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Zunächst scheint nichts darauf hinzudeuten, dass die Reise mit dem 900-Tonnen-Dreimaster Chancellor außergewöhnlich verlaufen wird. Dann aber fragen sich Mannschaft und Passagiere, was mit dem Kapitän los ist. Schließlich die Erklärung: Er ist wahnsinnig geworden. Die nächste Hiobsbotschaft folgt: Seit Tagen brennt die Baumwollladung des Schiffes, und es befindet sich weitab aller üblichen Schifffahrtsrouten. Schließlich bleibt nur noch der Versuch, mit einem Floß die 800 Meilen entfernte Küste zu erreichen. Alle Höhen und Tiefen der menschlichen Seelen werden in diesem spannenden Roman dargestellt...
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Seitenzahl: 271
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Jules Verne
Der Chancellor
Jules Verne
Der Chancellor
Edition Corsar D. u. Th. Ostwald
Braunschweig
In dem Roman werden Ausdrücke verwendet, die heute nicht mehr üblich sind. Sie wurden jedoch beibehalten um den Stil der Zeit zu bewahren.
Texte: © 2025 Copyright by Thomas Ostwald nach der Ausgabe des Hartleben-Verlages 1875 und der von mir betreuten Taschenbuchausgabe im Pawlak-Verlag 1984 durchgesehen und korrigiert
Umschlaggestaltung: © 2025 Copyright by Thomas Ostwald
Edition Corsar
Dagmar u. Thomas Ostwald
Am Uhlenbusch 17
38108 Braunschweig
Erstes Kapitel
Charleston, am 27. September 1869. - Um drei Uhr nachmittags verlassen wir den Batterie-Kai. Rasch führt uns die Ebbe dem freien Meer zu. Kapitän Huntly hat alle Segel beisetzen lassen, und der Nordwind treibt den Chancellor quer durch die Bai von Charleston. Bald ist das Fort Sumter umschifft und liegen uns die Batterien, welche den Hafen bestreichen, zur Linken. Um vier Uhr passiert unser Schiff die enge Einfahrt, durch die bei sinkendem Wasser eine schnelle Strömung flutet. Von hier aus ist die eigentliche offene See freilich noch ziemlich weit entfernt und nur durch enge gefährliche Wasserstraßen zwischen ausgedehnten Sandbänken zu erreichen. Kapitän Huntly biegt in das Fahrwasser nach Südwesten ein und hält auf den Leuchtturm an der linken Spitze des Fort Sumter zu. Die Segel werden so dicht als möglich gegen den Wind gestellt, und um sieben Uhr abends bleibt der letzte Ausläufer der Sandbänke hinter unserem Fahrzeug zurück, das nun in den Atlantischen Ozean hinaussteuert.Der »Chancellor«, ein schöner Dreimaster von 900 Tonnen, gehört dem reichen Haus der Gebrüder Leard in Liverpool. Das Schiff ist zwei Jahre alt, mit Kupfer bekleidet, aus Teakholz gebaut und führt, außer dem Besanmast, Untermast und Takelage aus Eisen. Das solide und schöne Schiff, beim Büro Veritas unter A. 1. klassifiziert, vollendet eben seine dritte Reise zwischen Charleston und Liverpool. Bei der Abfahrt aus Charleston hisste es die englische Flagge; ein Seemann hätte aber auch ohne diese seinen Ursprung auf den ersten Blick erkannt: es war wirklich, für was es sich ausgab, d. h. englisch von der Wasserlinie bis zur Mastspitze.
An Bord des Chancellor, der jetzt nach England zurücksegelte, habe ich mich aus folgenden Gründen eingeschifft:Zwischen Süd-Karolina und dem Vereinigten Königreich besteht keine direkte Dampfverbindung. Um eine transatlantische Linie zu erreichen, müsste man entweder nach Norden hinauf bis New York gehen oder nachSüden hinunter, bis New Orleans. Zwischen New York und der alten Welt unterhalten verschiedene englische, deutsche und französische Gesellschaften eine häufige und sichere Verbindung, und von dort aus hätte mich eine Scotia, Holsatia oder ein Pereire (bekannte Schiffe jener Linien) schnell genug meinem Bestimmungsort zugeführt. Zwischen New Orleans und Europa verkehren die Dampfer der National Steam Navigation Co., die sich an die französische Linie nach Colon und Aspinwall anschließen. Als ich aber auf den Kais in Charleston dahinging, sah ich den Chancellor. Das Schiff gefiel mir, und ich weiß nicht, welcher Instinkt mich an Bord desselben trieb. Es ist übrigens recht bequem eingerichtet, und bei günstigem Wind und Meer - wobei die Schnelligkeit die der Dampfer fast erreicht - ziehe ich es nach allen Seiten hin vor, mit einem Segelschiff zu reisen. Zu Anfang des Herbstes hält sich in diesen niedrigen Breiten die Witterung noch sehr schön. Ich entschied mich also für die Überfahrt auf dem Chancellor.
Habe ich daran wohl getan? Werde ich es zu bereuen haben? Die Zukunft wird es lehren. Ich will meine Beobachtungen tagtäglich notieren, und jetzt, da ich schreibe, weiß ich selbst noch nicht mehr alsdie Leser dieses Tagebuchs, wenn dasselbe überhaupt jemals Leser findet.
Zweites Kapitel
Am 28. September. - Ich erwähnte schon, dass der Kapitän des Chancellor Huntly heißt - mit Vornamen John Silas. Er ist ein Schotte aus Dundee, gegen fünfzig Jahre alt und macht den Eindruck eines erfahrenen Ozeanschiffers. Bei nur mittlerer Körpergröße sind seineSchultern nicht breit, sein Kopf, den er aus Gewohnheitimmer nach der linken Seite neigt, etwas klein, ohne Physignomier ersten Ranges zu sein, glaube ich schon, trotzdem ich Kapitän Huntly erst seit wenigen Stunden kenne, ein Urteil über denselben abgeben zu können.
Dass Silas Huntly das Ansehen eines guten Seemanns habe und in seinem Fach wohlunterrichtet sei, dem widerspreche ich nicht; dass in diesem Mann aber ein fester Charakter stecke, der unbeugsam jeder Prüfung entgegenträte, nein, das ist nicht möglich.
In der Tat erscheint die Haltung des Kapitäns etwas schwerfällig, sein Körper ziemlich abgespannt. Er ist nachlässig, das sieht man an seinem unsicheren Blick, den passiven Bewegungen der Arme und seinem Schwanken, bei dem er von einem Bein auf das andere fällt. Dieser Mann ist nicht energisch, kann es nicht sein, nicht einmal starrköpfig, denn seine Augen haben kein Feuer, sein Kinn ist fein und weich und seine Hände scheinen sich gar nicht ballen zu können; außerdem fällt mir an ihm noch ein eigentümliches Wesen auf, das ich mir noch nicht zu erklären vermag, doch werde ich ihm auch ferner diejenige Aufmerksamkeit schenken, welche der Befehlshaber eines Schiffes verdient, auf dem er sich »nach Gott den nächsten« nennt.
Wenn ich nicht irre, befindet sich aber zwischen Gott und Silas Huntly noch ein anderer an Bord, der gegebenenfalls eine hervorragende Stelle einzunehmen bestimmt scheint, das ist der zweite Offizier des Chancellor, den ich noch nicht genügend studiert habe und von dem zu sprechen ich mir für später vorbehalte.
Die Besatzung des Chancellor besteht aus Kapitän Huntly, dem zweiten Offizier Robert Kurtis, dem Leutnant Walter, einem Hochbootsmann und vierzehn Matrosen, lauter Engländer oder Schotten, zusammen also achtzehn Seeleute, - eine Anzahl, welche zur Führung eines Dreimasters von 900 Tonnen Gehalt völlig hinreichend ist. Die Männer scheinen ihr Geschäft alle gut zu verstehen. Was ich bis jetzt davon sah, beschränkte sich freilich darauf, dass sie unter dem Kommando des zweiten Offiziers in dem engen Fahrwasser vor Charleston sehr geschickt manövrierten.
Ich vervollständige das Verzeichnis der auf dem Chancelloreingeschifften Personen durch Erwähnung des Steward Hobbart, des Negerkochs Jynxtrop und durch Hinzufügung einer Liste der Passagiere.
Von letzteren zähle ich, wenn ich mich einrechne, acht Personen. Noch kenne ich sie kaum, doch werden die Eintönigkeit einer längeren Überfahrt, die kleinen Vorkommnisse jedes Tages, die unumgängliche Berührung mehrerer in so engem Raum zusammen wohnender Leute, das natürliche Bedürfnis, seine Gedanken auszutauschen und die dem Menschenherzen eingeborene Neugier uns zeitig genug einander näherbringen. Bis jetzt haben uns noch der Wirrwarr der Einschiffung, die Besitznahme der Kabinen, die Einrichtungen, welche eine Reise von drei bis vier Wochen nötig macht, und verschiedenerlei andere Geschäfte noch voneinander ferngehalten. Gestern und heute erschienen noch nicht einmal alle bei Tisch, und vielleicht leiden einige an der Seekrankheit. Nochhabe ich sie nicht einmal alle gesehen, weiß aber, dass sich unter den Passagieren zwei Damen befinden, die in der hintersten Kabine wohnen, deren Fenster in dem Spiegel des Fahrzeugs angebracht sind.
Hier folge eine Liste, wie ich sie der Schiffsrolle entnehme: Mr. und Mrs. Kear, Amerikaner, aus Buffalo;
Miss Herbey, Engländerin, Gesellschaftsdame der Mrs. Kear;
Mr. Letourneur und Sohn, André Letourneur, Franzosen, aus Havre;
William Falsten, Ingenieur aus Manchester, und John Ruby, Kaufmann aus Cardiff, beide Engländer, endlich
J. R. Kazallon aus London, der Verfasser dieser Zeilen.
Drittes Kapitel
Am 29. September. - Das Konnossament des Kapitän Huntly,d. h. die Akte, in welcher die im Chancellor verladenen Waren aufgeführt und die Frachtbedingungen festgestellt sind, lautet wörtlich folgendermaßen:
»Herren Bronsfield u. Co., Kommissionäre, Charleston.
»Ich, John Silas Huntly aus Dundee (Schottland), Kommandant des Schiffes Chancellor, neunhundert Tonnen Last, gegenwärtig in Charleston, um mit dem ersten günstigen Wind auf kürzestem Weg und unter dem Schutz Gottes abzufahren und bis vor die Stadt Liverpool zu segeln, - bekenne hiermit von den Herren Bronsfield u. Co., Handelskommissionären in Charleston, unter das sonst leere Oberdeck des erwähnten Schiffes siebzehnhundert Ballen Baumwolle im Wert von26.000 Pfd. Sterl.1, alles in gutem Zustand, markiert und numeriert laut Buch, angeliefert erhalten zu haben, welche Waren ich, abgesehen von den Gefahren und Zufällen des Meeres, in bestem Zustand in Liverpool an die Herren Gebr. Lehrd oder deren Ordre abliefern und mich für meine Frachtspesen mit 2000 Pfd. Sterl.2, nicht mehr, laut Charterbriefbezahlt machen werde; Havarieschäden nach Seegebrauch und Herkommen. Zur Bekräftigung dieses habe ich verpflichtet und verpflichte hiermit meine Person, mein Vermögen und das genannte Fahrzeug mit allem Zubehör.
Zu dem Zweck habe ich drei gleichlautende Konnossamente unterzeichnet und sollen nach Erledigung eines derselben die anderen null und nichtig sein.
Geschehen zu Charleston, am 13. Sept. 1869.
J. S. Huntly.«
Der Chancellor führt also 1.700 Ballen Baumwolle nach Liverpool. Absender: Bronsfield & Co. in Charleston. Empfänger: Gebrüder Leard in Liverpool.
Da das Schiff eigens zum Baumwollentransport eingerichtet ist, so wurde die Ladung mit größter Sorgfalt verstaut. Bis auf einen kleinen für das Passagiergepäck freigelassenen Teil nehmen jene Ballen den ganzen Schiffsraum ein und bilden, da sie mittels Winden sehr fest verschnürt sind, nur eine äußerst kompakte Masse. Kein Eckchen des unteren Raumes ist auf diese Weise unbenutzbar geblieben, ein günstiger Umstand für ein Schiff, welches dabei seine volle Warenladung aufzunehmen vermag.
Viertes Kapitel
Vom 30. September bis 6. Oktober. - Der Chancellor ist ein schneller Segler, der viele Schiffe von gleicher Größe leicht überholen würde, und seitdem die Brise aufgefrischt hat, lässt er einen langen, kaum übersehbaren Streifen wirbelnden Kielwassers hinter sich, so dass man ein langes weißes Spitzengewebe, das auf dem Meer wie auf blauem Untergrunde hingebreitet läge, zu sehen vermeint.
Der Ozean ist vom Wind nur wenig bewegt. So viel ich weiß, wird niemand an Bord von dem Schwanken und Stampfen des Schiffes besonders belästigt. Übrigens befindet sich keiner der Passagiere auf der ersten Überfahrt und sind alle mehr oder weniger mit dem Meer vertraut. Zur Zeit des Essens bleibt jetzt kein Platz am Tisch leer.
Zwischen den Passagieren knüpfen sich allmählich Verbindungen an und das Leben an Bord gestaltet sich minder einförmig. Der Franzose, Mr. Letourneur, und ich, wir plaudern häufiger miteinander.
Mr. Letourneur ist ein Mann von fünfzig Jahren, hohem Wuchs, weißem Haar und ergrauendem Bart. Er erscheint noch älter, als er wirklich ist, - eine Folge langjährigen Kummers, der an ihm nagte und ihn auch heute noch verzehrt. Offenbar trägt dieser Mann eine nie versiegende Quelle der Traurigkeit mit sich herum, was man an seinem herabgekommenen Körper und dem häufig auf die Brust niedersinkenden Kopf leicht erkennt. Nie lacht er, nur selten lächelt er, und dann nur seinem Sohn gegenüber. Seine Augen sind sanft, blicken aber stets nur wie durch einen feuchten Schleier. Sein Gesicht verrät eine ganz charakteristische Mischung von Kümmernis und Liebe, und seine ganze Erscheinung atmet eine gewisse wohlwollende Güte.Man kommt auf den Gedanken, dass Mr. Letourneur über irgendein unverschuldetes Unglück traure.So ist es auch; doch wer sollte kein schmerzliches Mitgefühl empfinden, wenn er die wirklich übertriebenen Vorwürfe hört, die er sich als »Vater« selbst macht!
Mr. Letourneur ist nämlich mit seinem etwa zwanzigjährigen Sohn André, einem sanften, einnehmenden jungen Mann, an Bord. Dieser hat zwar im Gesicht einige Ähnlichkeit mit seinem Vater, aber - und das ist eben die Ursache des nie gestillten Schmerzes des letzteren, - André ist gebrechlich. Sein linkes, stark nach außen verrenktes Bein zwingt ihn zu hinken, so dass er ohne Stock, auf den er sich stützt, gar nicht gehen kann.
Der Vater betet sein Kind an, und man sieht, dass dessen ganzes Leben jenem unglücklichen Wesen gewidmet ist. Er leidet durch das angeborene Gebrechen des Sohnes weit mehr, als sein Sohn selbst, und erbittet von diesem wohl dann und wann Verzeihung! Seine Hingebung gegen André äußert sich jeden Augenblick von neuem. Er verlässt ihn nicht, belauscht seine geheimsten Wünsche, achtet auf alles, was jener tut. Seine Arme gehören mehr dem Sohn, als ihm selbst, sie umschlingen ihn und unterstützen ihn, wenn sich der junge Mann auf dem Verdeck des Chancellor ergeht.
Mr. Letourneur hat sich mir enger angeschlossen, undspricht unausgesetzt von seinem Kind.Heute sprach ich ihn folgendermaßen an:»Eben komme ich von Mr. André. Sie haben einen guten Sohn, Mr. Letourneur, er ist ein begabter und unterrichteter junger Mann.«
»Jawohl, Mr. Kazallon«, antwortet mir Mr. Letourneur, dessen Lippen ein schwaches Lächeln versuchen, »eine schöne Seele in einem elenden Körper, - die Seele seiner armen Mutter, welche starb, als sie ihm das Leben gab.«
»Er liebt Sie sehr.«
»Das gute Kind!«, flüsterte den Kopf senkend Mr. Letourneur. »Oh«, fährt er dann fort, »Sie können es nicht mitfühlen, was ein Vater leidet beim Anblick seines gebrechlichen, von Geburt auf gebrechlichen Kindes!«
»Mr. Letourneur«, erwiderte ich ihm, »bei dem Unglück, welches Ihren Sohn betroffen hat, teilen Sie die Last nicht ganz gerecht. Ohne Zweifel ist André tief zu beklagen, aber ist es denn gar nichts, von Ihnen so wie er geliebt zu werden? Eine Körperschwäche erträgt sich leichter als ein Seelenleiden, und das letztere trifft Sie doch ganz allein. Wiederholt beobachtete ich aufmerksam Ihren Sohn, und wenn ihm irgendetwas nahegeht, so glaube ich behaupten zu können, dass das nur Ihre persönliche Bekümmernis ist ... «
»Die ich ihm gegenüber stets verberge!«, fällt mir Mr. Letourneur schnell ins Wort. »Ich habe nur einen Lebenszweck, den, ihm fortwährend Zerstreuung zu verschaffen. Trotz seiner Schwäche erkannte ich an ihm eine leidenschaftliche Reiselust. Sein Geist hat Füße, nein, hat wirklich Flügel und schon seit mehreren Jahren reisen wir zusammen. Erst besuchten wir ganz Europa, und eben jetzt kehren wir von einer Tour durch die Hauptstaaten der Union zurück. Die Erziehung Andrés habe ich, da ich ihn keiner öffentlichen Schule anvertrauen wollte, selbst geleitet und jetzt vollende ich sie durch Reisen. André besitzt lebendige Auffassung und glühende Phantasie. Er ist empfindsam, und manchmal bilde ich mir ein, dass er vergessen könne, wenn ich seine Begeisterung für die großartigen Naturschauspiele sehe.«
»Ja, mein Herr ... , gewiss ... «, sage ich.
»Aber wenn er auch vergäße«, nimmt Mr. Letourneur wieder das Wort und begleitet es mit einem bekräftigenden Händedruck, »so vergesse ich nicht und werde nie vergessen können. Glauben Sie wohl, mein Herr, dass mein Sohn seiner Mutter und mir jemals vergeben kann, ihm ein so elendes Leben geschenkt zu haben?«
Der Schmerz dieses Vaters, der sich wegen eines Unglücks anklagt, für das kein Mensch verantwortlich sein kann, zerreißt mir das Herz. Ich will ihn trösten, doch in dem Augenblick erscheint sein Sohn. Mr. Letourneur läuft auf diesen zu und hilft ihm die etwas steile Treppe nach dem Oberdeck hinauf.
Dort setzt sich André Letourneur auf eine der Bänke, welche unter einigen Hühnerkäfigen angebracht sind, und sein Vater nimmt neben ihm Platz. Beide plaudern, und ich mische mich in ihre Unterhaltung. Sie betrifft die Fahrt des Chancellor, die Aussichten der Überfahrt an Bord. Mr. Letourneur hat ebenso wie ich von Kapitän Huntly einen mittelmäßigen Eindruck bekommen. Die Unentschiedenheit dieses Mannes, seine etwas schläfrige Erscheinung hat ihn unangenehm berührt. Dagegen fällt Mr. Letourneur ein sehr günstiges Urteil über den zweiten Offizier, Robert Kurtis, einen wohlgebauten Mann von dreißig Jahren mit großer Muskelkraft, der immer in Tätigkeit ist und dessen lebhafte Willenskraft sich fortwährend in Handlungen auszusprechen sucht.
Robert Kurtis betritt eben jetzt das Verdeck. Ich fasse ihnschärfer ins Auge und erstaune, dass er mir vorher noch nicht mehr aufgefallen ist. Da steht er in straffer und doch ungezwungener Haltung, mit stolzem Blick und wenig gerunzelten Augenbrauen. Ja, das ist ein energischer Mann, der den kalten Mut wohl besitzen mag, welcher den wahren Seemann auszeichnen muss. Gleichzeitig ist ihm ein gutes Herz eigen, denn er interessiert sich für den jungen Letourneur und sucht ihm bei jeder Gelegenheit behilflich zu sein.
Nach Beobachtung des Himmels und einem Blick über das Segelwerk nähert sich uns der zweite Offizier und nimmt an der Unterhaltung teil.
Ich sehe, dass der junge Letourneur gern mit ihm spricht. Robert Kurtis teilt uns einiges über die Passagiere mit, zu denen wir noch nicht in nähere Beziehung getreten sind.Mr. und Mrs. Kear sind beide Amerikaner aus dem Norden, die ihre Reichtümer der Ausbeutung der Petroleumquellen verdanken. Bekanntlich ist ja hierin überhaupt die Ursache manches großen Vermögens in den Vereinigten Staaten zu suchen. Dieser Mr. Kear, ein Mann von etwa fünfzig Jahren, dem man den »Parvenu« ansieht, ist ein trauriger Tischgenosse, der nichts als sein persönliches Vergnügen im Auge hat. Fortwährend klappert das Metall in seinen Taschen, in welchen die Hände unausgesetzt herumwühlen. Stolz, aufgeblasen, ein Anbeter seiner selbst und Verächter aller anderen, trägt er eine affektierte Teilnahmslosigkeit für alles, was ihn nicht direkt angeht, zur Schau. Er brüstet sich wie ein Pfau, »er riecht sich, erschmeckt sich und kostet sich«, um mit den Worten des berühmten Physiognomikers Gratiolet3 zu reden. Er ist ein Dummkopf und ein Egoist dazu. Ich begreife nicht, warum eran Bord des Chancellor gegangen ist, da das einfache Kauffahrtei-Schiff ihm den Komfort der transatlantischen Dampferja doch nicht gewähren kann. Mrs. Kear ist eine nichtssagende, nachlässig auftretende Frau, der man die vierzig Jahre an den Schläfen schon ansieht, geistlos, unbelesen und ohne Unterhaltungsgabe. Sie schaut wohl hinaus, aber sieht nichts; sie hört wohl, aber versteht nichts. Ob sie wohl denken mag? Ich möchte es nicht behaupten.
Die einzige Beschäftigung dieser Frau besteht darin, sich jeden Augenblick von ihrer Gesellschaftsdame, der Miss Herbey, einer zwanzigjährigen Engländerin von sanftem und einnehmendem Wesen, bedienen zu lassen, einem jungen Mädchen, welches die wenigen Pfunde, die ihr der Ölbaron zuwirft, wohl nicht ohne Kränkung annimmt.Diese Dame ist sehr hübsch; eine Blondine mit tiefblauen Augen, zeigt sie nicht jenes nichtssagende Gesicht, dem man bei so vielen Engländerinnen begegnet. Gewiss wäre ihr Mund reizend, wenn sie einmal Zeit oder Gelegenheit hätte, zu lächeln. Worüber sollte das arme Mädchen aber lächeln können, da sie jeden Augenblick den sinnlosen Nörgeleien und lächerlichen Launen ihrer Herrin ausgesetzt ist? Doch, wenn Miss Herbey im Inneren gewiss tief leidet, so verbirgt sie das doch und erscheint in ihr Schicksal völlig ergeben. William Falsten, ein Ingenieur aus Manchester, vertritt den vollkommen englischen Typus. Er leitet ein großes Wasserwerk in Süd-Karolina und geht jetzt nach Europa, um neue vervollkommnetere Maschinen kennenzulernen, unter anderem die Zentrifugen der Firma Cail. Ein Mann von fünfundvierzig Jahren, steckt etwas von einem Gelehrten in ihm, deraber nur an seine Maschinen denkt, den Mechanik und Rechnungen von Kopf bis zum Fuß erfüllen und der darüber hinaus für nichts mehr Sinn hat. Wen er in seine Unterhaltung verwickelt, der kann unmöglich wieder davon loskommen und bleibt wie von einem endlosen Zahnrad darin gefesselt.
Mr. Ruby endlich repräsentiert den ganz gewöhnlichen Kaufmann ohne Erhabenheit und Originalität. Seit zwanzig Jahren hat dieser Mann nichts getan, als zu kaufen und zu verkaufen, und da er im allgemeinen teurer verkaufte, als er eingekauft hat, so hat er sich ein Vermögen erworben. Was er damit anfangen soll, weiß er selbst noch nicht. Dieser Ruby, dessen ganze Existenz in seinem Kramhandel aufging, denkt nicht und reflektiert nicht. Sein Gehirn ist für jeden Eindruck unzugänglich, und er rechtfertigt in keiner Weise das Wort Pascals:
»Der Mensch ist offenbar zum Denken erschaffen, nur das macht seine Würde aus, und bildet sein Verdienst.«
Fünftes Kapitel
Am 7. Oktober. - Wir haben Charleston vor zehn Tagen verlassen, und wie mir scheint, gute Fahrt gemacht. Ich plaudere häufig mit dem zweiten Offizier, und es hat sich zwischen uns eine gewisse Vertrautheit ausgebildet.Heute meldet mir Robert Kurtis, dass wir uns nicht weit mehr von den Bermuden-Inseln, d. h. gegenüber dem Kap Hatteras, befinden. Die Beobachtung hat 32° 20' nördliche Breite und 64° 50' westliche Länge von Greenwich ergeben.Wir werden die Bermuden, und speziell die Insel St. Georg, noch vor Nacht in Sicht bekommen, sagte mir der zweite Offizier.»Wie«, habe ich ihm geantwortet, »wir steuern auf die Bermuden? Ich war der Meinung, dass ein von Charleston nach Liverpool segelndes Schiff nach Norden halten und dem Golfstrom foIgen müsse.«
»Gewiss, Mr. Kazallon«, antwortete Robert Kurtis, »gewöhnlich schlägt man diese Richtung ein, es scheint aber, als habe der Kapitän für dieses Mal die Absicht, davon abzugehen.«
»Warum?«
»Das weiß ich nicht, er hat aber befohlen, nach Osten zu steuern, so geht der Chancellor nach Osten!«
»Haben Sie ihm aber nicht bemerkt, dass ... «
»Ich habe ihm bemerkt, dass das nicht der gebräuchliche Weg sei, und er hat mir geantwortet, dass er schon wisse, was er zu tun habe.«Bei diesen Worten zog Robert Kurtis mehrmals die Augenbrauen zusammen, strich mit der Hand über die Stirn und schien mir nicht alles auszusprechen, was er sagen wollte.
»Inzwischen, Mr. Kurtis«, habe ich ihm gesagt, »wir sind schon am 7. Oktober, und das scheint mir keine geeignete Zeit, neue Schiffswege versuchsweise zu befahren. Wenn wir noch vor Eintritt der schlechten Jahreszeit in Europa anlangen wollen, haben wir keinen Tag zu verlieren.«
»Nein, Mr. Kazallon, nicht einen Tag!« - »Halten Sie mich für indiskret, Mr. Kurtis, wenn ich die Frage an Sie richte, was Sie von Kapitän Huntly halten?«
»Ichdenke«, antwortete mir der zweite Offizier, »ich denke, dass ... er mein Kapitän ist!« Diese ausweichende Antwort konnte nicht zu meiner Beruhigung dienen.Robert Kurtis hatte sich nicht getäuscht. Gegen drei Uhr meldete der auslugende Matrose: Land in Sicht im Nordosten! Noch ist dasselbe freilich nur wie eine Dunstschicht sichtbar.
Um sechs Uhr begab ich mich mit den beiden Herren Letourneur auf das Verdeck, und wir betrachteten die im allgemeinen sehr flachen Bermuden-Inseln, welche eine Kette gefährlicher Riffe umschließt. »Da liegt also der reizende Archipel«, beginnt André Letourneur, »die pittoreske Gruppe, welche Ihr heimatlicher Dichter, Thomas Moore4, in seinen Oden gepriesen hat! Schon im Jahre 1643 lieferte der verbannte Walter eine enthusiastische Beschreibung derselben, und wenn ichnicht irre, wollten englische Damen eine Zeitlang keine anderen Hüte tragen, als solche, die aus gewissen Blättern einer bermudischen Palme geflochten waren.«
»Sie haben recht, lieber André«, antwortete ich, »der Bermuden-Archipel war im siebzehnten Jahrhundert sehr in Mode; jetzt ist er indessen ganz in Vergessenheit geraten."
»Übrigens, Herr André«, sagte da Robert Kurtis, »die Dichter, welche mit Enthusiasmus von diesem Archipel sprechen, stimmen mit den Seeleuten keineswegs überein; denn das Land, dessen Anblick so verführerisch erscheint, ist zu Schiffsehr schwierig zu erreichen, und der Klippengürtel, der sich halbkreisförmig in der Entfernung von zwei bis drei Stunden um dasselbe zieht, wird von den Seefahrern mit Recht gefürchtet. Was die ewige Heiterkeit des Himmels betrifft, die von den Bewohnern der Bermuden so gern hervorgehoben wird, so unterbrechen dieselbe ziemlich häufig gerade die heftigsten Stürme. Über diese Inseln rasen die Ausläufer der Wirbelstürme, die in den Antillen oft so viel Unheil anrichten, ja, und eben jene Ausläufer sind, ebenso wie der Schweif des Walfisches, am meisten zu fürchten. Ich für meinen Teil möchte aber Seefahrern auf dem Atlantischen Ozeannicht raten, den Berichten eines Walter oder Thomas Moore zu viel Glauben beizumessen.«
»Herr Kurtis«, hebt da lächelnd André Letourneur an, »Sie mögen wohl recht haben. Die Dichter gleichen häufig den Sprichwörtern, das eine widerspricht immer dem anderen. Hat Thomas Moore und Walter diesen Archipel als einen wundervollen Aufenthalt gepriesen, so hat dagegen der größte Ihrer Dichter, Shakespeare, der ihn ohne Zweifel besser kannte, die schrecklichsten Szenen seines >Sturmes< dahin verlegen zu sollen geglaubt.«
In der Tat sind die Umgebungen des Bermuden-Archipels eine sehr gefährliche Gegend. Die Engländer, denen die Inselgruppe seit ihrer Entdeckung gehört, benutzen sie nur als einen zwischen den Antillen und Neu-Schottland eingeschobenen Militärposten.
Übrigens scheint jener, und zwar in großem Maßstab, zu wachsen bestimmt. Mit der Zeit - dem Prinzip, dem die größten Schöpfungen der Natur ihre Entstehung verdanken - dürfte dieser Archipel, der jetzt schon über hundertundfünfzig Inseln zählt, deren eine noch weit größere Menge aufweisen, denn unablässig sind die Sternkorallen tätig, neue Bermuden aufzubauen, die sich nach und nach untereinander verbinden, und wohl einen neuen Kontinent zu bilden berufen sind.
Weder die drei anderen Passagiere noch Mrs. Kear haben sich die Mühe genommen, das Verdeck zu besteigen, um den merkwürdigen Archipel zu betrachten. Was Miss Herbey angeht, so war diese nur auf dem Oberdeck erschienen, als sich schon die näselnde Stimme der Mrs. Kear vernehmen ließ und das junge Mädchen wieder neben ihrer launischen Herrin Platz zu nehmen nötigte.
Sechstes Kapitel
Vom 8. bis 13. Oktober. - Der Wind weht mit einer gewissen Heftigkeit aus Nordosten, und der Chancellor hat mit gerefften Marssegeln und den Focksegeln beilegen müssen.
Die See geht hoch, und das Schiff arbeitet schwer. Die Zwischenwände der Kabinen seufzen mit einem nervenerschütternden Geräusche. Die Passagiere halten sich in der Hauptsache unter dem Deck auf.
Ich allein ziehe es vor, auf dem Verdeck zu bleiben. Aus der»frischen Brise« ist die Bewegung der Luftschichten in die der»scharfen Windstöße« übergegangen. Die Bramstengen sind herabgelassen. Der Wind legt jetzt in der Stunde fünfzig bis sechzig Meilen (d. h. gegen dreißig Meter in der Sekunde) zurück. Seit zwei Tagen fahren wir so dicht als möglich am Wind.-Trotz der guten Eigenschaften des Chancellor weicht das Schiff merklich ab und treiben wir mehr nach Süden. Der durch Wolken verdunkelte Himmel gestattet keine Aufnahme der Sonnenhöhe, und da man die Lage des Schiffes demnach nicht zu bestimmen vermag, so muss man sich mit einer Schätzung derselben begnügen.
Meinen Reisegefährten, gegen die sich der zweite Offizier nicht ausgesprochen hat, ist es völlig unbekannt, dass wir einen ganz unerklärlichen Weg verfolgen. England liegt im Nordosten und wir segeln nach Südosten!
Robert Kurtis vermag sich die Hartnäckigkeit des Kapitäns nicht zu deuten, der doch mindestens versuchen sollte, nordwestlich zu steuern, um günstige Strömungen zu erreichen! Seitdem der Wind nach Nordosten gegangen ist, treibt der Chancellor mehr und mehr nach Süden.Heute, als ich mich mit Robert Kurtis allein auf dem Oberdeck befand, sprach ich ihn darum an.
»Ist Ihr Kapitän von Sinnen?«, fragte ich.
»Das möchte ich Sie fragen, Herr Kazallon«, antwortete mir Robert Kurtis, »da Sie ihn aufmerksam beobachtet haben.«
»Ich weiß nicht recht, was ich Ihnen darauf antworten soll, Herr Kurtis, doch gestehe ich, dass seine ganz eigentümliche Physiognomie, seine verstörten Augen ... fahren Sie zum ersten Mal mit ihm?«
»Ja, er war mir früher unbekannt.«
»Und Sie haben ihm Ihre Bemerkungen über den von unseingeschlagenen Weg nicht vorenthalten?«
»Gewiss nicht, doch er entgegnete mir, dass das der richtige sei.«
»Herr Kurtis«, fuhr ich fort, »was denken aber Leutnant Walter und der Hochbootsmann darüber?« - »Sie denken wie ich.«
»Und wenn Kapitän Huntly das Schiff nach China führte?«
»So würden sie gehorchen wie ich.«
»Der Gehorsam hat aber seine Grenzen?«
»Nein, solange die Führung des Kapitäns das Schiff nicht in Gefahr bringt.«
»Wenn er aber geisteskrank wäre?«
»Ja, wenn er das ist, Herr Kazallon, dann werde ich sehen, was zu tun ist!«
An solche Verhältnisse hatte ich freilich nicht gedacht, als ich mich auf dem Chancellor einschiffte.
Inzwischen ist das Wetter immer schlechter geworden; über den Atlantischen Ozean braust ein vollkommener Sturm. Das Schiff war gezwungen, mit dem großen Bramsegel und dem kleinen Focksegel beizulegen, d. h. es bietet dem Wind seine Breitseite. Trotzdem weicht es mehr und mehr ab, und immer weiter gelangen wir nach Süden.
Darüber kann kein Zweifel mehr sein, nachdem der Chancellor in der Nacht vom 11. zum 12. in die große Sargasso-See gelangt ist.Diese Sargasso-See, welche der warme Golfstrom angehäuft hat, ist eine weite Wasserstrecke, bedeckt mit Varecpflanzen, welche die Spanier »Sargasso« nennen, und über welche die Schiffe des Kolumbus bei ihrer ersten Fahrt über den Ozean nur sehr schwer hinwegkamen.Bei anbrechendem Tag bietet uns das Meer einen ganz eigentümlichen Anblick, der auch die Herren Letourneur veranlasst, trotz des brausenden Windes, der auf den metallenenStrickleitern spielt, als wären es Harfensaiten, auf Deck zu kommen. Unsere Kleider sind fest und eng an den Körper gebunden, und würden zerrissen werden, wenn sie der Wind irgendwo erfassen könnte. Das Schiff schwankt auf diesem durch die fruchtbaren Fucus-Familien verdeckten Wasser, einer weiten Fläche von niederen Gewächsen, durch welche sich der Kiel wie eine Pflugschar hindurcharbeitet, furchtbar hin und her. Manchmal treibt der Wind lange Faserschlingen hochempor, die sich um die Takelage wickeln und gleich grünen Girlanden von einem Mast zum anderen hängen. Einige dieser oft mehrere hundert Fuß langen Algen umschlingen die Masten bis zu den Spitzen. Mehrere Stunden lang hat man gegen diesen wahrhaften Sturmangriff des Varecs anzukämpfen, und nachmals muss der Chancellor mit seinem von Hydrophyten und sonderbaren Lianen bedeckten Strickwerk mehr einem wandelnden Bosquet in einer ungeheuren Wiese ähnlich gesehen haben.
Siebtes Kapitel
Am 14. Oktober. - Endlich hat der Chancellor das Vegetabilienmeer verlassen und die Gewalt des Windes sich vermindert, und wir kommen mit zweigerefften Marssegeln rasch vorwärts.Heute wurde die Sonne wieder sichtbar und leuchtet jetzt mit hohem Glanz. Es fängt allmählich an sehr warm zu werden. Die Aufnahmen betreffs der Ortsbestimmung ergeben 21° 33' nördlicher Breite und 50° 17' westlicher Länge. Der Chancellor ist also um mehr als zehn Breitengrade nach Süden gesegelt.
Noch immer hält er den südöstlichen Kurs! Ich habe mir über dieses unbegreifliche Verfahren des Kapitän Huntly Aufschluss zu verschaffen gesucht und mehrere Male mit dem Befehlshaber gesprochen. Hat er seinen klaren Verstand oder hat er ihn nicht? Ich weiß es noch nicht. Im Allgemeinen spricht er vernünftig. Steht er unter dem Einfluss einer partiellen Verrücktheit, einer Geistesabwesenheit, welche sich gerade bezüglich seines Geschäftes äußert? Derartige Fälle wurden schon wiederholt beobachtet. Robert Kurtis, mit dem ich davon spreche, hört mir nur sehr kühl zu. Der zweite Offizier wiederholt seine frühere Aussage, dass er nicht das Recht habe, seinen Kapitän abzusetzen, solange nicht durch einen wohlkonstatierten Akt des Wahnsinns der Verlust des Schiffes drohe. Die Verantwortlichkeit für jenen angedeuteten Schritt ist eine sehr ernste.
Gegen acht Uhr abends bin ich in meine Kabine zurückgekehrt, habe bei dem Licht meiner Schwebelampe noch eineStunde gelesen und meinen Gedanken nachgehangen, dann aber mich niedergelegt und bin bald eingeschlafen.Einige Stunden später durch ein ungewohntes Geräusch erweckt, höre ich schwere Tritte und lautes Gespräch auf dem Verdeck. Die Mannschaft scheint eiligst hin und her zu laufen. Was mag der Grund dieser außergewöhnlichen Bewegung sein? Wahrscheinlich eine Veränderung der Segelstellung behufs Änderung des Schiffskurses ... Doch nein, das ists wahrscheinlich nicht, denn noch immer neigt sich das Schiff nach der Steuerbordseite und folglich ist seine Richtung nicht verändert worden. Die Bewegungen des Chancellor sind jetzt keine heftigeren, es stürmt also nicht.
Ich frage die Herren, ob sie diese Nacht nicht durch ein Geräusch erweckt worden seien, das eine gewisse Bewegung an Bord verraten habe.
»Ich für meinen Teil nicht«, antwortete André Letourneur,»ich habe in einem fort geschlafen.«
»Du schliefst ganz ruhig, liebes Kind«, sagteHerr Letourneur, »ich bin jedoch auch durch das Geräusch, von dem Mr. Kazallon spricht, munter gemacht worden. Ich glaubte die Worte zu vernehmen: >Schnell! Schnell! Nach den Luken! Nach den Luken!«<
»Um wieviel Uhr war das wohl?«, fragte ich.
»Etwa um drei Uhr morgens,«
»Und die Ursache dieses Geräusches ist Ihnen unbekannt geblieben?«
»Vollkommen, Mr. Kazallon, sie kann aber nur unbedeutend gewesen sein, da niemand von uns nach dem Verdeck gerufen worden ist.«
Ich fasse die Luken, welche vor und hinter dem großen Mast angebracht sind und nach dem Kielraum hinabführen, ins Auge. Wie gewöhnlich sind sie geschlossen, doch fällt es mir auf, dass sie sorgsam mit Pfortsegeln überdeckt erscheinen, als habe man sie möglichst hermetisch verschließen wollen. Warum ist das geschehen? Hier liegt etwas zu Grunde, das ich mir nicht zu erklären vermag. Robert Kurtis wird mir ohne Zweifel darüber Aufschluss geben. Ich warte also, bis der zweite Offizier an die Wache kommt, und halte meine eigenen Gedanken zunächst zurück, da es mir besser scheint, sie den Herren Letourneur jetzt nicht mitzuteilen.
Der Tag verspricht schön zu werden, die Sonne ist prächtig und fast ganz dunstfrei aufgegangen. Ein gutes Vorzeichen. Noch sieht man über dem westlichen Horizont die Sichel des Mondes, der vor zehn Uhr siebenundfünfzig Minuten nicht untergehen wird. In drei Tagen werden wir letztes Viertel und am 24. Neumond haben. Ich schlage in meinem Kalender nach und sehe, dass an demselben Tag eine starke Springflut sein muss. Bei unserer Fahrt auf dem offenen Meer können wir freilich nichts davon wahrnehmen, an den Küsten aller Kontinente und Inseln aber wird das Phänomen merkwürdig zu beobachten sein, denn der Neumond muss die Wassermassen zu außergewöhnlicher Höhe emporheben.
Ich bin jetzt auf dem Oberdeck allein. Die Herren Letourneur sind zum Tee wieder hinab gegangen, und ich erwarte den zweiten Offizier.Um acht Uhr beginnt die Wache Robert Kurtis', der den Leutnant Walter ablöst, und ich gehe diesem mit einem Händedruck entgegen.
Noch ehe er mir guten Tag sagt, lässt