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Nach dem Tod ihres Vaters, des berühmten Dirigenten Jean Chevalier, muss seine Tochter Marie erkennen, dass die Welt nicht so ist, wie es scheint. Hinter dem goldenen Schlüssel, den er ihr vermacht hat, verbirgt sich ein rätselhaftes Geheimnis. Immer tiefer dringt Marie ein in die Mysterien der Musik Richard Wagners. Steckt eine verborgene Botschaft darin, hinterlassen von Maria Magdalena, der Gefährtin Jesu? Gemeinsam mit ihrer Freundin Véronique gerät Marie auf ihrer Suche in große Gefahr: Die Geheimgesellschaft der Octavianer versucht seit Jahrhunderten, die Magdalena-Botschaft zu unterdrücken, und schreckt vor Mord nicht zurück. Bald wissen die beiden Freundinnen nicht mehr, wem sie noch trauen können: Meint es der strahlende Tenor Julien de la Tour gut mit ihnen? Was ist mit dem mysteriösen Lucius? Und was hat es mit dem russischen Ballett-Star Sascha Marakov auf sich? Mit allen Mitteln versuchen die zwei, Licht in das Dunkel zu bringen und Magdalenas Botschaft den Menschen zugänglich zu machen. Ihre abenteuerliche Reise führt sie in Kirchen und Opernhäuser von Paris, Wien und Dresden über Nizza und St. Maximin bis nach Barcelona und zu einer atemberaubenden Entdeckung in einer Höhle der Pyrenäen.
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Seitenzahl: 833
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Jegliche scheinbare Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen ist rein zufällig. Die Charaktere des Buches sind ausschließlich der Fantasie der Autorin entsprungen …
ALYNA ist ein Imprint der Europa Verlag GmbH & Co. KG,
herausgegeben von Michael Görden
© 2017 Isabelle von Fallois
E-Book-Ausgabe 2018
Für die Originalausgabe:
© 2017 ALYNA Verlag in der Europa Verlag GmbH & Co. KG,
Berlin · München · Zürich · Wien
Umschlaggestaltung: Weiss Werkstatt, München
E-Book-Erstellung: Hardy Kettlitz
ISBN 978-3-95890-139-1 (Buchausgabe)
ISBN 978-3-95890-240-4 (E-Book)
Alle Rechte vorbehalten
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Für Gero,
meinen geliebten Vater,
der mich gelehrt hat,
die Wahrheit zwischen den Zeilen zu entdecken.
PROLOG
Salzburg
19. Juli 2013
Noch Sekunden nach Verklingen des Schlussakkords herrschte Stille im Saal des Großen Festspielhauses. Die betörende Musik von Wagners »Tristan und Isolde« hatte die Zuhörer in ihren Bann geschlagen.
Als Maestro Jean Chevalier, der berühmteste Wagner-Dirigent seiner Zeit, die Hände wie zum Gebet an die Stirn legte und sich vor den Sängern und dem Orchester verneigte, wagte sich noch immer niemand zu rühren.
Erst als der Dirigent sich anschickte, seinen Platz im Orchestergraben zu verlassen, ertönten Bravorufe über die Beifallsalven des Premierenpublikums hinweg, das der Eröffnung der Salzburger Festspiele beigewohnt hatte.
Kaum abgegangen, lief Jean Chevalier hinter den Kulissen durch den engen Gang, um rechtzeitig für den Applaus auf die Bühne zu gelangen. Ein seltsames Gefühl hatte von ihm Besitz ergriffen. Ob es daran lag, dass seine Tochter Marie endlich einmal wieder in einer Opernaufführung zugegen gewesen war? Er wusste es sich nicht zu erklären. Jedoch fehlte ihm die Zeit, weiter darüber nachzudenken, denn Tristan und Isolde waren schon an der Reihe. Er selbst würde der Nächste sein. Doch zunächst brandete der Beifall frenetisch auf. Maestro Chevalier beobachtete voller Freude von der Seite aus, wie sein Tristan, alias Christian Dannenberg, und seine Isolde, im richtigen Leben Greta Nordeng, gefeiert wurden.
Und dann erhob sich, als er selbst ins Licht der Scheinwerfer trat, das gesamte Publikum und jubelte, wie Jean Chevalier es noch nie erlebt hatte. Seine Augen suchten die seiner Tochter, die in der ersten Reihe saß, und da war es um seine Contenance geschehen. Still liefen ihm Tränen über das Gesicht.
Tief bewegt trat er von der Bühne ab, um sich wie immer nach einer Aufführung in seine Garderobe zurückzuziehen und ein Gebet zu sprechen. In seinem Herzen wusste er, dass er sich kurz fassen musste. Gott würde das verstehen. Denn es gab wichtige Dinge mit seiner Tochter zu besprechen. Die Angelegenheit duldete keinen Aufschub.
Beschwingt lief er die Stufen empor, die ihn in sein Dirigentenzimmer führten. Aufrecht setzte er sich auf den Stuhl vor dem erleuchteten Spiegel, schloss die Augen und begann zu beten.
Da öffnete sich die Tür fast unhörbar leise, aber für das feine Ohr des Maestro laut wie nur ein Sakrileg: Wer wagte es, ihn zu stören? Nicht einmal Marie hätte sich das erlaubt, und es war all-seits bekannt, warum er sich nach einer Aufführung zurückzog. Er musste sich geirrt haben.
Doch da war das Geräusch wieder wie von fremdem Atmen. Unwillkürlich öffnete Maestro Chevalier die Augen und erblickte unweit der Tür einen Mann, den er nie zuvor gesehen hatte. Das Schild an seiner Brust wies ihn eindeutig als Angestellten der Salzburger Festspiele aus. Seltsam war nur, dass der Mann Handschuhe anhatte.
»Wissen Sie nicht, dass ich nach einer Aufführung fünf Minuten lang nicht gestört werden möchte?«, fragte Jean Chevalier mit leiser und doch tragender Stimme.
»Entschuldigen Sie bitte, verehrter Maestro«, antwortete der Fremde mit falscher Ehrfurcht und deutete eine Verbeugung an.
»Ich habe hier etwas, das dringend in die Hände Ihrer Tochter gelangen muss.«
»Also gut«, erwiderte der Maestro etwas versöhnlicher, »dann geben Sie schon her.«
Im gleichen Moment zog der Fremde eine Waffe aus dem Hosenbund, zielte auf Chevaliers Herz und drückte ab. Ohne einen Laut brach der Maestro tot zusammen.
Der Angreifer schob die mit einem Schalldämpfer versehene Pistole unter das Sakko und eilte aus dem Zimmer.
Marie Chevalier hoffte, dass ihr Vater sein Gebet beendet hatte. Sie hatte sich auf dem Weg zu ihm ein wenig Zeit gelassen. Doch als sie um die Ecke bog, den Blick suchend auf die Schilder der Türen gerichtet, beobachtete sie erstaunt einen Mann, der aus dem Dirigentenzimmer kam und zügigen Schritts davonging. Wer das wohl war, der so vertraut mit ihrem Vater sein musste, dass er ihn direkt nach der Vorstellung aufgesucht hatte?
Neugierig geworden, drückte sie die Klinke herunter und stieß die Tür auf. Vor ihr saß ihr Vater blutüberströmt auf dem Stuhl vor dem Spiegel. Ihr entrang sich ein Schrei, der laut durch die Gänge hallte. Marie riss sich zusammen und stürzte auf ihn zu, von der Hoffnung beherrscht, sein Leben noch retten zu können. Was sollte sie nur tun? Eilende Schritte im Gang zeigten ihr, dass Hilfe nahte. Eine Stimme in ihrem Hinterkopf aber hatte längst entschieden: Hier kam jede Hilfe zu spät. Bitterlich weinend sank Marie neben ihrem Vater zu Boden.
Marie
Paris, 27. auf den 28. August 2013
Ein sommerlicher Gewitterregen prasselte auf das Dach von Maries Wohnung im obersten Stockwerk, und sie hoffte, dass die alten Fenster des leicht heruntergekommenen Hauses dicht hielten. Als sie am Montmartre dieses gemütliche Appartement entdeckt und gemietet hatte, waren ihr solche Überlegungen vollkommen fremd gewesen. An Schlaf war vorerst nicht zu denken. Marie war indes nicht nur traurig. Seit ihrer Kindheit quälten sie Albträume, die seit der Ermordung ihres Vaters wenige Wochen zuvor schlimmer geworden waren.
Eingehüllt in den viel zu großen blauen Samtbademantel ihres Vaters, beschloss Marie, sich einen japanischen Tee zu kochen, ihre Lieblingsmethode, um dem Grauen der Träume zu entkommen. Sie hätte niemandem eingestanden, dass sie kaum noch wusste, wer sie war. Was war nur aus ihr geworden? Wohin war die erfolgreiche junge Kunstprofessorin verschwunden, die noch vor zwei Monaten einen internationalen Preis erhalten hatte? Konnten sie und diese selbstbewusste Frau ein und dieselbe Person sein?
Marie wagte es nicht einmal, sich ihrer besten Freundin Véronique anzuvertrauen. Während der Kessel beruhigend summte, setzte sie sich auf die Bank am Küchentisch, zog die Knie an die Brust, barg den Kopf in den Armen und ließ den Tränen freien Lauf. Erst als das Pfeifen des Teekessels sie wieder in die Realität zurückbrachte, gab Marie sich einen Ruck und brachte ihn zum Schweigen. Wenn doch nur die Stimmen in ihrem Kopf genauso leicht zum Verstummen gebracht werden könnten. Gedankenverloren starrte sie auf das Foto ihres Vaters, das ihr auf dem Küchentisch Gesellschaft leistete. Damals in seinen besten Jahren war sein volles dunkles Haar nur von wenigen silbernen Fäden durchzogen gewesen, und seine stahlblauen Augen schienen sie gleichzeitig liebevoll und wissend anzusehen. Ihr Vater war ihr so nah und doch so ein Rätsel gewesen. Warum nur hatte er, der immer auf alles eine Antwort wusste, sich nur geweigert, sie zu unterrichten. Warum war ihr der Zugang zu den höheren Mächten verwehrt geblieben? War es wirklich so schlimm, dass sie auf Wissenschaft und Forschung vertraut hatte statt auf seine spirituellen Halbwahrheiten?
Wie oft sie sich seinetwegen geschämt hatte! Aber wie hätte sie verstehen sollen, dass ein derart erfolgreicher Musiker und weltberühmter Dirigent zuweilen solchen Nonsens von sich gab. Dabei wirkte ihr Vater stets so gleichmütig, auf sie hatte das fast provozierend gewirkt, eine solche Selbstbeherrschung, nein, darüber würde sie niemals verfügen. Jetzt, da sie ihn nie wieder sprechen konnte, bedauerte sie, dass sie ihm in den letzten Jahren ausgewichen war. Zu unterschiedlich waren ihre Denkweisen. Und zu spät war ihr bewusst geworden, mit welcher Liebe er sie in Gedanken stets begleitet hatte, egal, wohin ihn seine Reisen geführt hatten.
Damals hätte sie nie gedacht, dass er ihr so fehlen könnte. Erst nach seinem Tod war ihr bewusst geworden, dass sie mit ihrem Schmerz, der sie wie ein Dolch durchbohrte, unweigerlich allein war. Sie würde ihn nie mehr wiedersehen, nie wieder mit ihm sprechen können.
Als Marie sich an den Tee erinnerte, war er längst kalt und bitter geworden, und sie beschloss, dass es Zeit war, schlafen zu gehen. Einmal nicht zu träumen, das war ihr größter Wunsch. Sie kuschelte sich unter die Bettdecke, rollte sich zusammen wie ein Embryo und sandte ein Stoßgebet zum Himmel, mit der Bitte um eine ruhige, erholsame Nacht.
Für sie waren nur Sekunden vergangen, als sie sich ängstlich umblickte und erstaunt die Fassade einer großen Kathedrale vor sich aufragen sah. Es war finstere Nacht, und doch hatte Marie das untrügliche Gefühl, von unzähligen in der Dunkelheit verborgenen Gestalten beobachtet zu werden. Ein kalter Schauer ließ sie zittern wie Espenlaub.
Da erhellte ein Blitz die Nacht, zeichnete ein Kreuz an den Himmel. Das konnte kein Zufall sein. Ein Zeichen war es, ein Zeichen nur für sie, Marie war das sofort klar, es musste so sein, ein Gewitter hatte sich nicht angekündigt. Doch sie war noch immer in Gefahr. Das wusste sie instinktiv. Sie musste ein Versteck finden, und fast unerträglich langsam schlängelte sie sich im Schatten der Mauern vorsichtig zu einer Seitenpforte. Sie würde nicht verschlossen sein, das wusste sie. Ein Stoßgebet, hoffentlich würde das Knarren der Tür sie nicht verraten. In der Ferne bellte ein Hund, und Marie zog mit einem Ruck die Pforte auf. Das Quietschen drang nur ihr ins Mark, das Hundegebell übertönte es für alle lauschenden Ohren. Flink schlüpfte sie durch den schmalen Spalt in das kühle Innere der Kirche, es musste hier sein. Was auch immer sie suchte. Mit einer Verzweiflung, die sie sich ebenso wenig erklären konnte wie diese Gewissheit, dass es so war, suchte sie etwas. Marie duckte sich zwischen die Bankreihen, kniete vor einer wunderschönen Statue der Madonna mit dem Kind nieder. Ein Auftrag. Diese Suche war ein Auftrag, den sie erfüllen musste. Wer aber hatte ihn erteilt? Was war diese rätselhafte Aufgabe? Was suchte sie? War sie einfach zu blind? Und warum war sie so schrecklich sicher, dass sie in Gefahr war?
Marie vergrub das Gesicht in den Händen und wiegte sich sanft, bis ein Geräusch sie aufschrecken ließ. Mit vor Schreck geweiteten Augen starrte sie in die Dunkelheit, ihre Ohren verrieten ihr, dass sich jemand auf sie zubewegte. Nicht nur ein paar Schritte, es waren mehrere. Bevor Marie reagieren konnte, war sie umzingelt von dunkel gekleideten Gestalten, deren Gesichter von schwarzem Tuch verhüllt waren, und eine schneidende Stimme fragte: »Was suchst du hier, Unwürdige? Oder hast du bereits entwendet, was eigentlich uns gehört?« Unsichtbare Hände hielten sie von hinten gefasst. Marie bekam keinen Ton heraus.
Die Stimme wurde drohender: »Sprich oder wir werden dich das Fürchten lehren!«
Doch Marie war wie gelähmt. Die Hände griffen fester, sie wurde an den Armen durch die Kathedrale geschleift, ein Mann warf sie sich grob über die Schulter. Und dann ging es weiter durch unterirdische Gänge. Wie ein nasser Sack wurde sie auf den nackten Erdboden geworfen. Ein heiserer Aufschrei, dann biss sie die Kiefer fest aufeinander, erfüllt von Angst und Mutlosigkeit. Doch das Grauen nahm kein Ende, sie wurde gepackt und auf einen eiskalten Tisch geschnallt. Dann riss man ihr die Hose vom Leib.
Einer der Männer zerschnitt mit einem kalten Dolch das Spitzenhöschen, sodass der verletzlichste Teil ihres Körpers für alle sichtbar wurde.
Ein Schluchzen stieg in ihr auf und drohte Marie zu ersticken, als ein leises Flüstern zu ihr durchdrang: »Wenn du uns nicht sagst, was wir wissen wollen, du kleine Hure, werden wir deinen Körper zerstören, dass du deines Lebens nie mehr froh wirst! Hast du mich verstanden?«
Da löste sich ein gellender Angstschrei aus Maries Kehle und riss sie aus dem Schwarz der Katakomben. Panisch setzte sie sich in ihrem Bett auf und versuchte verstört herauszufinden, wo sie sich befand.
Der vertraute Klang von Glocken verriet es ihr: Das Geläut der nahe gelegenen Basilika von Sacré-Cœur verkündete die Mitternacht – und Marie erkannte ihre kleine Dachwohnung und neben sich das vertraute Blau des Bademantels ihres Vaters.
Ihr Atem beruhigte sich. Auch wenn sie seit dem Tod ihres Vaters unterschiedliche Versionen des immer gleichen Themas heimgesucht hatten, war doch keiner der Träume so fürchterlich realitätsnah gewesen wie der gerade eben. Marie spürte sie noch, die Scham darüber, dass so viele Männer ihren intimsten Körperteil gesehen hatten. Wie nur sollte sie das verstehen? Schlummerten in ihrem Unterbewusstsein verquere Sehnsüchte? War das der Grund, warum sie es nie länger mit Männern ausgehalten hatte?
Marie war erschüttert. Kein Wunder, dachte sie, dass sie es nicht wagte, ihrer besten Freundin Véronique von den nächtlichen Heimsuchungen zu erzählen. Zumal ihr der Schrecken, auf eine derartig perfide Art und Weise gefoltert zu werden, so lebhaft vor Augen stand, dass sie sich nicht vorstellen konnte, ihn durch Worte neu zu beleben.
Atmen, sie brauchte Luft. Als Marie sich endlich wieder bewegen konnte, trat sie ans Fenster und streckte ihr Gesicht in die Nachtluft hinaus. Wie gut das tat. Und doch fühlte sie sich einsam unter dem Bogen des Himmels.
Mit weit geöffneten Augen blickte Marie zum Nachthimmel empor, als eine Sternschnuppe mit lichtem Blitz ihre Bahn über sie hinweg zog. Das war bestimmt ein Zeichen, es musste einfach ein Hinweis sein. Und im selben Moment überkam sie eine Erkenntnis. Das war vielleicht der Grund: Ihr Unterbewusstes wollte, dass sie das Rätsel löste, das sie seit dem Tod ihres Vaters quälte – das Geheimnis des goldenen Schlüssels! Des Schlüssels, den sie beim Durchsehen der Unterlagen im Safe seines Hauses gefunden hatte. Eingehüllt in seidiges Papier hatte er dagelegen, und auf dem Papier standen diese Worte zu lesen:
Geliebte Tochter,
mit diesem Schlüssel hinterlasse ich Dir ein unendlich kostbares, dabei ebenso gefährliches Vermächtnis.
Sobald bekannt wird, dass Du die neue Hüterin dieses himmlischen Schatzes bist, wirst Du Deines Lebens nicht mehr sicher sein.
Es tut mir von Herzen leid, dass mir keine Zeit mehr bleibt, Dich darüber aufzuklären, welche Bewandtnis es mit diesem Schlüssel hat. Auch kann ich Dich leider nicht beschützen, aber was mir an Kraft bleibt, wird in Dir weiterleben.
Pass bitte gut auf Dich auf, mein geliebtes Kind! Glaub mir, vergessen ist, was zwischen uns stand. Vergiss bitte nie:
Der Schlüssel muss unbedingt beschützt werden.
Und vertrau mir ein letztes Mal.
Je t’embrasse fort,
Dein Vater
Nachdenklich betrachtete Marie die Sterne am Himmel. Sie konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass sie ausnahmsweise einmal um Unterstützung bitten sollte. Ob ihr Vater das Gebet hören würde? Oder eine andere Macht? So recht daran glauben, nein, das konnte sie auch jetzt nicht. Aber eins war klar: Die offizielle Version der Polizei erklärte keineswegs den Tod ihres Vaters.
Es hieß, ein Psychopath habe Jean Chevalier umgebracht, der Grund sei eine krankhafte Obsession mit Richard Wagner. Marie wusste natürlich, dass von »Tristan und Isolde« oder vielmehr der »Handlung in drei Aufzügen«, wie Wagner selbst dieses große Werk bezeichnet hatte, eine sehr spezielle Wirkung ausging. Es hieß, dass manche Seelen durch diese einzigartige Musik erhöht würden, während andere in einen gefährlichen Wahn gerieten. Das hatte Marie immer mit einem Achselzucken abgetan, wie sie überhaupt alles Übersinnliche von sich gewiesen hatte. Und gewiss hatte es nichts mit dem Mord an ihrem Vater zu tun, dahinter musste etwas ganz anderes stecken. Sie erinnerte sich noch gut an diesen Unbekannten, der das Dirigentenzimmer verlassen hatte. Und sie war felsenfest davon überzeugt, dass er sich nicht wie ein psychisch kranker Mensch bewegt hatte, sondern mit der abgeklärten Kühle eines gedungenen Mörders. Das konnte sie natürlich niemandem eingestehen. Wie verrückt das geklungen hätte. Nein, das musste sie für sich behalten.
Aber sie sehnte sich nach Verständnis und nach Hilfe.
Ein Schauer überlief sie, als sie im Angesicht der Sterne an den Albtraum denken musste. Mutig richtete sie den Blick gen Himmel und rief mit zaghafter Stimme: »Ihr lichten Wesen da draußen, wer auch immer ihr seid, bitte helft mir, die Albträume zu überwinden und das Geheimnis des goldenen Schlüssels zu ergründen. Schickt mir bitte auch weiterhin Zeichen, ich will mit aufmerksamem Blick durch die Welt gehen. Bitte helft und zeigt mir den Weg, den ich gehen muss. Und bitte beschützt mich vor dem Bösen, das in der Dunkelheit meiner Träume lauert und vor dem mich mein Vater warnt!«
Kaum hatte sie die Worte in die Nacht hinaus gesprochen, fühlte Marie sich eingehüllt in einen Kokon aus Liebe und Geborgenheit. Verwundert und seltsam beruhigt, wandte sich Marie vom Fenster ab und legte sich, ohne zu zögern, schlafen, denn sie war für den Moment im Reinen mit sich und der Welt.
Julien
Paris, 28. August 2013
Es war früher Morgen, als Julien aus einem intensiven Traum erwachte. Fast atemlos horchte er in sich hinein und sah sie wieder vor sich, die von Licht umgebene Gestalt einer ungemein reizvollen Frau. Instinktiv wusste er, es war nicht seine Mutter. Dankbar dachte er an sie, denn sie hatte ihn gelehrt, Träume wichtig zu nehmen. Und sich nicht von Gefühlen wie diesem Begehren, das ihn erfüllte, bei der Deutung ablenken zu lassen. Julien war seiner Mutter sehr dankbar dafür, dass sie ihn seit der Kindheit auf seine wahre Mission vorbereitet und seine Gesangsausbildung darüber nicht vernachlässigt hatte. Oft fragte er sich, ob sie damals geahnt hatte, dass sie ihn nicht mehr lange würde durchs Leben begleiten können.
Wer sie wohl war, die Frau in seinem Traum? Dass es einen realen Bezug gab, eine Frau in der Wirklichkeit, daran zweifelte er nicht eine Sekunde. Allerdings – damit konnte doch nicht – Juliens Blick fiel auf den jungen, nackten Frauenkörper im Bett neben sich. Nein, gewiss nicht. Die Gefährtin neben ihm, mit der er seine Lust geteilt hatte, nein, sie war niemand von Bedeutung. Das spürte er instinktiv. Traum hin oder her: Sie war sehr real, und er war durchaus gewillt, sich erneut von seiner Lust in andere Gefilde tragen zu lassen. Er beugte sich über die schlafende Schöne und begann, ihre festen Brüste sanft mit seinen Lippen zu liebkosen. Giulia reagierte sofort, er bemerkte, dass sie erwachte und sich nur zu gerne der Erregung hingab, in die er sie versetzte. Aus schlaftrunkenen Augen betrachtete sie ihn mit einer Andacht, als sei er eine griechische Statue. Julien aber spürte gewiss, dass er nicht aus Marmor war – und die Art, wie Giulia auf ihn einging, verriet ihm, dass sie begierig war, sich ihm erneut hinzugeben.
Nachdem ein Höhepunkt den anderen gejagt hatte, fielen die beiden erschöpft zurück in die Kissen des riesigen Betts, und Giulia hauchte Julien ins Ohr: »Ti amo caro«, was Julien völlig unvorbereitet traf. Er hörte selbst, dass es aufgesetzt klang, als er erwiderte: »Ich mag dich auch sehr, Giulia.« Sein Blick fiel auf die Uhr, und er fügte hinzu: »Halb sieben. Ich muss jetzt aufstehen«, bevor er sich schwungvoll erhob.
»Was? Jetzt schon?«, rief Giulia entsetzt und versuchte, ihn zurück ins Bett zu ziehen.
Doch Julien hatte sich abgewandt, sodass es Giulia auch nichts half, sich erneut lustvoll im Bett zu rekeln, was normalerweise die gewünschte Wirkung bei Männern erzielte.
Julien schnappte sich noch schnell ein T-Shirt und seine Boxershorts, bevor er das Schlafzimmer verließ.
Im Musikzimmer grüßte ihn Sonnenlicht, und er war froh, dass der Raum, der ihm nicht nur zum Singen und für die Musik diente, sondern auch den allmorgendlichen Yogaübungen, nach Osten hinausging.
Er rollte die blaue Yogamatte neben dem glänzenden Steinway-Flügel auf dem Parkettboden aus, band das schulterlange schwarze Haar zurück und faltete die schlanken Finger vor der Brust zum Namaste-Gruß.
Er intonierte den heiligen Laut »OM« und kam innerlich zur Ruhe.
Als Julien spürte, wie sich sein Atem beruhigte und die gerade noch empfundene Lust abebbte, widmete er sich voller Konzentration dem anspruchsvollen Sonnengruß, wie er ihn gern praktizierte. Auch wenn sein linkes Knie ihn Tag für Tag mit schmerzhaften Stichen an einen Bühnenunfall vor einigen Jahren erinnerte, ließ er sich davon nicht abhalten, seine spezifische Variante zu üben. Er wusste, dass sein Körper davon profitierte, er fit und schlank blieb. Und er genoss es sehr, sich dieser Disziplin zu unterziehen, auch die schönste und verführerischste Frau hätte ihn nicht von seinem täglichen Morgentraining abhalten können und von dem Gefühl, eins zu sein mit dem Universum.
Er musste sich zwingen, mit dem Yoga aufzuhören, aber er wollte Giulia nicht unnötig reizen. Julien wusste, sie mochte es nicht, von ihm vernachlässigt allein im Bett zu liegen.
Er sprang noch schnell unter die Dusche, genoss den heißen Wasserstrahl auf seinem Körper, und wusch den letzten Rest von allem ab, was ihn belastet hatte.
Erfüllt von Gelassenheit, trocknete er sich ab und schlüpfte in sein Lieblingshemd, dazu die eng anliegende Jeans, die seine durchtrainierte Figur so gut betonte, und widmete sich dann seinem glänzend schwarzen Haar. Schmunzelnd registrierte er die silberne Strähne in Scheitelnähe. Ein wenig Eitelkeit, das wusste er, stand ihm bei seinem Gesangstalent zu – und verschaffte ihm Erfolg bei den Frauen.
Vorsichtig streckte er den Kopf durch die Schlafzimmertür, Giulia schlief wieder tief, und so beschloss er, ein Frühstück zu zaubern und es ihr ans Bett zu bringen. Summend schnitt er Obst in mundgerechte Stücke und legte sie in Form eines Mandalas auf zwei Teller aus zartem Porzellan. Dann goss er vorsichtig Sencha auf und freute sich schon auf den Genuss seines Lieblings-Grüntees. Kritisch betrachtete er schließlich die Obstteller und die beiden hauchdünnen Tassen auf dem edlen Lacktablett und nickte bedächtig.
Als Giulia die Augen aufschlug, wollte sie ihm im ersten Moment die kalte Schulter zeigen. Doch angesichts des liebevoll arrangierten Frühstücks setzte sie sich mit leuchtenden Augen im Bett auf. Mit raschem Griff hüllte sie sich in das durchscheinende Negligé, das sie am Abend offenbar achtlos auf den Boden geworfen hatte, und widmete sich den Köstlichkeiten. Als Julien ihr ein Stück Mango in den Mund schob, verwandelte sich ihr Lächeln in ein Strahlen. Sie kannte nur zu gut seinen Ruf als Tenor, doch dass er auch solche Qualitäten hatte! Ein guter Fang, das war Julien de la Tour, so viel war ihr bereits während der Proben in Salzburg klargeworden, aber dass der gefragteste Tenor der Welt sich zudem als ein solcher Liebhaber entpuppen würde, das hatte sie nicht geahnt. Er war mehr als ein positiver Einfluss auf ihre noch junge Karriere als Opernsängerin. Und sie beschloss, dass sie keine seiner berühmt-berüchtigten Affären sein, sondern ihn für längere Zeit an sich binden wollte.
Marie
Paris, 28. August 2013
Marie sprang mir einem Satz aus dem Bett. Der kurze, aber traumlose Schlaf hatte sie erfrischt. Zudem waren Semesterferien, nichts hinderte sie daran, es sich gut gehen zu lassen. Zugegeben, ein Blick in den Badezimmerspiegel wies sie darauf hin, dass die Albträume ihre Spuren hinterlassen hatten. So dunkle Augenringe hatte sie noch nie zuvor gehabt. Allmählich sah man ihr den wochenlangen Schlafentzug an. Ein guter Schluck Tee würde ihr bestimmt helfen, beschloss sie, zumindest würde sie sich besser fühlen.
Doch das Foto ihres Vaters auf dem Küchentisch rief den Schmerz in ihrem Herzen wieder wach. Tränen stahlen sich ihr in die Augen. Wenn sie nur das Rätsel des Schlüssels lösen könnte. Jean Chevalier war nicht mehr da, um ihr die Antwort zu geben.
Ehe sie wusste, wie ihr geschah, hatte sich ihr Blick in den blauen Augen auf dem Foto verloren, und sie hörte sich laut sagen: »Salut Papa, ich vermute, dass du mich hören kannst, auch wenn ich nicht wirklich an Überirdisches glaube. Bitte vergib mir, dass ich deine Unterstützung so oft nicht zu schätzen wusste und dich so selten angerufen habe. Aber wenn du mich jetzt hörst, weißt du ja, wie sehr ich das bedaure!
Falls es die sogenannte andere Seite hinter dem Schleier tatsächlich gibt, von der du immer gesprochen hast: Hilf mir bitte und gib mir Antwort. Ich will auch Ausschau halten nach Symbolen, das verspreche ich. Nach Mutters Tod hast du zu mir von solchen Zeichen gesprochen. Wie eindeutig sie für dich waren, und auch mir waren sie damals ein leiser Trost. Sprich zu mir! Bitte! Ich flehe dich an!«
Marie atmete durch, ein Gefühl der Zufriedenheit in ihrem Inneren. Da vernahm sie ein leises Rauschen und blickte zum Küchenfenster. Auf dem Fensterbrett hatte sich eine schneeweiße Taube niedergelassen, in ihrem Schnabel eine zartrosafarbene Rosenknospe. Marie wurde es ganz warm ums Herz, denn sie spürte, der Vogel war das von ihr ersehnte Zeichen.
Aber was wäre, wenn die Taube nicht nur zum Trost gekommen war? Wollte ihr Vater ihr zugleich eine Art Symbol schicken, das ihr helfen würde, das Rätsel des Schlüssels zu lösen? Marie starrte das Tier an, und auf einmal wusste sie, dass es so war: Ihr Vater hatte ihr einen Hinweis gesandt.
Noch immer in den Anblick des strahlend weißen Tieres vertieft, begann Maries Gehirn auf Hochtouren zu arbeiten. Hatte ihr Vater nicht einmal davon gesprochen, dass die weiße Taube nicht nur ein Symbol des Heiligen Geistes war, sondern in Verbindung mit einer rosafarbenen Rose ein Zeichen für die göttlich-reine Liebesverbindung zwischen Jesus Christus und der anderen Maria, »seiner« Maria Magdalena?
War ihr Vater tatsächlich tief in das sogenannte Mysterium um die Blutlinie, die angeblich von Jesus Christus und Maria Magdalena ausging, eingeweiht gewesen? Hatte sie ihm Unrecht getan, als sie ihn belächelte, weil er die Überzeugung vertreten hatte, dass Jesus Christus, der Sohn Gottes, ein Meister der Liebe auf allen Ebenen gewesen sei? Oder hatte er ihr seine Verstrickung in diese Dinge verschwiegen, weil dieses Wissen mit großer Gefahr verbunden war? Sie hätte endlos weitergrübeln und doch nicht erfahren können, was ihn wirklich bewegt hatte.
Als das Telefon läutete, war Marie fast dankbar, dass sie sich einem anderen Thema und damit der Realität zuwenden konnte. Gleich beim ersten Läuten war die Taube aufgeflogen, und jetzt war nichts mehr auf dem Fensterbrett, was ihr bestätigt hätte, dass sie das alles nicht nur geträumt hatte. Und wenn, eine Friedenstaube war ihr so oder so ein willkommeneres Zeichen als der dunkle, beklemmende Albtraum der Nacht.
Marie war erleichtert, als sie am anderen Ende die vertraute, lachende Stimme ihrer besten Freundin vernahm: »Salut, ich bin’s, Véronique! Wie geht es dir, ma chère?«
Ihr Herz klopfte noch bis zum Hals, so sehr hatte das Telefon sie aus ihren Gedanken gerissen. Sie druckste etwas herum: »Ich bin … Also ich bin etwas verwirrt.«
»Verwirrt? Weshalb?«
»Tja, ehrlich gesagt weiß ich nicht einmal, ob ich mit dir darüber sprechen darf, und vermutlich schon gar nicht am Telefon.«
»Was meinst du damit? Bist du in Gefahr? Soll ich zu dir kommen?«
»Wenn ich das wüsste. Aber ich würde dich wirklich gerne sehen. Wenn ich nur wüsste, was …« Ihr fehlten die Worte.
»Hast du die Engel schon um Hilfe gebeten?«, fragte Véronique vorsichtig, denn sie kannte ihre Freundin nur allzu gut.
»Ach, Véronique, du weißt doch, dass ich an so etwas nicht glaube!«
Véronique lächelte. »Ja, das ist mir durchaus bewusst. Doch manchmal ist es einen Versuch wert. Wenn man auf andere Weise nicht weiterkommt …« Véronique ließ nicht locker.
»Hm, vielleicht hast du ja recht«, überlegte Marie. »Weißt du, vorhin erst habe ich meinen Vater um ein Zeichen gebeten. Und wenig später war da tatsächlich etwas. Vielleicht sollte ich es auch mal mit den Engeln versuchen.«
»Und du wirst sehen, es funktioniert«, lachte Véronique ins Telefon. Es war ihr anzuhören, wie sie sich darüber freute, dass sich ihre Freundin endlich dazu durchgerungen hatte, ihrem Rat zu folgen und das zu versuchen, was ihr in ihrem eigenen Leben schon so sehr geholfen hatte.
»Chérie, ich brauche noch etwas Zeit für mich, aber ich melde mich später bei dir, okay?«
»Alles klar, Marie! Bis nachher! Ich freue mich.«
»Ich mich auch! Je t’embrasse.«
»Ich dich auch! A bientôt!«
Kaum hatte sie aufgelegt, horchte Marie in sich hinein. Ein Gebet. Die Engel um Hilfe bitten. Marie wusste auf einmal, wo sie das tun wollte. Sie würde zur Basilika von Sacré-Cœur gehen. Seit ihrer Kindheit hatte sie sich seltsam zu Hause gefühlt in dieser Kirche, obwohl sie nicht wirklich an Gott, Jesus Christus und dergleichen glaubte.
Schnell schlüpfte sie in ihr Lieblings-Sommerkleid und in ein Paar ihrer geliebten High Heels, bändigte die langen kastanienbraunen Locken. Dann warf sie sich einen Paschmina-Schal über, in Sacré-Cœur konnte es kühl sein, und für den Weg dorthin schnappte sie sich ihre Sonnenbrille samt Handy. Pfeifend lief sie die schiefen Stiegen hinunter und wäre fast gegen eine dunkle Limousine gelaufen, die wenige Meter vor ihrem Hauseingang geparkt war. Im letzten Moment konnte sie ausweichen und registrierte verwundert, dass wohl Touristen bis in diesen Winkel der Gassen von Montmartre vorgedrungen waren, so lebhaft, wie der Fotoapparat im Innern blitzte. Verrückte Touristen. Amüsiert stellte sie fest, dass Außenstehende sie wohl ebenso für verrückt erklärt hätten, als sie die ersten Stufen der langen Treppe hinauf zur Sacré-Cœur nahm – auf ihren High Heels.
Julien
Paris, 28. August 2013
Julien spürte dem Geschmack der Mango nach, während sein Blick auf Giulia ruhte. Sie war nicht nur attraktiv, sie war schön, erfolgreich, nur ein wenig exaltiert – und insgesamt eine gute Partie. Doch er wurde das schale Gefühl nicht los, dass sie noch nicht die Frau war, die er aus ganzem Herzen lieben konnte. Die alte Beklemmung, seine Angst vor Nähe und vor allem vor einer festen Beziehung, lebte in ihm auf. Er schüttelte unwillkürlich den Kopf. Bisher hatte er nur eine einzige Frau getroffen, die nicht diese Art von Gefühl in ihm auslöste. Sie hieß Véronique und war eine Kollegin von der Opéra Bastille, der Oper von Paris. Véronique war keine Sängerin, sondern eine Primaballerina, die er zufällig bei den verschiedensten Veranstaltungen getroffen und dadurch näher kennengelernt hatte. Sie war eine der wenigen Frauen, die ihm nie irgendwelche Avancen gemacht hatte. Eine durch und durch besondere Frau. Einerseits erinnerte sie ihn mit ihrer sanften Art an einen Engel, andererseits hatte sie jedoch eine so kraftvolle Ausstrahlung, dass sie mit dem durchtrainierten Körper wie eine ätherische Göttin in Menschengestalt wirkte. Ungemein reizvoll – und dennoch hatte sich Julien seltsamerweise nie in sie verliebt. Er wusste selbst, wie ungewöhnlich das war. Mit ihr zu sprechen wäre eine Erleichterung. Julien, der gelernt hatte, auf sein Bauchgefühl zu hören, zögerte nicht, sondern griff nach seinem Smartphone, während er Giulia erklärte, dass eine alte Freundin seinen Anruf erwarte; wohl wissend, dass sie der französischen Sprache nicht wirklich mächtig war.
Er hatte Glück, schon nach dem ersten Klingelzeichen nahm Véronique ab, und ihr fröhliches »Hallo!« machte, dass er sich sogleich unbeschwerter fühlte. Er bemerkte, dass er unwillkürlich lächelte.
»Salut Véronique, ich bin es, Julien. Schön, dass ich dich gleich erreiche!«
»Oh, hallo Julien! Mit dir hatte ich nicht gerechnet.«
»Wie soll ich das verstehen? Wartest du etwa auf den Anruf von einem Verehrer?«, scherzte Julien.
»Aber nein! Ich freue mich wirklich, dich zu hören.«
»Das weiß ich doch, ma chère«, erwiderte Julien lächelnd.
»Es ist nur so, dass es meiner besten Freundin Marie nicht gut geht, und ich warte auf einen Rückruf von ihr, aber sie kann mich zur Not auf dem iPhone erreichen.«
Plötzlich registrierte Julien, dass es sich bei Marie womöglich um die Tochter des kürzlich ermordeten Jean Chevalier handeln könnte. »Sag mal, redest du von Marie Chevalier?«
»Ja, wieso?« Véronique wusste, dass sich die beiden nie persönlich begegnet waren.
»Ich meine, dann ist es kein Wunder, dass es ihr nicht gut geht, wenn schon ich so sehr betroffen bin von diesem schrecklichen Verlust«, seufzte Julien.
»Ja, das ist wahr. Doch das ist mit Sicherheit nicht der Grund, weshalb du mich angerufen hast, richtig?«
»Richtig. Ich wollte dich einfach nur fragen, ob du Lust und Zeit hättest, mich auf einen Kaffee oder auf einen Tee zu treffen.«
»Sehr gerne, Julien. Heute?«
»Warum nicht!«
»Und wo?«
»Ich denke, es wäre schön, mal wieder im Café de Flore zu sitzen. Was meinst du?«
»Gute Idee. Heute Nachmittag um fünf? Wäre das okay für dich?«
»Ja, prima! Dann sehen wir uns dort. Ich freue mich!«
»Ich mich auch. Bis nachher, Julien.«
Nachdem Julien aufgelegt hatte, führte er das Gespräch im Kopf weiter, erzählte Véronique, was er in Wahrheit nicht so leicht zugeben konnte: dass er bei den »Carmen«-Proben für die Salzburger Festspiele eine junge italienische Sängerin kennengelernt, sich mit ihr in eine leidenschaftliche Affäre gestürzt hatte und sie am liebsten gleich wieder losgeworden wäre. Und erst in diesem Gedankengespräch wurde ihm klar, dass es genauso war.
Marie
Paris, 28. August 2013
In einer Traube von Touristen bewegte sich Marie langsam hinein in diese Kirche, die ihr so viel bedeutete. Zielstrebig suchte sie sich einen Sitzplatz in der Mitte der Basilika, um einen freien Blick auf das große Christusmosaik in der Apsis zu haben. Sie atmete tief durch und wollte gerade auch innerlich ganz zur Ruhe kommen, da spürte sie, dass sie beobachtet wurde. Ihr Herz klopfte bis zum Hals, hatte nicht auch so ihr Albtraum begonnen? Marie sah sich suchend um, und ihr Blick fiel auf einen jungen Mann am anderen Ende ihrer Bank. Sie schluckte, denn er schien ihr überirdisch schön. Für sie sah er mit dem schulterlangen blonden Haar aus wie der leibhaftige Erzengel Michael. Und sosehr sie versuchte, den Blick abzuwenden, wurde er doch wie magnetisch von ihm angezogen. Ist dies ein Mensch aus Fleisch und Blut? Oder sehe ich wahrhaftig einen Engel neben mir?, fragte sich Marie beklommen. Sie gab sich einen Ruck und betrachtete ihn genauer. Konnte das sein? Trug er Motorradkleidung?
Als hätte dieser Gedanke sie von dem Bann erlöst, ihn ständig anstarren zu müssen, wandte sie den Blick hoch zum Mosaik. Da war er, der Jesus, ihr Vertrauter aus Kindertagen. Damals hatte sie eine ganz besondere Liebe zum Sohn Gottes verspürt. Sie war sogar vollkommen davon überzeugt gewesen, ihn persönlich zu kennen. Vielleicht war es kein Zufall, dass sie an einem Karfreitag geboren war. Doch die Tage, da sie vor diesem Mosaik Zuflucht gesucht hatte, lagen lange zurück. Genauso lange wie die Qualen, die sie jeden Karfreitag gebeutelt hatten, als sie regelmäßig krank geworden war. Damals hatte sie im Fieber des Öfteren Visionen der Kreuzigungsszene gehabt, ganz so, als wäre sie selbst dabei gewesen. Und nur ihr Vater hatte es vermocht sie in diesen Momenten zu trösten und ihren Tränen Einhalt zu gebieten. Ach, sie hätte ihn nur zu gerne danach gefragt.
Marie hob ihre Augen auf zu dem Bild Jesu mit dem flammenden, dornenumkränzten Herzen und den weit ausgebreiteten Armen. Der Heiligenschein war durchwirkt von einem gleichschenkligen Kreuz, dessen unterer Teil von Jesu Haupt verdeckt war, was ihm jedoch eine ganz besondere Wirkung verlieh. Es war, als würde er aus dem Blau heraustreten, so perspektivisch, als könnte sie ihm persönlich begegnen. Natürlich hatte sie die Daten im Kopf, den Künstler Luc-Oliver Merson, der schon Anfang des 20. Jahrhunderts in der Lage war, auf diesem riesigen Mosaik diesen 3-D-Effekt zu erzielen, diese starke, lebendige Präsenz.
Endlich gelang es Marie, in stiller Andacht zu versinken, die Gegenwart dieses engelsgleichen Mannes in Motorradkleidung zu verdrängen. Die Unruhe und die Fragen aber blieben präsent samt dem Rätsel um den Tod ihres Vaters und den Schlüssel.
Aus diesem Gefühl heraus – und weil sie sich an das Versprechen erinnerte, das sie Véronique gegeben hatte, es einmal damit zu versuchen – wandte sie sich direkt an den Jesus des Mosaiks und sprach wie im Gebet zu ihm. »Auch wenn ich viele Jahre lang nichts mehr von dir wissen wollte, lieber Jesus, bin ich mittlerweile so verzweifelt, dass ich dich um deine Hilfe bitten möchte.Wenn du wirklich existierst, weißt du, wie sehr mich meine Albträume quälen, und ich habe Angst, den Verstand zu verlieren. Ich vermute, dass all dies mit dem goldenen Schlüssel zusammenhängt, den mir mein Vater nach seinem Tod vermacht hat. Ich bitte dich, hilf mir, das Geheimnis des goldenen Schlüssels zu lüften! Damit ich meinen inneren Frieden wiederfinden kann.«
Flehend rang Marie die Hände und nahm nicht wahr, dass der blonde Mann sie nicht eine Sekunde aus den Augen ließ, die alles andere als tugendhaft über ihren Körper glitten.
Marie seufzte, und das Geräusch ließ sie zusammenfahren. Mit einem Mal wurde sie sich des unablässigen Touristenstroms gewahr, des Geraschels, Geraunes und Getrappels. Als sie die Bankreihe verließ, bemerkte sie erneut den engelsgleichen jungen Mann, der gleichzeitig mit ihr aufstand. So blieb er vor ihr auf dem Weg zum Ausgang, wo er sich, kaum hatten sie die Kirche verlassen, zu ihr umdrehte und fragte: »Hast du Lust, mit mir einen Kaffee zu trinken?«
Irgendwie kam ihr das ziemlich dreist vor, doch er sah so außergewöhnlich gut aus, dass sie die Augen nicht von ihm abwenden konnte.
»Nun, was ist, ma belle?«, und sein charmantes Lächeln konn-te sie fast körperlich spüren.
Da hörte sie sich mit seltsam belegter Stimme antworten: »Warum nicht? Wo wollen wir hingehen?«
»Wie schön! Ich bin übrigens Lucius. Und wie heißt du?«
»Ich heiße Marie. Nun, hast du eine Idee?«
»Lass uns ins Café des Deux Moulins gehen.«
»Gute Idee!«
»Bist du mutig?«
»Ich denke schon. Warum?«
»Traust du dich, Marie, dich hinter mich auf mein Motorrad zu setzen, ja?«
Sie musste unwillkürlich lachen, sie fuhr seit Jahren Motorrad. So sagte sie: »Seit wann braucht man dafür Mut? So wie ich das sehe, braucht man nur einen Helm. Hast du einen zweiten?«
Überrascht sagte er: »Ja, habe ich. Dann lass uns die Treppen runter und los.«
Marie wunderte sich über sich selbst, als sie nebeneinander auf der Treppe waren. Da hatte sie sich richtig überrumpeln lassen. Er sah aber auch zu gut aus. Sonst hätte sie nie im Leben Ja gesagt. Aber die Neugier siegte über das leichte Unbehagen, und beherzt schwang sie sich hinter Lucius auf die diamantschwarze Ducati Diavel, die ihrer BMW-Roadster in nichts nachstand.
Ohne jegliche Vorwarnung preschte Lucius los, sodass Marie nichts anderes übrigblieb, als die Arme um seine Taille zu schlingen und sich mit ihm in die Kurven zu legen. Rasant steuerte er durch den engen Verkehr, nur haarscharf an Stoßstangen vorbei, und mehr als einmal spürte Marie, dass sie sich instinktiv an ihn presste, verwundert darüber, wie gut sich sein fester Körper anfühlte.
Als die beiden am Café des Deux Moulins von der schweren Maschine stiegen, spürte Marie, wie erhitzt sie war, und entledigte sich nur zu gerne ihres Helmes. Sie fanden draußen einen kleinen Tisch mit zwei freien Stühlen vor, ganz so, als wäre dieser extra für sie beide reserviert worden.
Marie fühlte sich nicht wirklich wohl in ihrer Haut, als sie sich mit Lucius an dem Tisch niederließ. Irgendwie verwirrte sie dieser Mann – und noch viel mehr ihre eigene Reaktion. Normalerweise wurde sie in der Nähe eines gutaussehenden Mannes nicht unsicher. Sie kannte diese Wirkung, schließlich übte sie selbst manchmal wohl eine ähnliche auf das männliche Geschlecht aus, was sie nur zu oft aus dem Gestotter der Männer und ihrem hilflosen Gefuchtel geschlossen hatte. Doch als sie hinter ihm auf dem Motorrad gesessen hatte, war ihr erst bewusst geworden, wie sehr männliche Nähe in ihrem Leben fehlte und wie groß ihre Sehnsucht nach Berührung war. Die Signale ihres Körpers waren unmissverständlich gewesen.
Nicht erst seit dem Tod ihres Vaters hatte sie sich nicht auf etwas einlassen mögen, auch davor war sie länger als Single durchs Leben gegangen. Da war niemand, der ihr interessant genug erschienen wäre, um ihre Freiheit aufzugeben.
»Was ist nur mit mir los, dass ich mich auf einmal wie ein unreifer Teenager fühle?«, fragte sich Marie besorgt. »Ein paar Worte von Véronique fehlen mir, sie würde mir schon den Kopf geraderücken. Ich wollte mich doch heute mit ihr treffen!«
Marie war froh, als Lucius sie kurz verließ, um zur Toilette zu gehen. Sofort zückte sie ihr Handy. Höchste Zeit, der Freundin zu schreiben.
So schnell sie konnte, tippte Marie in ihr Smartphone:
Ma chère,
es ist was Komisches passiert!
Ich war in Sacré-Cœur, um zur Ruhe zu kommen, und habe dort einen Mann getroffen, der aussieht wie der leibhaftige Erzengel Michael …
Überirdisch schön!
Nun sitze ich mit ihm im Café des Deux Moulins.
Können wir uns gegen 15:00 Uhr treffen?
Kommst du zu mir?
Wäre schön!
Bisous
Marie
Sie war gerade mit dem Schreiben fertig, als Lucius zurückkam, und brauchte die Nachricht nur noch abzusenden. Lucius schaute sie fragend an, und Marie antwortete lächelnd: »Ach, du kennst das doch! Frauentalk.«
»Verstehe.« Lucius grinste wie ein Lausbube.
Doch Marie bemerkte, dass sein Lächeln nur den Mund umspielte, die Augen jedoch nicht erreichte, und plötzlich war sie auf der Hut.
Wer war dieser Mann, und was wollte er von ihr?
Auf einen Schlag war sie hellwach.
Lucius schaute sie aus seinen stahlblauen, doch irgendwie kalten Augen forschend an. Jetzt aber konnte Marie seinen Blick gelassen erwidern und war wieder ganz bei sich – eine junge Frau, ihrer selbst sicher.
Lucius winkte einen Kellner herbei, und Marie bemerkte, dass er unter irgendeiner Art von Druck stand.
Unverfänglich fragte sie ihn: »Wie kamst du eigentlich darauf, mich anzusprechen?«
»Na ja, du musst mir sicherlich recht geben, dass weder du noch ich aussehen wie die typischen Touristen. Ich habe mich jedenfalls gefragt, was so eine wunderschöne Frau in der über-füllten Basilika will.«
»Spannende Frage! Und was tut ein attraktiver junger Mann, der auf einer schnellen Maschine durch Paris braust, in Sacré-Cœur?«
»Ma chère, ich habe zuerst gefragt! Also?«
Marie musste lachen. »Ganz einfach – Sacré-Cœur ist für mich ein Ort zum Nachdenken und Innehalten. Und für dich?«
»Hm, so habe ich das bisher nicht gesehen. Ich recherchiere gerade für ein Buch über Kirchensymbole. Daher habe ich Sacré-Cœur besucht – und dich getroffen.«
»Das ist ja interessant! Was für Kirchensymbole denn?«
»Kennst du dich mit so was aus? Oder warum fragst du?«
»Das kann man wohl sagen: Ich bin Professorin für Kunst-geschichte und Malerei an der École nationale supérieure des Beaux-Arts hier in Paris.«
»Wow! Wie alt bist du denn?«
»Fragt man so etwas eine Frau?«, erwiderte Marie schmun-zelnd.
»Na, sieh es doch als Kompliment an, wenn ich dich für so jung halte, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass du bereits Professorin bist!«
»Da muss ich dir allerdings recht geben«, lachte Marie. »Ich bin dreißig. Und du?«
»Ich bin achtunddreißig.«
»Und was machst du, außer Bücher zu schreiben?«
»Ich arbeite für eine Kulturstiftung, die meine Kunstkenntnisse zu schätzen weiß.«
»Das bedeutet, wir sind sozusagen vom gleichen Fach.«
»Das kann man wohl so sagen«, meinte Lucius und zeigte sich amüsiert, weil er sie fast wörtlich wiederholte.
»Wenn das mal nicht Schicksal ist, dass wir uns getroffen haben«, warf Marie ein.
»Mag sein«, lautete Lucius’ knappe Antwort.
Marie spürte, dass Lucius plötzlich zurückhaltender war, seit sie das Wort »Schicksal« in den Mund genommen hatte, und fragte ihn: »Glaubst du nicht an das Schicksal?«
»Das ist ein weites Feld … Ich will nicht drüber reden. Bitte versteh das! Es hat nichts mit dir zu tun.«
»Alles gut! Ich wollte dir nicht zu nahetreten.«
»Ganz im Gegenteil! Komm mir ruhig zu nahe.« Lucius’ Lächeln erreichte wieder nur die Augenwinkel.
Marie hielt automatisch innerlich Abstand und trank nachdenklich den Café au lait. Lucius beobachtete sie, aber sie wusste nicht, wie sie auf diese Direktheit eingehen sollte. Hoffentlich meldete sich Véronique bald, Marie zog ihr Handy hervor.
Wunderbar, ma chère!
Das geht in Ordnung. Ich bin nur um fünf schon mit Julien, dem Tenor, im Café de Flore verabredet.
Du kannst aber sicherlich gerne mitkommen, da er dich schon immer kennenlernen wollte.
Soll ich ihn fragen?
Je t’embrasse
Véronique
Was für ein seltsamer Tag. Wochenlang hatte sie keine interessanten Männer mehr zu Gesicht bekommen. Und nun sollte ihr gleich ein zweiter besonders attraktiver vorgestellt werden. Ihr Vater hatte von diesem Julien gesprochen, aber sie hatte diese selbstgefälligen Typen nie gemocht, denen die Frauen reihenweise zu Füßen lagen. Daher hatte sie es vermieden, ihn kennenzulernen, obwohl sowohl ihr Vater als auch Véronique Partei für ihn ergriffen hatten. Vielleicht war es an der Zeit, ihr Urteil zu revidieren.
»Alles okay?«, fragte Lucius.
Er musste gesehen haben, dass sie nachdenklich geworden war. Sie sagte: »Ja, alles bestens. Ich muss nur bald los.«
»Verstehe. Wollen wir unsere Unterhaltung ein anderes Mal fortsetzen? Magst du mir deine Handynummer geben?«
Marie zögerte nicht, sondern diktierte ihm ihre Nummer ins Smartphone.
Kaum war er fertig, stand sie auf und wollte sich ohne jegliche Berührung von ihm verabschieden. Doch sie hatte nicht mit Lucius gerechnet. In Sekundenschnelle zog er sie fest an sich, sodass sie seinen männlichen Körper deutlich spüren konnte. Ihr stieg die Röte ins Gesicht. Das ging eindeutig zu schnell. Fühlte sich aber gut an.
Marie machte sich los und wollte zu ihrem Motorrad, als sie realisierte, dass sie mit Lucius gekommen war. Schon stand er neben ihr und fragte: »Kann ich dich noch irgendwo hinbringen?«
Völlig überrumpelt antwortete sie: »Ja, nach Hause bitte!«
Véronique
Paris, 28. August 2013
Marie musterte zufrieden ihre Freundin. Wie gut das getan hatte, ihr alles zu erzählen. Véronique kannte nicht nur ihre Schwierigkeiten mit den Vorstellungen ihres Vaters, sondern sie hatte alle Jahre unverwandt trotzdem weiter selbst auf Engel und die Kraft des Glaubens vertraut, auch als Marie gezweifelt hatte. Das hatte nach dem Unfalltod ihrer Mutter begonnen, doch zum Glück hatte es ihre Freundschaft nie getrübt. Und nun hatte sie Véronique endlich alles eingestanden: den Fund des Schlüssels, die Albträume, sogar die Sache mit dem Messer. Véronique hatte sie in den Arm genommen, sie gedrückt, und auf einmal konnte Marie nachvollziehen, dass geteiltes Leid halbes Leid sein sollte, wie das Sprichwort es behauptete. Zu ihrer großen Erleichterung hatte Véronique ihre Empfindungen respektiert, als Marie ihr eingestanden hatte, dass auch sie jetzt Zuflucht zu Gebeten nahm und Zeichen erhielt. Noch nie hatte das Wort Schicksal ihr so viel bedeutet – und nun hatte sie eine Schicksalsfreundin, auch aus dieser Blutlinie, von der ihr Vater einmal gesprochen, sie auf ihr Zögern hin jedoch nie mehr erwähnt hatte. Unwillkürlich lächelte sie Véronique an, und diese erwiderte herzlich das Lächeln und den strahlenden Blick. Das erinnerte sie an diesen Lucius. Marie zögerte nur kurz, dann erzählte sie Véronique auch von diesem wunderschönen Mann in Motorradkluft. Und genau als sie endete, klingelte Maries Smartphone. Es war eine Nachricht von Lucius:
Liebe Marie,
es war mir eine Freude, dich heute kennenzulernen, und ich möchte dich so bald wie möglich wiedersehen.
Hast du heute Abend schon etwas vor?
Bises
Lucius
»Den scheint es ja wirklich erwischt zu haben«, schmunzelte Véronique, als sie ihr den Text vorgelesen hatte.
»Meinst du? Ich bin mir da nicht so sicher, denn irgendwie war er seltsam. Sein Lächeln reichte nie bis zu den Augen.«
»Was willst du nun tun?«
»Ich weiß es nicht. Was würdest du mir raten?«
»Hat er dir denn gefallen?«
»Wie soll einem ein Mann, der aussieht wie ein Engel, nicht gefallen? Du stellst vielleicht Fragen!«, rief Marie kopfschüttelnd aus.
»Verstehe! Aber hat er dir auch als Mensch zugesagt?«
»Das weiß ich nicht so genau, wir haben auch gar nicht viel gesprochen. Er hat mich einfach extrem verwirrt. Mir ist nicht klar, woran das liegt.«
Marie konnte sich nicht vorstellen, wie sie vermitteln sollte, was sie empfunden hatte auf der Dukati hinter ihm, sein Körper so nah an ihrem.
»Na, dann solltest du ihn auf jeden Fall wieder treffen. Doch nicht heute, damit er sich nicht in allzu großer Sicherheit wiegt, was dich betrifft«, unterbrach Véronique Maries Gedanken.
»Das ist wahr! Also ist es auch sinnvoll abzuwarten, bevor ich ihm zurückschreibe«, überlegte Marie.
»Auf jeden Fall!«, stimmte Véronique zu. »Doch nun lass uns überlegen, wie du weiter vorgehen kannst, was das Vermächtnis deines Vaters betrifft.«
»Ja, richtig! Wie konnte mich Lucius nur so vom Wesentlichen ablenken!«
»Tja, schöne Männer haben eine gewisse Wirkung …«, säuselte Véronique mit einem übertrieben klimpernden Augenaufschlag, sodass sich Marie vor Lachen bog.
»Ich wusste gar nicht, dass du so gut schauspielern kannst!«
»Als Balletttänzerin lernt man so manches.«
»Das kann ich mir denken!«, erwiderte Marie mit einem Zwinkern. »Aber weißt du was? Es tut so gut, endlich wieder in Ruhe mit dir zu sprechen. Ich danke dir von Herzen, dass du mir einfach zugehört hast, ohne mich mit Ratschlägen zu bombar-dieren, wie es die meisten Menschen an deiner Stelle getan hätten.Ich fühle mich um so vieles besser! Merci!«
Daraufhin stand Marie vom Küchentisch auf, trat hinter den Stuhl der Freundin und legte ihre Arme sanft um sie. Schweigend verweilten sie in dieser Haltung, um diesen Moment inniger Verbundenheit vollkommen auszukosten.
Schließlich wandte sich Véronique mit Tränen in den Augen zu Marie um. Wie in Trance sagte sie leise: »Unsere Seelen haben lange Zeit vor unserer Geburt beschlossen, gemeinsam durch dieses Leben zu gehen. Um die wesentlichen Augenblicke miteinander zu teilen, einander zu unterstützen und auch um einander zu tragen, wenn es notwendig ist, sodass wir erneut lernen, dass die reine Liebe uns wahrhaftig hilft, jeglichen Schmerz zu überwinden, und wir uns wieder erinnern, wer wir in Wahrheit sind.«
Bei diesen Worten begannen auch Maries Augen verräterisch zu glitzern, jedes Wort war so wahr, und sie wurde überwältigt von unendlicher Liebe. Es war ein Gefühl der Zugehörigkeit, das sie so stark miteinander verband. Konnte ihre gemeinsame Verbindung zur Blutlinie so etwas bewirken? Marie ließ sich wieder auf ihren Stuhl sinken und gab sich diesem Gefühl vollkommen hin, denn sie wusste intuitiv, dass ihr Heilung zuteilwurde. Und auch wenn sie nie zuvor eine ähnliche Erfahrung gemacht hatte, war ihr bewusst, dass sich etwas in ihr verwandelt hatte. Als hätte sich eine Tür in ihr aufgetan. Ein Fenster zu einem Licht.
Dankbar schaute sie Véronique an, die auch ohne Worte verstand, was mit Marie geschehen war. Gleichzeitig standen beide auf und umarmten sich fest. Sie wussten, was auch immer kommen sollte, gemeinsam würden sie es durchstehen.
Nachdem Marie und Véronique bei einer Schale grünem Tee wieder in der Realität angekommen waren, fragte Marie: »Und was schlägst du jetzt vor?«
»Während du dich zu Sacré-Cœur hingezogen fühlst, habe ich diese enge Verbindung zu Saint-Sulpice. Ich finde, wir sollten auch diese Kirche aufsuchen.«
»Gut!«, antwortete Marie. »Gibt es dort auch so etwas Besonderes, wie es mein Christus-Mosaik für mich ist?«
»Ich denke schon. Im Gegensatz zu vielen anderen Gottes-häusern spüre ich dort die Präsenz von Maria Magdalena ebenso stark wie die von Mutter Maria.«
»Das reicht mir als Grund, weshalb wir dorthin gehen sollten.«
Marie spürte selbst, dass sie noch vor einem Tag nie im Leben so reagiert hätte, doch das löste nur ein Lächeln bei ihr aus und eine tiefe Zufriedenheit, dass sie inzwischen gelernt hatte, auf Zeichen zu vertrauen.
Wenig später machten sie sich auf den Weg zu Maries BMW Roadster, die im Hinterhof geparkt war. Véronique setzte sich hinter Marie auf die königsblaue Maschine, und schon düsten die beiden durch den Hof auf die Straße hinaus.
Aus dem Augenwinkel nahm Marie wieder die dunkle Limousine wahr, die aus einem Parkplatz ausscherte und ihnen zu folgen begann. Eine Gänsehaut überlief sie, und sie konnte sich des Gedankens nicht erwehren, dass von dem schwarzen Mercedes Gefahr ausging. Doch jetzt war nicht der Moment, sich damit zu beschäftigen. Sie hatten ein Ziel vor Augen und suchten den Rat der Maria Magdalena.
Marie / Véronique
Paris, 28. August 2013
Ehrfürchtig schweigend betraten Véronique und Marie die Kirche Saint-Sulpice, gefangen in der Stille nach dem Dröhnen des Motorrads. Beide spürten sie, dass sie sich an einem ganz besonderen Ort befanden, einem Ort der Geborgenheit. Hier war ein heiliger Platz des göttlich Weiblichen. Die Kirche war nicht nur von der jungfräulich reinen Energie von Mutter Maria durchdrungen, sondern auch der ungleich erdigeren Energie der Maria Magdalena, das war ihnen beiden bewusst.
Innerlich berührt nahmen die beiden Freundinnen nebeneinander auf zwei Stühlen in der Mitte der Kirche Platz und schlossen die Augen in Erwartung dessen, was kommen würde.
Während Marie einfach nur versuchte, ruhig zu werden, begann Véronique auf vielfach geübte Art und Weise zu atmen, um in einen tiefen Zustand der Entspannung und Empfänglichkeit zu gelangen, der es ihr vielleicht ermöglichen würde zu verstehen, weshalb sie das dringende Gefühl verspürt hatte, diesen heiligen Ort aufzusuchen.
Es dauerte nicht lange, und Véronique nahm die ihr seit vielen Jahren vertraute Gegenwart von Mutter Maria wahr.
Im Kern ihres Wesens vernahm sie folgende Worte:
»Geliebte Tochter, wie schön, dass ich zu dir sprechen kann. Es ist von tiefer Bedeutsamkeit, was ich dir zu sagen habe. Marie Madeleine, deine Herzensschwester, hat für dieses Leben eine übergroße Mission auf sich genommen, die sie alleine nicht zu bewältigen vermag. Doch ward sie bereits vor langer Zeit ausgewählt, diese zu erfüllen, als sie in diesem Land als Jeanne d’Arc starb.
Ihr ist jedoch noch nicht bewusst, welch große Kraft ihr innewohnt, so ist es an dir, ihr beizustehen und ihr zu helfen, sich wieder zu erinnern. Bist du bereit, geliebtes Kind?«
Voller Inbrunst nickte Véronique.
Und Maria fuhr fort:
»Wie du bereits erkannt hast, schwebt Marie Madeleine in ernsthafter Gefahr. Eine Vereinigung dunkler Seelen hat es sich zur Aufgabe gemacht, Marie Madeleine daran zu hindern, ihren Auftrag für dieses Leben zu erfüllen.
Natürlich werden wir himmlischen Mächte tun, was uns erlaubt ist zu tun, um sie vor größerem Schaden zu bewahren, doch ist es auch an dir, die Augen offen zu halten für die lichten und die dunklen Zeichen, sodass ihr beide unter unserer Führung eure Schritte planen könnt.
Ich danke dir, meine Tochter, für deine große Reinheit, die es dir ermöglicht, so leicht mit den himmlischen Wesen zu kommunizieren. So sei gegrüßt und grüße auch Marie Madeleine von mir! Und nun sei in meinen Mantel des Lichtes gehüllt, auf dass du noch heller strahlen mögest.«
Véronique konnte deutlich spüren, wie Maria ihr den aquamarinblauen Mantel um die Schultern legte und ein überirdisch strahlendes Licht sie durchströmte. Ruhe überkam sie und die Gewissheit, dass alles, was geschehen musste, geschehen würde.
Marie und sie waren Teil von etwas Größerem, und sie beide würden alles tun, was in ihrer Macht stand, um ihren Auftrag für die Welt zu erfüllen.
Voller Dankbarkeit versprach Véronique, dass sie Marie unter allen Umständen bei ihrer Mission unterstützen wollte. Und das Licht, das sie daraufhin blendete, war kein irdisches. Da wusste Véronique, dass Maria ihren Dank erhalten hatte und dass die Botschaft wirklich galt.
Als sie die Augen wieder öffnete, schaute sie zu Marie hinüber, die in sich versunken, aber offenbar eins mit sich dasaß. Liebevoll betrachtete sie Marie, dankbar, dass ihre Freundin, die so verstört gewesen war, nun so friedlich aussah.
Marie schien den auf sich ruhenden Blick zu spüren, denn sie begann zu blinzeln und drehte ihr Gesicht langsam Véronique zu. In ihren leuchtenden Augen konnte Véronique lesen, dass auch sie eine tiefe Erfahrung gemacht haben musste. Ohne Worte umarmten sich die beiden Freundinnen, in voller Kenntnis und erfüllt von Verständnis für das Erleben der anderen. Sie erhoben sich und strebten dem Ausgang zu.
Plötzlich hielt Marie in ihrer Bewegung inne, da sie von der Pietà von Jean-Baptiste-Auguste Clésinger in Bann gezogen wurde. Im Gegensatz zu anderen bekannten Darstellungen dieser Art lag der geschundene Christus zwar in den Armen seiner Mutter, diese hielt jedoch auch Maria Magdalena umschlungen, die völlig in sich zusammengesunken vor Marias Füßen saß und mit ihrem Kopf Jesu Haupt berührte. Der unendliche Schmerz und zugleich die tiefe Innigkeit, die von dieser Skulptur ausgingen, trafen Marie ins Herz. Unwillkürlich begann sie zu weinen, und untröstlich sah sie die Kreuzigungsszene vor sich mit einer solchen Intensität wie zuletzt in den Träumen, die sie an Karfreitag heimgesucht hatten. Angesichts des innigen Erlebens dieses Karfreitagstraumes begann ihr Körper unkontrolliert zu zittern.
Véronique schlang die Arme um die Freundin und versuchte, sie zu beruhigen. Sie war aufgrund ihres langjährigen Trainings in den verschiedensten Mysterien-Schulen in der Lage, sich auf der Seelenebene mit Marie zu verbinden und in deren Visionen einzutauchen. Als sie die Szene wahrnahm, die Marie durchstand, tat sie endlich das, was schon längst hätte geschehen sollen: Mithilfe von Erzengel Raziel, dem Magier unter den Erzengeln, sowie der Göttin Isis befreite sie Marie von dem Trauma, das sie in ihrem alten Leben zu Zeiten von Jesus Christus erlitten hatte.
Ihre Anteilnahme war so groß, dass Véronique förmlich spüren konnte, wie der Schmerz Marie verließ und sie sich innerlich und äußerlich aufzurichten begann.
Nach einigen tiefen und bewussten Atemzügen, die Marie ins Hier und Jetzt zurückbrachten, drückte sie Véronique dankbar an sich, denn ihr war bewusst, dass ihre Freundin ihr mit ihrem spirituellen Wissen geholfen hatte. Sie nickten einander zu und setzten den Weg zum Ausgang der Kirche fort.
Da öffnete sich die Kirchentür, und mit einem Mal stand Lucius vor ihnen. Leichten Schrittes kam er ihnen entgegen. Vor Schreck verschlug es Marie die Sprache. Woher wusste er, dass sie hier war?
Lucius schien weniger verwundert zu sein und meinte lächelnd: »Was für ein Zufall! So begegnen wir uns heute schon zum zweiten Mal.«
»Was machst du denn hier?«, entfuhr es Marie, dann schlug sie sich erschrocken mit der Hand vor den Mund, etwas in der Stille der Kirche hatte ihr vermittelt, dass sie in Gefahr war.
»Du weißt doch, dass ich für mein Buch recherchiere und Symbole in Kirchen untersuche.«
»Ach ja, richtig«, versuchte Marie ihre Furcht in den Griff zu bekommen. Sie erinnerte sich daran, wie hilfreich Routinen sind, wenn Gefühle einen zu übermannen drohen. Und so sagte sie: »Das ist übrigens meine Freundin Véronique«, und zu Véronique gewandt: »Das ist Lucius, den ich heute in Sacré-Cœur getroffen habe.«
Erstaunt registrierte sie, dass Lucius ihre Freundin mit einem Blick höchster Bewunderung betrachtete. Sie selbst konnte ihren Augen kaum trauen, so sehr sprang sie die physische Ähnlichkeit der beiden an. Wenn sie es nicht besser gewusst hätte, wäre sie davon überzeugt gewesen, Geschwister vor sich zu haben. Beide sahen aus wie leibhaftige Engel, die vom Himmel herabgestiegen waren.
Was es wohl damit auf sich hat?, fragte sich Marie im Stillen, während Lucius und Véronique sich freundlich begrüßten.
Da wandte sich Lucius wieder an Marie: »Hast du meine SMS nicht bekommen?«
»Doch, ich hatte nur noch keine Zeit zu antworten.«
»Also, was ist? Hast du heute Abend Zeit?«
»Nein, das habe ich nicht, denn Véronique und ich haben bereits eine Verabredung. Auf ein anderes Mal.«
»Schade! Aber gut, man kann schließlich nicht davon aus-gehen, dass eine schöne Frau wie du nur darauf gewartet hat, mich kennenzulernen«, flirtete Lucius.
»Tja, da magst du wohl recht haben«, erwiderte Marie mit einem leicht spöttischen Lächeln. »Véronique, lass uns gehen, sonst kommen wir zu spät. Au revoir, Lucius«, und schon fasste sie Véronique am Arm und zog sie mit sich aus der Kirche.
Marie taumelte ein wenig, als sie wieder in der Welt jenseits der Kirche stand, noch in Gedanken mit der unvermuteten Begegnung beschäftigt. Sie genoss den wärmenden Strahl der Sonne, ließ den Blick schweifen – und zuckte zusammen. Erschrocken entdeckte sie die schwarze Limousine, die ihnen zuvor bis zur Kirche gefolgt war. Eine Erklärung hätte unnötig Zeit gekostet, und so sagte sie: »Lass uns so schnell wie möglich zu Fuß von hier verschwinden, aber nicht auf dem direkten Weg zum Café de Flore, denn wir werden verfolgt, meine ich. Mehr erkläre ich dir später!«
Véronique begriff augenblicklich und folgte der Freundin, die sich eilig, aber ohne offensichtliche Hast in Bewegung gesetzt hatte.
Marie
Paris, 28. August 2013
Nach einigen Umwegen gelangten Marie und Véronique zum Café de Flore, zuletzt nicht nur von Angst vorangetrieben. Sie verständigten sich mit einem Blick und gingen erst einmal zur Toilette, um sich frisch zu machen. Beide waren sich einig, in der Gegenwart von Julien nichts von dem Erlebten zu erwähnen. Als Marie ihrer Freundin erklärte, warum ihr der schwarze Mercedes Angst gemacht hatte, war das Gefühl nicht mehr so stark. Doch Véronique war besorgt und warnte sie, sich solche Ängste zu Herzen zu nehmen.
Als sie wieder ins Sonnenlicht hinaustraten, um sich draußen einen Tisch zu suchen, fiel Maries Blick auf einen Mann, von dem eine Art leuchtender Schein auszugehen schien. Sogar das schwarze Haar wirkte eher wie ein heller Umhang. Sie konnte sich das nicht erklären, musste aber zugeben, dass er Lucius an Schönheit in nichts nachstand. Nur war er nicht blond. Marie starrte ihn wie gebannt an, denn sie war sich auf Anhieb sicher, dass es Julien sein musste.
Julien blickte ihnen unverwandt entgegen, und auch ihm schien es bei ihrem Anblick die Sprache verschlagen zu haben, denn als Véronique ihn begrüßen wollte, reagierte er nicht, ganz so, als hätte er sie überhaupt nicht bemerkt, sondern nur noch Augen für Marie.
Véronique blickte von einem zum anderen und fragte sich, was da gerade geschah. Die Zeit schien stillzustehen.