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Wie kann ich in der Informationsflut einen kühlen Kopf bewahren? Muss ich mich wirklich selbst optimieren? Ist Reichtum erstrebenswert? Die Fragen, die uns heute umtreiben, stellten sich in ähnlicher Gestalt auch den Denkerinnen und Denkern der Vergangenheit. Ihre Antworten aber fielen oft anders aus als dasjenige, was uns heute Psychologen, Coaches oder Buchautoren nahe legen. Gerade deshalb können sie uns nützlich sein. Sie laden ein zum Selbstdenken, zum Nachdenken und Weiterdenken – etwas, das nicht nur Orientierung in einer zunehmend komplexen gibt, sondern auch Freude bereiten kann. Der Philosoph Christoph Quarch hat deshalb in fiktiven Interviews den Weisen der Vergangenheit eine Vielzahl grundlegender Fragen der Gegenwart vorgelegt. Die oft überraschenden und manchmal provakanten Antworten, die er ihnen in den Mund legt, öffnen neue geistige Horizonte. Manch liebgewonnene Denkweise wird dabei erschüttert, manche neue Einsicht ermöglicht. Am Ende, so wird erkennbar, geht es aus Sicht der alten Weisen Europas immer nur um eines: offen bleiben für das, was die Welt und die Menschen uns zu sagen haben; im Gespräch bleiben und sich nicht einrichten in der Komfortzone unserer Konventionen. Ein Buch, das Mut und Lust macht, sich und die Welt mit neuen, wachen Augen zu sehen.
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Seitenzahl: 180
Christoph Quarch
Mit Sokrates, Seneca, Platon & Co. im Gespräch
CHRISTOPH QUARCH
Mit Sokrates, Seneca, Platon & Co. im Gespräch
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Für Fragen und Anregungen
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Originalausgabe, 1. Auflage 2023
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Redaktion: Anne Büntig
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Umschlagabbildung: Shutterstock.com/Savvapanf Photo; Shutterstock.com/Dimitrios P; Shutterstock.com/Unknown man; Shutterstock.com/LightField Studios
Satz: abavo GmbH, Buchloe
eBook: ePUBoo.com
ISBN Print 978-3-95972-730-3
ISBN E-Book (PDF) 978-3-98609-416-4
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Vorbemerkung
Teil 1 Social Media und KI
Kant sagt: Nachdenken statt nachbeten!
Sokrates sagt: Du bist nicht dein Avatar!
Lessing sagt: Gegen Cybermobbing hilft nur digitale Aufklärung
Nietzsche sagt: Schluss mit dem Netzgeschwätz!
Heidegger sagt: Siri und Alexa rauben dir die Freiheit
Hannah Arendt sagt: Chatbots haben nichts zu sagen
Kant sagt: Hände weg von Fake-News!
Teil 2 Arbeit und Beruf
Marc Aurel sagt: Work-Life-Balance? Kannst du vergessen!
Hannah Arendt sagt: Kreative Menschen sind unersetzlich
Goethe sagt: Grübel nicht rum, sondern tu etwas
Platon sagt: Konkurrenz ist gut, Kooperation ist besser
Kierkegaard sagt: Kündigen ist (meist) auch keine Lösung
Sokrates sagt: Coaching ist rausgeschmissenes Geld
Hannah Arendt sagt: Weniger Konsum, mehr Engagement!
Teil 3 Sport und Spiel
Platon sagt: Lasst die Kinder spielen!
Schiller sagt: Nach dem Spiel ist vor dem Spiel
Nietzsche sagt: Wachse über dich hinaus!
Aristoteles sagt: Mut kommt aus dem Herzen, nicht aus dem Kopf
Platon sagt: Lasst es rocken, Leute!
Meister Eckhart sagt: Lass dich laufen!
Teil 4 Ich und die Welt
Aristoteles sagt: Kleinlich ist peinlich
Goethe sagt: Sei ein Original!
Kant sagt: Schreibt zurück, wenn man euch anschreibt!
Schopenhauer sagt: Mach dich nicht zum Sklaven deines Willens!
Lou Andreas-Salomé sagt: Sieh zu, dass du was Besonderes bist!
Marc Aurel sagt: Beleidigt sein ist Zeitverschwendung
Aristoteles sagt: Freiheit ist wichtiger als Geld
Sokrates sagt: Leute, schafft den Müll weg!
Teil 5 Glück und gutes Leben
Epiktet sagt: Immer schön cool bleiben!
Epikur sagt: Auch sich freuen will gelernt sein
Leibniz sagt: Alles wird gut!
Empedokles sagt: Weniger Fleisch, mehr Lebensqualität
Nietzsche sagt: Schluss mit dem Schonwaschgang!
Seneca sagt: Wir wollen zu viel und sind zu wenig
Epikur sagt: Don’t worry, be happy!
Teil 6 Reise und Freizeit
Rousseau sagt: Urlaub machen heißt entschleunigen
Thoreau sagt: Ab in die Wildnis!
Hegel sagt: Im Museum triffst du dich selbst
Nietzsche sagt: Move yourself!
Epikur sagt: Weise gehen in den Garten
Sappho sagt: Mach dich schön!
Rousseau sagt: Entsorg dein Wohnmobil!
Teil 7 Liebe und Partnerschaft
Diotima sagt: Lass dich vom Eros überraschen!
Sokrates sagt: Lass dich anmachen!
Hannah Arendt sagt: Liebe ist Ärmel hochkrempeln und handeln
Aristoteles sagt: Ein Freund ist immer ein Freund
Buber sagt: Würdigen, nicht wertschätzen!
Gadamer sagt: Mehr fragen, weniger behaupten
Schweitzer sagt: Hab Ehrfurcht vor den Tieren!
Philosophieren ist eine dialogische Angelegenheit. Es ereignet sich im Wechselspiel von Worten und Gedanken – und es währt so lange, bis im offenen Gesprächsraum eine Einsicht aufblitzt. Dieses Hin und Her des Denkens ist an keinen festen Ort gebunden. Es kann sich zwischen Menschen auf dem Marktplatz zutragen wie einst im alten Athen, als Sokrates seine Mitbürger auf der Agora in tiefgründige Gespräche verwickelte und sich dadurch unbeliebt bei ihnen machte. Es kann aber auch bei der Lektüre eines Buches zwischen Text und Leser stattfinden; etwa dann, wenn du dich mit philosophischen Werken der Vergangenheit beschäftigst. Die in ihnen kondensierten Gedanken können zu neuem Leben erwachen, wenn du ins Gespräch mit ihnen kommst – wenn du dich von ihnen infrage stellen lässt oder mit ihrer Hilfe neue Perspektiven erprobst. So erschließt du neue Horizonte und schützt dich vor der Gefahr, in lieb gewonnenen Gedankenmustern zu erstarren oder stets aufs Neue das von anderen Vorgedachte nachzubeten. Frisch bleibt dein Geist nur, wenn du dich auf Ungewohntes einzulassen wagst, zum Beispiel auf den Dialog mit denen, die dem »Club der alten Weisen« angehören – dem Club derer, die in immer neuen Anläufen die Frage bewegt haben, was es für ein gutes Leben wirklich braucht: Was ist der Sinn des Lebens, wie kann man ihn zur Sprache bringen und wie sollte man ihm entsprechend handeln?
Diese Fragen lassen sich nicht abschließend beantworten. Auch die für wahr befundenen und gut erprobten Antworten namhafter Philosophinnen und Philosophen verlieren ihre Plausibilität, wenn sie nicht von Zeit zu Zeit aktualisiert und in neue Worte gekleidet werden. Eben das geschieht in diesem Buch. Um die Weisheit der Altvorderen auf zeitgemäße Weise zur Geltung zu bringen, habe ich sie in fiktive Interviews verwickelt, in denen ich ihnen sehr aktuelle Fragen aus der Welt der Gegenwart vorlege und sie sodann auf ihre unverwechselbare Weise darauf Antwort geben lasse. So werden die alten Weisen unversehens zu Zeitgenossen, die erfrischend anders ticken als der Mindset der modernen Welt – und die gerade deshalb, weil sie anders ticken, unsere Aufmerksamkeit verdienen.
Der Club der alten Weisen ist nicht elitär. Im antiken Griechenland galt als weise, wer es in der Kunst des Lebens zur Meisterschaft gebracht hatte. Das konnten Männer oder Frauen, Einheimische oder Fremde, Herren oder Sklaven sein. Dieses Buch möchte dem Rechnung tragen – was ihm aber nur zum Teil gelingt, denn es beschränkt sich auf fiktive Gespräche mit Vordenkerinnen und Vordenkern aus dem europäischen Kulturkreis; nicht weil andere Kulturen keine Weisen hervorgebracht hätten – das Gegenteil trifft zu –, sondern weil ich in anderen geistigen Welten nicht heimisch bin und es deshalb nicht wagen wollte, mir spielerisch die geistigen Bahnen außereuropäischer Weiser anzueignen.
Die Idee zu den fiktiven Philosophen-Interviews verdanke ich der Redaktion der Zeitschrift Red Bulletin, in der ein Großteil der hier versammelten Stücke zwischen 2019 und 2023 erschienen ist. Besondere Erwähnung verdient mein dortiger Ansprechpartner Jakob Hübner, dem ich die eine oder andere Inspiration verdanke. Danken möchte ich ebenso meiner Ehefrau Christine Teufel, die mir viele gute Anregungen für die Fragen und Themen der Interviews gegeben hat.
Und nun: Herzlich willkommen im »Club der alten Weisen«! Lass dich nieder in diesem geistigen Spielraum, der dich auf andere Gedanken bringen wird. Das jedenfalls ist meine Hoffnung.
Christoph Quarch im Mai 2023
Soziale Medien und Messengerdienste versorgen uns mit immer mehr Informationen und Nachrichten. Gleichzeitig wächst die Unsicherheit darüber, wem man eigentlich noch Glauben schenken kann. Diese Frage beschäftigte schon Immanuel Kant. Hier erklärt der preußische Aufklärer, was wir tun können, um nicht in der Informationsflut zu ertrinken.
Herr Kant, Sie haben vor rund 250 Jahren die Menschen dazu ermutigt, ihre »selbst verschuldete Unmündigkeit« zu überwinden und sich »ihres Verstandes zu bedienen«. Haben Sie den Eindruck, dass die Menschheit seither Ihrem Apell gefolgt ist?
Ihre Frage betrübt mich, mein Herr. Denn sie gemahnt mich dessen, dass es um den Menschen sonderbar bestellt ist. Er wünscht sich Freiheit und Selbstbestimmung, doch er verhält sich auf eine Weise, die ihn stets aufs Neue in die Knechtschaft zwingt.
Aber Herr Kant, wir leben im 21. Jahrhundert. Wir haben Meinungsfreiheit, Glaubensfreiheit, Pressefreiheit, Reisefreiheit. Es gibt einen freien Markt und freie Wahlen – zumindest in einigen Ländern der Welt. Wie können Sie da sagen, wir lebten in Knechtschaft?
Die »selbst verschuldete Unmündigkeit«, Verehrtester, ist auch in Ihrer Welt noch weitverbreitet. Ich meine damit ja nichts anderes als den Umstand, dass die Menschen dazu neigen, sich gedankenlos den Meinungen und Sichtweisen anderer zu unterwerfen. Gewiss, zu meiner Zeit waren das die Dogmen der Kirche oder der herrschenden Eliten. Heute sind es die Ansichten von sogenannten Meinungsführern und Experten, wie man sie in Ihren Talkshows findet. Man hört sich an, was die Leute sagen. Und dann betet man es nach. Sich des eigenen Verstandes zu bedienen scheint nur wenigen noch einzufallen.
Könnte das damit zu tun haben, dass den Menschen in der heutigen Welt so viele Informationen angeboten werden, dass sie gar nicht mehr die Zeit haben, sich ihre eigene Meinung zu bilden?
Gewiss, die Welt, in der Sie leben, ist unübersichtlich geworden. Gerade deshalb aber ist es umso wichtiger, dass Sie nicht müde werden, sich Ihres Verstandes zu bedienen und Ihre Urteilskraft zu schärfen. Denn wenn Sie dies zu tun unterlassen, geraten Sie unweigerlich in Unfreiheit. Dann nützen Ihnen auch die Freiheitsrechte nicht mehr viel, von denen Sie gerade sprachen. Welchen Wert hat die Meinungsfreiheit, wenn Sie nicht in der Lage sind, sich eine eigene Meinung zu bilden?
Was müssten die Menschen denn tun, um ihre Urteilskraft zu schärfen?
Sie müssten damit aufhören, sich die Gedanken anderer anzueignen, und stattdessen das eigenständige Denken üben. Eigenständig denken heißt, sich kritisch mit dem auseinanderzusetzen, was andere einem sagen – vor allem dann, wenn man uns sagt, was wir hören wollen. Deshalb halte ich Ihre sozialen Medien und Messengerdienste für problematisch. Sie beliefern die Nutzer mit Meinungen und Nachrichten, die sie in dem bestätigen, was sie für richtig halten. Wer stets nur das hört, was er hören will, stellt das Denken ein und begibt sich in eine unbemerkte und darin umso schlimmere Knechtschaft.
Und wie kann man dieser Knechtschaft entgehen?
Alles kommt darauf an, den Blick auf sich selbst zu lenken und sich zu fragen: Warum glaube ich dieser Nachricht und nicht jener? Warum laufe ich diesem Influencer hinterher? Wieso weigere ich mich, den Ansichten von diesem oder jenem zuzustimmen. Solche Fragen bahnen den Ausweg aus der Unmündigkeit. Freiheit heißt, nicht immer dem folgen zu müssen, was Autoritäten behaupten. Freiheit ist die Freiheit, seine Sichtweisen ändern zu können. Das ist oft mühsam, aber darin gründet unsere Würde.
Immanuel Kant (1724–1804) war der größte Denker der Aufklärung. Er brachte wie kein anderer deren Geist auf den Punkt: »Sapere aude! Wage es, dich deines Verstandes zu bedienen!« war sein Slogan, und tatsächlich widmete er sein Lebenswerk der Erforschung und Durchdringung des Verstandes. Er warb für ein Leben, das von vernünftigen Grundsätzen geleitet wird. Manchmal scheint dabei das preußische Pflichtbewusstsein mit dem Königsberger durchzugehen, aber seine Zeitgenossen berichten dennoch, dass er ein geselliger Mensch gewesen sei, der sich vor allem bei Tisch als guter Gastgeber hervortat.
Was einst der Marktplatz war, sind heute die sozialen Medien. Dort können Menschen einander begegnen und sich zeigen, selbst wenn sie physisch an unterschiedlichen Orten sind. Das birgt Chancen und Risiken der Kommunikation – ein Spezialgebiet von Sokrates, der sich zu seinen Lebzeiten immer wieder mit der Frage beschäftigt hat, wie das menschliche Miteinander gelingt.
Herr Sokrates, sind die sozialen Medien nicht ein großartiges Instrument, um miteinander ins Gespräch zu kommen?
Da hast du mir einen schönen Köder hingeworfen, mein Freund. Denn du weißt genau, dass ich ein großer Fan von Gesprächen bin. Und warum nicht auch mal chatten oder twittern? Mir ist nur eines nicht ganz klar dabei: Wer sind eigentlich diejenigen, die auf Social Media kommunizieren?
Wie meinen Sie das? Man nennt diese Leute gemeinhin Nutzer.
Ja, das weiß ich. Aber was ist das – ein Nutzer? Sieh mal: Bei uns im alten Griechenland kannte jeder die Tempelinschrift in Delphi: »Erkenne dich selbst!« Deshalb frage ich jeden Nutzer, ob er mir sagen kann, was es heißt, ein Nutzer zu sein. Verstehst du den Punkt?
Ja, schon. Und was ist Ihrer Ansicht nach ein Nutzer?
Lass uns mal so tun, als wäre hier ein Nutzer, den wir fragen können: »Hey Nutzer, wer bist du?« – »Komische Frage, aber schauen Sie sich mal mein Profil an, dann wissen Sie’s.« – »Okay, da finde ich ein Foto und ein paar Infos über dich. Aber das war doch wohl noch nicht alles.« – »Na klar, ich kann doch nicht mein ganzes Leben in mein Profil quetschen.« – »Das will ich hoffen, aber dann bist du doch offenbar etwas anderes als dein Profil. Oder sagen wir so: Dein Profil ist ein Bild von dir – aber du bist nicht mit diesem Bild identisch.« Merkst du, worauf das zuläuft?
Sie wollen sagen, dass man im Netz eigentlich nur mit einem Bild von sich unterwegs ist, aber nicht als die Person, die man eigentlich ist?
Bingo, genau das meine ich. Und jetzt kommt’s: Ein Bild kann wahr oder falsch sein. Es kann das, was es abbildet, getreu wiedergeben, es kann aber auch ein Zerrbild sein. Meistens ist Letzteres der Fall: Das Bild, mit dem du in den sozialen Medien unterwegs bist, gibt dann gar nicht zu erkennen, wer du tatsächlich bist, sondern nur, wer du gerne sein willst. Es ist fast immer ein Wunschbild, das du von dir hast. Und das ist ziemlich oft ein verdammter Fake.
Heißt das, wir machen uns in den sozialen Medien alle etwas vor?
Vielleicht nicht alle, aber viele. Es ist wirklich wie früher auf dem Markt von Athen. Die Leute wollen alle Aufmerksamkeit. Sie wollen bewundert und wertgeschätzt werden. Deshalb ist ihnen jedes Mittel recht, um gut und attraktiv zu erscheinen – und sie vergessen darüber, gut und attraktiv zu sein. Das ist schade.
Haben Sie deshalb keinen Facebook-Account?
Och, ich werd’ mir noch einen anlegen, denn für Social Media gilt am Ende das Gleiche wie für den Markt: Du kannst darin als Fake-Avatar rumlaufen und dich mit deinem Profil verwechseln, du kannst die sozialen Medien aber auch für Dialoge nutzen, in denen du anfängst, dich selbst zu erkennen und deine albernen Selbstinszenierungen als das zu durchschauen, was sie in Wahrheit sind: fruchtlose Schattenspiele, die dich davon abhalten, wirklich du selbst zu sein.
Sokrates (470–399 v. Chr.) galt zu seinen Lebzeiten als der Weiseste aller Menschen. Eigene Schriften sind von ihm nicht überliefert, fast alles, was wir über ihn wissen, verdanken wir seinem Schüler Platon, der in seinen Dialogen ein lebendiges Porträt von Sokrates gezeichnet hat. Sokrates’ Lieblingsbeschäftigung war es, auf dem Marktplatz mit seinen Mitbürgern darüber zu diskutieren, was das gute Leben ist. Dabei pflegte er, seinen Gesprächspartnern vor Augen zu führen, wie sehr sie in Vorurteilen und falschen Selbstbildern verstrickt waren. So zog er den Zorn vieler auf sich, was dazu führte, dass er als »Verderber der Jugend« zum Tode verurteilt wurde.
Hate Speech, Beleidigungen, Bullying – in den sozialen Medien herrschen raue Sitten. Auch im »echten Leben« lässt der Umgangston zu wünschen übrig. Toleranz und Fairness scheinen abzunehmen. Neu ist das nicht: Schon der Aufklärer Gotthold Ephraim Lessing litt unter mangelnder Toleranz.
Herr Lessing, zu Ihrer Zeit waren Sie einer der führenden Köpfe der Aufklärung. Wenn Sie sich die Welt von heute anschauen: Ist die Menschheit seitdem wirklich vorangekommen?
Oh, mein Herr, ich glaube nicht. Denn unter uns gesagt, ich frage mich durchaus, was aus all dem geworden ist, was wir im 18. Jahrhundert in die Köpfe unserer Zeitgenossen pflanzten: freies, selbstbestimmtes Denken, Abkehr von verstaubten Dogmen – und vor allem Toleranz im Miteinander.
Schön, dass Sie das Stichwort Toleranz erwähnen. Dazu wollte ich Sie ohnehin befragen. Sind Sie eigentlich in Social Media unterwegs?
Aber selbstverständlich. Ich will wissen, was bei Ihnen in der Welt so los ist.
Gut, dann wissen Sie auch, dass es dort oft gar nicht tolerant zugeht: Menschen beschimpfen sich gegenseitig, vertreten dogmatische Positionen und werten Andersdenkende ab.
Oh ja, das alles sehe ich mit Sorge. Schauen Sie, zu meiner Zeit waren die Menschen in den Dogmen der Kirche gefangen. Sie schalteten ihren Verstand ab und folgten blind dem, was man ihnen sagte. Manchmal scheint mir, dass sich in der Welt von heute zwar die Inhalte der Dogmen verändert haben, dass sie aber genauso stur gepredigt und befolgt werden. Mal treten sie als Verschwörungstheorie auf, mal als Wissenschaftsgläubigkeit, mal als Fundamentalismus, mal als Ideologie. Da wird so getan, als sei man im Besitz der Wahrheit, und alle anderen wären verblendete Dummköpfe, die man bekehren müsse.
Aber ist es nicht sehr menschlich, im Besitz der Wahrheit sein zu wollen? Das gibt einem Sicherheit.
Ach, die Wahrheit! Glauben Sie noch immer, sie sei eine Münze, die man einfach so in seine Tasche stecken könnte. Dann haben Sie wohl meinen Nathan nicht gelesen – oder seine Weisheit vergessen. Wahrheit ist doch nichts, was man besitzen kann. Wahrheit ist, wonach man suchen sollte, gerade weil man sie niemals endgültig finden kann. Nicht die Wahrheit, in deren Besitz sich jemand wähnt, macht den Wert des Menschen aus, sondern die Mühe, die man aufgewandt hat, um nach ihr zu fahnden.
Dieser Satz klingt aber auch ziemlich dogmatisch.
Na, Sie sind mir ja ein ganz Schlauer. Aber Achtung, machen Sie es sich nicht zu leicht. Mein Satz ist eine Einladung zum Denken. Natürlich dürfen Sie ihm widersprechen, wenn Sie gute Gründe dafür finden. So ist es mit allen Sätzen, die nicht einfach rausgeblasen werden, sondern einem ernsten Denken entsprungen sind. Wenn sie Widerstände auslösen, dann ist es gut, ihnen mit Toleranz zu begegnen. Das heißt nicht: »Ist mir doch egal«, sondern: »Okay, es könnte sein, dass etwas Wahres dran ist. Schauen wir mal.«
Toleranz ist für Sie also eher eine Aufgabe als eine Haltung?
So ist es. Toleranz beginnt da, wo ich davon ausgehe, dass weder ich noch jemand anderes die Wahrheit für sich beanspruchen kann. Und dass es deshalb keinen Grund gibt, rumzupöbeln oder andere zu diffamieren. Diese Lektion müssen heute viele Menschen wieder lernen – vor allem in den digitalen Medien. Deshalb bin ich für eine neue Aufklärung.
Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781) war einer der führenden Köpfe der Aufklärung in Deutschland. Nicht nur in seinen Dramen wie Nathan der Weise oder Emilia Galotti warb er für Toleranz und freies Denken, sondern auch in seinen philosophischen Schriften, in denen er sich kritisch mit dem Dogmatismus der lutherischen Kirchen auseinandersetzte. Dabei betonte er mit Nachdruck, dass es in Fragen von Religion und Ethik keine endgültigen Wahrheiten geben könne und deshalb immer aufs Neue im Gespräch darum zu ringen sei, was als Wahrheit gelten dürfe.
Sich zu zeigen ist angesagt. Ob auf Insta, Facebook oder LinkedIn – immer mehr Nutzer erzählen vor großem Publikum ihre persönlichen Storys. Was steckt eigentlich dahinter? Nichts Gutes, vermutet der für seinen psychologischen Scharfblick berühmte Friedrich Nietzsche. Er hat sich schon längst von allen sozialen Medien abgemeldet.
Herr Nietzsche, ich habe Sie neulich vergeblich in meinen Social Media gesucht. Warum konnte ich Sie nicht finden?
Gedenke der Spinne, mein Freund! Sie spinnt ihre Netze, um Beute zu machen. Wahrlich, so ist auch das Internet: Gesponnen ward es, um deine Seele zu fangen und schleichend zu töten.
Aber Herr Nietzsche, das klingt eher nach Ihrem Zarathustra als nach Ihnen selbst. Im Ernst: Warum meiden Sie soziale Medien?
Weil es schamlos darin zugeht. Unerträglich ist mir, wenn Menschen öffentlich ihr Persönlichstes ausbreiten – wenn sie mir zumuten, in Worten und Bildern an ihrem Privatleben teilzuhaben. Wenn es Menschen Freude macht, ihren Leib vor aller Augen zu entblößen, mag das als Spielart der Erotik durchgehen. Unduldsam hingegen bin ich, wenn ihr mit eurer ach so großen Güte zulasst, dass völlig fremde Seelen einem hemmungslosen Exhibitionismus frönen. Ekel wäre angemessener.
Aber nicht doch. Was Sie Entblößung nennen, kann man auch ins Positive wenden. Es gilt heute als Ausweis menschlicher Reife, sich in seiner Verletzlichkeit zu zeigen und Gefühle auszusprechen.
Reif ist nur die Frucht, die lange wuchs und Sturm und Hagel trotzte. Reif ist nur, was fest verwurzelt und was gut gegründet ist. Die Geschichten, die ich in sozialen Medien finde, gleichen keinen reifen Früchten, sondern Seifenblasen, die zerplatzen, wenn ich sie eines scharfen Blickes würdige. Denn sie haben nichts zu sagen. Viele Worte, schöne Worte auch, die mich aber nichts angehen. Ich lerne nichts dabei. Sie alle künden nur vom Nichts, das sich in eurer digitalen Welt mit Lichtgeschwindigkeit verbreitet. Social Media, mein Freund, sind der Triumph des Nihilismus – der Entgeisterung der Welt.
Sie selbst haben den Übermenschen gefordert, der selbstbestimmt und frei sein Leben gestaltet und sich seine eigenen Werte setzt. Viele Nutzer erzählen davon, wie sie das machen.
Wenn es doch so wäre! In Wahrheit erzählen sie aber nicht von ihrer Selbstbestimmtheit, sondern von ihrer Selbstverliebtheit. Und das, mein Freund, hat nichts mit dem zu tun, wozu ich einst die Menschen aufrief, als ich schrieb: »Ich liebe den, welcher seine Tugend liebt: denn Tugend ist Wille zum Untergang und ein Pfeil der Sehnsucht«. Was ich damit meinte: Ich liebe Menschen, die ihr Bestes – ihre Tugend – geben, die sich einer Vision verschreiben, die ihrer Sehnsucht folgen und sich dabei selbst aufs Spiel setzen. Eure Nutzer aber tun nichts von alledem. Sie wollen Aufmerksamkeit und Wertschätzung für ihr kleines Ich. Fände ich mehr Posts, die von großen Seelen künden, würde ich mich wieder einloggen.
Eine gute Idee, denn dann könnten Sie Ihre Gedanken einem größeren Publikum mitteilen.