaus.
Ein Sturm zog auf, die See schäumte an diesem Morgen, wie das Brodeln im Schlund eines wütenden Ungeheuers, das dabei war, die einst verschlungenen Überreste eines Unglücks nach all den Jahren wieder auszuspucken. Unaufhaltsam bahnten sie sich nun ihren Weg an dieOberfläche.
Selbst überrascht von dem Aufwallen seiner Gefühle und der eigenen Ergriffenheit, blieb sein Blick draußen an der Weite der schäumenden See haften.
Nach einer langen Pause antwortete Frank: »Aufgrund noch weit unglücklicherer Umstände.« Er zögerte den Augenblick hinaus – bis er sich wieder unter Kontrolle hatte.
Mit der Hand fuhr er in seine rechte Hosentasche, und seine geballte Faust versuchte den aufkommenden Druck aus seinem Inneren auf die Münze zu übertragen, er umklammerte sie, fester und fester – jene Münze, die er seit nunmehr zehn Jahren bei sich trug, die ihn schmerzlich an die tragischen Ereignisse von damals erinnerte und von der er sich dennoch nicht trennen wollte. Kein Talisman, Frank war nicht abergläubisch, und doch war sie eine Art Pfand, das noch darauf wartete, eingelöst zu werden. Eine alte Schuld, die darauf drängte, beglichen zu werden.
Frank war sich dessen gewiss: Der Tag der Tilgung stand nun unmittelbar bevor.
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Das imposante eiserne Tor glitt langsam zur Seite, mehrere Überwachungskameras schwenkten der einfahrenden Limousine hinterher. Auf einem der Rücksitze der Edelkarosse presste sich Heinz Gerber ans Fenster, er verrenkte sich fast den Hals bei dem Versuch, alles auf einmal in den Blick zu nehmen.
Zu beiden Seiten der Einfahrt war eine hohe Mauer, deren Verlauf allmählich aus Gerbers Blickfeld verschwand. Das Fahrzeug rollte langsam eine Allee entlang, die sich ihren Weg durch das gigantische Anwesen bahnte – ein Landsitz, zwei Stunden Fahrtzeit von Berlin entfernt. In Anbetracht der Ausmaße musste das Anwesen aus der Luft betrachtet einer Festung gleichen, der sich ringsum die gesamte Landschaft unterordnete.
Keine drei Stunden war es her, seit Gerber den versiegelten Umschlag per Kurier erhalten hatte. Wie angekündigt hatte ein Fahrer ihn kurz darauf abgeholt. Ein wortkarger älterer Mann. Auf Gerbers Frage, wo es denn hinginge, sagte er nur, er sei nicht befugt, Auskünfte irgendwelcher Art zu geben. Er hole ihn nur ab, sonst nichts.
Gerber hatte zuerst gelacht und es für einen Witz gehalten. Er mochte es, wenn jemand auf eine so ernste Art scherzte und den Eindruck vermittelte, es wäre tatsächlich so gemeint.
Sein eigener Humor war eher bissig. Dass er damit meist aneckte, war ihm egal. Er vertrat sowieso die Meinung, in seiner Position seien Freunde fehl am Platz.
Angesichts der Fülle der Kameras, die ihn regelrecht zu verfolgen schienen, wurde ihm zunehmend unbehaglich. Ohnehin hatte er eine Tendenz zur Paranoia, doch das schien ihm nützlich, gab es doch so oder so für einen Mann seines Ranges zu viele Konkurrenten, die mit den Hufen scharrten und nur darauf warteten, dass ihm ein Fehler unterlief – ein verhängnisvoller Fehltritt, mit dem man ihn ans Messer liefern konnte. Es gab viele, die ihm seinen Job nicht gönnten. Und es gab noch mehr, die selbst scharf darauf waren.
Die Beklemmung aber, die ihn soeben befiel – sie war Gerber fremd.
Ihn schauderte.
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Alle im Konferenzraum der Baltic Sea Explorer Ihattendie geborgene Münze in Augenschein genommen. Frank blickte in ratlose Gesichter.
»Ich möchte einen kleinen Schwenk machen. Zu einer anderen Ausgrabungsstätte.« Er legte eine kurze Pause ein, um Zwischenfragen zu ermöglichen, doch alle warteten darauf, dass er fortfuhr. Frank schaltete daraufhin den Projektor ein. »Gehen wir kurz in der Zeit nach vorne, ins 3. Jahrhundert. Die Barbaren – wie Römer die Germanenstämme nannten – stießen tief ins römische Reich vor, sie unternahmen immer dreistere Plünderungszüge. Dabei machten sie große Beute und nutzten den Rhein als Transportweg.
Als die Römer ihr Imperium nicht mehr flächendeckend verteidigen konnten, konzentrierten sie sich auf den Rhein. Sie wussten, egal wie weit die Barbaren ins römische Reich auch vordringen würden, zurück mussten sie über den Rhein. Die Römer bildeten also Flusspatrouillen, um den Germanen die Beute wieder abzunehmen. Mit ihren einfachen Ruderbooten hatten die Germanen gegen die Schiffe der Römer keine Chance. Im Mainzer Museum für antike Schifffahrt sind fünf solcher spätantiken Galeeren zu besichtigen, die auf den Galeonen-Standorten zwischen Straßburg und Mainz im Einsatz waren.« Frank nahm einen Schluck Wasser und drückte den Knopf der Fernbedienung. Ein Foto erschien großflächig auf der Bildfläche. Frank nahm seinen Vortrag wieder auf: »Wenn auch niemand von Ihnen bei den Ausgrabungen bei Neupotz – auf halber Strecke zwischen Mainz und Straßburg – dabei war, so haben Sie wohl alle schon mal Fachartikel dazu gelesen.«
»Sie meinen den Fund eines Hafenrestes im Neupotzer Altrheinarm?«, meldete sich Rita Schropp erneut zu Wort.
»Richtig. 1980 stieß ein Schwimmbagger im dortigen Kieswerk auf fast dreißig Kessel mit Gefäßen darin. Man fand Schädel- und Knochen. Infolgedessen wurden in der Gegend Denkmalpflegetaucher eingesetzt, und sie förderten zahlreiche antike Gegenstände zutage – römischen Ursprungs! Dies gilt als einer der größten deutschen Schatzfunde überhaupt, bekannt als »Barbarenschatz von Neupotz«. Mehr als eintausend Artefakte waren schon in der Stadt Speyer ausgestellt, inzwischen ist der Schatz im Neuen Museum in Berlin zu sehen. Fundstücke, wohl aus dem 3. Jahrhundert, als die Germanen mit ihrer Beute den Limes überquerten. Viele der Objekte waren mutwillig beschädigt, zerteilt, wahrscheinlich, um sie unter den Kriegern aufzuteilen und, damit im Fall einer möglichen Rückeroberung ihrer Beute nicht alles zurück in römische Hände fallen konnte. Schönheit und Gebrauchszweck der Objekte kümmerte die Germanen nicht, es ging ihnen um den reinen Materialwert. Diese Fundstücke ähneln jenen, die Sie hier gefunden haben, an unserer Tauchstelle, weit weg vom Rhein!
Ich hätte schon vor Jahren meine Vermutung beweisen können, dass nämlich hier, in der Ostsee, auf dem Meeresgrund vor Bornholm, weit weg vom Rhein und vom Teutoburger Wald, weit weg von Kalkriese, gleichartige Artefakte wie dort zu finden sind …« Frank redete sich in Fahrt.
Lehmann jedoch fiel ihm mit theatralischer Geste ins Wort: »Unser Wrack ist aber ein Wikingerschiff. Wie passt das zusammen? Und warum tauchen solche Stücke wie im Rhein nun hier vor Dänemark auf? Und die Kalkrieser Münzen? Außerdem sollen die Artefakte vom Rhein aus dem 3. Jahrhundert stammen, die Kalkrieser Münzen aber aus dem Jahr 7 bis 9 nach Christus. Wie erklären Sie das?« Er schaute seine Kolleginnen und Kollegen der Reihe nach an, als hätten alle außer ihm die Antwort parat.
Es war für Frank schwer genug, den Kollegenkreis zu überzeugen, dass es sich hier um germanisches Beutegut handelte; das hatte schon vor zehn Jahren kaum jemand hören wollen – wobei er jetzt zumindest Artefakte hatte, die seine Annahmen erhärteten.
Für diesen Teil seiner Thesen würden sie sich nach anfänglichem Zweifeln erwärmen. Zwangsläufig. Die Funde sprachen für sich. Schwerer würde es sein, ihnen glaubhaft zu machen, aus welchem Jahr, ja aus welchem Kriegstreiben die zerteilten Silberartefakte seiner Meinung nach ursprünglich stammten. Und am schwersten würde es sein, sie davon zu überzeugen, welchen Stellenwert jene Wikinger diesen Objekten eingeräumt hatten – und warum.
Die Wikinger waren einst bis zum Rhein und ins Landesinnere vorgedrungen – daran war nicht zu rütteln. Und sie waren mit reichlich Beutegut zurückgekehrt, welches Jahrhunderte zuvor die Germanen von den Römern erobert hatten. Dass aber darüber hinaus dieser Vorstoß damals noch eine ganz andere Bedeutung für sie hatte, sie also ihrer Bestimmung – der Bestimmung ihres Stammes, ihres Volkes – gefolgt waren, das würde eine völlig unerwartete Wende einleiten und die spektakuläre Geschichte dieses Wracks und seiner Ladung endgültig offenlegen! Doch noch war Frank nicht bereit, den Kollegen gegenüber die Karten auf den Tisch zu legen und ins Detail zu gehen. Noch nicht.
Geradezu abwegig schien es ihm, schon jetzt seine waghalsige These preiszugeben, warum ausgerechnet ein nahe Bornholm kreuzendes Wikingerschiff die Artefakte geladen haben könnte. Jetzt darauf zu setzen, auch nur einen Hauch seiner Vermutungen darzulegen und etwa auszubreiten, was er sich noch an kühnen Ideen zusammengesponnen hatte – es wäre einfach zu früh. Zu viel Wagnis auf einmal.
Immerhin – er würde mit seinen Theorien archäologisch und völkergeschichtlich Neuland betreten. Er würde bisherige Kenntnisse über Abläufe der Völkerwanderungen nach Zerschlagung des römischen Reiches neu interpretieren, ja, er würde einzelne Abschnitte umschreiben oder gar alles neu fassen. Zumindest die jenes Germanenstammes, um den sich diese Sache hier drehte. Nicht zuletzt würde die Geschichte der Seefahrt ein paar neue Fakten hinzugewinnen. Lehmanns berechtigte, alle an Bord beschäftigende Frage, wie es denn zusammenpasse, dass man nun römische Münzen ausgerechnet auf einem Wikingerschiff und ausgerechnet vor der dänischen Küste fand, diese Frage drang tiefer in Franks persönliche Theorie ein – ohne, dass sich jemand der Anwesenden dessen bewusst war.
Frank kannte die Antwort, warum die Relikte auf einem Wikingerschiff transportiert wurden. Doch für die Wahrheit war noch niemand der Kollegen bereit. Oder war er selbst noch nicht willens, seine Erkenntnis mit den anderen zu teilen? Und wenn das so war, warum wollte er seine Vermutung nicht offenbaren? Fehlte ihm noch das letzte, entscheidende Beweisstück? Zweifelte er gar selbst an seiner Theorie, ohne sich das eingestehen zu wollen? Oder folgte er einer Intuition, die im Misstrauen gegen das IUAO wurzelte?
»Wie – passt – das – alles – zusammen?« Lehmann betonte jedes Wort, als er seine Frage wiederholte.
Frank zögerte, bevor er knapp antwortete. »Das werden wir noch sehen.«
~
In der Wahlkampfzentrale der Partei »Der deutsche Phönix«herrschte hektisches Treiben. Niemand im Lande hätte mit dieser Entwicklung gerechnet. Während sich große etablierte Parteien entweder in schweren Krisen befanden oder die Prozentleiter bestenfalls schleppend emporkrochen, katapultierte sich der »Deutsche Phönix« unerwartet nach vorn. Bis zu den Bundestagswahlen waren es nur noch wenige Wochen, man musste die Zeit nutzen, um die aktuellen Umfragewerte auf ein Niveau zu bringen, mit dem am Wahltag der Einzug in den Bundestag gelingen würde. »Der deutsche Phönix« mobilisierte täglich neue Anhänger. Nicht nur die Zahl der Bürger, die sich vorstellen konnten, den Neulingen ihre Stimme zu geben, stieg stetig – auch die Mitgliederzahlen explodierten, und die Presse berichtete schon von einem politischen »Raubzug«.
Völlig untypisch war die Art und Weise, wie sich Neuanhänger gleich von Beginn an aktiv einbrachten. Davon träumten die um Mitglieder ringenden Großparteien seit Jahrzehnten.
Innerhalb der Organisation der neuen Partei herrschte eine Dynamik, die ihresgleichen suchte. Zwar begegneten die meisten Bürger dem Parteiprogramm des »Deutschen Phönix« ablehnend, zumindest kritisch, trotzdem wuchs die Zahl der Anhänger verblüffend schnell. Geschickt wickelten die Funktionäre ihre potentiellen und sicheren Wähler um den Finger. Die Taktik ihrer Öffentlichkeitsarbeit, ihre Wahlthemen und Versprechungen setzten gezielt dort an, wo sich bei der Mehrzahl der Bürger zunehmend Unzufriedenheit breitmachte. Oder sie begaben sich konsequent in Kontraposition zu den Standpunkten der Regierungsparteien.
Wer aber genau hinsah, bemerkte das leere Gerede, die rhetorische Blendung, die einen wachen Bürger, einen, der mit offenen Augen die Entwicklungen verfolgte, sofort in Alarmbereitschaft versetzen musste. Und dennoch – immer mehr Wähler verschlossen die Augen, zumindest setzten sie Scheuklappen auf. Wie die Partei ihre Ziele genau umsetzen und finanzieren würde, ließ sie offen, Fragen zu diesem Thema wurden meist ausweichend beantwortet. Sie täuschten die Bürger, indem sie gezielt die Wahrheit verdrehten, lückenhaft Informationen streuten und Missmut schürten, um sie schließlich in der Rolle des Wohltäters mit der passenden Lösung für jeden politischen Verdruss im Meinungsdschungel abzuholen.
Hatten sie erst einmal den Krieg in den Köpfen der Menschen angezettelt, schickten sie sich dann als vermeintlicher Friedenstrupp an, die Kontrolle über das Fühlen zu übernehmen, das letztlich ihr Handeln bestimmte. In Wirklichkeit jedoch brachte die Partei schleichende Zerstörung mit sich – nicht offensichtlich, sondern unterschwellig und schrittweise breiteten sich wie ein Virus ihre Angriffe auf Moral und Demokratie aus. Wer seine Augen vor diesem Befall verschloss, nahm auch die Krankheit nicht wahr, die diese Politik für die deutsche Nation, ja für die ganze EU bedeutete.
Die zentralen Figuren des »Deutschen Phönix« beherrschten perfekt das Kunsthandwerk, Verwirrung zu stiften. So auch Heinrich Metzeler, der Mann an der Parteispitze, der sich soeben mit einem Berg Akten zu seinem Büro durchschlängelte, als sein Handy klingelte. Hätte er es nicht im Vibrationsmodus gehabt, der Anruf wäre untergegangen, so laut war es in den Räumen um ihn herum, die er seit Monaten fast sein Zuhause nannte. Auf dem Sofa im Büro hatte er in den vergangenen Wochen häufiger geschlafen als im Ehebett neben seiner Frau.
Beim Herausfingern des Handys aus der Sakkotasche vernahm er nun deutlich den Klingelton. Von all den akustisch personalisierten Varianten gab es nur eine, die ihn aus der Ruhe bringen konnte – jene des für Metzeler mit Abstand wichtigsten Mannes, dessen Anweisungen er stets als Pflicht verstand und somit akkurat befolgte. Der Mann, der den Führungsstab des »Deutschen Phönix« zusammenstellte und die Fäden zog.
Seine Stimme war unverwechselbar, sie war klar, ohne jede übertriebene Floskel, vordergründig zwar einladend, zugewandt, doch da war auch Kälte, ja: diese Stimme war bitterkalt, sie ließ seine Untergebenen innerlich erstarren, gefrieren, sie verwandelte sie in willige Handlanger.
Und wer sich nicht auf Glatteis begeben wollte, der gehorchte. Ohne zu zögern.
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Die Teammitglieder hatten den Konferenzraum der Baltic Sea Explorer Iverlassen. Stickige Luft blieb zurück, und Frank schien es, als klebte sie an ihm.
Seine Gedanken kreisten um die Sitzung. Und um die Varusschlacht – vor allem um ihre Schlüsselfigur. Sie war auch der Schlüssel zu Franks Thesen, die ihn so lange Jahre ohne Unterlass beschäftigt hatten, so sehr, dass er sich schon wie ein Gefangener seiner Theorie gefühlt hatte. Die Tür zu Franks innerem Kerker schien sich nun erneut zu öffnen. Doch es brauchte große Kraft, sie vollends aufzustoßen.
Frank nahm sich eine digitale Fotodatei vor und betrachtete die abgebildete Statue. Siebenundzwanzig Meter hoch ragte die Figur am Rande des Teutoburger Waldes in die Höhe: der zum teutonischen Helden ernannte Hermann, der Cherusker, der die Germanen durch den Sieg in der Varusschlacht von der römischen Besatzung befreit hatte.
Als »Hermann« bezeichnete man jenen Fürstensohn in Deutschland aber erst seit dem 16. Jahrhundert. Hermann hatte er also mit Sicherheit nicht geheißen. Dass er aus einem der dutzend germanischen Volksstämme kam, das war dagegen gewiss. Ja, er war ein Cherusker – doch das traf auch auf eine andere Person zu, die für Franks Theorie genauso bedeutsam war. Frank hegte keinen Zweifel an Hermanns wahrer Identität. Und auch über jenen Mann, der sich hinter Hermann verbarg, waren in der römischen Geschichtsschreibung erste Berichte erst wieder im 16. Jahrhundert aufgetaucht. Eine nebulöse Person, die in mehreren Identitäten in Erscheinung trat.
Die Schlüsselfigur der im Jahre 9 stattgefundenen Schlacht war auch die in Franks Kampf, den er archäologisch führte, und ihre Identität war das zentrale Teil im Puzzle, das es endlich freizulegen galt.
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Der Kies knirschte unter den Rädern der Limousine, als der Chauffeur auf ein großes Rondell zufuhr, in dessen Hintergrund sich das Antlitz einer prunkvollen Villa auftat – nahezu in der Größe eines Palastes. Heinz Gerber traute seinen Augen nicht. Dann fiel sein Blick auf eine in der Mitte des Rondells emporragende gewaltige Statue: geschätzte acht Meter ragte sie auf einem gepflegten englischen Rasen in die Höhe.
Gerber fragte sich gerade, woher er diese Skulptur wohl kannte, da entdeckte er seitlich einen Parkplatz, auf dem mehrere Edelkarossen verschiedener Hersteller standen. Jedes dieser Prunkstücke kostete sicherlich mehr als Gerbers Jahresgehalt – und das konnte sich sehen lassen, vor allem seit seiner letzten Beförderung, die keine sechs Monate zurücklag. Über sein neues Aufgabengebiet bei Science Investmenthatte er sich zwar anfänglich gewundert – entsprach es doch so gar nicht seiner bisherigen Tätigkeit – angesichts der Gehaltserhöhung aber versiegte die ohnehin nur kurz aufkeimende Irritation.
»Wir sind da«, sagte kurzangebunden der Fahrer.
»Das sehe ich«, entfuhr es Gerber barsch.
»Folgen Sie mir bitte.«
»Zu Befehl«, war seine schnippische Antwort. Er salutierte – doch der Fahrer reagierte nicht im Geringsten darauf und schritt zielstrebig und ohne noch etwas zu sagen in Richtung Eingang.
Gerber war inzwischen zu gereizt, als dass ihm die Kulisse imponiert hätte. Zugleich fühlte er sich immer unwohler. Eine Beklemmung, wie er sie als Junge auf dem Weg zum Internatsdirektor empfunden hatte, nicht wissend, was ihn erwartete, aber sehr wohl ahnend, wieso der Direktor ihn rufen ließ.
Hier und heute aber hatte er keinen blassen Schimmer, was auf ihn zukam – und das missfiel ihm. Mit jedem Schritt, den er durch die ihm fremde Umgebung voranging, schien er sein sonst so unerschütterliches Selbstvertrauen mit Füßen zu treten. Gerbers Zähne knirschten wie der Kies unter seinen Füßen.
Sie traten vor den Eingang. Tür wäre das falsche Wort – Portal traf es eher, so wuchtig erschien ihm das alles. Auf Brusthöhe hing als Türklopfer ein bronzefarbener Hirschkopf mit prächtigem Geweih. Das passte nicht hierher, fand Gerber, ein Löwenkopf oder ein Fabelwesen hätte dem Klischee mehr entsprochen.
»Guten Tag, Herr Gerber, treten Sie bitte ein, Sie werden bereits erwartet«, begrüßte ihn ein eleganter Mann in maßgeschneidertem Anzug. Er signalisierte dem Fahrer zu gehen, woraufhin dieser sich mit einem wortlosen Kopfnicken abwandte. Gerber betrat einen Vorraum, dessen Ausmaß und Stil ihn an Foyers schicker Hotels erinnerten.
Der Mann hatte sich ihm nicht vorgestellt, und Gerber blieb keine Zeit, nach dem Namen zu fragen. Kaum hatte sich die Tür hinter ihm geschlossen – was wohl automatisch geschah –, gingen sie schnurstracks ins Hausinnere und bogen in einen Seitenflügel des Gebäudes ab. Fast